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Niveau der integrativen Fähigkeiten des Patienten Rechnung getragen wird, um die unbewussten und zeitüberdauernden Konflikte in der psychoanalytischen Be- handlung zu bearbeiten. Wegen der lang- samen Veränderungsrate psychischer Strukturen kann ein Patient nur nach und nach ein Verständnis für das eigene emo- tionale Erleben integrieren, was in der Folge die Stabilität der Ichfunktionen und die Qualität der Objektbeziehungen ver- bessert sowie dysfunktionale Abwehrme- chanismen modifiziert. Für die nachhal- tige Besserung von Patienten mit Persön- lichkeitsstörungen sind das unverzichtba- re Voraussetzungen. Zielgruppe für die Behandlung im in- stitutionellen Setting des WPA sind er- wachsene Patient(inn)en mit schweren Neurosen, Charakterpathologien und Persönlichkeitsstörungen bei einem sozial schwachen Status. Darüber hinaus wer- den Patien(inn)en durch Zuweisung zu freien Therapieplätzen und, im Bedarfs- fall, bei der Suche nach psychiatrischer Begutachtung und durch Vermittlung geeigneter professioneller Hilfe in ande- ren Institutionen unterstützt. Weithin be- kannt ist, dass die Psychoanalyse für das Verständnis des emotionalen Erlebens von Menschen mit Persönlichkeitsstörun- gen wesentliche Beiträge liefert. Weniger geläufig ist die Tatsache, dass sich psycho- analytische Langzeitbehandlungen auch gesundheitsökonomisch rechnen, da die durch sie erzielten Einsparungen bereits 3 Jahre nach Behandlungsende größer als die Behandlungskosten sind. Literatur bei der Verfasserin. Korrespondenzadresse Dr. Hemma Rössler-Schülein Wiener Psychoanalytisches Ambulatorium Salzgries 16/3, 1010 Wien Österreich Danksagung.  Herzlichen Dank an Dagmar Biener,  Renate Fanta, Monika Huber, Johanna Pelikan, Sabi- ne Fiala- Preinsperger, Gundi Oberlechner; Melitta  Schwinghammer, Sylvia Schalkhammer, Martin Skritek,  Kornelia Steinhardt. Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  Keine Angaben. Psychopraxis 2013 · 16:19–24   DOI 10.1007/s00739-013-0112-y © Springer-Verlag Wien 2013 L. Brandt 1  · G. Fischer 1, 2 1  Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Wien 2  Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Wien Schwangerschaft  und Sucht Multiprofessionelle Behandlung von  substanzabhängigen schwangeren Frauen Einleitung In Europa weisen 60.000 schwangere Frauen einen chronischen Substanzmiss- brauch auf, wobei etwa die Hälfte Opioi- de konsumiert (Gyarmathy et al., 2009). Im europaweiten Vergleich liegt Öster- reich mit 5,3/1.000 Fällen in der Bevölke- rung von 15–64 Jahren an sechster Stelle in Bezug auf die Prävalenz des problema- tischen Opioidkonsums (European Mo- nitoring Centre for Drugs and Drug Ad- diction, 2013). Es wird ein Verhältnis von Männern zu Frauen von etwa 4:1 ange- nommen, wobei ein Drittel der substanz- abhängigen Frauen im gebärfähigen Alter ist und die Anzahl der Schwangeren mit Suchtproblematik steigt (Bericht zur Dro- gensituation, 2012). Die gesundheitlichen Hauptrisiken des Opioidmissbrauchs sind Überdosierun- gen, intravenös übertragene Infektionen durch das Teilen von Nadeln, Verunrei- nigungen oder anaphylaktische Schock- reaktionen (Aktories et al., 2004). Der il- legale Konsum von Opioiden geht oft- mals einher mit dem Missbrauch weiterer Substanzen wie Nikotin, Alkohol, Kokain oder Benzodiazepinen, die im Gegensatz zu Opioiden teratogene oder zytotoxische Effekte haben (Jones et al., 2008). Die Therapie der ersten Wahl bei sub- stanzabhängigen Graviden ist eine Opio- iderhaltungstherapie (OET). Da Opio- ide gut plazentagängig sind, besteht in der Folge das Risiko eines neonatalen Absti- nenzsyndroms (NAS; ICD-10 P96.1), das in 48–94% der Fälle behandlungsbedürf- tig ist (Osborn et al., 2010). Die Substanzabhängigkeit ist europa- weit mit 65,7 Mrd. € pro Jahr die fünft- teuerste psychiatrische Erkrankung (Ole- sen et al., 2012). Wie wesentlich Standards der Behandlung in der Hochrisikogrup- pe substanzabhängiger Gravider sind, zei- gen auch gesundheitsökonomische Daten zu Folgekosten bei intrauteriner Exposi- tion mit legalen und illegalen Drogen. Die jährlichen Gesundheitskosten für sub- stanzexponierte Neugeborene werden in den USA auf 605 Mio. US$ geschätzt. Coyle et al. (2002) berichten durchschnitt- liche Spitalskosten für eine stationäre Be- handlung des Entzugs von Neugebore- nen von 22.776–47.268 €, wobei die lan- ge Aufenthaltsdauer von 38–79 Tagen zu beachten ist. Über Jahre der multiprofes- sionellen Behandlung dieser Risikogrup- pe konnte an der Medizinischen Universi- tät Wien (MUW)/Allgemeines Kranken- haus (AKH) gezeigt werden, dass die mitt- lere Behandlungsnotwendigkeit des NAS bei standardisiertem Vorgehen bei 7–21 Tagen liegt (Metz et al., 2011). Für Europa liegt nur limitiert Evidenz in Bezug auf die Kosten vor, wobei gezeigt werden konnte, dass 15% der opioidab- hängigen Mütter, trotz täglicher Besuche 19 Psychopraxis 6 · 2013|

Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

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Page 1: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

Niveau der integrativen Fähigkeiten des Patienten Rechnung getragen wird, um die unbewussten und zeitüberdauernden Konflikte in der psychoanalytischen Be-handlung zu bearbeiten. Wegen der lang-samen Veränderungsrate psychischer Strukturen kann ein Patient nur nach und nach ein Verständnis für das eigene emo-tionale Erleben integrieren, was in der Folge die Stabilität der Ichfunktionen und die Qualität der Objektbeziehungen ver-bessert sowie dysfunktionale Abwehrme-chanismen modifiziert. Für die nachhal-tige Besserung von Patienten mit Persön-lichkeitsstörungen sind das unverzichtba-re Voraussetzungen.

Zielgruppe für die Behandlung im in-stitutionellen Setting des WPA sind er-wachsene Patient(inn)en mit schweren Neurosen, Charakterpathologien und Persönlichkeitsstörungen bei einem sozial schwachen Status. Darüber hinaus wer-den Patien(inn)en durch Zuweisung zu freien Therapieplätzen und, im Bedarfs-fall, bei der Suche nach psychiatrischer Begutachtung und durch Vermittlung geeigneter professioneller Hilfe in ande-ren Institutionen unterstützt. Weithin be-kannt ist, dass die Psychoanalyse für das Verständnis des emotionalen Erlebens von Menschen mit Persönlichkeitsstörun-gen wesentliche Beiträge liefert. Weniger geläufig ist die Tatsache, dass sich psycho-analytische Langzeitbehandlungen auch gesundheitsökonomisch rechnen, da die durch sie erzielten Einsparungen bereits 3 Jahre nach Behandlungsende größer als die Behandlungskosten sind.

Literatur bei der Verfasserin.

Korrespondenzadresse

Dr. Hemma Rössler-SchüleinWiener Psychoanalytisches AmbulatoriumSalzgries 16/3, 1010 WienÖsterreich

Danksagung.  Herzlichen Dank an Dagmar Biener, Renate Fanta, Monika Huber, Johanna Pelikan, Sabi-ne Fiala- Preinsperger, Gundi Oberlechner; Melitta Schwinghammer, Sylvia Schalkhammer, Martin Skritek, Kornelia Steinhardt.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  Keine Angaben.

Psychopraxis 2013 · 16:19–24   DOI 10.1007/s00739-013-0112-y© Springer-Verlag Wien 2013

L. Brandt1 · G. Fischer1, 2

1 Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Wien2 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Wien

Schwangerschaft und SuchtMultiprofessionelle Behandlung von substanzabhängigen schwangeren Frauen

Einleitung

In Europa weisen 60.000 schwangere Frauen einen chronischen Substanzmiss-brauch auf, wobei etwa die Hälfte Opioi-de konsumiert (Gyarmathy et al., 2009). Im europaweiten Vergleich liegt Öster-reich mit 5,3/1.000 Fällen in der Bevölke-rung von 15–64 Jahren an sechster Stelle in Bezug auf die Prävalenz des problema-tischen Opioidkonsums (European Mo-nitoring Centre for Drugs and Drug Ad-diction, 2013). Es wird ein Verhältnis von Männern zu Frauen von etwa 4:1 ange-nommen, wobei ein Drittel der substanz-abhängigen Frauen im gebärfähigen Alter ist und die Anzahl der Schwangeren mit Suchtproblematik steigt (Bericht zur Dro-gensituation, 2012).

Die gesundheitlichen Hauptrisiken des Opioidmissbrauchs sind Überdosierun-gen, intravenös übertragene Infektionen durch das Teilen von Nadeln, Verunrei-nigungen oder anaphylaktische Schock-reaktionen (Aktories et al., 2004). Der il-legale Konsum von Opioiden geht oft-mals einher mit dem Missbrauch weiterer Substanzen wie Nikotin, Alkohol, Kokain oder Benzodiazepinen, die im Gegensatz zu Opioiden teratogene oder zytotoxische Effekte haben (Jones et al., 2008).

Die Therapie der ersten Wahl bei sub-stanzabhängigen Graviden ist eine Opio-iderhaltungstherapie (OET). Da Opio-

ide gut plazentagängig sind, besteht in der Folge das Risiko eines neonatalen Absti-nenzsyndroms (NAS; ICD-10 P96.1), das in 48–94% der Fälle behandlungsbedürf-tig ist (Osborn et al., 2010).

Die Substanzabhängigkeit ist europa-weit mit 65,7 Mrd. € pro Jahr die fünft-teuerste psychiatrische Erkrankung (Ole-sen et al., 2012). Wie wesentlich Standards der Behandlung in der Hochrisikogrup-pe substanzabhängiger Gravider sind, zei-gen auch gesundheitsökonomische Daten zu Folgekosten bei intrauteriner Exposi-tion mit legalen und illegalen Drogen. Die jährlichen Gesundheitskosten für sub- stanzexponierte Neugeborene werden in den USA auf 605 Mio. US$ geschätzt. Coyle et al. (2002) berichten durchschnitt-liche Spitalskosten für eine stationäre Be-handlung des Entzugs von Neugebore-nen von 22.776–47.268 €, wobei die lan-ge Aufenthaltsdauer von 38–79 Tagen zu beachten ist. Über Jahre der multiprofes-sionellen Behandlung dieser Risikogrup-pe konnte an der Medizinischen Universi-tät Wien (MUW)/Allgemeines Kranken-haus (AKH) gezeigt werden, dass die mitt-lere Behandlungsnotwendigkeit des NAS bei standardisiertem Vorgehen bei 7–21 Tagen liegt (Metz et al., 2011).

Für Europa liegt nur limitiert Evidenz in Bezug auf die Kosten vor, wobei gezeigt werden konnte, dass 15% der opioidab-hängigen Mütter, trotz täglicher Besuche

19Psychopraxis 6 · 2013  | 

Page 2: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

Zusammenfassung · Abstract

Psychopraxis 2013 · 16:19–24   DOI 10.1007/s00739-013-0112-y© Springer-Verlag Wien 2013

L. Brandt · G. FischerSchwangerschaft und Sucht. Multiprofessionelle Behandlung von substanzabhängigen schwangeren Frauen

ZusammenfassungDie Substanzabhängigkeit ist europaweit mit 65,7 Mrd. € pro Jahr die fünftteuerste psychi-atrische Erkrankung. In Europa weisen  über 60.000 schwangere Frauen einen chro-nischen Missbrauch illegaler Substanzen auf, von denen etwa die Hälfte Opioide kon-sumiert. Ein Drittel dieser Frauen ist im ge-bärfähigen Alter, mit steigender Tendenz. Mehr als 60% weisen darüber hinaus min-destens eine psychiatrische Komorbidität auf. State-of-the-art-Therapie bei Opioidab-hängigkeit in der Gravidität ist eine Behand-lung mit den synthetischen Opioiden Metha-don oder Buprenorphin in einem multipro-fessionellen Setting mit umfassender medi-zinische Betreuung der betroffenen Frauen 

und ihrer Neugeborenen. Eine standardisier-te Diagnostik und Behandlung, vergleichbar mit dem Vorgehen bei schwangeren Frauen, empfiehlt sich für die Neugeborenen und das neonatale Abstinenzsyndrom, das bei etwa 60% der intrauterin opioid-exponierten Neu-geborenen auftritt. Eine frühe Investition in ein multiprofessionelles Behandlungsmodell verbessert nicht nur die Lebensqualität der Frauen und Kinder, sondern führt zu einer Reduktion gesellschaftlicher Kosten.

SchlüsselwörterSubstanzmissbrauch · Schwangerschaft · Opioiderhaltungstherapie · Neonatales Absti-nenzsyndrom · Methadon · Buprenorphin

Pregnancy and chronic substance abuse. Multiprofessional treatment for addicted pregnant women

AbstractAt 65.7 billion € per year, addiction is the fifth most cost-intensive psychiatric disorder in Europe. More than 60,000 pregnant women in the EU are chronic illicit substance abusers, of which about half consume opioids. One third of these women are of childbearing age, with increasing tendency. More than 60% al-so suffer from at least one comorbid psychi-atric disorder. State-of-the-art treatment for opioid dependence in pregnancy is main-tenance therapy with the synthetic opioids methadone or buprenorphine in a multipro-fessional setting with comprehensive med-ical care for women and neonates. A stan-dardized approach of assessment and treat-

ment comparable to the approach in preg-nant women is recommended for neonates and for the related neonatal abstinence syn-drome (NAS), which occurs in about 60% af-ter intrauterine opioid exposure. An early in-vestment in a multiprofessional treatment model increases not only quality of life of women and children but also lowers soci-etal costs. 

KeywordsSubstance abuse · Pregnancy · Opioid main-tenance therapy · Neonatal abstinence syn-drome · Methadone · Buprenorphine

in einer Behandlungseinrichtung ab der 12. SSW, vor der 37. Schwangerschafts-woche (SSW) entbinden (Higgins et al., 2004), was Kosten von bis zu 466.250 € pro Kind verursacht (Mangham et al., 2009). In Bezug auf die Behandlungseffi-zienz konnten Daley et al. (2001) zeigen, dass eine lineare Beziehung zwischen Ausmaß der Behandlung der Mutter und dem Geburtsgewicht des Kindes besteht – je effizienter die Behandlung, desto höher das Geburtsgewicht, wobei eine ambulan-te Behandlung mit 1216 € pro Mutter die kostengünstigste Variante darstellt.

Kasuistik 1

Die Patientin (33 Jahre) wird in der 13. SSW auf der Drogenambulanz vorstellig und willigt in die Teilnahme am „MO-THER-Projekt“ ein. Das Therapieprojekt MOTHER ist ein spezielles Behandlungs-programm für schwangere Patientinnen im Rahmen einer internationalen Studie (weitere Informationen unter: http://www.sucht-news.at). Das Ziel der prospektiven pharmakologischen Studie („double blind, double dummy“) ist der Vergleich des Einflusses von Buprenorphin und Me-thadon auf mütterliche und neonatale Er-gebnisvariablen. Die Patientinnen erhal-ten nach Einwilligung zur Teilnahme eine OET mit der Studienmedikation (Metha-don oder Buprenorphin) während der Schwangerschaft bis 4 Wochen nach der Entbindung. Die Medikamentenausga-be erfolgt täglich an der Ambulanz (inkl. Samstag/Sonntag), und dreimal pro Wo-che werden supervidierte Urinproben ge-nommen. Die nichtpharmakologische Be-handlung umfasst die medizinische Ver-sorgung (psychiatrisch und gynäkolo-gisch) sowie die psychologisch-psycho-soziale Begleitung. Die Patientinnen er-halten wöchentlich Gutscheine für nega-tive Urinproben, das Ausfüllen von Fra-gebögen und das Absolvieren von Bera-tungs- und Behandlungsterminen. Die Gutscheinausgabe erfolgt gemäß dem An-satz des Contingency Managements (CM), das auf operanter Konditionierung ba-siert. Ein erwünschtes Verhalten (im Fal-le von Suchterkrankungen Abstinenz und Behandlungscompliance) wird verstärkt, wobei der Verstärkerplan einem eskalie-renden Design folgt, was bedeutet, dass

sich bei wiederholt gezeigtem Verhalten der Gewinnbetrag erhöht (z. B. Higgings et al., 2008).

Die Entbindung findet an der Uni-versitätsklinik für Gynäkologie statt. Die Neugeborenen werden mindestens 10 Ta-ge bezüglich eines NAS standardisiert evaluiert (Beurteilung alle 4 h) und bei Bedarf nach Schema behandelt.

Die Patientin hat bisher keine statio-näre Entzugstherapie durchlaufen, befin-det sich aber seit 3 Jahren in OET beim praktischen Arzt (Diagnose: Opiatabhän-gigkeit, gegenwärtig in Erhaltungsthera-pie, ICD-10 F11.22). Die psychiatrische

Anamnese ergibt eine depressive Episode sowie eine Anpassungsstörung (ICD-10: F43.22), diagnostiziert 1 Jahr vor Erstkon-takt und mit Sertralin (50 mg, 1-0-0-0) be-handelt. Die Patientin wird in der 17. SSW für eine Woche stationär auf der Univer-sitätsklinik für Psychiatrie und Psychothe-rapie aufgenommen. Es erfolgt die erste Medikationsgabe im Rahmen des MO-THER-Projekts. Nach Entlassung be-kommt die Patientin täglich ihre Medi-kation über einen weiteren Monat ausge-folgt. Danach erfolgt eine Überleitung zur Standardbehandlung. Die antidepressive Medikation wird im Laufe der Behand-

20 |  Psychopraxis 6 · 2013

Page 3: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

Fachkurzinformation siehe Seite 42

Page 4: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

lung abgesetzt. Insgesamt nahm die Pa-tientin 17 Wochen an der Studie teil und gab 51 negative Harntests ab (100% nega-tive Harntests). Für die Patientin wurden im Rahmen des Gutscheinprogramms hauptsächlich Schulden beglichen (insge-samt 1542 €). Die Patientin entband spon-tan in der 38. SSW und erhielt zu diesem Zeitpunkt 16 mg Buprenorphin. Das Kind wies ein Gewicht von 3110 g, eine Körper-länge von 51 cm, einen Kopfumfang von 34 cm und einen Apgar Score1 von 9/10/10 auf. Zudem zeigte das Neugeborene kei-ne Anzeichen eines behandlungsbedürfti-gen NAS. Im weiteren Verlauf wurde das Kind im Alter von 6 Wochen aufgrund zyanotischer Anfälle an der Universitäts-klinik für Kinder- und Jugendheilkunde zur Observanz aufgenommen. Alle erho-benen Parameter entsprachen der Norm und das Kind wurde zur Kontrolle an die SIDS-Ambulanz und zum Monitoring überwiesen.

1   Der Apgar Score ist ein Punkteschema, mit dem sich der klinische Zustand von Neugebore-nen standardisiert beurteilen lässt (9–10 Punk-te = optimale Punktezahl, 5–8= gefährdet, <5= akute Lebensgefahr). Die drei angegebenen Werte beziehen sich auf die Beurteilung 1, 5 und 10 min postpartal.

Kasuistik 2

Die Patientin (31 Jahre) befindet sich seit 6 Jahren in durchgehender Behandlung an der Drogenambulanz und brachte in die-sem Zeitraum zwei Kinder auf die Welt (Knabe: 3 Jahre, Mädchen: 6 Jahre).

In der Familienanamnese berichtet die Patientin, bei ihrer Mutter aufgewachsen zu sein, deren Alkoholkonsum sie im Al-ter von 12 Jahren bemerkt habe (Konsum von ca. 20 Flaschen Bier pro Tag). Die psychiatrische Anamnese weist auf eine Opiatabhängigkeit, gegenwärtig in Erhal-tungstherapie (ICD-10 F11.22), ein Alko-holabhängigkeitssyndrom, derzeit abs-tinent (ICD-10 F10.20) und eine histrio-nische Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.4) hin. Die Patientin unterzog sich mit 21 Jahren erstmals einer einjährigen OET mit Methadon (90 mg) beim prak-tischen Arzt. Danach durchlief sie eine stationäre Detoxifikationstherapie gefolgt von einer ambulanten Detoxifikationsthe-rapie mit Tramadol. Mit 25 Jahren begann sie eine OET an der Drogenambulanz mit einer Einstellung auf orale retardier-te Morphine (SROM, 400 mg/die). Mit 26 Jahren wurde sie im Rahmen ihrer dritten Schwangerschaft (nach zwei Schwanger-schaftsabbrüchen) im Rahmen der klini-

schen Studie „Erhaltungstherapie mit Bu-prenorphin bei graviden Substanzabhän-gigen“ (Fischer et al., 2000) auf Buprenor-phin (10 mg) umgestellt. Beide Kinder der Patientin wurden per Sectio in der 38. SSW entbunden. Das weibliche Erstgebo-rene wies ein Geburtsgewicht von 3120 g, eine Körperlänge von 51 cm, einen Kopf-umfang von 34 cm, einen Apgar Score von 9/10/10 sowie einen Finnegan Score2 (peak) von 6 am 3. Tag auf. Das männ-liche Zweitgeborene wies ein Geburtsge-wicht von 2800 g, eine Körperlänge von 49 cm, einen Kopfumfang von 33 cm, einen Apgar Score von 9/10/10 und einen Finnegan Score (peak) von 8 am 3. Tag auf. Die Patientin erhielt zum Zeitpunkt der ersten Schwangerschaft eine Bupre-norphindosis von 10 mg und bei der zwei-ten Schwangerschaft eine Dosis von 12 mg. Seit der Medikationsumstellung im Rah-men der ersten Schwangerschaft ist eine relative Rückfallfreiheit zu verzeichnen (insgesamt fünf Mal Opiatzusatzkonsum innerhalb von 5 Jahren). Seit einem Jahr ist die Patientin vollständig rückfallfrei,

2   Anhand des Finnegan Scores können Ent-zugssymptome quantifiziert werden (maximal 45 Punkte; medikamentöse Therapie ab 8 Punk-ten).

Arbeitsamt, AMS Asyl-einrichtungen

Labor AKH

Kinder- undJugend-

psychiatrie AKH

Infektions-Abteilungen AKH

(HIV, Hepatitis)

Gynäkologie undGeburtshilfe AKH

Bundes-ministerium

f. Gesundheit

Sucht- undDrogen-

koordnationWien

Psycho-sozialer

Dienst (PSD)

PraktischeÄrztinnen und

ÄrzteAnwälteJugend-

Wohlfahrt

Gefängnis (Justiz,Polizei)

Kinder- undJugend-

psychiatrien

Andere Spitäler

ExterneSuchttherapieEinrichtungen

Kuratorium fürVerkehrs-sicherheit

Suchtforschung und –therapie

Multiprofessionell:Medizin, P�ege, Sozialarbeit,

Psychologie, Pharmazie

Abb. 1 9 Multidisziplinäres Betreuungsmodell der Dro-genambulanz, MUW

22 |  Psychopraxis 6 · 2013

Psychiatrie

Page 5: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

allerdings manifestierte sich die Alkohol-abhängigkeit neu. Sie berichtet über Pro-bleme mit ihrem Lebensgefährten (Vater der beiden Kinder, kein Substanzabusus bekannt) im vergangenen Jahr, worauf-hin sie sich nach langjähriger Beziehung trennte. Zeitgleich ließ sich in einer ret-rospektiven Anamnese der Beginn des Al-koholabusus mit täglichem Konsum (am Nachmittag beginnend) verzeichnen. Die Patientin trinkt heimlich und die tägli-che Alkoholmenge nimmt schleichend zu. Nach 5 Monaten beträgt der tägliche Konsum ca. ½ Flasche Wodka. Erstmals kommt es zu Symptomen wie Zittern und Unruhe am Nachmittag, die nach Alko-holkonsum verschwinden. Das Umfeld bemerkt die Veränderung nicht. Nach ca. 9 Monaten beginnt sich die Patientin ihres Alkoholproblems bewusst zu werden und unternimmt selbstständige Versuche, den Alkoholkonsum zu unterbinden, was ihr allerdings maximal 2 Tage durchgängig gelingt. Im darauf folgenden Monat gibt die Patientin in einem Therapiegespräch auf der Drogenambulanz bekannt, ihren Alkoholkonsum nicht mehr kontrollieren zu können. Es folgt ein sofortiger Thera-piebeginn mit Neurotop retard (300 mg, 1-0-0-1) und Meprobamat (400 mg, an-fangs 1-0-2-2 in fallender Dosierung; der-zeit 0-0-½-½). Die Patientin weist derzeit keinen Alkoholkonsum auf.

Therapie der Opioidabhängigkeit bei Graviden

Das Erreichen einer absoluten Medika-mentenfreiheit bei Opiatabhängigkeit im Rahmen einer Schwangerschaft ist kaum möglich. Da es durch ein abstinenzorien-tiertes Ziel zu erheblichem Stress für die Mutter kommt, ist dies nur bei sehr gut stabilisierten Frauen unter engmaschiger medizinischer Betreuung durch eine lang-same Reduktion der synthetischen Opioi-de anzudenken. Wiederholte Intoxikation und Entzugssymptome durch Rückfälle gehen mit einem permanenten An- und Abfluten des Plasmaspiegels einher, was zu massivem fetalem Stress und der Ge-fahr einer Frühgeburtlichkeit führt und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit sowie ein niedrigeres Gestationsalter bedingen kann (Fischer, 2002). Die primäre Thera-

pie der Opioidabhängigkeit in der Gravi-dität stellt eine State-of-the-art-Therapie mit den synthetischen Opioiden Metha-don oder Buprenorphin als First-line-Me-dikamente dar (Maremmani et al., 2011). Ziel der OET ist die Eindämmung des ille-galen Konsums, um eine dauerhafte Abs-tinenz bzw. eine Stabilisierung der Patien-tin zu erreichen. Neuere Studien bestäti-gen die Sicherheit für Mutter und Kind sowie die Effektivität einer OET in der Schwangerschaft (Jones et al., 2010). Eine OET ermöglicht eine kontinuierliche und umfassende medizinische und psychoso-ziale Betreuung während und nach der Schwangerschaft.

»  Jede zweite Frau mit einer Substanzabhängigkeit weist mindestens eine psychiatrische Komorbidität auf

Opioide sind gut plazentagängig, wes-halb es nach Diskontinuierung der Zu-fuhr über die Plazenta zum Auftreten eines NAS kommen kann, wobei ein NAS grundsätzlich auch nach Verabreichung anderer Psychopharmaka in der Gravidi-tät auftreten kann. Diese klinische Symp-tomatik wird in Kauf genommen, da bei Applikation der OET in einem multipro-fessionellen Setting die Vorteile überwie-gen und die engmaschige medizinische Betreuung eine sofortige Behandlung der Entzugssymptomatik des Neugebo-renen ermöglicht. Die Symptome eines NAS betreffen das zentrale und autono-me Nervensystem sowie den Verdauungs-trakt und den Atemapparat und können zwischen 24 h bis 10 Tage nach der Ge-burt auftreten (Fischer et al., 2006). Zwi-schen 48 und 94% der Kinder von opio-idabhängigen Müttern entwickeln ein be-handlungsbedürftiges NAS (Osborn et al., 2010), wobei Buprenorphin exponier-te Neugeborene ein geringer ausgepräg-tes NAS aufweisen (47%) als Kinder de-ren Mütter während der Schwangerschaft Methadon erhalten (50–81%; Jones et al., 2010). Bei Zeichen eines Entzugs des Neu-geborenen werden unterstützende Maß-nahmen wie vermehrte Zuwendung zum Kind, „Rooming-in“ und eine äußere Reizreduktion eingeleitet. Zudem ist eine medikamentöse Therapie mit Morphin-

tropfen Standard in dieser NAS-Therapie. Für die Behandlung eines NAS ist laut LKF-System3 eine Belagsdauer von 7–22 Tagen üblich (Metz et al., 2012). Als prob-lematisch aus kostenökonomischer Sicht ist jedoch anzumerken, dass jeweils nur die Position im LKF-System verrechnet wird, ungeachtet der tatsächlichen Auf-enthaltsdauer des Kindes. Bedauerns-werterweise kommt es in Österreich im-mer noch vor, dass Kinder wochenlang stationär behandelt werden, ohne dass die Mutter mit aufgenommen wird. Dies ist hochproblematisch in Bezug auf die Mutter-Kind-Bindung, weshalb der Fo-kus vermehrt auf Behandlungsstandards gelegt werden sollte.

Jede zweite Frau mit einer Substanz-abhängigkeit weist mindestens eine psy-chiatrische Komorbidität auf (Benning-field et al., 2010), wobei weitere belasten-de Faktoren wie Arbeits- oder Obdachlo-sigkeit, rechtliche und finanzielle Proble-me sowie physische und sexuelle Gewalt-erfahrungen hinzukommen. Häufig liegt zudem multipler Substanzmissbrauch vor. In diesem Zusammenhang muss auf die Gefahren des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft mit den schweren Fol-gen eines fetalen Alkoholsyndroms (FAS) hingewiesen werden (Fetal Alcohol Spec-trum Disorders Center for Excellence, 2013). Es besteht außerdem in vielen Fäl-len eine Zusatzverschreibung von Benzo-diazepinen (Aeschbach-Jachmann et al., 2008), die im Zuge der Behandlung wäh-rend der Schwangerschaft schnellstmög-lich reduziert werden sollte.

Besonders substanzabhängige schwan-gere Frauen unterliegen einer enormen sozialen Stigmatisierung. Daher ist eine kontinuierliche Behandlung in einem in-terdisziplinären und multiprofessionellen Setting von zentraler Bedeutung.

3   Das System zur „Leistungsorientierten Kran-kenanstaltenfinanzierung“ (LKF) bildet das Leis-tungsgeschehen in den österreichischen Kran-kenanstalten ab und dient als Grundlage für die Krankenanstaltenfinanzierung.

23Psychopraxis 6 · 2013  | 

Page 6: Schwangerschaft und Sucht; Pregnancy and chronic substance abuse;

Das multiprofessionelle Behandlungskonzept der Drogenambulanz

Die Drogenambulanz der MUW hat sich seit 1994 auf die Behandlung suchtkran-ker schwangerer Frauen spezialisiert. Die medizinische und psychosoziale Behand-lung der substanzabhängigen Patientin-nen während der Schwangerschaft und darüber hinaus erfolgt durch ein multi-professionelles Team aus ÄrztInnen, Psy-cholog(inn)en, Pflegepersonal und Sozial-arbeiter(inn)en. Darüber hinaus wird eine Vernetzung mit allen weiteren betreuen-den und behandelnden patientinnenrele-vanten Institutionen angestrebt (s. Abb. 1).

Die Frequenz der Behandlungstermi-ne variiert zwischen einmal wöchentlich bis täglich und wird individuell vom be-treuenden Arzt/der betreuenden Ärztin unter Berücksichtigung des Gesundheits-zustands sowie der Stabilität der Patien-tin festgelegt. Die in der OET eingesetz-te Medikation (Methadon oder Buprenor-phin) wird gemeinsam mit dem Arzt/der Ärztin ausgewählt. Hierbei wird vor allem auf die Verträglichkeit der Substanz, die Präferenz der Patientin aufgrund positiver Vorerfahrungen mit der Substanz und die medizinische Indikation geachtet.

Fazit für die Praxis

FDie dargestellten Fälle verdeutlichen die Komplexität und Vielschichtigkeit einer Abhängigkeitserkrankung so-wie die Bedeutung eines multiprofes-sionellen Behandlungskonzepts für eine schnelle Reaktion auf eine un-günstige Entwicklung der Kinder (v. a. durch engmaschige medizinische Be-treuung und Vernetzung der Behand-lungseinrichtungen). 

FDie kontinuierliche Behandlung der Mütter über die Schwangerschaft hi-naus ist unabdingbar für eine dauer-hafte Stabilisierung sowie die Mög-lichkeit, die Obsorge für das Kind zu übernehmen und zu behalten. 

FUnbedingt zu beachten ist außerdem, dass oftmals ein Aufbau bzw. eine Unterstützung der Behandlungsmo-tivation notwendig ist. Hierfür haben sich verhaltenstherapeutische Inter-ventionen wie das angeführte Gut-

scheinprogramm (CM) oder auch Mo-tivational Interviewing (z. B. Lundahl et al., 2013) als erfolgsversprechend erwiesen.

FDa der Großteil der Patientinnen psy-chiatrische Komorbiditäten aufweist, gilt es als unzulänglich, bei der Be-handlung rein auf die Suchterkran-kung zu fokussieren. Daher sollte stets eine umfassende Diagnostik des Gesamtbildes mit standardisierten Diagnoseinstrumenten erfolgen, die idealerweise an den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser an-gesiedelt ist. Diese ermöglicht einen multidisziplinären Behandlungsan-satz, der die pränatale Versorgung si-gnifikant verbessert und sowohl die persönliche Belastung der Mütter, das Risiko für Entwicklungsdefizite der Kinder als auch gesellschaftliche Kosten reduziert. 

FEine adäquate Diagnose ermöglicht außerdem die Behandlung möglicher Gesundheitsprobleme des Kindes, wie des NAS, nach neuesten Richtli-nien aus Best-Practice-Modellen.

FDer Einsatz von Buprenorphin bei substanzabhängigen Graviden zeigt vielversprechende Ergebnisse, vor allem in Bezug auf ein reduziertes NAS. Allerdings sind weitere Studien mit größeren Stichproben notwen-dig, um die Ergebnisse zu generalisie-ren. Die Verfügbarkeit von Buprenor-phin als auch Methadon ist wichtig, um vielfältige Behandlungsmöglich-keiten der Opioidabhängigkeit in der Schwangerschaft zu gewährleisten. 

FDer Fokus der Behandlung sowie For-schung in diesem Bereich muss auf das Wohlergehen der Mutter sowie eine Reduktion des Stigmas einer Suchterkrankung bei schwangeren Frauen gerichtet sein, wobei auch ge-setzliche Rahmenbedingungen zu be-achten sind. 

FDas Amt für Jugend und Familie ist klar gesetzlich geregelt zuständig für den Schutz des Kindes. Eine stabili-sierte Patientin in OET darf keiner Be-nachteiligung ausgesetzt werden. Da-her ist eine Information des Amts nur in Fällen angebracht, in denen tat-sächlich das Risiko einer Fremdge-fährdung besteht, wobei die Einschät-

zung dessen eine zentrale Aufgabe des/der behandelnden Psychiaters/Psychiaterin ist.

FIm Bereich der Substanzabhängig-keit in der Gravidität muss unbedingt eine Balance zwischen einer Laissez-faire-Haltung und einer Überregulie-rung gewahrt werden. 

FEin besonderes Augenmerk ist auf die Gefahren des Alkoholkonsums zu richten, da massive Schädigungen im ersten Trimenon auftreten, wenn die Schwangerschaft häufig noch un-erkannt ist. Standards in Diagnostik und Behandlung müssen in Bezug auf diese Risiken weiter elaboriert und einheitlich angewandt werden.

Literatur bei den Verfasserinnen.

Korrespondenzadresse

Mag. Laura BrandtZentrum für Public Health, Medizinische  Universität WienKinderspitalgasse 15, 1090 WienÖ[email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  L. Brandt und G. Fischer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

24 |  Psychopraxis 6 · 2013

Psychiatrie