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Schuldrecht AT, 24.06.2014 PD Dr. Sebastian Martens, M.Jur. (Oxon.)

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§ 5: LeistungsstörungenX. Die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)Beispiel (RGZ 103, 328ff.):A und B hatten über viele Jahre gemeinsam eine Spinnerei betrieben. Nun wollte A sich aus dem Betrieb zurückziehen und schloss deshalb am 31.5.1919 mit B einen Auflösungs-vertrag ab, in dem er sich verpflichtete, dem B seinen Anteil abzutreten. Als Gegenleistung sollte B dem A 600.000 RM zahlen. Der Vertrag sollte in zwei Raten zum 1.1.1920 und zum 1.1.1921 erfüllt werden. An beiden Terminen sollte B dem A jeweils 300.000 RM Zug-um-Zug gegen Übertragung eines halben Anteils zahlen. Am 1.1.1920 hatte die RM gegenüber dem 31.5.1919 bereits ca. 80% an Wert verloren. Unter diesen Umständen weigerte sich A, den Vertrag zu erfüllen. Zurecht?

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1. Historischer Hintergrund• Nach „gemeinem Recht“ im 19. Jh. war jedem Vertrag

eine sogenannte clausula rebus sic stantibus immanent. Nach dieser Klausel war ein Vertrag nur solange gültig, wie die ihm zugrundeliegenden Tatsachen sich nicht (grundlegend) verändert hatten.

• Der BGB-Gesetzgeber übernahm die clausula rebus sic stantibus nicht ins BGB und gab dem Prinzip pacta sunt servanda den Vorrang.

• In der Wissenschaft wurde jedoch bald die Lehre von der Geschäftsgrundlage entwickelt, die an eine vertragliche Bedingung wie die clausula anknüpfte.

• Das RG erkannte die Lehre von der Geschäftsgrundlage in RGZ 103, 328 auf der Basis von § 242 BGB an.

• 2002 wurde die Rechtsprechung in § 313 BGB kodifiziert.

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2. Grundideen• Im Vertrag thematisieren die Parteien meist die aus

ihrer Sicht wichtigen Probleme und verteilen die erkannten Risiken unter einander.

• Manche Umstände werden aber von den Parteien als gegeben vorausgesetzt. Änderungen scheinen den Parteien insofern ausgeschlossen, so dass sie auch entsprechende Risiken nicht explizit verteilen.

• Nach dem Prinzip pacta sunt servanda sind Verträge auch dann nach dem Wortlaut des Vertrags zu erfüllen, wenn sich unvorhergesehene Änderungen der vertraglichen Grundlagen ergeben.

• § 313 BGB gibt in solchen Fällen u.U. ein Recht zur Vertragsanpassung oder zur Lösung vom Vertrag.

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3. Anwendungsbereich• § 313 BGB ist grundsätzlich auf alle schuldrecht-

lichen Verträge (Verpflichtungsverträge) anwendbar.• § 313 BGB greift nur ein, wenn die Parteien die

Risiken nicht schon im Vertrag selbst verteilt haben. Daher gilt ein Vorrang der Vertragsauslegung!– Auflösende Bedingung vereinbart?– Rücktrittsrecht vereinbart?– Preisanpassungsklausel vereinbart?

• § 313 BGB tritt hinter speziellen gesetzlichen Regelungen zurück:– § 275 BGB: Regelungen der Unmöglichkeit– § 321 BGB: Einrede bei Unsicherheit der Leistung– § 490 BGB: Veränderungen beim Darlehen, usw.

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4. Voraussetzungen des § 313 BGB• Bestehen einer Geschäftsgrundlage (GG)• Änderung oder Irrtum im Hinblick auf die GG• Relevanz für den Vertragsschluss• Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten

Vertraga. Bestehen einer Geschäftsgrundlage• Es müssen Umstände bestehen, „die zur Grundlage

des Vertrags geworden sind“.Beispiel:Anlässlich der geplanten Krönung von König William V. hat M eine Wohnung des V gemietet, um von dessen Balkon den Krönungszug anzugucken. Als es aber am Krönungstag ganz unerwartet regnet, fällt der Zug ins Wasser. M will die Miete nun nicht zahlen. Zurecht?

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• Das Gesetz sagt nicht, wann Umstände zur Grundlage von Verträgen werden.

• Die Rechtsprechung geht von einem subjektiven, auf die Parteien bezogenen Begriff der Geschäftsgrundlage aus:– fundamentale gemeinsame Vorstellungen beider

Parteien, oder– fundamentale Vorstellungen einer Partei, die für

die andere Partei bei Vertragsschluss erkennbar waren und von ihr nicht beanstandet wurden.

• Handelt es sich um Vorstellungen bloß einer Partei, ist sorgfältig zu prüfen, ob diese Umstände wirklich Geschäftsgrundlage geworden sind oder es sich nicht um bloße unbeachtliche Motive der Partei handelt.

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Beispiel:A hat sich gerade verlobt und plant ihre Hochzeit für das nächste Jahr. Daher geht sie in das Geschäft des V, wo sie sich ein Hochzeitskleid aussuchen will. Sie erzählt V alles und wird auch bei der Kleidersuche fündig. A und V schließen dann einen Kaufvertrag ab. Den Bund fürs Leben schließt A dann aber doch nicht ab, weil ihr Verlobter sich als treulos erweist. A will unter diesen Umständen auch kein Kleid mehr haben.• Subjektive Vorstellungen bestehen häufig nur unter

den Parteien des konkreten Vertrags, man spricht dann von einer „kleinen Geschäftsgrundlage“.

Beispiel: Die Parteien eines Kaufvertrags gehen davon aus, dass das verkaufte Grundstück Bauland ist.

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• Die Geschäftsgrundlage kann auch objektiv zu bestimmen sein, wenn die Parteien sich keine Vorstellungen gemacht haben: Umstände, deren Vorlegen für die Aufrechterhaltung des Vertrags als vernünftige Regelung notwendig sind.

• Solche allgemein im Verkehr für selbstverständlich vorausgesetzten und daher nicht thematisierten Dinge nennt man auch „große Geschäftsgrundlage“ .

Beispiele:a. Nach einem Kriegsausbruch kann der koreanische

Verkäufer nicht mehr liefern.b. Nach einer weiteren Verschärfung der Eurokrise

kommt es zu einer Hyperinflation.c. Ein Meteoriteneinschlag in der Ostsee führt zu einem

Tsunami in Kiel.

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b. Änderung oder Irrtum• § 313 Abs. 1 BGB setzt eine Änderung der

geschäftsgrundlegenden Umstände seit Vertragsschluss voraus.

• § 313 Abs. 2 BGB stellt einer Änderung den Fall gleich, dass sich Vorstellungen, die Geschäftsgrundlage geworden sind, nach Vertragsschluss als falsch herausstellen.

• § 313 Abs. 2 BGB betrifft Fälle eines gemeinschaftlichen Irrtums beider Parteien.

• Hier ist nur zu prüfen, ob eine Änderung oder ein Irrtum im Hinblick auf die Geschäftsgrundlage vorliegt. Die Relevanz der Änderung und des Irrtums ist im nächsten Schritt zu prüfen.

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c. Relevanz für den Vertragsschluss• § 313 I BGB verlangt, dass die Änderung

„schwerwiegend“ ist, und § 313 II BGB spricht von einem Irrtum über „wesentliche“ Vorstellungen.

• Wann Änderungen „schwerwiegend“ sind oder ein Irrtum „wesentlich“ ist, muss im Hinblick auf den jeweiligen Vertrag bestimmt werden.

• Die Parteien müssten den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen haben, wenn sie die Veränderung vorausgesehen hätten (§ 313 I BGB) bzw. nicht dem Irrtum erlegen wären (§ 313 II BGB).

Beispiel: A und B haben einen langfristigen Liefervertrag abgeschlossen und sich mit einer Anpassungsklausel gegen Inflation abgesichert. Unerwartet kommt es nun zu einer starken Deflation.

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d. Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag

• Es muss einer Partei aufgrund der Änderung der Geschäftsgrundlage unzumutbar sein, am unveränderten Vertrag festgehalten zu werden.

• Was unzumutbar ist, muss nach § 313 I BGB unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bestimmt werden.

• Ein Festhalten am Vertrag müsste nach der Recht-sprechung mit Recht und Gerechtigkeit nicht verein-bar sein und eine untragbare Härte darstellen.

• Besonders wichtig ist die vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung. Je näher die Änderung der Geschäftsgrundlage einem vertraglich berück-sichtigten Risiko steht, desto mehr ist zumutbar.

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Beispiele:a. Das Unternehmen U hat ein Bürohaus des V ge-

mietet und war verpflichtet, eine Bankbürgschaft über 2 Mio. € zu stellen. Aufgrund der Finanz-marktkrise 2008 verteuerten sich die Konditionen solcher Bürgschaften um 30%.

b. H hat sich zu einem Festpreis verpflichtet, im Hafen der Stadt X einen neuen Konzertsaal zu erstellen. Nun stellt sich heraus, dass der Untergrund viel schlammiger ist als erwartet.

c. Z hat einen Kiosk nahe des Haupttors des Opel-Werks in Bochum von Y gekauft. Wenige Tage nach Abschluss des Kaufvertrags verkündet die Firmenleitung das Aus für das Werk.

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5. Rechtsfolgen• Gemäß § 313 I BGB kann bei Vorliegen der Voraus-

setzungen primär Anpassung des Vertrags verlangt werden.

• § 313 I BGB gibt einen Anspruch auf Vertragsan-passung. Der Vertrag soll durch Nachverhandlungen zwischen den Parteien angepasst werden, nicht durch ein einseitiges Gestaltungsrecht einer Partei oder durch Gericht.

• Nach h.M. kann aber auch unmittelbar auf die angepasste Leistung geklagt werden.

• Nur wenn eine Anpassung nicht möglich oder der anderen Partei unzumutbar ist, kann nach § 313 III BGB der Vertrag durch Rücktritt bzw. Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen aufgelöst werden.

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IV.Die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund (§ 314 BGB)

1. GrundideenUnterscheide:• Schuldverhältnisse, die auf eine einmalige Leistung

oder einen einmaligen Leistungsaustausch gerichtet sind.

• Dauerschuldverhältnisse, die ein längeres Verhältnis zwischen den Parteien begründen, in dem immer wieder neue Rechte und Pflichten entstehen.

Dauerschuldverhältnisse können für eine bestimmte Zeit (z.B. drei Monate, ein Jahr) oder für unbestimmte Zeit abgeschlossen werden.

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• Bei auf unbestimmte Zeit abgeschlossenen Dauer-schuldverhältnissen gibt es meist vertraglich oder ge-setzlich festgelegte (ordentliche) Kündigungsrechte.

• Bei unvorhergesehenen Ereignissen, die einen Fortbestand des Dauerschuldverhältnisses für eine Partei unzumutbar machen, gäbe es nach allgemeinen Grundsätzen nur ggf. ein Rücktrittsrecht.

• Rücktrittsrechte sind bei Dauerschuldverhältnissen wenig zweckmäßig: Nach einem Rücktritt wären alle empfangenen Leistungen zurückzugewähren.

• § 314 BGB gewährt bei Vorliegen eines wichtigen Grunds ein außerordentliches Kündigungsrecht, das den Vertrag ex nunc beendet.

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2. Voraussetzungen• Dauerschuldverhältnis (Bsp.: Miete, Dienstvertrag,

Arbeitsvertrag usw.).• Wichtiger Grund• Fristsetzung bzw. Abmahnung bei Vertragsverletzunga. Wichtiger Grund§ 314 I 2 BGB definiert näher, was unter einem wichtigen Grund zu verstehen ist:§ 314 BGB (1) […] 2Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Um-stände des Einzelfalls und unter Abwägung der beider-seitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhält-nisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ab-lauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

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• Es ist eine umfassende Interessenabwägung erforder-lich. Dabei sind zunächst die beiderseitigen Interessen am Fortbestand bzw. an der Aufhebung des Vertrags herauszuarbeiten und dann zu gewichten.

• Ein Vertragsaufhebungsinteresse kann sich vor allem aus einer Pflichtverletzung des anderen Teils ergeben.

Beispiel:A hat für zwei Wochen ein Einzelzimmer im Hotel des H gebucht. Nach einer Woche kommt es zu einem Streit zwischen A und H, bei dem der H den A furchtbar beleidigt.• Neben Pflichtverletzungen können auch andere

Umstände ein Fortbestehen des Schuldverhältnisses unzumutbar machen.

• Umstände aus der Risikosphäre des Lösungswilligen kommen nicht in Betracht.

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b. Fristsetzung bzw. Abmahnung bei Vertragsverletzung

§ 314 BGB. (2) Besteht der wichtige Grund in der Ver-letzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimm-ten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. § 323 Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.• § 314 II BGB sichert den Vorrang der Vertragsdurch-

führung.• Die außerordentliche Kündigung eines Dauerschuld-

verhältnisses ist für den Kündigungsgegner meist eine schwere Belastung. Hat sein Verhalten zu einem wichtigen Kündigungsgrund geführt, soll er noch eine letzte Chance bekommen, die drohende Kündigung durch ein pflichtgemäßes Verhalten abzuwenden.

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3. Rechtsfolgen• Das Kündigungsrecht nach § 314 I BGB ist ein

Gestaltungsrecht und wird durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt.

• Gemäß § 314 III BGB kann die Kündigung nur innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen, nachdem der Berechtigte vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat.

• Die Kündigung beendet das Vertragsverhältnis ex nunc.4. Konkurrenzen• Bei in Vollzug gesetzten Dauerschuldverhältnissen ver-

drängt § 314 BGB die Rücktrittsrechte nach §§ 323ff. BGB.• Spezielle außerordentliche Kündigungsrechte gehen vor.• Eine Kündigung nach § 314 BGB lässt etwaige

Schadensersatzansprüche unberührt (§ 314 IV BGB).

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Literaturhinweise:• Hirsch, Der Tatbestand der Geschäftsgrundlage im

reformierten Schuldrecht, Jura 2007, 81-88• Petersen, Der beiderseitige Irrtum zwischen

Anfechtungsrecht und Geschäftsgrundlage, Jura 2011, 430-432

• Riesenhuber/Domröse, Der Tatbestand der Geschäftsgrundlagenstörung in § 313 BGB - Dogmatik und Falllösungstechnik, JuS 2006, 208-213

• Rösler, Grundfälle zur Störung der Geschäftsgrundlage, JuS 2005, 27-32, 120-125

• Stürner, "Faktische Unmöglichkeit" (§ 275 II BGB) und Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) - unmöglich abzugrenzen?, Jura 2010, 721-726