20
Nr. 7 | 30. August 2020 Schweizer Literatur Kann ein zweites Leben gelingen? Rolf Lappert erzählt von vier Aussenseitern 8 Island-Roman Joachim B. Schmidt ist eine Entdeckung 10 Indianer Chronik einer historischen Katastrophe 14

SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Nr. 7 | 30.August 2020

SchweizerLiteraturKanneinzweitesLebengelingen?RolfLapperterzähltvonvierAussenseitern8

Island-RomanJoachimB.SchmidtisteineEntdeckung10

IndianerChronikeinerhistorischenKatastrophe14

Page 2: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

2 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

Inhalt

Kürzlichwar ich an einemKlassentreffen.WegenCorona fandes digital statt. Vielemeiner früherenMitschülerinnenundMit-schüler hatte ich seit über zehn Jahrennichtmehr gesehen. Dasassenwir also vor unserenComputern, liessen denBlick vonVideo-Kästchen zuVideo-Kästchen schweifen und tauschtenNeuigkeiten aus.Wer lebtwo?Wermachtwas? Bei einigentauchte zwischendurch einKind oder einHund imBild auf,andere blendeten zurAuflockerungwechselndeHintergründeein. Eswar seltsam: Bei diesemvirtuellenKlassen-Meetingschien es, als schnurrten unsere Leben inWindeseilezusammen, als bliebe zuletzt nichts übrig ausser Stichworten.Dennwas sagen schon in die Runde geworfeneCV-Meilensteinedarüber aus,waswirwirklich erlebt haben?Umunsere tatsächlichen (Um-)WegeundErfahrungen zu teilen,hättenwir anfangenmüssen zu erzählen, konkret und genau. IneinemZoom-Talk in einer grossenGruppe ist das aber nichtmöglich. In einemBuchhingegen schon. Romanewidmen sichvon jeher der Frage,was das Leben eigentlich ist undwiewir zudenenwerden, diewir sind. Dies tut auchder Schriftsteller RolfLappert in seinemneuen, fast tausendseitigenRoman «DasLeben ist ein unregelmässiges Verb». Formal gekonnt und genaubis zumExzess zeichnet Lappert vier Lebensgeschichten vonjugendlichenAussenseitern nach (S. 8). Hier findetman es, dasLebenhinter den Stichworten. Undweil zurzeit gerade zahlrei-che verheissungsvolle Schweizer Bücher erschienen sind, habenwir sie zu einemSchwerpunkt gebündelt (S. 8–13). IchwünscheIhnen eine lebensnahe Lektüre.Martina Läubli

DasLebenhinterden

Stichworten

Rolf Lappert(Seite 8).Illustration vonAndré Carrilho.

Nr. 7 | 30.August 2020

SchweizerLiteraturKanneinzweitesLebengelingen?RolfLapperterzähltvonvierAussenseitern8

Island-RomanJoachimB.SchmidtisteineEntdeckung10

IndianerChronikeinerhistorischenKatastrophe14

Chefredaktion Luzi Bernet (lzb.)RedaktionMartina Läubli (läu., Leitung),Manfred Papst (pap.), Peer Teuwsen (PT.)StändigeMitarbeitFlorian Bissig, ValeriaHeintges,ManfredKoch, EvaMenasse, Katja Schönherr, Tobias Sedlmaier, Hans tenDoornkaat, SachaVerna, Jürg ZbindenProduktionDaniela Salm, BjörnVondras (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion),MarkWalter (Layout)VerlagNZZ amSonntag, «Bücher amSonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, E-Mail: [email protected]

Belletristik3 ElenaFerrante:

Das lügenhafte Lebender Erwachsenen

4 RobertSeethaler:Der letzte Satz5 DavidGrossmann:WasNinawusste

MonikaMaron:Artur Lanz6 EvaGarcía Sáenz:DieHerrender Zeit

Kinder-undJugendbuch7 EvaRoth:Lila Perk

Sarah Jäger:Nachvornnach SüdenAdamStower:KönigGuuJanPaul Schutten&Arievan 'tRiet:Nette SkeletteJanPhilippReemtsma:Wegwar das Ihmchen!

SchweizerLiteratur8 Rolf Lappert: Leben ist ein

unregelmässigesVerb10 JoachimB. Schmidt:Kalmann

RolandButi:Das Leben ist einwilderGarten

11 DorotheeElmiger:Ausder Zuckerfabrik

12 Charles Lewnisky:DerHalbbart

KurzkritikenSchweizerLiteratur13 ThiloKrause:Elbwärts

GertrudLeutenegger:SpäteGästeUsamaAlShahmani:ImFallen lernt die Feder fliegenSamiraEl-Maawi:In derHeimatmeinesVaters riechtdie Erdewie derHimmelJensSteiner:AmeisenuntermBrennglasTimKrohn:Die heiligeHenni derHinterhöfe

Sachbuch14 ManuelMenrath:

Unter demNordlicht.Indianer ausKanada erzählenvon ihremLand

16 MinekeSchipper:MythosGeschlecht

17 KlausViehweg:Hegel.Der Philosophder FreiheitDietmarDath: 100 SeitenHegel.

18 JungH.Pak:KimJong-un

KurzkritikenSachbuch18 PeterKamber:

Fritz undAlfredRotterLuiseSammann:Grossmachtträume.Die TürkeizwischenDemokratie undDiktaturJensMühling:Schwere See.EineReise umdas SchwarzeMeerJodyKantorundMeganTwohey:#MeToo. Vonder erstenEnthüllungzur globalenBewegung

Kolumne19 Was liest ... Sina

BestsellerAugust 202020 KolumnevonEvaMenasse:

Schreiben können ja alle

Erzählt die Geschichte von Kanadas Indianern:Manuel Menrath (Mitte) mit Chief Bart Meekis (l.)und Deputy-Chief Robert Kakegamic. (S. 14)

Martina Läubli,Redaktionsleiterin«Bücher am Sonntag»

Page 3: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Belletristik

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 3

ElenaFerrante:Das lügenhafteLebenderErwachsenen.Übersetzt vonKarinKrieger. Suhrkamp2020, 415 S., umFr. 34.–, E-Book 26.–.

Von JanikaGelinek

«C’est le ton qui fait lamusique» – für denneuenRomander italienischenBestseller-autorin Elena Ferrante lässt sich kaumeine bessereMetapher finden. Suchtmanim Internet nachderHerkunft des Sprich-worts, stösstmanauf eine StudiedesMax-Planck-Instituts, wie im menschlichenGehirn Veränderungen des Tonfalls wäh-rend eines Gesprächs entschlüsselt wer-den. Unser Gehirn verfügt über die stau-nenswerte Fähigkeit, die Kehlkopfbewe-gungendesGegenübers zu simulieren,umdie Vibration der eigenen Stimmbänderund damit die Tonhöhe einer Äusserungzu kontrollieren – und damit zu bestim-men, ob in der Stimme eine Frage odereine Antwort, Ironie oder unterdrückterZornmitschwingt.

Neapel, zweiWeltenDie 13-jährige Giovanna aus «Das lügen-hafte Leben der Erwachsenen» hört sehrgenau auf die unterschiedlichen TöneihresUmfelds: dieDiskrepanz inder Stim-me ihres Vaters, der zärtlich zu ihr undkurz angebundenund scharfmit den aka-demischen Kollegen spricht, die immerruhige, kultivierte Stimme ihrer MutterNella – «sehr gut geeignet, wenn es umsAusbügeln ging» – und den groben undenergische Ton ihrer Tante Vittoria, dieneapolitanisch flucht, schwört undschimpft. Als ihr Vater zu Beginn desRomans leise zu ihrer Mutter sagt, Gio-vanna sei hässlich, sie schlage ganz nachVittoria, bricht für dasMädchen eineWeltzusammen. Sie, die Tochter aus gutemHaus, von den Eltern liebevoll erzogen,soll sein wie die verhasste Schwester desVaters, Putzfrau in Neapels proletari-schem Viertel Pascone?

Die Verletzung sitzt tief, zugleich bautsich Giovanna daraus trotzig eine neueWelt auf: Sie lernt dieseTante kennenundmit ihr eine andere Art des Sprechens, inderGefühle nicht unterdrückt undMinennicht gewahrt bleiben müssen. Beimersten Treffen erzählt Vittoria Giovanna(rosa Strickjacke, rosa Schleifchen imHaar) gleich von ihrer Liebe zu Enzo,einemverheiratetenPolizisten, nun leidertot,mit demsie es sowild getriebenhabe,dass sie nie wieder einen andern Mannansehen möge: «Sag das deinem Vater:Vittoria hat gesagt, wenn ich nicht ficke,wie siemit Enzogefickt hat, dann istmeinLeben sinnlos. Genausomusst du ihmdassagen.» An solchen Stellenwird deutlich,wie Ferrante, auch ohne im neapolitani-schen Dialekt zu schreiben, die unter-

ItalienischeLiteraturAuch in ihremneuestenRomanerweist sichElenaFerranteals genaueBeobachterinvonBeziehungenundsozialenGegensätzen

Erwachsenwerdenheisstlügenlernen

schiedlichen Welten markiert: Vittoriabringt deftig die Dinge auf den Punkt,hängt aber mit geradezu rührenderKeuschheit ihrer einen wahren Liebe an,mit ihrenElternhingegenkannGiovannazwar vermeintlich alles zivilisiert undkultiviert besprechen, umsoerschrecken-der ist für sie dann die Entdeckung, dassihre Eltern Geheimnisse haben, die kei-neswegsmit gängigenMoralvorstellungenin Einklang zu bringen sind.

DieMachtderSpracheAber Elena Ferrante wäre nicht so eineausgezeichneteAutorin,wenn sie sichmitder unterkomplexen Gegenüberstellungeines vermeintlichverstellten, bürgerlich-liberalen Lebensentwurfs und eines ver-meintlich authentisch proletarischenbegnügte. Ebenso wenig hält sie sich mitdem Kontrast einer angeblich unschuldi-genKinder-undeiner verlogenenErwach-senenwelt auf. Ihr neuer Roman ist viel-mehr durchdrungen von einer Such-bewegung,mit der jedeFigur ausgeleuch-tet beziehungsweise abgehört wird.

Nicht nurGiovannas liberale ElternmitihremenervierendverständnisvollenGe-baren, auchVittoria erweist sichmitunterals lügenhaft, weinerlich und zänkisch –auch ihre Welt ist nicht die wahre. Sosucht sich Giovanna eine neue Bezugs-figur und einen neuen Ton in Gestalt desjungen Theologen Roberto Matese: «Fürmichwar seineRedevonAnfangbis Endevor allemeinFluss bezaubernderKlänge,die aus seinemschönenMund, aus seiner

Kehle drangen.» Giovanna ist zum erstenMal verliebt, doch Roberto ist leider derVerlobteGiulianas, Tochter des totenPoli-zisten Enzo, die zu Vittoria ebenfalls einfamiliäres Verhältnis pflegt. Hier verliertsichderRomanmanchmal zu sehr in psy-chologischenDetailbetrachtungendiesesBeziehungsgeflechts, ohne jedoch diesozialeGemengelage zuvernachlässigen,die für Ferrante so charakteristisch ist: dieGegensätze zwischen dem armen unddem reichen Neapel, die Macht der Spra-che jener, die sich gewählt ausdrückenkönnenwiediedarauf gedrillteGiovanna,und die Ohnmacht Giulianas, als sie imKreis von Robertos rhetorisch versiertenMailänder Unibekanntschaften unbehol-fen im Dialekt herausplatzt.

Giuliana jedoch ist schön,währendGio-vanna verzweifelt versucht, dem VerdiktderHässlichkeit einen frühreifen Intellektentgegenzusetzen. In diesem Ringen istsie den anderen weiblichen Figuren Fer-rantes verwandt, hier nur in einembeson-ders frühenundverletzlichenStadium, imvergeblichenBemühen, die Tonlagenumsieherumzuentschlüsselnund zu imitie-ren. Ähnlich wie Annie Ernaux und AliceMunro umkreist Elena Ferrante in ihremWerk immerwieder viele,wennnicht alleEntwicklungen und Empfindungen imLebeneiner Frauund fördert dabei immerneue Schichten zutage. Am Ende ihresneuesten Romans ist es der unsentimen-taleBefund, dassErwachsenwerden letzt-lich nichts anderes bedeutet, als Gestal-tungsfreiheit beim Lügen zu erlangen. ●

Bei Elena Ferrantedreht sich alles umNeapel. ImBildBewohnerinnenderAltstadt.

MATT

HIASLÜ

DEC

KE/U

LLST

EINBILD

Page 4: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Belletristik

4 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

RobertSeethaler:Der letzteSatz.Hanser Berlin 2020. 128 Seiten,Fr. 28.90, E-BookFr. 23.90.

Von Peer Teuwsen

Woher kommt das eigentlich, dieses sichAntanzen,Anschleichen, RanwanzenderSchriftsteller andie berühmtenToten? Istdies marketingtechnischen Gründen ge-schuldet,weilman sohofft, auchnochdieAnhängerdesprominentenProtagonistenfür sein Buch zu gewinnen? Oder ist manschlicht eigenständig erarbeiteter Stoffeverlustig gegangen?

Jetzt hat es also auch noch der Öster-reicher Robert Seethaler getan und einGenie ausderGruft gebuddelt. Er begleitetdengrossenKomponisten,DirigentenundOpernhausdirektor Gustav Mahler aufseiner letzten Reise 1911 von New Yorknach Europa, im Spätherbst seinesLebens.

Und Robert Seethaler hat sich etwasvorgenommen. Er will das Genie entklei-den und ins Private verkleinern, da sindnur noch Schmerzen, die Hämorrhoiden,das rasende Herz sowie der Verlust, derTod der Tochter Maria und die verloreneLiebe seiner Frau Alma.

Uns begegnetGustavMahler in diesemBuch, das sich mit bloss 128 grosszügiggesetzten Seiten Roman nennt und docheine Erzählung bleibt, als dahinsiechen-derMensch, in eineWolldecke gewickelt,auf dem Sonnendeck des SS «Amerika»,

ÖsterreichischeLiteraturRobertSeethalerbegleitetGustavMahleraufseiner letztenReiseüberdenAtlantik.DerMann istnurnochSchmerzundVerlust.UnddasBuch leiderkeinGewinn

DasGenieinsPrivateverkleinert

ANZEIGE

derErkenntnis, das leistet Seethalernicht.Er kommt meist über Allerweltsweishei-ten nicht hinaus: «So viele Abfahrtenundkeine einzigeAnkunft.»UnddasMeer, dieMusik,derTod,KonstantendiesesBuches,ihnen verweigert der Autor die Beschrei-bung. Schade, aber leider Programm die-ses Buches. Dazu kommenein paarmusi-kalische Ungenauigkeiten, die vermutenlassen, Seethaler sei nicht ganz so tief inseinen Stoff eingetaucht wie nötig.

Stark ist der Österreicher aber in derBeschreibung einzelner Szenen.Meister-haft etwa, wie er die Entfremdung vonAlma und Gustav Mahler schildert. «Ichhabe mich in ein Kind verliebt, aber eineFrau braucht mehr als ein Kind an ihrerSeite», sagt Alma Mahler im Streit zuihrem Mann. Grandios auch der – aussprachlichen Gründen – indirekte Dialogmit Auguste Rodin, der eine Büste vonMahler anfertigen muss – und diesen vorallem für seine Widerspenstigkeit aufsHerrlichste beschimpft. Aber trotz diesenMomenten schriftstellerischer Grösse istdies insgesamt zuwenig für einenSeetha-ler, den man an dem Grossen misst, waser geleistet hat. ●

die rauschenden Erfolge liegen samt undsondershinter ihm.DerMann ist nurnochErinnerung, da ist keine Zukunft amHori-zont, nur ein langsames «Verstummen inder Ewigkeit».

Das wäre an sich eine gute Ausgangs-lage, allein, der Autor so wunderbarerBücherwie «DerTrafikant» oder «Ein gan-zesLeben», dieserMeister der Spärlichkeitund der Lakonie, kann seinemKonstruktzu wenig abgewinnen.

Selbstverständlich kommt das Wich-tigste im Leben Mahlers vor, das ewigeKranksein, seine grossenWerke, vor allemnatürlich seine 8. Sinfonie, die «Sinfonieder Tausend», die 1910 in München vor3000Menschenuraufgeführtwurde, seinunermüdlicher Schaffenseifer, der Anti-semitismus, der dem musikalischenReformer entgegenschlug, und AlmaSchindler, seine grosse Liebe, die erirgendwann vergessen haben muss (unddie sich gegen Ende seines Lebens in denArchitekten Walter Gropius verliebte).Aber das kann man in jeder Biografie er-fahren, und dies um einiges genauer.

Das aber, was des Schriftstellers Arbeitwäre, das Herausschälen eines Nukleus

Ein Bild ausglücklichenTagen:Gustav undAnnaMahlermit ihrenTöchternMariaundAnna.

FINEART

IMAGES

PAULNIZONDer Nagel im Kopf

Ein Film vonChristoph Kühn

Ab 10.September im Kino

Page 5: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 5

DavidGrossman:WasNinawusste.Übersetzt vonAnneBirkenhauer.Hanser2020. 352 S., umFr. 36.–, E-Book 20.–.

VonKlaraObermüller

In Israel und im ehemaligen Jugoslawienist sie eine bekannte Persönlichkeit: EvaPanić-Nahir, Partisanin, Insassin auf TitosGefängnisinsel Goli Otok, Mitglied einesKibbuz jugoslawischer Einwanderer imNorden Israels. Nun hat David Grossmanihr in seinem neuen Roman «Was Ninawusste» ein literarischesDenkmal gesetzt.Eva Panić-Nahir ist 2015 im Alter von 96Jahrenverstorben.Vor ihremTodhabe sieihn gebeten, ihreGeschichteunddie ihrerTochter aufzuschreiben, sagt derAutor imNachwort, und ihmdabei alle Freiheit ge-lassen, sich ihreGeschichte «selbst vorzu-stellen und zu erfinden, wie sie niemalsgewesen ist».Der Hinweis ist wichtig. Denn David

Grossman hat einen Roman geschrieben,keinen Tatsachenbericht. Er hat Namengeändert, Szenen erfunden und seine Er-zählstimme Gili geliehen, die sich alsEnkelin der Protagonistin entpuppt. Zu-sammenmit ihrem Vater dreht Gili einenFilm, in dem sie neben ihrer GrossmutterVera, wie sie im Buch heisst, auch derenTochter Nina, ihre Mutter, zu Wort kom-men lässt. Die Dreharbeiten an diesemFilm geben den einen Handlungsstrangdes Romans ab, die Erinnerungen undEmotionen, die dieKonfrontationmit derVergangenheit auslöst, den anderen.Das mag auf den ersten Blick etwas

kompliziert klingen und den Einstieg insBuchnicht eben erleichtern.Dochmit derZeit realisiertman, dass es hier ebennichtnur um die Geschichte dieser einen Frauund Heldin geht, sondern ebenso sehrauch um die Folgen, die ihr Schicksal aufihreNachkommenhatte. Traumata setzen

MonikaMaron:ArturLanz.S. Fischer 2020.220 S., umFr. 33.-, E-Bookum22.–.

Von Julia Kohli

WieeinVampir habe sie sich inArtur Lanz’Biografie verbissen, gesteht die pensio-nierte Ich-Erzählerin Charlotte Winter.Mit dem 50-jährigen Physiker hat sie sichzufällig in einemBerliner Park angefreun-det. Sie studiert ihn fortan als Symptomdes Postheroischen, denn Artur leidet anseiner Mutlosigkeit und seinemNamen –KönigArtus diente derMutter als Inspira-tion. InCharlotte keimt eineHeldensehn-sucht auf, als sie sich in die Artussageeinliest. Spätestens hier hätte eine kriti-scheAuseinandersetzungmit einemheik-len Begehren einsetzen können, da Hel-

IsraelischeLiteraturDavidGrossmanschafft ausderBiografievonEvaPanić-Nahir einneuesGanzes

IndenDunkelkammerndesSchweigens

DeutscheLiteraturMonikaMaronmokiert sichübereineangeblichpostheroischeGesellschaft

ImmerdieseSehnsuchtnachHelden

sich fort von Generation zu Generation,davon weiss in Israel fast jede Familie zuberichten. So auch die Familie Panić-Nahir: EvasEntscheidung, lieber ins Straf-lager zu gehen, als ihren verstorbenenMann einen Verräter zu nennen, magnachvollziehen, wer dazu in der Lage ist.Ihre Tochter ist es nicht. Sie kann nichtvergessen und nicht verzeihen. Sie kannnur davonlaufen und im eigenen Lebenauf schmerzhafteWeisewiederholen,wasihr angetan wurde. Unter den Folgen lei-det die ganze Familie bis ins zweite unddritte Glied.Und genau darum, um die seelischen

Spätfolgenpolitischer Entscheide, geht esin diesem Roman. Obwohl Grossman imNachwort gesteht, dass auch erMühehat,EvasWahl zuverstehen, spürt ermit gros-sem Einfühlungsvermögen und sprach-lichem Feingefühl den Beweggründennach, die Menschen wie seine Vera sohandeln lassen,wie sie ebenhandeln: derunbedingten Liebe einer Frau, die aufnichts und niemanden Rücksicht nimmt,aber auch den Verletzungen, die diesesVerhalten ihren Nächsten zufügt. Und esgelingt ihm sogar, am Ende glaubhaft zu

denkult oft der Nährboden von politi-schem Extremismus ist.Stattdessen umschifft Maron diesen

wunden Punkt und löst ihren Roman inkulturpessimistischen Jammerrundenauf.WährendCharlottemit ihren intellek-tuellen Freunden Austern und Cocktailsschlürft, schimpft sie über gesellschaft-lichen Wandel: Gendersternchen bedro-hendieMännlichkeit, der Islam führt zumUntergangdesAbendlands, der neueGottheisst «Klima». Charlotte findet schliess-lich in Arturs Mitarbeiter Gerald endlicheine «Kämpferseele».Heldenhaft hat die-ser durch Facebook-Kommentare seinenökoaffinen Arbeitgeber provoziert – derBegriff «grünes Reich» kam nicht gut an.Eine scharfsinnige Beobachtung der

Political-Correctness-Debatte ist dasnicht, eher hakt Maron eine dumpfe Res-

machen,wie es zu einerVersöhnung zwi-schenMutter undTochter kommenkann.Über EvaPanić-Nahir sindbereitsmeh-

rere Bücher geschrieben und Filme ge-dreht worden. Grossman hat sie alle ge-sehen und gelesen und mit ihr selbst imLaufe einer langjährigen Freundschaftviele Gespräche geführt. Daraus hervor-gegangen ist ein neues Ganzes, das imGegensatz zu früherenDokumentationennicht nurdas bekannteEinzelschicksal imBlick hat, sondern auch das ganze kom-plexe Geflecht verschwiegener und ver-drängter Gefühle aufdeckt, die daraushervorgegangen sind.Es ist eines der unheilvollen Paradoxe

der israelischenGesellschaft, dass auf dereinen Seite die Erinnerung an die Verfol-gungsgeschichtedes jüdischenVolkes fastzwanghaft wachgehalten wird, auf deranderenSeite aberdieÜberlebendenüberihre Leiden selbst mit ihren Nächstennicht reden können. David Grossmansjüngstes Buch kann man auch als Appellverstehen,diesenBanndesSchweigens zubrechen und imWechselspiel von Fragenund Antworten Heilung der noch immerschwärendenWunden zu suchen. ●

sentiment-Liste ab. Vor diesem Hinter-grundwirkt die einnehmende, leichtweg-lesbare Sprache fastmanipulativ. Für einekritische Auseinandersetzung mit sichselbst ist die Protagonistin zu faul, sie ver-steckt sichwahlweise hinterMichel Hou-ellebecqs islamkritischemRoman«Unter-werfung» oder frauenverachtenden Aus-sagen von Doris Lessing.Die preisgekrönte, aufgrund ihrer teil-

weise rechtspopulistischenAussagenum-strittene Autorin legt mit ihrem neuestenWerk eine Antithese zu ihrem vor vierzigJahren erschienenen Debütroman «Flug-asche»vor. In jenembeschriebsie,wieeineDDR-Reporterin die Umweltverschmut-zung einer Fabrik aufdeckt und bei ihremstaatstreuen Arbeitgeber den Job riskiert.Ihres früheren Mutes als ehemalige DDR-Autorin scheintMaronmüde zu sein. ●

DieAdria-Insel GoliOtokwar unter Titoein Straflager fürpolitischeGefangene.

Page 6: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Belletristik

6 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

ANZEIGE

EvaGarcíaSáenz:DieStilledesTodes (Bd. 1),DasRitualdesWassers (Bd.2),DieHerrenderZeit (Bd.3).Erschienenbei Scherz 2019und 2020.UmFr. 22.–, E-Book 14.–.

Von Jürg Zbinden

SkandinaviensKrimiautorenmüssen sichwarmanziehen.Dennnungesellt sichmitEva García Sáenz eine Stimme aus Süd-europa zu denArrivierten.Mit über einerMillion verkauften Büchern allein in Spa-nien kann die Autorin auch internationalnicht mehr ignoriert werden: Eine TV-Serie ist in Planung, während «Die Stilledes Todes» bereits mit Javier Rey in derHauptrolle verfilmt wurde. Das Böse hates zwar gerne kalt, aber lässt der Teufeldie Sünder nicht auch im Fegefeuer ihreSchuld abbüssen? Die Schuld hat vieleGesichter.Bandeinsder Trilogie ausdemBasken-

land beginnt damit, dass die LeserschaftüberdenZustanddesProtagonistennüch-tern in Kenntnis gesetzt wird – von ihmselbst oder dem, was von ihm übrig ist:Inspector Unai López de Ayala, genannt«Kraken», ist das letzteOpfer eines Serien-mörders, und er endetmit einer Kugel im

SpanischeLiteraturDiepsychologisch fundierteKrimi-ReihevonEvaGarcíaSáenz fesseltüber 1500Seitenhinweg

AtemberaubendeTrilogieausdemBaskenlandKopf.Wie esdazukam, erzählt der Inspec-tor a.D. vonAnfang anund schonungslos.Doch weil noch zwei Bände folgen, stirbtauch die Hoffnung, dass die Kugel Kra-kens Leben auslöscht, zuletzt.Sofort zieht einen die Geschichte um

einen Mörder, der Paare ermordet, dieausser dem Alter nichts gemeinsamhaben, in ihren Bann. Ayala alias Kraken,dessen Spitzname seit Jugendzeiten aufseine überlangen Arme zurückgeht, istFallanalytiker bei der Kriminalpolizei inVitoria, derweissen Stadt, und als solcherein Experte für das, was die Täterin, denTäter oder die Täter zum Töten bewegt.SeineKollegin InspectoraEstíbalizRuizdeGauna, genannt Esti, ist als Viktomologinauf die Analyse der Opfer spezialisiert.KrakenundEsti sind ein eingeschworenesTeam. Beider neue Chefin ist die aus La-guardia stammende Subcomisaria AlbaDíaz de Salvatierra. Eine weitere Haupt-figur ist der 94-jährige Grossvater, derUnai und dessen kleinwüchsigen BruderGermángrossgezogenhat undder auf dieHeilkraft seiner Äpfel vertraut.Es braucht eine Weile, bis man sich an

die inunserenOhren exotisch klingendenNamengewöhnt hat, aberwar das bei denFinnen, Norwegern, Schweden, Dänen

und Isländernnicht genauso? Ihreneigen-tümlichen Reiz verdankt Sáenz’ Trilogiedem psychologisch fundierten Plot undnatürlich der Tatsache, dass einem dieProtagonisten mehr und mehr ans Herzwachsen. Gegenwart und Vergangenheitwechseln sichdergestalt ab, dassdie Leserallmählich einMuster, einMotiv zuerken-nen meinen. Sie werden subtil zu Mit-wissern gemacht, die bisweilen fürchten,sie wüssten mehr, als für eine gesundeNachtruhe gut ist. Und die darob dieSchlafenszeit nach hinten verschieben,wider besseres Wissen. Im dritten Bandführt uns die Autorin bis ins ausgehende12. Jahrhundert zurück, denn soweit rei-chen dieWurzeln des Bösen.Wer überlebt, wer muss sterben? Wie

entwickelt sich der Generationen-Gapzwischen den genialischen HackernGolden Girl, 67, und dem engelsgesichti-gen, bartlosen MatuSalem? Was für einundurchsichtiges Spiel spielen die ein-eiigen Zwillinge Tasio und Ignacio Ortizde Zárate?Waswird aus demGrossvater?Eva García Sáenz’ Trilogie umfasst mehrals 1500 Seiten, was sich wie der Jakobs-weg der Kriminalliteratur anhört, aberseien Sie versichert: Die Zeit fliegt beimLesen nur so dahin. ●

Ein Dorf in den Bergenund ein Fremder, der dreiBrüdern die Welt eröffnet.

NachMelnitz das neueMeisterwerk vom großenErzähler Charles Lewinsky.

Ein Buch, das zeigt, wie aus Geschichten Geschichte wird

Charles Lewinsky

Auch als eBook

Diogenes

Roman· Diogenes

CharlesLewinsky

Der Halbbart

Foto:Serge

Höltsch

i/©

Dioge

nesV

erlag

Page 7: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30. August 2020 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

7 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. August 2020

Eva Roth: Lila Perk. Jungbrunnen 2020.160 S., um Fr. 22.– (ab 10 J.).Sarah Jäger: Nach vorn nach Süden.Rowohlt Rotfuchs 2020. 224 S.,um Fr. 26.–, E-Book 16.– (ab 14 J.).

VonAndrea Lüthi

Die Ferien sind zwar vorbei, doch diesezwei Romane lassen den Sommer noch-mals aufleben. Fern von Strandidylle undAlpenromantik verbringen Vater undTochter Zeit in der Wildnis, und ein paarJugendliche machen einen Roadtripdurch Deutschland. Eva Roths Kinder-roman «Lila Perk» beginnt leicht ver-rückt: Als wäre nichts dabei, erteilt LilasVater seiner Tochter eine Fahrstunde.

Lila ist Primarschülerin, aber ihr Vaterfindet, sie müsse für ihn einspringenkönnen, wenn sie ihre Ferien zu zweit inder Wildnis verbringen. Froh, dass derVater seit dem Tod der Mutter wiedermehr spricht, macht Lila mit. Dass er imslowakischen Niemandsland Schneckenkocht, das Survival-Buch und das Zeltdavongeschwemmt werden und diebeiden bei einem Gewitter in Lebens-gefahr geraten, geht ja noch. Aber als Lilamerkt, dass ihr Vater mit ihrer Lehrerin,der «Walze», angebändelt hat und diesegar in die Wildnis einlädt, reicht es ihr.Wozu hat sie schliesslich Autofahren ge-lernt? Die Schweizer Autorin Eva Roth

RomanefürKinderundJugendlicheAufReisen lerntmansichselbstundanderebesserkennen.DavonerzählenEvaRothundSarahJäger spannendundtiefgründig

SommerheisstUnterwegsseinvorn nach Süden» hat zwar einen Führer-schein und ein Auto, fährt aber schlecht.Trotzdem bietet sie sich als Fahrerin an,als ihre Clique Jo suchen will, der nacheinem Streit abgetaucht ist. Die Cliquebesteht aus Jugendlichen, die als Aushil-fen beim Penny-Markt arbeiten und sichjeweils im Hinterhof treffen, darunter dieschnoddrige Dauerpraktikantin Vika,Marie, die selbst in Jogginghosen elegantaussieht, Otto, der mit seiner Band herum-tourt, und der charmante Can, in den Lenaverliebt ist. Lena, genannt «Entenarsch»,sieht sich dagegen als «Schlusslicht einerbeschissenen Polonaise». Immer wenn siecool sein will, rutscht ihr stattdessenetwas Altkluges heraus.

Die Fahrt im unklimatisierten Autoführt nach Münster, Fulda und Ulm, bisLena eine Idee hat, wo Jo sein könnte.Jägers Roman überzeugt durch ungeküns-telte Dialoge und lebensecht gezeichneteCharaktere, die planlos durch den Alltagstolpern. Auch die Stimmung bleibt hän-gen, etwa von Open Airs in verschwitztenT-Shirts oder lauwarmer Fanta undFladenbrot mit Ketchup zum Frühstück.

Die beiden Sommerromane von EvaRoth und Sarah Jäger lesen sich ver-gnüglich, sind aber zugleich tiefgründigund feinfühlig erzählt. Das Reiseerlebnismacht beide Hauptfiguren selbstbewuss-ter, und während Lila und ihr Vater wie-der zueinanderfinden, findet Lena ihrenPlatz in der Clique. ●

lässt ihre Hauptfigur mit erfrischenderSelbstverständlichkeit die Initiative er-greifen. Wenn es um die verstorbeneMutter geht, findet sie einen behutsamenTon und schafft eine gelungene Balancezu den komisch-skurrilen Episoden.

Die 19-jährige Ich-Erzählerin Lena inSarah Jägers Jugendromandebüt «Nach

Adam Stower: König Guu.Um Mitternacht, wenn dieMumie erwacht. Aus demEnglischen von SabineSchulte. Planet Verlag 2019.256 S., um Fr. 19.–. (ab 8 J.)

Vor einiger Zeit hatte der Rezensent genug von allden Imitationen, die der Erfolg von «Gregs Tage-büchern» nach sich zog. Er gab die sogenanntenComic-Romane, Kinderbücher mit hohem Anteilcartooniger Zeichnungen, zum Verschenken frei.Ein Bub aus der Nachbarschaft hat profitiert, unddiesen Sommer wurde der Wenigleser zum Bü-cherfresser (was sein Vater perfekt unterstützte– mit dem Kauf des andern Bandes).

Klar, der Einzelfall ist kein Beweis, aber derKritiker hat sich das Buch zurückgeliehen undversteht jetzt besser, was daran fasziniert: DasVersprechen, das von den temporeichen Bildernausgeht, und ihr Auflockern von Texten sind daseine. Das andere sind die verrückten Erfindungenvon König Guu, unter dessen wuchtiger Bart-mähne sich ein Mädchen versteckt. Guu hilft Ben,und zusammen mit dessen Wombat jagen sie denEinbrechern im Museum einen Schrecken ein...Hans tenDoornkaat

Jan Paul Schutten (Text) undArie van ’t Riet (Fotos):Nette Skelette.Röntgenbilder von Tierenund Pflanzen. Aus demNiederländischen vonBirgit Erdmann undVerena Kiefer. Mixtvision2020. 128 S., um Fr 38.–.(ab 9 J.)

Auf den ersten Blick ist eine Eule ein Wust Federnauf mickrigen Beinen, mit Röntgenblick jedochwird sie zu einem zierlichen Wesen. Arie van ’tRiet arbeitete bis zur Pension als Röntgenspezia-list und nutzt seither die Apparate zum Erkundenvon Tieren und Pflanzen. Er bearbeitet die Auf-nahmen nicht, aber er setzt zum Beispiel eineausgewachsene und eine junge Eule auf einenAst. Die so komponierten Szenen werden spre-chender. Leicht koloriert oder gekonnt freigestelltwirken die durchscheinend gezeigten Tierformenwie Kunstfotos. Der überraschende Einblick inscheinbar Bekanntes ist spannend. Und die Textehalten da mit! Sie werfen Fragen auf, weisen aufDetails hin und lösen immer wieder nachdenk-liches Hinschauen aus. Zu den Eulen etwa meintJan Paul Schutten, dass es vielleicht nicht darumgeht, gross zu sein, sondern gross zu scheinen.Ein Überraschungsei in Buchform, für jedes Alter.Hans tenDoornkaat

Jan Philipp Reemtsma:Weg war das Ihmchen!Illustriert von NikolausHeidelbach. Kampa 2020.144 S., um Fr 38.–. (9–99 J.)

Phantastischer geht’s kaum, auch wenn Kinderhier Klauspeter oder Linse heissen. Jan PhilippReemtsma schreibt eben keine Konfektionsfan-tasy, sondern folgt seiner Sprachlust: Mitten imAlltag tun sich Abgründe auf, spüren Kinder Ängs-te und Neugier – und alles nur, weil sie ein Ihmch-en suchen. Der Literatur- und Sozialwissenschaf-ter hat bisher nicht für Kinder geschrieben. Jetztaber hat er sich vom Begriff «Ihmchen» faszinierenlassen. Der Künstler Nikolaus Heidelbach wieder-um zeigt dieses Wesen nie richtig. Dafür überbie-tet er die Phantastik der Eigennamen, malt einVernutzel, ein Überdimensionalkrokodil oder eineHöllenköchin. Das Geschehen ereignet sich inschrägen Gesprächen, wenn die Kinder nach demIhmchen fragen, von Süssem reden, aber auch vonStinkpampe. Das eigensinnig Märchenhafte istKindern zumutbar, auch wenn es sich nicht darumschert, was gemeinhin als kinderbuchtypisch gilt.Hans tenDoornkaat

Adam Stower: König Guu. Um Mitternacht, wenn die Mumie erwacht. Englischen von Sabine Schulte. Planet Verlag 2019. 256 S., um Fr. 19.–. (ab 8 J.)

Jan Paul Schutten (Text) undArie van ’t Riet (Fotos): Nette Skelette. Röntgenbilder von Tieren und Pflanzen. Niederländischen von Birgit Erdmann und Verena Kiefer. Mixtvision 2020. 128 S., um Fr 38.–. (ab 9 J.)

Jan Philipp Reemtsma: Weg war das Ihmchen! Illustriert von Nikolaus Heidelbach. Kampa 2020. 144 S., um Fr 38.–. (9–99 J.)

KurzkritikenKinder-undJugendbuch

GET

TYIM

AGES

In «Lila Perk» lernt diePrimarschülerin LiaAuto fahren.

Page 8: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

8 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

SchweizerLiteratur

RolfLappert: Leben isteinunregelmässigesVerb.Hanser 2020, 976 Seiten,umFr. 46.–, E-Book 38.–.

Von Peer Teuwsen

Fangenwir einmal ganz klassisch an.Die-ser fast tausendSeitendickeunddazuenggesetzte Roman erzählt das vertrackteLeben von vier Menschen, die bis zumAlter von zwölf Jahren in einer autarkenKommune inNiedersachsen aufwachsen.Die Erwachsenen, «Die Alten» genannt,schottendieKinder völlig vonderAussen-welt ab. Und aus ideologischen Gründensagen sie ihnen auchnicht,wer von ihnenihre leiblichenEltern sind (dieKinderma-chen sichdannein Spiel daraus, aufgrundvon Gesten, Körpersprache und Verhal-tensweisen zu erraten, wer ihre Mütterund Väter sein könnten).

Im Jahr 1980 löst die Polizei die Kom-mune unter fürchterlicher medialer An-teilnahme auf – und reisst damit die Kin-der aus ihrer vertrauten Umgebung. DieBehördenbringendie vier traumatisiertenMenschen, Frida, Leander, Linus undRingo, bei irgendwelchen Verwandtenund Pflegeeltern unter, wo sie sich einneues Leben erarbeiten müssen. Das istdie Vorgeschichte, die im Roman aucherzähltwird, der Lesermuss sie sich aller-dings in den vielen Rückblenden und Er-innerungsfetzen zusammensuchen.

Glück interessiert ihnnichtDas eigentliche Augenmerk des BuchesvonRolf Lappert liegt aber auf demLebennach der Kommune, wenn also die vier,in alleWinde zerstreut, versuchen, in derWelt «da draussen» Fuss zu fassen. Wasihnen, das kann man an dieser Stelle ge-

trost verraten, nicht gelingenwird. SiebenJahre hat Lappert, der 2008 mit «NachHause schwimmen» ins Finale des deut-schen Buchpreises kam und den aller-ersten Schweizer Buchpreis gewann, andiesem Roman gearbeitet. Interessantsinddie inhaltlichenParallelen zu seinemErfolg vor zwölf Jahren, standdoch schondamals einAntiheld imZentrum, der sichdas Leben erkämpfen muss, immer wie-der scheiternd. Zufriedenheit oder garGlück scheinen Lappert literarischwenigzu interessieren, nicht einmal punktuell.«Ichgebe zu, ichmacheesmeinenFigurenimmer so schwerwiemöglich. ImKonfliktliegt einfachvielmehr literarischesPoten-zial als im Schildern von erfolgreichen,glücklichen Menschen, die frei von Hin-dernissen und Fehltritten durchs Lebengehen», erklärt sich der Autor in Inter-views. Eine Ansicht, der man in der Ein-deutigkeit, in der sie geäussertwird, auchwidersprechen könnte.

Lappert aber will es konfliktreich, wassein gutes Recht ist. Und so lässt dieserPuppenspieler seineFiguren indie Fallendes neuen Lebens tappen. Ringo etwawirddankzweiRettungstaten zumöffent-lichen Helden – auch wenn ihm das alleswie ein grosses Missverständnis vor-kommt, das nichts mit ihm zu tun hat. Erertrinkt in Hilflosigkeit. Und ein lächer-licherMöchtegernverleger jubelt Leanderein unverhofft aufgetauchtes Tagebuchaus derKommuneunter.Worauf der Jun-ge wider Willen zum umjubelten Autorwird, eineRolle, die er in der Folge immerverzweifelter abzulegen sucht. Bis erschliesslich aufgibt und in fast stummerTrauer versinkt.

Die absurden, verletzenden und kom-merzialisiertenMechanismenderÖffent-lichkeit sind eines der Hauptthemen im

Buch, sie werdenmit feiner Klinge bloss-gelegt und der Lächerlichkeit preis-gegeben. Das ist stark.

Hervorragend wird auch die Passivitätder Figuren geschildert. Vor allem denMännern in diesem Roman passiert dasLebenmehr, als dass sie es gestalten kön-nen, sie beobachten erstaunt, was mitihnen geschieht, führen ein Leben hinterPlexiglas. «Aus mir ist ein Nichts gewor-den, ein Niemand», sagt Ringo etwa.

Die stärkste Figur – wenn man denndieses Adjektiv im Zusammenhang mitdiesen Biografien überhaupt verwendenkann – ist eine Frau. Frieda kommt indiesemHindernislauf amweitesten –und,wie zur Belohnung, schenkt ihr derAutormit Ada auch eine Tochter, die gegen denSchluss des Romans als angehendeSchriftstellerin auftritt und ihrer Mutter,die sich aus dem Leben ihres Kindesgestohlen hat, die lange aufgestauteWutin den Bauch fragt.

Edler ErzählteppichDas alles ist sprachlichwie formal gekonnterzählt, die vier Biografien werden ver-folgtund inRückblendendasKommunen-lebendargestellt (und in kursiv gesetztenEinschüben hin undwieder auch roman-tisiert) – sowiedasheutediewahrenKön-ner des Faches eben tun.

Der Roman entwickelt den typischenLappertschen Erzählsog, denwir aus sei-nen früheren Büchern kennen. Wer sichdafür die nötige Zeit nimmt,wird zurück-getragen in diese seltsame Welt des aus-gehenden zwanzigsten Jahrhunderts inDeutschland. Und er wird belohnt mitwunderbaren Sätzen wie diesem: «Viel-leicht begann alles als Raunen, riss je-mand heimlich ein Streichholz an, umsein kleines Licht heller erscheinen zu

RolfLappertAuf fast tausendSeitenerzähltderAutorvonvierMenschen,die ineinerdeutschenKommuneaufgewachsensind–undsichnuneinLeben«dadraussen»erkämpfenmüssen.Das tuter gekonnt.Undzuroutiniert

VierLebenundeinBuchhinterPlexiglas

Page 9: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 9

lassen, und sahdannzu,wie es zumLauf-feuer heranwuchs.»

Was man loben kann, muss man aberauch gleichzeitig kritisieren. Es ist einedler Erzählteppich, den Lappert seinenLeserinnenundLesern vor die Füsse legt.Darauf kannmanbequemvorwärtsschrei-ten, manchmal zu bequem.

Und dieser Teppich, er scheint nichtenden zu wollen. Da wird ausformuliertbis zum Exzess. Das geht dann zum Bei-spiel so: «Eswar nochnicht neunUhr, dieLuft kühl und der Himmel so schmutzig-blauundundurchdringlichwie amVortag,undnurdas leise Scheppernder Lamellenam Abluftschacht der Küche störte dieStille innerhalb der Mauern und angren-zendenGebäude, die dasRasenstückum-gaben.» Ist dieser Nachsatzwirklich auchnochnötig, fragt sichder erschöpfteLeser.

SchallgedämpfterTonDieser unbedingteAusformulierungswillemit seinem Hang zur überbordenden Ge-nauigkeit gibt dem Roman einen schall-gedämpftenTon, zu seltenunterläuft derAutor seine eigene Routiniertheit undauch die (vermutete) Erwartungshaltungseiner Leserschaft. Sprachlich flippt hierkeiner aus. Man erschrickt schon fürch-terlich, wenn plötzlich das Wort «pissen»vorkommt.

Zudieser allgemeinenSchwerfälligkeitträgt bei, dass die vier Protagonisten miterstaunlich ähnlichenStimmensprechen,dahilft es auchwenig, dass Lappert Lebenin die Bude bringen will, indem er dreidieser Leben auktorial erzählt, bei Ringoaber die Ich-Formwählt. Auch stauntmanab und an, wie gut sich diese vier Men-schen, denen es doch so lange an um-fassender Bildung und Weltsicht gefehlthat, ebendiese Welt beschreiben und wiegewählt sie sich schon in jungen Jahrenausdrücken können. Hier hätten mehrDifferenzierung und mehr Glaubwürdig-keit den Charakteren und damit demRoman geholfen.

Zudem, und das ist der gewichtigsteEinwand gegen diesen alles in allem ge-wichtigenRoman:Warumerzählt unsRolfLappert jetzt undheutedieseGeschichte?Ein guter Roman weist oft eine latenteAktualität auf, er trifft einen Nerv seinerLeserschaft und bohrt sich dann vondortaus in neue Tiefen. Da ist man sich beidiesem Text unsicher. Wo liegt die Dring-lichkeit dieses Buches? Sind es die 1980erund 1990er Jahre in Deutschland, dieunbedingt heute in Erinnerung gerufenwerden müssen? Sind die Nöte, die Er-fahrungen, die Erkenntnisse dieser vierMenschen so existenziell, dass sie unsunabhängig vom Setting betreffen?

In Interviews sagt Rolf Lappert zu die-ser Frage,Gruppierungen, die sichvonderGesellschaft abschotten, hätten ihn schonimmer interessiert. Gut, fragt man sich,aber das ist nicht das eigentliche Themaseines Romans. Es geht ja um das Lebennach der Abschottung, es geht um dieFrage, ob ein zweites Leben gelingenkann.Aber für einemitreissendeAntwortauf diese Frage bleiben Lapperts Figurensprachlich, formal und biografisch allzugleichförmig in ihrer Annäherung an das«da draussen». ●

Rolf Lappert, 62, istein SchriftstellermitüberbordendemHangzurGenauigkeit.

SONJA

MARIASC

HOBINGER

Page 10: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

10 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

SchweizerLiteratur

JoachimB.Schmidt:Kalmann.Diogenes 2020. 352 S., umFr. 34.–,E-Book 24.–.

VonManfred Papst

Wenn man unter einen Eisbär zu liegenkommt, wird es dunkel und warm. Dasweiss Kalmann, und er kann sogar nochdavon erzählen. Der knapp 34-jährige,etwas zurückgebliebene isländischeFischer weiss auch, dass ein Ei sich nichtselber legenkann, dass Leichenauf einemFriedhof amwenigsten auffallen, dass einRiesenhai grösser werden kann als einZwergwal und dass man viele Händeschüttelnmuss, wennman ein Held ist.

EinHeld ist er tatsächlich geworden: Erhat der PolizistinBirnadasLebengerettet,als diese von einem aus Grönland einge-wanderten Eisbären angegriffen wurde.Das ist aber eher zufällig geschehen undobendrein erst am Ende einer langen,spannendenGeschichte, die kriminalisti-sche Züge trägt, ohne ein Krimi im kon-ventionellen Sinn zu sein: Ein alter Säuferund Spekulant ist verschwunden, undKalmann weiss als Einziger, woher dieBlutlache im Schnee und die Hand imMagen eines erlegten Hais stammen.

Obwohl er schon fast 34 Jahre alt ist,begegnet er uns als junger Kerl, der seinLeben noch vor sich hat. Er ist ein sanfterEigenbrötler mit Neigung zu gelegent-lichen Wutausbrüchen, einer, der gern

RolandButi:DasLeben isteinwilderGarten.Übersetzt vonMarlies Russ. Zsolnay2020, 174 S., umFr. 29.–, E-Book 24.–.

VonValeriaHeintges

In Roland Butis Romandebüt «Das FlirrenamHorizont»wardasVerhältnis zwischenMensch und Natur gestört. Die Sonnebrannte erbarmungslos vomHimmel, dasPferd stand versteinert im Stall. Und derBauer,der auf technisierteLandwirtschaftumstellen wollte, stapfte im Astronau-tenanzug durch den Hühnerstall. In sei-nem Zweitwerk «Das Leben ist ein wilderGarten» scheint es nun, als wolle der Lau-sanner Historiker und GymnasiallehrerMenschundNaturmiteinanderversöhnen.DieMutterdesErzählersverschwindetausdemSeniorenheimineinLuxushotelober-halb des Genfersees, spricht mit den Vö-geln und erinnert sich an ihre Liebschaft

JoachimB.SchmidtDer in Island lebendeSchweizer legtmit «Kalmann»einenpackenden, anrührendenRomanvor

EinisländischerTor

RolandButiSeinRomanwillMenschundNaturversöhnen, leidetaberunterdemBallastderMetaphern

WasGärtenüberMenschensagen

Cola trinktund«America’s FunniestHomeVideos» schaut, der sich daran gewöhnthat, alsDorftrottel bezeichnet zuwerden,und sich noch nie einem Mädchen ge-nähert hat. Lieber sorgt er als selbst-ernannter Sheriff fürOrdnung, jagt Polar-füchse, legt Köder imMeer aus und stelltden besten Gammelhai her: vergorenenFisch, der mit seinem Salmiakgeruch anPissoirs oder stinkenden Käse erinnertundentweder alsKöder verwendet oder –wie der schwedische Hering Surström-ming –mit viel Schnaps genossen wird.

VieleWeisheiten hat Kalmann von sei-nemGrossvater, der inzwischen in einemPflegheim vor sich hin dämmert. Er liestdie karge isländische Landschaft, die soviele zivilisationsmüdeEuropäer anzieht,auf seinen langen Wanderungen wie einBuch.Die FaszinationdesArchaischen istihm nicht fremd, doch er lebt nicht ineinemPostkarten-Island, sondern inRau-farhöfn, einem heruntergekommenenHafenort imNordosten.Bei derVerteilungder Fangquoten, die auch gehandeltwer-den, ist das Kaff auf die Verliererseite ge-raten. Wer kann, wandert ab, die Schulemuss geschlossenwerden. Es bleiben vorallem Alte und Sonderlinge.

«Kalmann» stammt nicht etwa voneinem gebürtigen Isländer, sondern vom1981 geborenen Bündner Erzähler, Jour-nalisten und Reiseführer Joachim B.Schmidt. 2007 ist er auf die Vulkaninselausgewandert, wo er mit seiner isländi-schen Partnerin und den zwei Kindern

lebt. Drei Romane hat er schon im Em-mentaler Landverlag veröffentlicht; «Kal-mann» ist sein erster bei Diogenes. Er isteingängig, beinahe routiniert erzählt, aberer erschöpft sich nicht in der gehobenenUnterhaltung. Von innenheraus bringt erdie isländische Welt zum Leuchten, unddie Hauptfigur wächst einem ans Herz.Kalmann ist ein reiner Tor. Schmidt schil-dert seine verlangsamt-eigensinnige Art,ohne in die Kitschfalle zu tappen. Dassihmdasgelingt, ist nichtdas geringsteVer-dienst dieses lebensprallen Buchs. ●

mit einem deutschen Ornithologen. IhrSohn,derErzählerCarloWeiss,hatdieLie-bezurNaturzumBerufgemacht.AlsLand-schaftsgärtner pflegt er die Gärten reicherVillenbesitzer, denen er bizarre Sehn-suchtsorte baut. Doch zeigen sich schonBrüche imKitt,wennerdafürReste «einesbei einemGranateinschlagzertrümmertenHühnerstalls» zu japanischen Brückchenumgestaltet, wenn sich Häuser die Hängehochfressen und Kleingärten modernenSportkomplexenweichenmüssen.

Die grösste Störung herrscht aber zwi-schen den Menschen. Sohn Carlo weissnichts von der Vergangenheit seinerMutter und nichts von ihrem aktuellenLeben, dennnach seinemAuszugausdemElternhaus ist die Verbindung fast abge-rissen. Zudem versucht er verzweifelt,seine Frau Ana wieder für sich zu gewin-nen. Eine seelische Stütze in demDurch-einander ist ihm sein Gehilfe Agon: einhünenhafter, gutmütigerMensch, der aus

Kosovogeflohen ist und inderNaturRuhefindet, aber just imKleingartenbrutal zu-sammengeschlagen wird. Agon erklärtauchdieUnterschiede zwischen Sozialis-mus und Kapitalismus mit dem je typi-schenUmgangder Systememit derNatur.

Andieser Stelle brichtButisWerkunterdem Ballast der Metaphern fast zusam-men. Zu viel wird mit Bedeutung aufge-laden, als dass sich das Erzählte zu einemglaubhaften Ganzen verbinden könnte.EinzelneFormulierungensind inderÜber-setzung von Marlies Russ hervorragendknappunddicht; aberwenneinBuch sichvermodernd zurück zur Natur entwickeltoderAgonsKleingartenüberdieAutobahnhinweg gezügelt werden muss, drängendieBilder indenVordergrundund stören.Wenn es zudem logische Brüche in derHandlunggibtundderErzähler auchnochAnasKörpermit unangenehmvoyeuristi-schemBlick taxiert und seziert, ist einemder Spass am Lesen längst vergangen. ●

Romancier undReiseführer: JoachimB. Schmidt. (Reykjavik, Februar 2020)

EVASC

HRA

M

Page 11: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 11

DorotheeElmiger:AusderZuckerfabrik.Hanser 2020. 272 S., Fr. 33.–, E-Book 25.–.

VonMartina Läubli

Sie führt ihre Leserinnen und Leser insGestrüpp. Dorthin, wo Gedanken undTexte ungeordnetwachsen,womanvomWeg abkommt und die Orientierung ver-liert, um genau dann etwas zu finden,wenn man aufhört zu suchen. So bleibtsichDorotheeElmiger auch in ihremdrit-ten Buch treu, das heisst: Die 35-jährigeAutorinverfolgt ihr ProjektderpoetischenWeltvermessung weiter und lotst uns soselbstverständlich ins Dickicht hinein,dasswir uns nicht darüberwundern, hiergelandet zu sein, an diesen zufälligenOr-ten dies- und jenseits des Atlantiks, inZürich, auf einer Zuckerrohrplantage inHaiti, in einemGasthaus in Spiez oder aufeinem Parkplatz in Philadelphia.

«Aus der Zuckerfabrik» ist eigentlicheine Sammlung von Notaten, Dialogen,Zitaten und Kürzest-Erzählungen, diefragmentarisch und luftig anmuten, sichjedoch je länger jemehr zu einemmotivi-schenundgeografischenNetzverdichten,das buchstäblich in einem Gestrüppbeginntund ineinemGestrüppendet.DieAutorin konnte ihren neuen Verlag (Han-ser) offensichtlichdavonüberzeugen, dasBuchnichtmit demmarktkonformenEti-kett «Roman»zuversehen,wieesbei ihrenbeiden früheren, formal ebenso experi-mentellenWerken noch der Fall war.

Lotto,Plantage,WürfelzuckerAmehesten ist diesesBuchdieDokumen-tation einer Recherche. Die Erzählerinspricht von einer «Bastelei» und beziehtsich damit auf den Ethnologen ClaudeLévi-Strauss. Elmigers Recherche-methode besteht aus Lesen und Reisen,Aus-dem-Fenster-Schauen oder Mit-Freunden-Reden.Die Stimmen, LektürenundBeobachtungen folgen lose aufeinan-der. Was sie miteinander verbindet, fragtsich nicht nur die Leserin, sondern auchdie Erzählerin. Wenn man den Fund-stücken – die natürlich nicht ganz so zu-fällig angeordnet sind, wie es auf denerstenBlick scheint – eineWeile lang folgt,zeichnen sich aber durchaus Fährten ab.

Eine Spur ist der Zucker, sie führt vomkristallinen weissen Pulver bis zumZuckerrohr (lässt aber die Zuckerrübe aus-ser Acht), vonder unersättlichenLust aufSüsses bis auf eine haitianische Plantageund zur Frage der Sklaverei, vomWürfelinderKaffeetasse bis zuKapitalismusund

DorotheeElmiger IneinerwundersamenRecherche folgtdieAutorindemZucker,demGeldunddemBegehren.Hier gehtPoesiederPolitik aufdenGrund

SiesuchtZusammenhängeimDickichtderWelt

Marx. Eine andere Spur folgt dem erstenLottokönig der Schweiz, Werner Bruni,der 1979Millionärwurdeund schliesslichKonkurs ging.Weitere Spuren sindBegeh-ren, Liebe und Ekstase, sie führen zuMarie Luise Kaschnitz, Ellen West oderTeresa von Avila.

Zwischen den verschiedenen Fährtenund den vielen Stimmen tritt immerwie-der die Ich-Erzählerin hervor. Sie lebtwiedie Autorin in Zürich, beobachtet spät-abends Fledermäuse beim Stadion Letzi-grundoder sitztmitFreundenamKüchen-tisch. Solche Szenen sindnicht immer freivon Selbstinszenierung und Koketterie,etwawenn«Wein ausdünnwandigenGlä-

sern» getrunkenwirdoder Leutedemons-trativ klugeBüchermit sichherumtragen.

Doch für Elmiger ist es unvermeidlich,dass die Schreibende selbst ins Bild tritt.Langehabe sie gedacht, «denEreignissen,den Personen und ihren Begehren, ihrenVerstrickungen folgen zu können, ohnemich selbst in Spiel zu bringen», schreibtsie. Das stellte sich als Missverständnisheraus: «Es ist mein Körper, der da liegt,zwischendenverstreutenDingenanderer,der zutiefst verwickelt ist in alles, waspassiert, und das, was ich zuvor anMate-rial abgelegt habe.» Auch um dieses Ver-wickeltsein geht es. Eine neutrale Per-spektive auf die Welt und die Geschichtekann es nicht geben.

Werwarnoch inMontauk?Nichtnur indieser entschiedenenPositio-nierung des Ich, sondern auch im Ton er-innert Elmigers drittes Buch an MaxFrisch. ImKapitel «Montauk»unternimmtsie ein eigentliches Rewriting von Frischsautobiografischer Erzählung. Die Ich-Er-zählerin fährt mit ihrem Geliebten F. andie Ostspitze von Long Island, imGepäck«Montauk»aufEnglisch.Diebeidenschau-en aufs Meer, liegen im Motel, und dieErzählerin erzählt Frisch nach, indem sie«er»und«sie»umdreht.DieAuseinander-setzungmitGeschlechterrollen geschiehtallerdings ehernebenbei. ImZentrumvonElmigers Version steht eine andere Frage:Werwar eigentlich sonst noch hier ausserFrisch und Lynn? Montauk ist der Namedes Stammes, der hier einmal lebte undheute verschwunden ist. Auch landetendie revoltierenden Sklaven des Schiffs«Amistad» 1839 andieserKüste, undheu-te leben hier Menschen, deren Vorfahrenwiedie vonF. ausHaiti stammen. So geis-tern andiesem ikonischenLiteraturort dieGespenster des Kolonialismus und desRassismus herum. «Der schaurige Irrtumdes Paars, es sei alleine hier», heisst es infrischscher Lakonie.

Dorothee Elmigers poetischer Zugriffmacht die verwirrendenund irrenZusam-menhänge der Welt kenntlich, ohne Ant-worten zu liefern. Mit staunenswerterKonsequenz und in leuchtender Spracheerkundet sie seit ihremDebüt «Einladungan dieWaghalsigen» globale Verstrickun-genwie jene des Zuckers und der Glücks-sucher, die Überschreitung europäischerGrenzenoder denAbbauvonRohstoffen.Undauchwenn sie sichdabei imGestrüppverirrt, folgtman ihr gern, dennman ent-deckt dabei ganz bestimmt etwas, wasman noch nie gesehen und gesucht hat,das sich aber indieNetzhaut einbrennt. ●InessayistischerSchreibweiseüberschreitetDorotheeElmiger,35,Grenzen.

PETE

R-ANDRE

ASHASS

IEPE

N

Page 12: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

12 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

SchweizerLiteratur

CharlesLewinsky:DerHalbbart.Diogenes 2020. 688 S., umFr. 35.–,E-Book 29.–.

VonTobias Sedlmaier

Talschaft Schwyz, Anfang des 14. Jahr-hunderts: Der Sebi heisst eigentlichEusebiusund scheint ein recht talentloser,gutgläubigerGeselle zu sein. Für denEin-satz als Soldat ist er zu sehr ein «Finöggel»,für den Klerus nicht gehorsam, für dieFeldarbeit nicht robust genug. Der Vaterist früh gestorben, die Mutter folgt ihmnach, und so steht Sebi etwas verlorenzwischen seinen Brüdern, dembedächti-gen Geni und dem streitsüchtigen Poli.Dafür zeichnet ihn eine grosse Phantasieaus, die er nur noch in Bahnen zu lenkenlernen muss – ehe er vom passiven Bei-steher zumChronisten seiner Gegenwartwerden kann. Eine Zeit, die vollständigvonhöherenMächtenbestimmtwird, derAlltag von Landammännern und Her-zögen, dasWeltbild von Gott und seinemewigen Gegenspieler, dem Teufel.

An jeder Ecke, bei jeder Entscheidungist irgendeinAberglaube imSpiel; der ver-deckt,wiewenigmanBeherrscher seineseigenen Schicksals ist, weil man ständigvonKrankheiten,KriegundKatastrophenunterworfen wird. Da kommt es geraderecht, wenn zur Ablenkung das Teufels-Anneli gegen eine reichhaltige Mahlzeitseine Geschichten vom Widerstreit desMenschen mit den Versuchungen desSatans zum Besten gibt.

Eine solche Geschichtenmaschine wiediese Figur ist auch ihr Schöpfer CharlesLewinsky, der in seinem neuen Roman«Der Halbbart» einmal mehr seine Viel-seitigkeit unter Beweis stellt. Nach aktu-elleren historischen Sujets wie dem Drit-tenReich («Gerron», «Kastelau») befindenwir uns nun imMittelalter, was sich auch

CharlesLewinskySein fabulierfreudigerRoman«DerHalbbart» entwirftdieSchlachtbeiMorgartenneu

Erzählen,wieesnichtpassiert ist

ANZEIGE

sche Hinterhalt zu einem Gründungs-mythos der Eidgenossenschaft, zu einemsymbolischen Akt: FreiheitsliebendeFrüh-Schweizer stellen sich gemeinsamgegen Fremdherrschaft.

Ein Szenariowie geschaffen für Lewin-sky, dem es einmal mehr um die Geneseund den Wirkungsmechanismus des Er-zählens an sich geht. Der titelgebendeHalbbart, der Mentor von Sebi, ein mitNarben gezeichneter und medizinischkundigerAussenseiter, dient vor allemalsKatalysator für denProtagonisten. Erst imAufschreibender eigenenErlebnissewirdsich Sebi der Kraft bewusst, die dem Ge-schichtenerzählen innewohnen kann.

Dabei baut Lewinsky trotz demzeitlichentrückten Szenario Brücken in dieGegenwart:Wir stossen auf kriegsbegeis-terte Prä-Nationalisten, die Legenden zurLegitimation der eigenen Macht benut-zen, und auf Verschwörungstheoretiker,die jedes Gerücht zu einem Glauben um-funktionieren.GewissemenschlicheZügescheinen die Zeitalter zu überdauern.

Auch in der Form gestaltet sich «DerHalbbart» bewusst altmodisch, eingeteiltin 83 Kapitel mit zusammenfassenderÜberschrift, einer Technik, die LewinskydemRomandes 17. Jahrhunderts entlehnthat. Dennochhätte demnie versiegendenErzählfluss anmanchenStellen einwenigDistanz zurBegriffsstutzigkeit desHeldenwohlgetan. Stellenweise retardieren dieEinlassungen über den Dorfalltag, wirktder Roman zu geschwätzig.

Charles Lewinskys These, sein finalerClou, ist die grösste Stärke und Schwächedes Romans zugleich. Dass die Wieder-gabe von Geschichte vor allem aus einerMischung aus Inszenierung, Illusion,Lüge,Deutungshoheitund (Selbst-)Betrugbesteht, wird zwar geschickt aufbereitet,ist allerdings zu erahnen. Ob man rund700 Seiten für diese Erkenntnis braucht,ist eine andere Frage. ●

Schriftsteller Charles Lewinsky hat ein neues Buchgeschrieben.

SABINABO

BST/LUNAX

sprachlichdeutlich äussert: Sebi, der Ich-Erzähler, pflegt eine bäuerliche, einfach-derbe Heimatsprache, gespickt mit anti-quierten Dialektausdrücken wie «blutt»,«gschmuuch» oder «gsüchti».

Der zeitliche Rahmen ist nicht zufälliggewählt: 1315 eskalierte der bereits zweiJahrhunderte schwelendeMarchenstreit –einKonflikt umLandzwischendemKlos-ter Einsiedeln und den Bewohnern vonSchwyz – in der Schlacht am Morgarten.Trotz (oder gerade wegen) diffuser Quel-lenlage wurde dieser wohl wenig heroi-

Ein sozialer Betrieb der

buchplanet.ch / facebook.com/buchplanet.ch / twitter.com/buchplanet

Onlineshopmit über 65 000

Büchern

Belletristik

Sachbücher

Antiquariat

Sammlungen

Zeitschriften

Secondhand

Page 13: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 13

KurzkritikenBelletristik

ThiloKrause:Elbwärts.Hanser,München 2020. 208 S.,umFr. 34.–, E-Book 27.–.

Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren,lebt seit etlichen Jahren in der Schweiz.Bekannt geworden ist er als Lyriker: Seinschmales, mehrfach ausgezeichnetesWerk besticht durch Musikalität, Bild-kraft, Gedankentiefe. Dem an BobrowskigeschultenDichter begegnetman auch inKrauses erstem Roman: «Elbwärts» er-zählt unprätentiös, aber ungemein dichtvon einem noch jungen Mann, der nachJahren mit Frau und Tochter an den Ortseiner Kindheit zurückkehrt: in die Säch-sische Schweiz. Fremd ist sie geworden,Erinnerungen an die DDR überblendensich mit Beobachtungen von Neonazis inihremSommercamp.Vor allemaber ist dadie Erinnerung anden JugendfreundVitounddie schuldhafteVerstrickung in seineGeschichte. Makellose Prosa. EinWurf!Manfred Papst

GertrudLeutenegger: SpäteGäste.Suhrkamp, Berlin 2020. 175 S.,umFr. 35.–, E-Book 24.–.

In ihrem neuen Buch erzählt die 1948 inSchwyz geborene Autorin Gertrud Leu-tenegger in 45 kurzen Kapiteln die Ge-schichte einer Nacht: Die Ich-Erzählerinist ins Tessin gereist, um der Totenmessefür Orion beizuwohnen, den Gefährtenvieler Jahre und Vater ihrer Tochter, vordem sie schliesslich geflohen ist. Verlas-sen liegt das alte Hotel da, die Wirtschaf-terin feiert im nahen Italien Fasnacht,doch der Gartensaal ist offen. Hier harrtdieFrauaus, zwischenWachenundSchla-fen, bedrängt vonBildern ausVergangen-heit undGegenwart. GertrudLeuteneggerzeigt sich in ihrem neuen Roman, derthematisch an «Pomona» (2004) an-schliesst, erneut als Erzählerin vonRang –auch wenn sie mitunter ins Raunen ver-fällt und zu viele Adjektive verwendet.Manfred Papst

UsamaAlShahmani: ImFallen lerntdieFeder fliegen.Limmat, Zürich 2020.240 S., umFr. 31.–, E-Book 24.–.

Aida hat einen weiten Weg hinter sich,doch über ihre Vergangenheit will sie par-tout nicht sprechen. Ihr stures Schweigengefährdet ihre Beziehung zu Daniel, undAida sieht sich gezwungen, aufzuschrei-ben,was sie nicht sagenkann. ZumGlück!Denn aus ihren Erinnerungen hat UsamaAl Shahmani (*1971) ein feinsinniges, wei-ses, poetisches Buch geschaffen, dem dasHin und Her zwischen Arabisch undDeutscheingeschrieben ist.Es istderzwei-teRomandes inFrauenfeld lebenden, ausdem Irak geflohenen Autors. Flucht wirddarinnichtnurals Schmerz, sondernauchals Befreiung erfahrbar, denn Aida undihre Schwester entkommen dem Zwangdes fundamentalistischen Islam. Als dieSchwester stirbt, bleibtderTraumvonderFreiheit «lebendigwieeineoffeneWunde».Martina Läubli

SamiraEl-Maawi: InderHeimatmeinesVaters riechtdieErdewiederHimmel.Zytglogge 2020. 160 S. Erscheint am9.9.

«Wenn ichdieWelt erschaffenhätte, hätteich in jedem Land die Menschen ver-mischt», sagt die Ich-Erzählerin in SamiraEl-MaawisRomandebüt. IhrVater stammtaus Sansibar, ihreMutter ausder Schweiz,und sie und ihre Schwester sindweit undbreit die einzigen braunenMenschen. Siefallen auf, sind anders; werden ungefragtberührt oder beleidigt. Die 40-jährigeAutorin macht spürbar, wie sich Rassis-mus imSchweizerAlltag anfühlt. Sie stelltdie Perspektive der Tochter ins Zentrum,die an ihrem Vater hängt und merkt, wiedessen Rücken angesichts der ihm in denWeg gelegten Hindernisse immer krum-mer wird, wie er Allah zu suchen beginntund schliesslich verschwindet. Samira El-Maawi erzählt bewusst schlicht, assoziativund in kurzen Szenen. Für die Erfahrun-gendesKindes findet sie prägnanteBilder.Martina Läubli

JensSteiner:AmeisenuntermBrennglas.Arche-Verlag, Zürich 2020.240 S., umFr. 29.–, E-Book 17.–.

Die Autobahnraststätte Würenlos wirdzum Schauplatz einer Schiesserei mitGeiselnahme, ein Haus wird in Brand ge-steckt. Waren Terroristen am Werk? DieFrage beschäftigt die Bevölkerung: etwaden Frühpensionär ToniManfredi, der inder Hochhaussiedlung Bethlehem beiBern vor dem Fernseher sitzt und Krip-penfiguren schnitzt; oder Martin Boll,demsowohl sein Job als auch seine in ihreSmartphones vertieften Kids allmählichabhandenkommen; oder Regina, eineüberforderte alleinerziehendeMutter, dieobendrein noch Schulpflegerin ist. JensSteiner (*1975), dermit «Carambole» 2013den Schweizer Buchpreis gewann, ent-wirft ein träfes Psycho- und Soziogrammunserer Zeit. Im Kaleidoskop seiner Ge-schichten interessiert ihn der Krimiplotkaum. Genauso ergeht es dem Leser.Manfred Papst

TimKrohn:DieheiligeHenniderHinterhöfe.Kampa, Zürich 2020. 256 S., umFr. 30.–,E-Book 18.–.

Tim Krohns Berlin-Roman ist einmunte-res Buch – verdächtigmunter. Das liegt ander Naivität der Hauptfigur Henni Binne-weis, aber auch am hohen Tempo, mitdem Krohn durch die 1920er Jahre jagtund dabei kein Klischee der GoldenenZwanziger auslässt. Als Kind mag Henniden Ersten Weltkrieg noch «sehr lustig»finden. Dass sie es aber über zehn Jahrespäter, nun erwachsen, mit einer jüdi-schen Mutter und mit explizitem Erfah-rungsschatzalsAnimierdame, immernoch«irgendwie spassig» findet, als «Haken-kreuzler» die Werkstatt ihres Brudersattackieren, das glaubt man der Heldineinfach nicht. Aufgesetzt ist auch dieDramatik der Schlussszene, in der sie zur«heiligen Henni der Hinterhöfe» erhöhtwird. Ein Filmfinale für ein unterhalt-sames, aber ärgerlich harmloses Buch.Martina Läubli

Page 14: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

14 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

Sachbuch

ManuelMenrath:UnterdemNordlicht.IndianerausKanadaerzählenvon ihremLand.Galiani 2020. 480 S., umFr. 40.–,E-Book 25.–.

VonKatja Schönherr

Eigentlich war dieses Buch als Habilita-tionsschrift gedacht. Doch bei seinenRecherchen zur Situation indigener Men-schen inKanada stiess der SchweizerHis-torikerManuelMenrath recht bald auf einProblem: «Während ich mich in meinerbisherigen Forschung mit verstorbenenIndividuen und der Vergangenheit be-schäftigt hatte, lebte ich auf einmal mitMenschen aus Fleisch und Blut zusam-men. Dadurch wurde ich auch mit ihrerunsäglichenArmutund ihremLeidenkon-frontiert.» Das Leben in den Reservats-dörfern erinnerte ihn an Zustände, die ervon Drittweltländern her kannte. Ammeisten betroffen machte Menrath diehoheSelbstmordrateunter indigenenKin-dernundJugendlichen. IneinemReservat,das er besuchen wollte, hatte sich geradeein zwölfjährigesMädchen erhängt.

Die notwendige wissenschaftlicheDistanz zu seinen «Forschungsobjekten»zu wahren – das wurde für Manuel Men-rath unmöglich. Er konnte es mit seinemGewissen nicht vereinbaren, über diese«humanitäre Katastrophe», die sich ineinem der reichsten Länder der Welt ab-spielt, eine «nüchternewissenschaftliche

Qualifikationsschrift zu verfassen». Soentschloss er sich gegendieHabilitations-schrift und für ein Sachbuch. EinBuch, indemdieAngehörigen indigenerNationenselbst zu Wort kommen und von ihrenVorfahren und ihremAlltag erzählen. EinBuch, indemderAutor aucheigeneErleb-nisse undEmpfindungenwährend seinerAufenthalte inNordamerika thematisiert.

SozialeMisereEinmal besuchte Menrath eine Party, beider nur Kanadier mit europäischen Wur-zeln anwesend waren: Eine Frau, «offen-sichtlich auf Smalltalk eingestellt», sagte,sie wünschte, in ihrer Stadt lebten keineIndianer mehr. Dann wäre es sicherer, esgäbe weniger soziale Probleme. Bei demGeschichtswissenschafter, der sichgeradeintensiv mit den Ursprüngen der indige-nenMisere befasste, war sie damit natür-lich an der falschen Adresse. Ihm platzteder Kragen: «Ich fuhr die Frau an undwollte von ihrwissen, ob sie eine Ahnunghabe, aufwelchem traditionellen Territo-riumdiesesHaus stehe, indemdiesePartystattfinde, und seit wie vielen Generatio-nen sie denn hier bereits Vorfahren habe,dass sie sich das Recht nehme, so einenSchwachsinn von sich zu geben.»

Nach Abklingen seiner Rage gelang esMenrath, in Ruhe mit der Frau zu spre-chen: «Raschmerkte ich, dass betreffendindigener Geschichte sowie der eigenenkolonialen Vergangenheit nur rudimen-täre Kenntnisse vorhanden waren. Das

scheint bei vielenKanadiernmit europäi-schen Wurzeln der Fall zu sein. Folglichbilden sie sich ihre Meinung aufgrundtäglicher Erfahrungen. Sie sehen, dass dieMehrheit der Obdachlosen auf den Stras-sen Indianer sind. Zudemsinddie sozialenProbleme wie Armut, Alkoholabhängig-keit undDrogenmissbrauchbei der india-nischenBevölkerungoffensichtlich.Dochden genauenUrsachen gehennurwenigeauf den Grund.»

Dies tutnunalso ein Schweizer.ManuelMenrath arbeitet am Historischen Semi-nar derUniversität Luzern.Mit Indianernbefasst er sich nicht zum ersten Mal: InseinerDoktorarbeit beschrieb er,wieMis-sionare aus der Schweiz versuchten,Sioux-Angehörige zum Katholizismus zubekehren. Thematisch ist Menrath jetztvon den USA aus weiter gen Norden ge-wandert: in die kanadischeProvinzOnta-rio, die grösser ist als FrankreichundSpa-nien zusammen.Heute lebenetwa40000Indianer auf diesem Gebiet. Sie gehörenvornehmlichdenethnischenGruppenderCree, der Oji-Cree und der Ojibwe an, diejeweils eine eigene Sprache sprechen.

DenBegriff «Indianer» verwendetMen-rathübrigens,weil er ihn «für in der deut-schen Sprache vertretbar» hält. Im Deut-schen sei er nicht rassistisch aufgeladenundunterscheide sich, anders als imEng-lischen, von «Inder».Meist zieht er in sei-nen Ausführungen aber die Eigennamender jeweiligenGruppevor, zumal auchdieoffizielle kanadische Bezeichnung «First

GeschichteDerSchweizerHistorikerManuelMenrathdokumentiertdieUngerechtigkeitunddasLeid,dasdieStaatswerdungKanadas für Indigenebisheutebedeutet

«IchverstehedasWort‹Entdeckung›nicht»

Page 15: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 15

Nations»nicht alle Indigenenakzeptieren:Laut ihrerWeltanschauung seien sie nichteinfach zuerst gekommen, sondern inNordamerika erschaffen worden.«Ich verstehe das Wort ‹Entdeckung›

nicht, vor allemwennman bedenkt, dasssich Kolumbus verirrt hatte. Dabei warenwir schon immer hier», zitiert Menratheinen seinerGesprächspartnerundmachtsomitdieeurozentristischeSchlagseitederkanadischenGeschichtsschreibung deut-lich. In deren Zentrum steht der Aufbauder Nation seit dem 19. Jahrhundert. Wasdavor war, wird ausgeblendet. Und derUmgang mit den ursprünglichen Bewoh-nernwie den Indianern und den Inuit so-wieso. Erst seit wenigen Jahren fliesst dieindigene Perspektive allmählich ein.Aus über 100 Interviews, die Menrath

geführt hat, ist es ihmgelungen, eineum-fassendeChronikder IndigenenvonOnta-rio zu generieren. Er beschreibt zunächstihre Lebensweise vor der Ankunft derEuropäer – und zwar, ohne zu verklären.Denn auch damals gab es HungersnöteundkriegerischeAuseinandersetzungen.ZudemwarderAlltag hart in demunwirt-lichen, subarktischen Klima mit seinenlangenWinternundTemperaturenvonbiszuminus 40GradCelsius. Letzteres führtder Historiker auch immer wieder gegendasVorurteil ins Feld, indigeneMenschenseien «von Natur aus faul»: In einer sol-chen Umgebung über Jahrtausende zuüberleben, das geht nurmit einemausge-klügelten SystemzurAlltagsbewältigung,

in dem alle mit anpacken. So profitiertendie ersten Europäer, die inOntario ansäs-sig wurden, auch stark vom Wissen derIndianer. Vor allem beim Pelzhandel gabes zunächst sogar Partnerschaften aufAugenhöhe.Doch die kooperative Phase währte

nicht lange. «Die europäische und dieindianischeKulturwarenderart verschie-den, dass ein interkulturellesVerständnispraktischunmöglichwar.Während fürdieEuropäer Landbesitz, PrivateigentumundGewinnmaximierung kapitalistischeWirklichkeiten waren, stellten sie für dieIndianer Elemente einer fremden Weltdar», schreibtMenrath. Sowar es für Indi-gene undenkbar, dass man Land «besit-zen» kann – was wohl auch dazu geführthat, dass siemanchesAbkommenmit denWeissen zur gemeinsamen Landnutzungüberhaupt geschlossen haben.

ZwangzurSesshaftigkeitDieHandelsgeschäfte zwischen Indianernund Weissen wurden meist mit Brandybegossen. Die erste Abhängigkeit ent-stand. Auch hatten die Europäer Schuss-waffen und Munition ins Land gebracht,die viele Indianer bald nichtmehrmissenwollten, was sie zu weiteren Tausch-geschäften mit den Neuankömmlingenzwang. EineAbwärtsspirale setzte sich inGang.ChristlicheMissionareverursachtenGlaubenskrisen und säten Zwietrachtinnerhalbder indigenenGemeinschaften.Und strenge Fangquoten brachten Hun-

ger, so dass die Indianer zunehmend aufZuwendungendurchdie Siedler angewie-senwaren.Diesewiederumknüpften ihre«Almosen» an eine fatale Bedingung: dasSesshaftwerden.Die Indigenenwurden inReservate gedrängt; selbstredend han-delte es sich bei den zugewiesenen Ge-bieten um keine, in denen man gewinn-bringende Rohstoffe vermutete.Detailliert dröselt Menrath die histori-

scheEntwicklungauf, die zudenheutigenProblemengeführt hat. Einesder grösstenTraumata für die indigene Bevölkerungwaren die sogenannten ResidentialSchools: Internate zur Umerziehung. Ge-trennt von ihren «unzivilisierten» Eltern,sollten die Kinder ab den 1880er Jahrennach euro-kanadischenMassstäben assi-miliert werden. In diesen Schulen littensie Hunger, wurden geschlagen, gequält,sexuell missbraucht. Die Zeitzeugenbe-richte zu diesem Thema sind besondersaufwühlend. Erst 1996 wurde die letzteResidential School geschlossen.Das ist überhaupt ein Punkt, der beim

Lesen dieses 480 Seiten starken Werksimmer wieder ins Bewusstsein rückt: Dieschlimmsten Drangsalierungen der indi-genenBevölkerunghaben sich erst indenvergangenen 150 Jahren abgespielt. Siesind nicht lange her. Insofern hat ManuelMenrath mit «Unter dem Nordlicht» eineGeschichtederGegenwart geschrieben.Esbleibt zu wünschen, dass die indigenenStimmen über den Umweg Schweiz aucheinenEchorauminNordamerika finden. l

Cree-Chief EdmundMetatabinmit seinemMotorboot aufdemAlbanyRiver.

FOTO

S:MANUEL

MEN

RATH

Esther Beardy,Mitglied der Cree, näht traditionelleMokassins.

Cree-MitgliedAllan Beardy versieht Landkartenmit indigenenOrtsnamen.

Page 16: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Sachbuch

16 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

Sachbuch

ANZEIGE

MinekeSchipper:MythosGeschlecht.EineWeltgeschichteweiblicherMachtundOhnmacht.Übersetzt vonBärbel Jänicke.Klett-Cotta 2020. 350 S., umFr. 34.–,E-Book 27.–.

VonGina Bucher

AnHausfassadengesprayte Penisse fallennicht weiter auf, «Clits» dagegen schon.Allein diese Feststellung spricht Bände.Die Graffiti von Klitoris sind nicht nurGratis-Aufklärung für alle (ja, FrauenhabenauchGeschlechtsteile, undnein, siemüssen nicht zwangsläufig sexualisiertwerden). Sie zeigen auch, wie sich dasVerhältnis zwischen den Geschlechternverändert.

Frauen und Männer sind für dieMenschheit gleich wichtig. Trotzdemwurden die beiden Geschlechter nichtimmer gleich bewertet. Die nieder-ländischeKulturwissenschafterinMinekeSchipper untersucht dieses Spannungs-verhältnis imBuch «MythosGeschlecht».Mythen, ebenso Religion und Populär-kultur, prägen gesellschaftliche Verhält-nisse, begründeneine imaginäreOrdnungund legitimierenHierarchien. Schipper istüberzeugt, dass man die Vergangenheiternst nehmen müsse, um die Gegenwartzubegreifen. Indrei Teilenuntersucht dieemeritierte ProfessorinUrsprungsmythenrund um den weiblichen Körper und wiedarausgesellschaftlicheMechanismenzurUnterdrückungder Fraukonstruiertwur-den. Lange kommentiertenundbewerte-ten ausschliesslich Männer das eigeneund – mit besonderem Interesse – dasweibliche Geschlecht.

Schipper blickt in unterschiedlichsteKulturen und verflicht die Mythen mit

GesellschaftMinekeSchipperuntersucht,wieMechanismenzurUnterdrückungderFrauenkulturell begründetwurden

ÜberdieMachtvonMythen

historischenEntwicklungen. Etwa indemsie der Frage nachgeht, wie aus den vor-wiegend weiblichen Urgottheiten männ-lichewurden, die plötzlich inEigenregie –etwa masturbierend oder erbrechend –Nachkommen zeugten. «Das männlicheUnvermögenzugebärenwurde inErfolgs-storys einer göttlichen und männlichenOrdnung verwandelt, die das weiblicheChaos überwindet und reguliert», sum-miert SchipperdieseEntwicklung,die sichübrigens in nahezu allenKulturen findet.

Die Autorin zeigt, wie patriarchaleVerhältnisse auchaufgrundvonAngst ent-standen sind:DennwerMacht hat, fürch-tet diese wieder zu verlieren. Diemächti-genMännerwaren ja nachwie vor abhän-gig von ihren Frauen, um ihre Nachkom-menschaft zu sichern. «Diese Abhängig-keit hatnichtnur zurKontrolleweiblicherSexualität geführt, sondernauchzueinemmännlichen Kompensationsbedürfnis inFormpolitischer, kulturellerund religiöserErsatzleistungen», erklärt Schipper.

Wennauch stellenweise allzu fragmen-tiert und verknappt argumentiert, decktSchipper fundiert, nüchternunddennochunterhaltsam Zusammenhänge hinterSchöpfungsmythen auf. Dabei zeigt sich,dass sowohl Macht als auch Ohnmacht

beide Geschlechter betrifft: etwa, dassMännerunberechenbareweiblicheKräftezähmen und dass sich Frauen vor Testo-steron schützenmüssten. Schipper räumtmit solchenVorstellungen auf.Nicht etwaunzügelbare Hormone seien schuld anfehlbarem Verhalten, sondern schlichtund einfach strukturelle Machtunter-schiede. Sie warnt auch die Frauen: «WerMacht hat, trägt Verantwortung. Dies giltfür beideGeschlechter.»Damit knüpft sieauch an die #MeToo-Debatte an, mit derviele privilegierte Männer ihre Mühehaben. «Das Teilen von Privilegien voll-zieht sich nie reibungslos», glaubt Schip-per und plädiert dafür, Männer nicht ab-zuwerten, sondern Frauen aufzuwerten.

Die gesprayten Vulven und Klitoridessind ein Anfang, weil sie vom neuenSelbstbewusstsein zeugen,mit dem jungeMenschen ihr(e)Geschlecht(er) entdeckenund nachfragen – junge Menschen, diesichübrigensoftweniger binär definieren,als Schipper in ihrer Argumentation be-rücksichtigt. Für diese Generation ist esbestimmt eine gute Nachricht, dass sichMythen im Laufe der Zeit immer wiederverändern und sich jeweils nur so langehalten, bis attraktivere Alternativen er-funden werden. ●

FeministischesGraffito in Paris.

HANSLU

CAS/IMAGOIM

AGES

Anregende LiteraturdebattenNZZ TRIFFT ZÜRICH LIEST

Auf der Suche nach demkleinen Glück – AnnaKatharina Hahn im Gespräch

Donnerstag, 22. Oktober 2020

KOSMOS, Zürich

©Heike

Steinweg/Suhrkam

pVerlag

Die besten Bücherder Saison –eine Literaturdebatte

Sonntag, 25. Oktober 2020

NZZ-Foyer, Zürich

Tickets undweitere Informationennzz.ch/live 044 258 13 83

Page 17: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 17

KlausVieweg:Hegel.DerPhilosophderFreiheit.C.H. Beck 2019. 824 S.,umFr. 49.–, E-Book 28.–.DietmarDath: 100SeitenHegel.Reclam2020. 100 S., Fr. 15.–, E-Book 9.–.

VonFlorianOegerli

Zugegeben, allzu sympathisch wirkt ernicht: EinGemälde zeigt einen in Pelz ge-hüllten Mann mit grossen Augenringenund schütteremHaar. Misstrauischmus-tert er denBetrachter. Das kurz vorGeorgWilhelm Friedrich Hegels Tod entstan-denePorträt dürftedenRuf, der ihmgernevorauseilt,mitbestimmthaben:Der deut-sche Philosoph gilt als humorloser Vor-denker des preussischen Militarismus.Sein mieses Image liegt nicht zuletzt inden Schmutzkampagnen seiner Nachfol-ger begründet. Karl Popper etwa machteHegel fürdenNationalsozialismusmitver-antwortlich. Blöd nur, dass er ihn nach-weislich kaum gelesen hat. Denn Hegelwar alles andere als eindeutschtümelnderAntidemokrat.Vielmehr war der Schwabe seiner Zeit

voraus. Und zwar so sehr, dass MichelFoucault einmal scherzte, wann immermanglaube,Hegel überwundenzuhaben,warte er hinter der nächstenAbzweigung.Dass seine Gedanken so zeitlos wirken,liegt daran, dass er als Erster erkannte,dass es zeitloseGedankennicht gibt. AllesGeistige war für ihn das Resultat histori-scher Veränderungen – und damit einemständigen Wandel unterworfen. Dasmacht es leicht, ihn weiterzudenken.

KampfumAnerkennungAuch aktuelle Phänomene lassen sichmitihmbegreifen – etwa «BlackLivesMatter».«KampfumAnerkennung» lautet hier dasStichwort. Hegel erkannte, dass sozialeKonflikte sich nicht allein um die Ver-teilung ökonomischer Güter drehen.Ebenso wichtig ist der Drang, als gleich-wertigesMitgliedderGesellschaft an-erkannt zu werden. Auch dieTrump-Wahl lässt sichdurchdiese Linse betrachten:Schliesslich versprachTrump seinen Wäh-lern, sie würden «niemehr ignoriert».Hegel hilft alsoda-

bei, die Gegenwartzu verstehen. Nur:Wasdachte er selbst?Zwei Bücher, diepünktlich zum 250.Geburtstag erschie-nen sind, widmensich genau dieserFrage. In seinermonumentalenBio-grafie zeichnetder Philosophie-professor KlausVieweg Hegeläusserst sympa-

PhilosophieGeorgWilhelmFriedrichHegel galt langealsundemokratischerPreussenverehrer.Das ist einMissverständnis,wiedieBiografievonKlausViewegzeigt

ErwareinQuerdenkerthisch: als «Maulwurf», der die autoritäreGesellschaft umgräbt, als Verehrer derFranzösischen Revolution – und als öko-nomisch gebildeten Kopf, der bereits zuBeginn der Industrialisierung die Gefah-ren der wachsenden Ungleichheit er-kannte.NachderLektüredes800-seitigenWäl-

zers bleibt der Eindruck eines stillenRebellen, dessen Lebenweit aufregenderwar als erwartet. Das fängt im erzkonser-vativen Tübinger Stift an, wo Hegel mitseinem Freund Friedrich Hölderlin derRevolutionentgegenfiebert, undsetzt sichüber seineZeit alsHauslehrer inBern fort.Dort übersetzt er ein brisantes Manifest,das zur Befreiung derWaadt von der Ber-ner Herrschaft aufruft. Später, als Dozentin Jena, kommt es zur Begegnung mitNapoleon.Hegel verehrt in ihmdie «Welt-seele», diedieErrungenschaftenderRevo-lution ins rückständigeDeutschland trägt.Die meiste Zeit lebt der Denker un-

sicher. Immer wieder wird er vertrieben.

Erst aus Jena, dann aus Bamberg, wo erals Zeitungsmacher gegen die Zensorenkämpft. Später reformiert er in Nürnbergdas Schulsystem, setzt auf Selbstdenkenstatt Auswendiglernen. Auch das bringtihn ins Fadenkreuz der Mächtigen. ErstEnde vierzig gelingt ihm als Professor inBerlinderAufstieg.Dort verteidigt er zwaroffiziell die konstitutionelle Monarchie,bleibt aber heimlich ein Liberaler undRepublikaner. DieRestaurationnachdemWiener Kongress etwa attackiert er alsWeg ins Reich des «Deutschdumms».

ViewegsBiografie versuchtdasUnmög-liche: nichtnurHegels Lebenzuerläutern,sondern auch sein Werk. Das liest sichnicht immer leicht. Ohne philosophischeVorbildung sindmancheKapitel kaumzubewältigen. Dazu kommt, dass es demAutornicht gelingt, die SpreuvomWeizenzu trennen: So finden sich immer wiederabsatzlange Abhandlungen darüber, woHegel am liebsten einkehrte und was eram liebsten ass.Die Lektüre gleicht einemAusflug ins Hochgebirge: Sie ist anstren-gend und zeitaufwendig – gewährt aber

auch eine umfassende Aussicht überHegels Denklandschaften.

DieZeit inWorte fassenDemgegenüber wirkt DietmarDaths Büchlein wie eine lockereJoggingrundedurchdenPark.DerSchriftsteller verzichtet auf Lehr-sätze. Vielmehr möchte er zei-gen, warum das Denken desJubilars aktuell bleibt. So erläu-tert er, wieso Hegels paradoxeLogik für Mathematikerinnenvon Interesse ist. Und er erklärt,wie Hegel Kunst versteht: näm-lich als etwas, was stets an einebestimmte Epoche und ihre Hal-tungen gebunden ist. WeshalbKünstler nicht versuchen sollten,zeitlose Werke zu schaffen, sondernvielmehr ihre Zeit inWorte zu fassen.WieViewegverteidigt auchDathden

Philosophen gegen üble Nachrede. Zwarstimmees, dassHegel imAlter denpreus-sischen Staat gegen «Demagogen» inSchutzgenommenhabe.Dabei sei es aller-dings um «deutschtümelnde Rebellen»gegangen. Nicht jeder Aufstand sei per seemanzipatorisch. EineErinnerung, die inZeiten, in denenCorona-Verschwörungs-theoretiker ihre «Freiheit» bedroht se-hen, ziemlich aktuell wirkt.

Beide Bücher beweisen, dassHegel alles andere als überholtist. Gerade in Zeiten derPandemie. Denn wenn dieletzten Monate etwasgezeigt haben, dann,dass Freiheit nichtheisst, dass jeder tunkann,was erwill, son-dern dass bestimmteEinschränkungendieFreiheit überhaupt

erst ermög-lichen. ●

Am27. August jährtesich der GeburtstagvonGeorgWilhelmFriedrichHegel zum250.Mal.

JÜRG

ENRITT

ER/IMAGO

Page 18: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Sachbuch

18 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

Kurzkritiken

PeterKamber:FritzundAlfredRotter.Henschel, Leipzig 2020, 504 S.,zahlreicheAbb., umFr. 42.–.

Die jüdischenBrüderFritz undAlfredRot-ter zählten in den 1920er Jahren zu denschillerndsten Persönlichkeiten der Ber-liner Theaterszene. Sie betriebenmitwag-halsigen finanziellen Konstrukten bis zuneun führende Häuser und spielten klas-sischewie zeitgenössische Stücke, hattenaber vor allem mit Boulevardkomödien,RevuenundOperettenErfolg. Inder Spät-phase der Weimarer Republik brach ihrKonzern unter einem Schuldenberg zu-sammen, 1300Leute verloren ihreArbeit.DieNationalsozialistennutztendenSkan-dal zu antisemitischen Propagandafeld-zügen. Bei ihremVersuch, die nachLiech-tenstein geflohenenBrüder zuverhaften,kamen Alfred Rotter und seine EhefrauumsLeben,währendFritz Rotter verletztentkam. Der in Berlin lebende ZürcherHistoriker PeterKamberhat diehaarsträu-bendeGeschichte akribisch aufgearbeitetund erzählt so detailreich wie packend.Manfred Papst

LuiseSammann:Grossmachtträume.DieTürkei zwischenDemokratieundDiktatur.Reclam2020. 189 S., Fr. 22.–, E-Book 15.–.

Jede Woche eine neue Krise. Oder viel-mehr eine alte. Die Türkei desAutokratenTayyip Erdogan dreht sich im Kreis. Siemacht Griechenland die Ägäis streitig,ignoriert das Waffenembargo der Unogegen Libyen, errichtet ein Protektorat inNordsyrienund fordert dieEUwiedieUSAheraus. Warum das alles? Es sind Gross-machtträume, angetrieben von ErdogansWillen, politisch zu überleben. So lautetdie These von Luise Sammann, die neunJahre lang aus Istanbul für den Deutsch-landfunk und SRF berichtete. Die Radio-journalistin kann sich in ihremTürkeipor-trät auf einen Fundus exzellenter Repor-tagen stützen, die sie gemeinsam mitihremEhemannFatihKanalici anfertigte.IhrRat: Ein ehrlicherUmgangmit derTür-kei ist der beste Weg, um die Türken vonihrer Führersehnsucht zu heilen. Mehrgeistiger Austausch und die Aufhebungdes Visumzwangs gehören dazu.Markus Bernath

JensMühling:SchwereSee.EineReiseumdasSchwarzeMeer.Rowohlt 2020. 314 S.,umFr. 34.–, E-Book 22.–.

FürdieGriechenmarkierteesdieäussersteGrenzederZivilisation, jenseitsderenwil-deReitervölker,AmazonenundUngeheu-er lebten. Betrachtet man aber wie JensMühling das Schwarze Meer als Zentrumundnicht alsRand, rückendieDinge ineinanderesLicht.Ein Jahr lang reisteder Jour-nalistumdasBinnenmeerdurchRussland,Georgien, Abchasien, die Türkei, Bulga-rien,Rumänien,dieUkraineunddieKrim.Überall – im Küstennebel, in der Steppe,auf Fischerbooten und im schroffen Pon-tischen Gebirge – stiess er auf Menschen,dieergreifendeundoft genug tragisch-ab-surdeGeschichtenzuerzählenhaben.FastjedederVolksgruppenamSchwarzenMeerwurde irgendwann Opfer von grossenmachtpolitischen Plänen (vor allem Sta-lins). In seinem formidablen Buch bringtMühling sie uns nahe – dieMenschen, dieSprachen, die Bäume, dieQuallenunddieAmazonen,diees tatsächlichgegebenhat.Martina Läubli

JodyKantorundMeganTwohey:#MeToo.Übersetzt von J. undK.Harlass. Tropen2020. 448 S. umFr. 26.–, E-Book 18.–.

Ohne Jody Kantor und Megan Twoheyhätte es #MeToo wohl nicht gegeben. Inihrem Buch rekonstruieren sie ihremonatelange Arbeit am Artikel in der«New York Times», der im Oktober 2017HarveyWeinstein, denmächtigstenMannHollywoods, zu Fall brachte. Sie liefertendieBeweise zudenGerüchten:Erhat jahr-zehntelang Frauen sexuell missbraucht.Die Journalistinnen beschreiben, wie siemühsam das Vertrauen von Schauspiele-rinnen und ehemaligen AssistentinnenWeinsteins gewonnen haben. Fast allehatten Angst zu reden, weil sie einge-schüchtertundmitVerträgenzumSchwei-genverpflichtetwordenwaren.Dannwird«#MeToo» zum Krimi: Je weiter dieRecherche fortschritt, destomehrWider-stand kamvonWeinsteins Anwälten. DasBuch ist eine Anleitung in investigativemJournalismus undmacht klar, wie unent-behrlichdieMedienals vierteGewalt sind.Denise Bucher

JungH.Pak:KimJong-un.EineCIA-AnalystinüberseinLeben.Dumont 2020.416 S., umFr. 37.–, E-Book 22.–.

VonMichael Radunski

Kaum ein Land der Welt ist so verschlos-sen wie Nordkorea. Die Analysten desamerikanischenGeheimdienstesCIAnen-nen es laut Jung H. Pak «das härteste Zielvon allen». Sie muss es wissen, schliess-lich hat Pak als führende CIA-AnalystinderObama-Regierungacht Jahre langüberNordkorea berichtet. Nun will sie mitihrem Buch «Kim Jong-un» eine breiteÖffentlichkeit über die isolierte Atom-macht und deren Führer informieren.

Pak zeigt vor allem die Schwächen deswestlichen Blicks auf den nordkoreani-schen Diktator auf, der vom amtierendenPräsidentenderUSAals «RaketenmannaufSelbstmordmission» verspottet wird. DerAutorin ist solch plumpe Polemik fremd.DieEx-Geheimdienstmitarbeiterinberich-tet sachlich und lässt die Janusköpfigkeitdes Kim Jong Un für sich selbst sprechen:ein jungerMann,der sichaufStaatstreffenhumorvoll gibt, gleichzeitig aberHundert-tausende Nordkoreaner in Arbeitslagersteckt und seinen eigenenOnkel grausamhinrichten lässt. Pak geht strikt chronolo-gisch vor, um die Entwicklung der Kim-DynastiehinzumderzeitigenMachthaberKimJongUnaufzuzeigen.Allerdings leidetunter dem engen Korsett die Tiefe ihrerAnalyse. StattwichtigeAspekteeingehen-der zubeleuchten, arbeitet sichPakeisernentlangdes linearenZeitstrahlsvonGross-ereignis zu Grossereignis.

Dabei gäbe es genügendAnknüpfungs-punkte: Ausgehend von der HinrichtungdesOnkels könntemandie innerenStruk-turendesnordkoreanischenRegimes ana-lysieren, schliesslich soll JangSongThaekeinen Staat im Staate gegründet haben.KimszaghafteWirtschaftsreformenwärenein guter Ausgangspunkt, um die ökono-mischenProblemewie auchChancendesLandes zubenennen.Undaussenpolitisch

wäre es notwendig,mehr über dieWichtigkeit Chinas als Nord-koreas wichtigster Verbündeterzu erfahren. Zu selten geht Pakjedoch über das rein Deskrip-

tivehinaus. Erst amEndestellt sie eigeneAnalysenund Überlegungen an.

So ist ihr Buch eine gut les-bareAuswertungvieler Informa-tionenundbildet einennüchter-nen Kontrapunkt zur sonst soschrillen Polemik in Bezug aufNordkorea.Manwürde sichvoneiner ehemaligen CIA-Analys-tin jedoch erhoffen, siebrächte mehr Licht in dieBlackbox Nordkorea. ●

PolitikEine frühereCIA-AnalystinerklärtNordkorea.Doch Insiderinformationensuchtmanvergeblich

BlackboxNordkorea

DerDiktatorKim JongUnhältHunderttausendeMenschen inStraflagerngefangen.

REUTE

RS

Page 19: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

Sachbuch

30.August 2020 ❘ NZZamSonntag ❘ 19

Sina«DieTraumsammlerin»vonPatti Smith«Abschlussball» von Jess JochimsenParallel drei Sachenmachenkonnte schonmeinVater gut. Das habe ichwohl geerbt.So haben sichmir in den letztenMonatenein paar Buchdeckel gleichzeitig geöffnetund mir damit Reisen in andere Weltenermöglicht. AlsKindund Jugendlichewarich eine Leseratte. Es gab nichts Schöne-res, als während unserer Ferien im Löt-schental bei Gewitter unter die Decke zukriechen, ein weiteres Kapitel eines«Hanni und Nanni»-Buches aufzuschla-genunddabei voll undganz abzutauchen.

Als dieMusikwichtigerwurde, griff ichseltener zu Büchern, auch wenn mir dasWort über die Jahre je länger, jewichtigergeworden ist. Für meine Liedtexte sucheich oftwochenlangnachpassendenWen-dungen und Ausdrücken, die einen Ge-fühlszustand oder eine Begebenheit prä-zise und unverbraucht formulieren. PattiSmith macht das mit Leichtigkeit. Sie er-schafft eine Stimmung mit Wucht undzauberhafter Poesie, eine, die ich nie er-reichenwerde. «DieTraumsammlerin» istmir, mit zärtlichen Geschichten einerstarkenFrauundwunderbarenDichterin,seit Jahren eine treue Begleiterin.

Wasliest ...

Momentan entführt mich ein Buch indieWelt eines jungenMannes, der als Be-erdigungstrompeter auf einem Friedhofin München arbeitet. Dass der Autor JessJochimsen auch Musiker ist, ist ein Ge-schenk. Die Beschreibung seines Instru-mentsunddessenWirkung,wiedetaillierter die Interpretation seiner Lieder charak-terisiert, begeistertmich.Manchmal steheich mit Marten an einem Grab, wenn erimprovisiert unddie Trauergemeinde aufeine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt mit-nimmt, und singe innerlichmit. «Amazinggrace, howsweet the sound...» Ich kennesie ja selber, die beschriebene Magie desMomentsundauchdieLeere, die sich ein-stellen kann, nachdemman sich emotio-nal entblösst hat.Wie sichder jungeTrom-peter derWelt erst verweigert, sich ihrmitder Zeit aber öffnet, berührt mich.

Es ist kein Spaziergang, seinenÄngstenund Sorgen die Stirn zu bieten, gerade indiesenZeiten.Da sindmirdieLebensweis-heiten von Philosophen ein Leuchtturm.Was ist für Seneca ein gutes Leben? Wassagt Schopenhauer über das Alter? FürFreunde und Bekannte habe ich Gedan-ken verschiedener Philosophen von derAntike bis heute aufgenommen. Es warschön, diese tröstlichen Gedanken zu le-sen und zu teilen.«Es ist nichtwenig Zeit,diewir haben, sondern es ist viel Zeit, diewir nicht nutzen.» Seneca.l

BestsellerAugust2020

ErhebungGfKEntertainment AG imAuftrag des SBVV;17. 8. 2020. Fast alle Bücher gibt es auch als E-Book.

Sachbuch

Belletristik

1 Jean-LucBannalec: Bretonische Spezialitäten.Kiepenheuer &Witsch. 352 Seiten, um Fr. 23.–.

2 Silvia Götschi: Lauerzersee.Emons. 336 Seiten, um Fr. 20.–.

3 Bernhard Schlink: Abschiedsfarben.Diogenes. 240 Seiten, um Fr. 33.–.

4 MarcoBalzano: Ichbleibe hier.Diogenes. 288 Seiten, um Fr. 31.–.

5 DeliaOwens: DerGesangder Flusskrebse.Hanserblau. 464 Seiten, um Fr. 31.–.

6 GuillaumeMusso: EinWort, umdich zu retten.Pendo. 336 Seiten, um Fr. 24.–.

7 Nicholas Sparks:Wenndu zurückkehrst.Heyne. 448 Seiten, um Fr. 23.–.

8 Donna Leon: GeheimeQuellen.Diogenes. 320 Seiten, um Fr. 33.–.

9 GianMaria Calonder: EngadinerHochjagd.Kampa. 192 Seiten, um Fr. 20.–.

10 Robert Seethaler: Der letzte Satz.Hanser Berlin. 128 Seiten, um Fr. 28.–.

1 JamieOliver: Jamies 5-Zutaten-Küche.Dorling Kindersley. 320 Seiten, um Fr. 36.–.

2 Yuval NoahHarari: Eine kurzeGeschichte derMenschheit.Pantheon. 528 S., um Fr. 24.–.

3 Mary L. Trump: Zuviel undnie genug.Heyne. 288 Seiten, um Fr. 30.–.

4 Stefanie Stahl: DasKind indirmussHeimatfinden.Kailash. 288 Seiten, um Fr. 14.–.

5 PhilippaPerry: Das Buch, vondemdudirwünschst,deine Eltern ...Ullstein. 304 S., um Fr. 25.–.

6 RichardDavidPrecht: Künstliche Intelligenz undder Sinndes Lebens.Goldmann. 256 S., Fr. 26.–.

7 FrankUrbaniok: Darwin schlägtKant.Orell Füssli. 480 Seiten, um Fr. 36.–.

8 Daniele Ganser: ImperiumUSA.Orell Füssli. 400 Seiten, um Fr. 34.–.

9 YotamOttolenghi: Simple. DasKochbuch.Dorling Kindersley. 320 Seiten, um Fr. 40

10 Gabriel Palacios: Gib deinerAngst keineMacht!Allegria. 256 Seiten, um Fr. 26.–.

ANZEIGE

DieMundartsängerin Sina Bellwald freut sich nach sechsMonatenVollstopp auf ihre Triotour inKleintheatern vonOktober 2020bisMärz 2021.

PATWET

TSTE

IN

ISBN 978-3-312-01172-8

Ein wichtigesZeugnis zweierder Wenigen,

die den Holocaustals Kinder überlebthaben, und einestarke Stimmein Zeiten des

Rechtsrutschesin Europa.

NAG E L K I MCH E&

Page 20: SchweizerLiteratur Island-Roman KanneinzweitesLeben … · 2020. 9. 1. · Nr.7|30.August2020 SchweizerLiteratur KanneinzweitesLeben gelingen?RolfLapperterzählt vonvierAussenseitern

20 ❘ NZZamSonntag ❘ 30.August 2020

Kolumne

Was reden die Schriftsteller,wenn sie, selten genug,abends beimWein zusam-mensitzen? Vermutlich un-

gefähr dasselbe wie andere Berufsgrup-pen auch – Familie, Krankheiten,Urlaub, Erfahrungenmit Verlagen, Kol-legen, Auftrittsorten –, undmöglicher-weise nehmen Diskussionen über Politikeinen grösseren Raum ein als anderswo.Zu den beliebten Anekdoten gehörenGeschichten von Laien, die einenmitihren ungelegten Eiern belästigen, alsoLesern, die einem nach der Lesung zu-raunen, sie hätten da einen Stoff inpetto, obman da als Profi mal einenTipp geben könnte.

Sie werden enttäuscht sein, ich kannkeine einzige dieser Anekdoten wieder-geben, weder eigene noch fremde. Ichwerde in solchenMomenten nämlichvon Zorn erfüllt, und es kostet mich soviel Kraft, ihn zu unterdrücken (dennwas können die Umstehenden dafür, gardie Buchhändler oder Kulturamtsleiter,mit denenman nachher noch essengehen soll?), dass diese Anstrengung of-fenbar mein Gedächtnis lahmlegt. Einfür alle Mal: Tun Sie es nicht. Was immerSie sich zu schreiben vorgenommenhaben, jetzt oder später, wenn die Kin-der aus demHaus und Sie in Pensionsind: Holen Sie sich von uns keinen Rat,machen Sie nicht auf sich und Ihrenspektakulären Stoff aufmerksam, ver-kneifen Sie sich vor allem den Atom-bomben-Satz: «Also ich könnte jaRomane schreiben, wenn ich endlicheinmal Zeit hätte.»

Oder gehen Sie etwa nach demKonzert zumDirigenten, nachder Oper zu den Sängern odernach der Vernissage zumMaler

und sagen: «Ja, wenn ich endlichmalweniger Arbeit hätte, dann könnte ich,genauwie Sie ...»? Aber schreiben kön-nen ja alle. Dasmacht die Schriftstellerunter den Künstlern zu etwas Besonde-rem, im Sinne von: besonders verletz-lich. Ich will nicht arrogant erscheinen,sondern auf etwas hinweisen, was

EvaMenasseAusmeinemLebenalsSchriftstellerin

Schreibenkönnenjaalle

eigentlich klar sein sollte: Auch umeinen Roman zu schreiben, mussmanlange üben, hart arbeiten und ziemlichviel Handwerk lernen, auf welcheWeiseauch immer, denn die Autoren kommenauf verschiedenenWegen zu ihrer Kunst.Und selbst das ist ein Problem. Verglei-chen Sie den Seriositätsfaktor folgenderSätze: «Meine Tochter studiert Gesang»,«Mein Sohn ist an der Kunsthoch-schule», aber: «Meine Tochter möchteSchriftstellerin werden.» Haha! KeineDiskrepanz ist grösser als die zwischeneinem jungen oder auch älterenMen-schen, der abends beim Bier verschämtzugibt: «Ich schreibe da an etwas, viel-leicht wird es einmal ein Buch», undeinem erfolgreichen Debüt: «He, der dadrüben, das ist doch der, der gerade die-sen Riesenerfolg gelandet hat.»

Auf demWeg von dort nach daschrumpft das Feld zwar erheblich,genauwie bei den Bildhauern, Pianistenund Filmstudenten. Aber Letztere kön-nen zumindest von ihrer Ausbildung

sprechen, da es eine gibt. Tödliche Ver-achtung für die Anfänger und Adepten,absurde, oft übertriebene Verehrung fürmanche Erfolgreichen – ich glaube, damitsteht unser Beruf wirklich ziemlich alleinda. Und nur deshalb erwähne ich es.

Halten Sie sich für eine Schrift-stellerin?», hat mich einmal,knisternd vor Sarkasmus, einRedaktor gefragt, der mich zur

Journalistin ausbildete. Damals dachteich nicht im Traum daran, ich wollte un-bedingt zur Zeitung undwehrte michnur gegen eine Korrektur, die mir sinn-los erschien. «Mir geht es auch um dieSprache», gestand ich naiverweise undbekam diese tiefgekühlte rhetorischeFrage um die Ohren gehauen. Sich füreine Schriftstellerin zu halten, ist dasPeinlichste, was es gibt. Zu glauben, einewerden zu können, ebenfalls. AlsSchriftsteller wirdman frühestens mitdem ersten Buch geboren, und selbstdann fremdeln die meisten noch langemit der Berufsbezeichnung.

Deshalb meine Bitte: Überfallen Sieuns nicht, sondern probieren Sie IhreIdeen im Geheimen aus, leiden Sie, wiewir alle gelitten haben, und erfahren Sieso, dass man nicht mal eben en passanteinen Roman schreibt. Leider vergessendas beharrlich auchmanche Kritiker,aber für dieses Thema brauche ichmindestens die nächste Kolumne.l

EvaMenasse lebt als vielfach ausge-zeichnete Schriftstellerin in Berlin.Zuletzt ist von ihr im Verlag Kiepenheuer&Witsch der Erzählband «Tiere fürFortgeschrittene» erschienen.

GORD

ONWEL

TERS

«Halten Sie sich füreine Schriftstellerin?»Diese Frage an EvaMenassewarsarkastischgemeint.

Was immer Sie sichzu schreibenvorgenommenhaben,wennSie inPensionsind:HolenSie sichvonunskeinenRat!