28
Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung April 2015 Ausgabe 63 Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Schwerpunkt: ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

Schwerpunkt: ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN? · 2015. 4. 29. · ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN? Vereinsamung als gesellschaftliches Problem Janosch Schobin 11 Schmerzhafte Einsamkeit Manfred

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Ansprechstellen imLand NRW zurPalliativversorgung,Hospizarbeit undAngehörigenbegleitung

    April 2015 Ausgabe 63Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen

    Schwerpunkt:ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    2

    Liebe Leserinnen und Leser,

    im letzten Alterssurvey finden wir folgen-den Satz: „Während die (aktuell) altenMenschen vermutlich aufgrund ihrer gutensozialen Integration nur wenig unter Einsamkeit leiden, haben Personen immittleren Erwachsenenalter möglicher-weise aufgrund ihrer fragiler werdenden

    sozialen Netze aktuell ein höheres Einsamkeits -risiko.“ Und weiter heißt es: „Der Wandel der Einsamkeit in der zweiten Lebenshälfte sollte dabeiweiter beobachtet werden.“

    Einsamkeit wird also ein Thema der Zukunft sein,mit dem wir rechnen und auf das wir eine Antwortfinden müssen. Aber schon heute reagieren die Gesellschaft und die Politik darauf, mitunter sehrkreativ und mit großem Engagement. Hierzu findenSie in diesem Hospiz-Dialog einige Beispiele. Dass dies auch durch sehr junge Menschen um -gesetzt wird, ist besonders schön, da hier der sonotwendige generationenübergreifende Perspektiv-wechsel vollzogen und in die Praxis umgesetzt wird.Auch finden Sie zwei Beiträge zu den Hintergründenvon ,Einsamkeit‘. Dass es sich bei Einsamkeit undSchmerz gleichsam um kommunizierende Elementehandelt, macht wieder einmal die Bedeutung psychischer Faktoren für das körperliche Empfindendeutlich, dem wir als Mitmenschen und als profes-sionell Tätige Rechnung tragen können.

    Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre

    Ihre

    Gerlinde Dingerkus

    Editorial

  • Hos

    piz-

    Dia

    log

    NRW

    - A

    pril

    2015

    /63

    INFORMATION

    Gemeinsam für die Kinder – SAPPV-Teams und Kinderhospizdienste im SchulterschlussMarcel Globisch, Andreas Müller 4

    Physiotherapie in der Hospiz- und Palliativversorgung Gabriele Müller-Mundt, Kathrin Woitha, AndreaWünsch, Stefanie Fimm, Nils Schneider 6

    Private Krankenkassen fördern Hospizarbeit HPV NRW 9

    SCHWERPUNKTALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    Vereinsamung als gesellschaftliches ProblemJanosch Schobin 11

    Schmerzhafte EinsamkeitManfred Spitzer 14

    Gegen Einsamkeit und Isolation im Alter Porträt des Berliner Vereins Freunde alter MenschenKlaus-W. Pawletko 16

    Begegnen, Besuchen, Begleiten, BeratenAufsuchende Altenarbeit-Hausbesuche in BremenYvonne Finke, Heidi Petersen 20

    Auf dem letzten Weg nicht alleinWürdige Bestattungen für mittellose MenschenUlrich Treude 22

    Veranstaltungen 27

    Inhalt

    IMPRESSUM

    HerausgeberALPHA – Ansprechstellen im Land Nordrhein-Westfalen zurPalliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung

    RedaktionALPHA-Westfalen, Ansprechstelle im Land Nordrhein-Westfalen zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung im Landesteil Westfalen-LippeGerlinde Dingerkus, Sigrid Kießling, Mary WottawaFriedrich-Ebert-Straße 157-159, 48153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48, Fax: 02 51 - 23 65 [email protected] · www.alpha-nrw.de

    LayoutArt Applied, Hafenweg 26a, 48155 Münster

    DruckBuschmann, Münster

    Auflage2.500

    Die im Hospiz-Dialog veröffentlichten Artikel geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion und der Herausgeberwieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keineGewähr übernommen. Fotos der Autoren mit Zustimmung der abgebildeten Personen.Fotonachweis: S. 11: B. Dretzke (Porträt); S. 11, 12: G. Achtermann;S. 17: B. Zellentin; S. 18: C. Rechard; S. 20: I. Krause;S. 22 - 25: U. Treude

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    4

    D ie Zusammenarbeit zwischen den Spe-zialisierten Ambulanten Palliativteamsfür Kinder und Jugendliche (SAPV) undden ambulanten Kinder- und Jugendhos -pizdiensten (AKHD) beschäftigt die unterschied-lichen Akteure seit einigen Jahren. Bundesweit sindunterschiedliche Formen der Kooperation entstan-den. In Nordrhein-West-falen können wir auf ei-ne besonders lange Zeitder Zusammenarbeitzurück blicken, derenAnfänge bereits 10 Jahre zurückliegen. DieSpannbreite reicht inNRW von langjähriger,regelmäßiger und in Ko-operationsvereinbarun-gen verankerter Zu-sammenarbeit bis hinzu einem Nebeneinan-der mit wenigen Berüh-rungspunkten im Alltag.Die aufeinander abge-stimmte Versorgung,die nicht zuletzt dempolitischen Willen desGesetzgebers ent-spricht1, ist im Sinne derbestmöglichen Beglei-tung und Versorgungder Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenendas Ziel.

    Wie kann die Zusammenarbeit erfolgreich gestaltetwerden? Vor diesem Hintergrund entstand eine ge-meinsame Projektgruppe2 der Deutschen Gesell-schaft für Palliativmedizin e.V. und des DeutschenHospiz- und PalliativVerbandes e.V., zusammenge-

    setzt aus Praktikern und Praktikerinnen der ambu-lanten Kinder- und Jugendhospizarbeit und derSAPV für Kinder und Jugendliche sowie von zweiEltern von Kindern und Jugendlichen mit lebens-verkürzender Erkrankung3. Das Ergebnis ist dieHandreichung zur Entwicklung einer kooperativenZusammenarbeit zwischen Spezialisierten Ambu-

    lanten Palliativ-Teams(SAPV) für Kinder, Ju-gendliche und junge Er-wachsene und Ambulan-ten Kinder- und Jugend-hospizdiensten (AKHD),die bei der Umsetzunghilfreich sein soll.

    Die Erfahrungen zeigen,dass gegenseitiges Ver-trauen die Basis für eineerfolgreiche Kooperationist. Dies setzt persönli-che Begegnungen undregelmäßige Formen desgeregelten Austauschsvoraus. Die Bedingungensind regional sehr unter-schiedlich, deshalb gibtes nicht den Weg zu ei-ner gelingenden Zu-sammenarbeit. So ste-hen insbesondere in

    NRW die SAPV-Teams im Einzugsgebiet von Bal-lungsräumen vor großen Herausforderungen. DasSAPV-Team für Kinder und Jugendliche mit Sitz inDatteln hat mehr als ein Dutzend ambulante Kin-der- und Jugendhospizdienste, die 100 km oder we-niger von Datteln entfernt sind, zu berücksichtigen.Hier sind sicher andere Formen der Zusammenar-beit notwendig als beispielsweise für SAPV Teams,

    GEMEINSAM FÜR DIE KINDERSAPPV-Teams und Kinderhospizdienste im SchulterschlussHandreichung zur Entwicklung einer kooperativen ZusammenarbeitMARCEL GLOBISCH, ANDREAS MÜLLER

    1 vgl. dazu §§ 37b, 39a und 132d SGB V2 Mitwirkende waren: Bernhard Bayer, Dörte Garske, Marcel Globisch, Margret Hartkopf, Thorsten Hillmann, Sonja Kuchel, Fanny

    Lanfermann, Susanne Lehn, Andreas Müller, Wilma Neuwirth, Stefan Schwalfenberg, Sabine Sebayang, Nina Stahl.3 Soweit hier von ‚Kindern‘ die Rede ist, sind jeweils Kinder und Jugendliche gemeint sowie ggf. junge Erwachsene, wenn die

    Erkrankung im Kindes- oder Jugendalter aufgetreten ist und die Versorgung im Kinderhospiz von den jungen Erwachsenen gewünscht wird, im Einzelfall auch bei Auftreten der Erkrankung im jungen Erwachsenenalter.

  • beantwortet wurden“, berichtet Dr. Susanne Eg-bert, Koordinationsfachkraft im AKHD Gießen. „Ver-trauen in die Handreichung entsteht auch dadurch,dass beide Berufsgruppen an der Handreichunggleichberechtigt mitgewirkt haben“, so Egbert wei-ter. Dabei gefällt ihr insbesondere der Hinweis auf

    „offene Kommunikation und re-gelmäßige Teamtreffen – meinerMeinung nach die beste Heran-gehensweise, um den Kindern ei-ne möglichst optimale Begleitungund Versorgung zu ermöglichen.“

    Es gibt aber auch wertvolle Er-gänzungen, wie die Handrei-

    chung noch verändert werden könnte. Uns Betei-ligten war im Prozess immer klar, dass wir nichtden Anspruch erheben, eine vollumfängliche Be-schreibung aller Leis tungen der Anbieter inDeutschland darzulegen, auch nicht eine Handrei-chung, die alle Antworten für eine gelingende Ko-operation geben kann. Entscheidend ist und bleibtder persönliche Kontakt der beteiligten Koopera-tionspartner, das Miteinander-Reden, diskutieren,hinterfragen und das gemeinsam mit den Men-schen, die von den guten Angeboten profitierensollen, den Kindern und ihren Familien selbst.

    Wir hoffen daher, dass die Handreichung den Prak-tikern und Praktikerinnen Leitplanken liefert, ent-lang derer individuelle Wege beschritten werdenkönnen. Diese mögen unterschiedlich aussehen,aber sie müssen im Sinne einer bestmöglichen Be-gleitung und Versorgung begangen werden.

    Marcel Globisch (Vorstandsmitglied DHPV e.V.)

    Andreas Müller (Vorstandsmitglied DGP e.V.)

    5H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3

    die nur vier ambulante Kinder- und Jugendhospiz -diens te in ihrem unmittelbaren Versorgungsgebietals Netzwerkpartner haben.

    Dennoch kristallisieren sich Maßnahmen heraus,die aus Sicht der Projektgruppe ein nachhaltigesZusammenwachsen begünstigenkönnen. Stefan Schwalfenberg,Oberarzt im SAPV-Team „Der Wegnach Hause“ in Bielefeld: „Wir ha-ben in unserem Netzwerk in Ost-westfalen seit längerem geplant,die bereits laufende Zusammen-arbeit der regionalen ambulantenKinder- und Jugendhospizdiensteund unserem SAPV-Team zu betrachten. Wir den-ken, dass die Handreichung dafür sehr hilfreichsein wird, da wir nun die Grundzüge der Koopera-tion prägnant umschrieben vorliegen haben undso von den Erfahrungen anderer profitieren kön-nen.“

    Wichtig war der Projektgruppe bereits in der Ent-stehung die Beteiligung der Sichtweisen der Fami-lien. So ist es kein Zufall, dass wir die Erwartungenvon Eltern an die Versorger an den Anfang derHandreichung gestellt haben. Sie sollen immerhandlungsleitend sein.

    Im Folgenden war für uns von Bedeutung, die we-sentlichen Grundlagen gelingender Zusammenar-beit vor dem Hintergrund der ‚richtigen‘ Haltungund der Netzwerkarbeit zu beleuchten. Auf diesebauen die Leis tungen der SAPV-Teams und derAKHDs auf, die im Anschluss ebenso beschriebensind wie mögliche Regelungen zur Kooperation.

    In der Erstellung der Handreichung war uns diepraktische Anwendung ein besonderes Anliegen.Vor diesem Hintergrund haben wir am Ende einesjeden Gliederungspunktes Fragestellungen festge-halten, die den Praktikern und Praktikerinnen aufihrem individuellen Weg eine Möglichkeit der Rück-Vergewisserung sein sollen.

    Es gibt bereits nach zwei Monaten in der Anwen-dung erste gute Rückmeldungen was den prakti-schen Nutzen betrifft. So wurde die Handreichungals Unterstützung in der gerade entstehenden Ko-operation des AKHD Gießen sowie dem SAPV-Teamfür Kinder und Jugendliche in Gießen herangezo-gen. „Beim ersten Kennenlernen der beiden Teamsstellte sich heraus, dass viele der aufkommendenFragen bereits in der Handreichung behandelt und

    » Entscheidend ist derpersönliche Kontaktder beteiligten Kooperationspartner.

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    6

    B ei Patientinnenund Patienten mitnicht (mehr) heil-baren progredien-ten Erkrankungen sind dieLinderung belastenderSymptome und der Erhaltvon Mobilität und Partizipa-tion zur Sicherung der Le-bensqualität essenziell(WHO, 2002; DGP et al.,2010). PhysiotherapeutischeInterventionen setzen aufden Ebenen der Förderungund Wiederherstellung desWohlbefindens, Körperwahr-nehmung, Funktions- undLeistungsfähigkeit an. Ihrübergreifendes Ziel ist es,durch Mobilisierung undStärkung von Ressourcendas Aktivitätsniveau und diePartizipation der Erkranktenzu fördern (Fiechter Lienert,2014; Nieland et al., 2013).Die Physiotherapie kann da-her einen wesentlichen Bei-trag für den Erhalt einesgrößtmöglichen Maßes anLebensqualität und sozialerTeilhabe schwerstkrankerMenschen auch und geradeam Ende des Lebens leisten

    (Cobbe & Kennedy, 2012; Goodhead, 2011).

    Bislang liegen nur wenige wissenschaftliche Unter-suchungen zur Rolle der Physiotherapie in der Hos -piz- und Palliativversorgung vor (Woitha et al.,2013). Dies liegt u. a. daran, dass Prävention, Kuration und Rehabilitation die vorrangigen Hand-lungsfelder der Physiotherapie sind und dass

    Palliative Care in Deutschland kein regelhafterGegenstand physiotherapeutischer Ausbildungs-und Studiengänge ist. Allerdings existieren ein Palliative Care Basiscurriculum (Mehne et al., 2007)und spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote.Anliegen des vorliegenden Forschungsprojekts(Förderung: Jackstädt-Stiftung) war es daher, Ent wicklungsstand und -erfordernisse der Physio-therapie in der Versorgung schwerstkranker undster bender Menschen erstmals für Deutschland systematisch aufzuarbeiten, um darauf aufbauendHand lungsempfehlungen für eine bedarfs- und be-dürfnisgerechte Weiterentwicklung zu erarbeiten.

    Methodisches Vorgehen Das im Zeitraum von November 2012 bis März 2014durchgeführte Forschungsprojekt gliederte sich indrei aufeinander aufbauende Teilstudien:

    • Eine qualitative Interviewstudie zur Rolle derPhysiotherapie in der Palliativversorgung. Für diequalitative Studie wurden im Frühjahr 2012 fünfPalliativstationen rekrutiert und jeweils min -destens ein Vertreter bzw. eine Vertreterin derPalliativmedizin, der Palliativpflege und derPhysiotherapie interviewt (n=19). Ergänzend wur-den drei Patienteninterviews durchgeführt.

    • Ein einrichtungsbezogener Survey zur Physio-therapie in der Hospiz- und Palliativversorgung.Die schriftliche Befragung richtete sich an die2013 in den Adressdatenbanken der Hospiz- undPalliativverbände nachgewiesenen 680 speziali-sierten Einrichtungen (266 Palliativstationen, 221SAPV-Dienste und 193 Hospize). An dem Surveybeteiligten sich im Frühjahr 2013 insgesamt 269

    PHYSIOTHERAPIE IN DER HOSPIZ- UNDPALLIATIVVERSORGUNG – ERGEBNISSE EINES FORSCHUNGSPROJEKTSGABRIELE MÜLLER-MUNDT1, KATHRIN WOITHA1, ANDREA WÜNSCH1, STEFANIE FIMM2,NILS SCHNEIDER1

    Gabriele Müller-Mundt

    Kathrin Woitha

    Zu den Autoren:1 Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Hochschule

    Hannover (MHH), Hannover2 Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Physio-

    therapie und Physikalische Therapie, Kiel

  • Einrichtungen, was einem Rücklauf von 39,5 Pro-zent entspricht.

    • Ein Expertenworkshop, um auf der Grundlageder Untersuchungsergebnisse Handlungsemp-fehlungen für die Weiterentwicklung der Physio-therapie in der Hospiz- und Palliativversorgungzu konkretisieren. An dem im Januar 2014 durch-geführten Workshop nahmen sieben Mitgliederder Sektion Physiotherapie der Deutschen Ge-sellschaft für Palliativmedizin (DGP) teil.

    Übersicht über die Projektergebnisse Insgesamt zeichnet sich ab, dass die Physiothera-pie als wichtiger Baustein palliativer und hospiz-licher Versorgungskonzepte und wertvolle Erwei-terung der Interventionsmöglichkeiten zur Siche-rung eines bestmöglichen Maßes anLebensqualität schwerstkranker und sterbenderPatienten gesehen wird (Schneider, 2014; Wünschet al., 2014).

    Betont wird der Beitrag zur SymptomlinderungPhysiotherapeutische Interventionen werden vorallem bei Ödemen, Immobilität, Luftnot undSchmerz als hilfreich eingestuft. Insgesamt wirdauf ein breites Spektrum physiotherapeutischerInterventionen zurückgegriffen, schwerpunktmä-ßig manuelle Lymphdrainage, Atemtherapie, Mobilisations- und Entspannungstechniken. Dem-gegenüber finden gezielt aktivierende Interventio-nen wie ein angepasstes Ausdauer- und Krafttrai-ning eher selten Anwendung. Ein hoher Stellenwertwird der Hilfsmittelversorgung und der Beratungund Anleitung der Patienten und ihrer Angehörigenzugeschrieben.

    Auf Palliativstationen ist die Physiotherapieweitgehend etabliertPhysiotherapeutische Interventionen werden aufden Palliativstationen weitgehend als fester Bestandteil palliativer Therapiekonzepte betrach-tet. Deutlich wird, dass die Einbeziehung derPhysiotherapie in das Team berufsgruppenüber-greifend als wertvoll angesehen wird. Dies erfor-dert die Bereitstellung ausreichender personellerRessourcen.

    Probleme der frühzeitigen Einbindung und VersorgungskontinuitätWichtig sind die frühzeitige Einleitung physiothe-rapeutischer Maßnahmen und eine kontinuierlichetherapeutische Begleitung von Palliativpatientin-nen und -patienten. Unsere Ergebnisse zeigen aller-

    dings, dass die frühzeitigeEinleitung physiotherapeuti-scher Interventionen selbstauf den Palliativstationennicht durchgängig sicherge-stellt ist und auch hier einphysiotherapeutisches As-sessment eher selten erfolgt.

    Zudem mangelt es an einemhinreichenden Schnittstellen-management. So gestaltetsich die nahtlose Überlei-tung in nachgeschaltete Ver-sorgungsbereiche, insbe-sondere in die häusliche Ver-sorgung, schwierig.

    Strukturelle HürdenDeutlich werden insbeson-dere in der SAPV aber auchin den Hospizen strukturelleMängel und restriktive Fi-nanzierungsbedingungen.Neben einem teils ungenü-genden Bewusstsein für pal-liative physiotherapeutischeBehandlungsmöglichkeitenauf Seiten der niedergelas-senen Fach- und Haus ärztestellen die Heilmittelricht -linien im Versorgungsalltagbürokratische Hürden dar.Hinzu kommt, dass Hausbe-suche von Physiotherapeu-ten kaum kostendeckenddurchgeführt werden kön-nen. Auch ist die Anzahl vonPhysiotherapiepraxen mit ei-ner ausgewiesenen Experti-se in der Betreuung vonschwerstkranken Hospiz-und Palliativpatienten nachEinschätzung der befragtenprofessionellen Akteure sehrbegrenzt.

    QualifikationserfordernisseDie Versorgung von Hospiz-und Palliativpatienten bringtbesondere Anforderungen mit sich, die eine Quali-fikation der Physiotherapeuten in Palliative Careerfordern. Neben fachlichem Wissen und Fertigkei-ten sind ein hohes Maß an sozialer und emotiona-

    7H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3

    Andrea Wünsch

    Stefanie Fimm

    Nils Schneider

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    8

    ler Kompetenz, Reflexionsfähigkeit sowie Ausein-andersetzung mit existenziellen Fragen im Kontextvon schwerer Krankheit, Tod und Sterben unerläss-lich.

    Als nicht minder wichtig erweist sich die Etablie-rung der Physiotherapie als Gegenstand der Aus-,Fort- und Weiterbildung der übrigen Gesundheits-professionen (insbes. im Bereich der Palliativ -medizin, Allgemeinmedizin und Pflege).

    Optimierungsbedarf und Handlungs -erfordernisseAuch wenn die Ergebnisse dieser Studie keinen An-spruch auf Repräsentativität haben, liefern siewichtige Hinweise für eine bedarfs- und bedürfnis-gerechte Weiterentwicklung der Physiotherapie imFeld der Palliativ- und Hospizarbeit, darunter:

    • Integration von Palliative Care in die physiothe-rapeutische Grundausbildung und Forcierung derPalliative Care Fort- und Weiterbildung fürPhysiotherapeuten

    • Integration physiotherapeutischer Inhalte in dasgrundständige Medizinstudium und ergänzendeFort- und Weiterbildungsangebote für Palliativ-mediziner und Hausärzte

    • Integration von Grundlagen der Physiotherapiein die Ausbildung der Pflegeberufe und der Aus-bau qualifizierter Fort- und Weiterbildungsange-bote im Bereich der therapeutischen Pflege

    • Integration der Physiotherapie in das multipro-fessionelle Behandlungsteam auf der Grundlageangemessener Planstellenkontingente

    • Etablierung von Strukturen und Prozessen, dieeine frühzeitige Einbeziehung der Physiotherapiegewährleisten (z. B. physiotherapeutische Erst-befundung und Konsile)

    • Entwicklung interprofessioneller Therapiekon-zepte von Physiotherapie und Pflege

    • Etablierung eines physiotherapeutischen Über-leitungsmanagements und Integration derPhysiotherapie in palliative Versorgungsnetze

    • Ausbau ambulanter Physiotherapieangebote fürHospiz-und Palliativpatientinnen/-patienten undihre Integration in die Strukturen der SAPV

    • Optimierung der Vergütungsstrukturen im Hos -piz- und SAPV-Bereich unter hinreichender Be-rücksichtigung der Physiotherapie.

    Dr. Gabriele Müller-MundtMedizinische Hochschule Hannover

    Institut für Allgemeinmedizin (OE 5440)AG PalliativversorgungCarl-Neuberg-Straße 1

    30625 [email protected]

    Literatur

    Cobbe, S., Kennedy, N. (2012). Physical function in hospice pa-tients and physiotherapy interventions: a profile of hospicephysiotherapy. Journal of Palliative Medicine, 15, 760-767.

    Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V., DeutscherHospiz- und PalliativVerband e. V., Bundesärztekammer(2010). Charta zur Betreuung schwerstkranker und ster-bender Menschen in Deutschland. [http://www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/index.html, letzter Abruf:25/11/2014].

    Fiechter Lienert, B. (2014). Physiotherapie und Palliative Care.Hospiz-Dialog NRW, 58, 9-13.

    Goodhead, A. (2011). Physiotherapy in palliative care: the inter-face between function and meaning. European Journal ofPalliative Care, 18, 190-194.

    Mehne, S., Nieland, P., Simader, R. (2007). BasiscurriculumPhysiotherapie in Palliative Care- Palliativmedizin und Hos -pizwesen. Bonn: PalliaMed Verlag.

    Nieland, P., Simader, R., Taylor, J. (2013). Was wir noch tunkönnen: Rehabilitation am Lebensende. Physiotherapie inder Palliative Care. München: Elsevier, Urban & Fischer.

    Schneider, N. (2014). Projekt Physiotherapie in der Palliativ-versorgung. – Rollenverständnis, Potenziale und Entwick -lungsperspektiven. Gefördert von der Dr. Werner JackstädtStiftung. Abschlussbericht. Hannover: Institut für Allge-meinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover.

    World Health Organization (2002). National cancer control pro-grams: policies and managerial guidelines (2nd ed.). Genf:WHO.

    Woitha, K., Wünsch, A., Müller-Mundt, G., Volsek, S., Schnei-der, N. (2013). Entwicklung und Einsatz der Physiotherapiein der Palliativversorgung – Eine systematische Literatura-nalyse. Zeitschrift für Palliativmedizin, 14, 210-219.

    Wünsch, A., Woitha, K., Volsek, S., Schneider, N., Müller-Mundt, G. (2014). Physiotherapie in der Palliativversor-gung: Rollenverständnis, Potenziale und Entwicklungsper-spektiven. Ergebnisse einer qualitativen Studie. Zeitschriftfür Palliativmedizin, 14, 224-231.

  • 9H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3

    I m Januar konnten die Verhandlungen mit demVerband der Privaten Krankenversicherung(PKV-Verband) sowie mit dem Bundesinnen-ministerium (BMI) bezüglich der Einbeziehungder Unternehmen der PKV sowie der Beihilfestellenin Trägerschaft des Bundes zum Abschluss gebrachtwerden. Das Unterschriftenverfahren bezüglich desVertrags mit dem PKV-Verband sowie bezogen aufdie notwendige Ergänzungsvereinbarung zur Rah-menvereinbarung gemäß § 39a Abs. 2 SGB V wurdedurch den Deutschen Hospiz- und PalliativVerband(DHPV) Ende Januar eingeleitet. Mit dem Erhalt derletzten unterzeichneten Verträge ist das Unter-schriftenverfahren abgeschlossen und die Verträgetreten in Kraft.

    Der Vertrag zur Einbeziehung der Beihilfestellen inTrägerschaft des Bundes konnte ebenfalls konsen-tiert werden. Für das Inkrafttreten des Vertrags istneben den Unterschriften noch eine Verordnung er-forderlich, die laut BMI Ende des ersten Quartalsoder zu Beginn des zweiten Quartals erlassen wer-den soll.

    Vor dem Hintergrund dieser Neuerung hat der Hos -piz- und PalliativVerband NRW die Koordinatorenund ehrenamtlichen Vorstände der ambulantenHos pizdienste zu einer Informationsveranstaltung„Fragen zur Förderung 2014 zum Stichtag 31. März2015“ am 30. Januar in das Haus der Technik, Es-sen, eingeladen. 122 Personen sind der Einladunggefolgt. Diese Informationsveranstaltung fand inAbsprache mit den Alpha-Stellen in NRW, vertretendurch Herrn Dr. Felix Grützner, statt und richtetesich auch an Dienste ohne HPV NRW Mitglied-schaft, denn Ziel der Veranstaltung war es, alleNRW Hospizdienste über die Neuerungen zur För-derung der ambulanten Hospizarbeit durch die pri-vaten Krankenversicherungen und die Beihilfestel-len in Trägerschaft des Bundes zu informieren undauf den gleichen Wissensstand zu bringen.

    Ulrike Herwald, stellvertretende Vorstandsvorsit-zende des HPV NRW, eröffnete die Veranstaltung.Anschließend erörterte Erich Lange, DHPV, die His -torie von § 39a Abs. 2 SGB V. Auf Grundlage diesesParagrafen erhalten ambulante Hospizdienste, die

    PRIVATE KRANKENKASSEN FÖRDERN HOSPIZARBEITHPV NRW

    PKV-Informationsveranstaltung 30.01.2015

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    10

    die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, seitdem Jahr 2002 eine Förderung durch die gesetz-lichen Krankenkassen. Begleitungen ambulanterHospizdienste für Personen mit privater Kranken-versicherung konnten bisher nicht berücksichtigtwerden.

    Die Neuregelungen gelten für ambulante Hospiz-dienste, die die Voraussetzungen der Rahmenver-einbarung gemäß § 39a Abs. 2 SGB V erfüllen, imlaufenden Jahr eine Förderung gemäß § 39a Abs. 2SGB V durch die gesetzlichen Krankenkassen erhalten und in dem Jahr, das der Antragstellungvorausgeht, mindestens einen Privatversichertenbegleitet haben. Für ambulante Hospizdienste, diekeine Versicherten einer privaten Krankenkasse im

    erforderlichen Zeitraum begleitet haben, ergebensich keine Änderungen. Hier bleibt es bei den bis-herigen Regelungen des Förderverfahrens.

    Des Weiteren wurden die Teilnehmer der Veranstal-tung darüber informiert, dass keine neuen oder an-dere Kosten (z. B. Verwaltungs- oder Fahrtkosten)in der Förde-rung berück -sichtigt wer-den. Es bleibtbei den in derRahmenverein-barung gemäߧ 39a Abs. 2SGB V beschriebenen förderfähigen Kosten und beider ebenfalls dort beschriebenen Förderhöchst-grenze.

    Ein Antrag an den PKV-Verband kann erstmals imJahr 2015 gestellt werden. Der Vertrag tritt rückwir-kend zum 1. Januar 2014 in der Hinsicht in Kraft,dass die im letzten Jahr für Privatversicherte er-brachten Begleitungen im Rahmen des Förderver-fahrens in diesem Jahr erstmals berücksichtigt wer-den.

    Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband hat vordem Hintergrund der Neuregelungen eine Handrei-chung erarbeitet, die auf die zentralen Fragen be-züglich der Umsetzung der Verträge eingeht. DieHandreichung und die abgeschlossenen Verträgekönnen in der Geschäftsstelle des Hospiz- und Pal-liativVerbands NRW angefordert werden.

    Hospiz- und PalliativVerband NRW e.V.Im Nonnengarten 10

    59227 AhlenTel.: 0 23 82 - 7 60 07 65

    [email protected]

    » Erstmals werden Privatver-sicherte bei der Förderungambulanter Hospizdiensteberücksichtigt.

    Veranstalter der PKV-InfoveranstaltungVon links: Dr. Felix Grützner (ALPHA Rheinland), Judith Kohlstruck (HPV NRW Vor-

    stand), Erich Lange (DHPV Vorstand), Ulrike Herwald (HPV NRW Vorstand)

  • 11H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    V ereinsamung gilt zuUnrecht als privatesSchicksal. Der schritt-weise, unumkehrbareVerlust wichtiger sozialer Bindun-gen ist in alternden, kinderarmen Gesellschaftenein systematisches Risiko, dem die Betroffenen miteigenen Mitteln nur schwer entkommen können.Es ist daher an der Zeit, Vereinsamung als kollektiverzeugtes Problem zu begreifen.

    Begriffliches: Einsamkeit und Vereinsamung, Alleinsein und soziale Isolation Vorab ist eine kleine Reflexion auf die Begriffe undihre relevanten Unterschiede von Nöten. In der For-schung wird in der Regel zwischen den alltags-sprachlichen Begriffen Einsamkeit und Alleinseinauf der einen Seite und den eher technischen Be-griffen soziale Isolation und Vereinsamung auf deranderen Seite unterschieden. Der kompliziertesteund ambivalenteste Begriff ist dabei der der Ein-samkeit. Das hat begriffsgeschichtliche Gründe:Das Wort ‚einsam‘ hat im Deutschen starke religi-öse Konnotationen. Es bezeichnete in etwa ab An-fang des 17. Jahrhunderts die katholische Antwortauf die subjektivierten religiösen Praktiken des Pro-testantismus. Von der positiven, religiös konnotier-ten Verwendung des Wortes, die auch heute nochin bestimmten Milieus üblich ist, ist eine negativeVerwendung zu unterscheiden. In Deutschland wirdsie erst Ende der 1950er Jahre populär und kannals eine Übertragung der Semantik des englischenGefühlsworts ‚lonely‘ ins Deutsche verstanden wer-den. ‚Einsamkeit‘ in diesem Sinn bezeichnet ein ne-gatives Gefühl, das der Ausdruck eines Mangels anerfüllenden Nahbeziehungen ist.

    Die Wortgeschichte des Begriffs ‚Alleinsein‘ ist ähn-lich kompliziert. Das Wort ‚allein‘ tritt im Deutschenvor allem als Adverb auf und spezifiziert eine Hand-lung dahingehend, dass während ihr keine Sozial-figur des Dritten anwesend ist (also kein Fremder,kein Beobachter, kein Feind u. s. w.). Zwei Personenkönnen in diesem Sinn etwa alleine spazieren ge-hen. Von dieser Verwendung ist der Sonderfall zuunterscheiden, der meint, dass keine soziale In-

    stanz außer ei-nem/einer Einzel-nen anwesend ist.Etwa: Ich/Er/Sie lagalleine im Bett. ‚Al-

    leine‘ in dieser letzten Bedeutung istim Gegensatz zu ‚einsam‘ im Deut-schen ein Wort, das bereits im 19.Jahrhundert in der Regel negativ kon-notiert wurde: Von sich selbst zu sa-gen, man sei dauerhaft alleine (oft inden Verstärkungsformen mutterseele-nallein oder altersalleine), hieß keine Familie, Ver-wandte, Freunde, Gönner oder Vertraute mehr zuhaben, die zu einem hielten und einen sozial unter-stützen. Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich je-doch mehr und mehr eine neutrale bis positive Ver-

    VEREINSAMUNG ALS GESELLSCHAFTLICHES PROBLEMJANOSCH SCHOBIN

    » Vereinsamung ist alskollektiv erzeugtesProblem zu begreifen.

    Dr. Janosch Schobin

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    12

    wendung des Wortes – sichtbar etwa in der Formel„Alleine glücklich!“ – durch. Grob zusammenge-fasst ist die begriffliche Ausgangslage heute alsoin etwa folgende: Einsamkeit meint primär ein ne-gatives Gefühl, das als Ausdruck eines Bindungs-mangels verstanden werden kann, Alleinsein da-gegen einen eher neutralen, manchmal aber auchpositiven Zustand der Abwesenheit aller anderen.

    In welchem Zusammenhang stehen diese Alltags-begriffe mit den eher technischen Begriffen sozialeIsolation und Vereinsamung? In den Sozialwissen-schaften ist oft zu beobachten, dass theoretischeBegriffe analog zu relevanten umgangssprach-lichen Begriffen gewählt werden, weil bestimmteSelbstzuschreibungen der Subjekte als Anzeichenfür das Vorliegen latenter theoretischer Größen ver-standen werden. So auch in diesem Fall. Der Begriffder sozialen Isolation fungiert als theoriesprachli-ches Analogon langandauernden, intensiven Allein-seins: Sozial isoliert ist eine Person, deren Kontakt-frequenz zu relevanten Nahpersonen dauerhaft unter eine bestimmte Schwelle fällt. Salopp formu-liert: Soziale Isolation liegt vor, wenn jemand übereine längere Zeitspanne alleine ist. Vereinsamungmeint im Gegensatz zu sozialer Isolation, die episodisch, zyklisch oder dauerhaft sein kann, ei-nen Prozess zunehmender, unumkehrbarer sozialerIsolation, an dessen Ende eine chronische negativeaffektive Reaktion auf die soziale Isolation steht.Als Kriterium für Vereinsamung (im Sinne des Endzustandes) wird empirisch in der Regel eindrückendes Einsamkeitsempfinden herangezogen.Salopp formuliert: Vereinsamt ist, wer sich ständig(negativ) einsam fühlt. Soweit, zugegeben etwasmühsam, die relevanten Begriffe und ihre Zu-sammenhänge. Aber wie hängen sie mit unsererGegenwartsgesellschaft und ihren Entwicklungs-tendenzen zusammen?

    Folgt aus der Zunahme der sozialen Isolation…Eine erste Beobachtung ist, dass die Kontaktfre-quenzen zu Nahpersonen in modernen Gesellschaf-ten (besonders von Angesicht zu Angesicht) sinken.Das hat – neben technologischen und mobilitäts-geschichtlichen Gründen – vor allem demographi-sche Ursachen: Netzwerkstudien zeigen, dass inmodernen Gesellschaften die Anzahl der sogenann-ten ‚Solos‘ zunimmt. Gefasst werden darunter Per-sonen, die weder Großeltern, Eltern, Kinder nochEnkel haben. Die Zunahme der ‚Solos‘ ist inDeutschland besonders ausgeprägt. Etwa 8% der20- bis 79jährigen gehörten im Jahr 2004 nach Da-ten des Generations & Gender Surveys bereits indiese Gruppe (Puur, Sakkeus, Schenk, Põldma, &Dykstra, 2010). ‚Solos‘ sind zudem statistisch oftpartnerlos, weil Kinder ‚Konsequenzen‘ von Part-nerschaften sind. Ferner nimmt die Verwandt-schaftsdichte ab. Auch das hat demographischeGründe: Das Einzel-kind zweier Einzelkin-der hat nun mal keineGeschwister, keineTanten, keine Onkel,keine Cousins undCousinen.

    Eine klare Konsequenz der demographischenTrends lautet: Das typische Familien- und Ver-wandtschaftsnetzwerk einer Person in einer altern-den, kinderarmen Gesellschaft hat wenig Redun-danzen. Und hier lässt sich eine Schlüsseldynamikhinsichtlich der sozialen Isolation in modernen In-dustriegesellschaften erkennen: Kontaktfrequen-zen zu Nahpersonen nehmen in praktisch allenOECD-Ländern mit dem Alter stark ab. Mit dem Al-tern der Einzelnen sterben Eltern, Freunde, Ge-schwister, Verwandte und manchmal auch Kinderweg. Gleichzeitig nimmt die räumliche Mobilität ab

    12 SCHWERPUNKT

    » Die Häufigkeit von Kon-takten zu Nahestendennimmt in der modernenGesellschaft ab.

  • 13H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    313ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    Survey) legen jedoch nahe, dassdie Vereinsamung (gemessen ander Selbstzuschreibung anhalten-der Einsamkeitsgefühle) wederdramatisch zu- noch abnimmt. Sie

    hat sich allemal auf einem mittleren Niveau stabi-lisiert. Dessen ungeachtet ist Vereinsamung jedochin nahezu allen europäischen Ländern ein sozialesProblem relevanter Größenordnung: in den ehema-ligen Ostblock Staaten etwas stärker als in Konti-nental-, Nord- und Südeuropa (siehe Abbildung).

    Hin zu einer Politik der Vereinsamungs -vermeidung?!Einerseits ist also festzuhalten, dass trotz der Zu-nahme der sozialen Isolation eine Vereinsamungs-katastrophe ausgeblieben ist. Andererseits ist aberauch festzustellen, dass Vereinsamungserfahrun-gen bereits heute einen derart hohen Prozentsatzder Bevölkerung betreffen, dass sie ähnlich wie Ar-beitslosigkeit und Armut als gesamtgesellschaftli-ches Problem begriffen werden müssen: Eine Reihemedizinischer Studien belegt, dass langfristige Ver-einsamung sich negativ auf die Gesundheit der Be-troffenen auswirkt. Darüber hinaus ist gut belegt,dass Vereinsamung das subjektive Wohlbefindenempfindlich mindert. Ferner ist anzumerken, dassdie Faktoren, die mutmaßlich verhindern, dass dieZunahme der sozialen Isolation in die Zunahme vonVereinsamungserfahrungen umschlägt, sichirgendwann erschöpfen. Das Bindungsbedürfnisder Einzelnen ist zwar flexibel, aber nicht beliebigflexibel. Aus der Reduktion redundanter Bindungenwird ab einem gewissen Punkt die Überlastung ele-mentarer Bindungen werden.

    und auch neue Beziehungen ent-stehen mit fortschreitendem Alterimmer seltener. Todesfälle von Nah-personen können daher oft nurnoch schlecht ‚kompensiert‘ wer-den. Mit wem soll man trauern und enger zu-sammenrücken, wenn die Eltern sterben und mankeine Kinder und keine Geschwister hat? Dann blei-ben nur noch die Freunde: Falls sie noch leben undnah genug bei einem wohnen. Menschen in altern-den, kinderarmen Gesellschaften sind folglich aufGrund dieser der Sterblichkeit geschuldeten Dyna-mik immer öfter episodisch wie zyklisch sozial iso-liert. Sie sind aber auch immer häufiger von dauer-hafter sozialer Isolation bedroht.

    … die Zunahme der Vereinsamung?Folgt aus diesem Umstand sofort, dass die Verein-samung drastisch zunimmt? Diese Frage ist nichtleicht zu beantworten. Theoretisch sprechen dreiGründe gegen einen sprunghaften Anstieg der Ver-einsamung: Erstens können Menschen ihre Bin-dungsbedürfnisse bis zu einem gewissen Gradnach unten regulieren und so längere Phasen sozi-aler Isolation besser ertragen. Eine Person, die ab-sehen kann, dass sie im Alter oft und lange sozialisoliert sein wird, richtet sich mitunter schon vorherdarauf ein.

    Zweitens nehmen stark redundante Bindungsmög-lichkeiten – etwa die Anzahl von Cousins und Cou-sinen – zuerst und am stärksten ab. Zuerst sinddurch den demographischen Wandel also redun-dante ‚Bindungsreserven‘ betroffen, die eh nur einevergleichsweise geringe Rolle spielen.

    Drittens ist zu erwarten, dass sich eine ge-ringere Anzahl von Bindungen und Bin-dungsmöglichkeiten zunächst in der Ver-besserung der Qualität derselben äußert,etwa weil die Einzelnen stärker in die Be-ziehungen investieren oder weil sie aufGrund ihrer Knappheit höher geschätztwerden.

    Empirisch kann eine Zunahme der Verein-samung in modernen Industriegesellschaf-ten zudem nur schwer nachgewiesen wer-den. Das liegt primär am Mangel interna-tional vergleichbarer, repräsentativerLängsschnittuntersuchungen in den letz-ten 20 bis 30 Jahren. Repräsentative inter-nationale Untersuchungen aus den letzten10 Jahren (allen voran das European Social Datenquelle: European Social Survey 2006 und 2012

    » Neue Beziehungenentstehen im fort -geschrittenen Alter seltener.

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    14 SCHWERPUNKT

    B ereits im Jahr 2003 wurdein der wissenschaftlichenFachzeitschrift Science eine Arbeit publiziert, inder nachgewiesen wurde, dass sozi-ale Ablehnung und damit Einsamkeiteinen Bereich im Gehirn des Men-schen aktiviert, der auch bei Schmer-zen aktiv ist: der anteriore Gyrus cinguli. Naomi Eisenberger und Mitarbeiter (2003) konnten erstmalszeigen, dass ein(virtuelles) Ball-spiel zu dritt, bei

    dem zwei Spieler nach einer ge-wissen Zeit dem dritten den Ballnicht mehr zuwerfen, bei diesemzu einer Aktivierung im Bereichdes anterioren Gyrus cinguliführt (Abb.), von dem man schonJahre zuvor gezeigt hatte, dasser auch durch Schmerzen akti-viert wird (Rainville et al., 1997). Diese Aktivierungkorrelierte sogar mit der Schmerzstärke: Bei wenigSchmerzen war der ACC gering aktiv, bei starkenSchmerzen dagegen sehr aktiv. Weil bei Schmerzenbeispielsweise an der Hand auch der die Hand repräsentierende sensorische Kortex aktiviert ist,

    dessen Aktivierung jedoch nicht mit der Stärke derSchmerzen korreliert ist, kann man folgern, dassdieser den Ort der Schmerzen anzeigt, der anterioreGyrus cinguli hingegen deren Stärke. Beide zusam-men gehören zu dem, was man mittlerweile dasSchmerznetzwerk nennt.

    Warum ist das gleiche Stückchen Gehirnrinde, dasfür das Ausmaß der Schmerzstärke zuständig ist,auch für Einsamkeit zuständig? Aus evolutionärerSicht lässt sich zunächst sagen, dass Schmerzen

    eine überlebenswichtige Funk-tion haben: Sie sichern unserekörperliche Unversehrtheit.Menschen leben in Gruppen undbrauchen zum Überleben dahernicht nur einen unversehrtenKörper, sondern auch eine funk-tionierende Gemeinschaft. Dassdaher beim Menschen das gleiche Stückchen Gehirn für körperliche und soziale Integrität

    zuständig ist, wundert nicht, verfährt doch die Evolution bekanntermaßen als eine Art Klempner,der aus bereits vorhandenem Material (einem Gehirnareal zur Registrierung von Verletzungen derkörperlichen Integrität) etwas Neues (ein Areal zurRegistrierung von Verletzungen der sozialen Inte-

    SCHMERZHAFTE EINSAMKEITMANFRED SPITZER

    Manfred Spitzer

    Es herrscht also Hand-lungsbedarf, wenn auchunklar ist, wie genau einePolitik aussehen könnte,die Vereinsamung vorbeugtoder gar eine Organisation,

    die die Anliegen Vereinsamter vertritt. Und das istvermutlich das zentrale Problem an der Sache:Während eine Politik der Armutsbekämpfung aufUmverteilung beruht und eine Politik der Arbeits-losigkeitsreduktion durch Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen und Ähnliches betrieben werdenkann, ist vollkommen unklar, wie eine Politik der

    Vereinsamungsvermeidung beschaffen sein soll:Bindungen kann man nicht umverteilen und Bin-dungsbeschaffungsmaßnahmen sind undenkbar.Sie lassen sich nicht staatlich schaffen oder ver-ordnen. Hier sind folglich andere als staatliche Ak-teure gefragt – aber welche gibt es unter der Handbereits und wie sollen sie agieren?

    Dr. Janosch [email protected]

    » Langfristige Verein-samung wirkt sichauf die Gesundheitaus.

    » Depressive Syndromestehen mit sozialemRückzug, dem Erlebenvon Einsamkeit undSchmerzen in Zusammenhang.

  • 15H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    grität) macht. Aus klinischer Sicht lassen sich durchden Befund von Eisenberger und Mitarbeitern eineganze Reihe bekannter Phänomene erklären: Depressive Syndrome gehen mit sozialem Rückzugbzw. dem Erleben von Einsamkeit einher – und mitSchmerzen verschiedenster Art. Entsprechend besteht bei chronisch depressiven Menschen oftauch ein Schmerzmittelmissbrauch. Wer an chro-nischen Schmerzen leidet und zu allem Überflussdann auch noch vom Partner verlassen wird,braucht oft eine intensivere Schmerztherapie. Um-gekehrt kennt jeder Kliniker Fälle, bei denen mansich wundert, was der Patient oder die Patientin soalles aushält und wo zugleich das unmittelbare soziale Netzwerk stimmt.

    Der Volksmund weiß schon lange um den Zu-sammenhang von Einsamkeit und Schmerzen, wiedie Weisheit der Sprache zeigt, die von ‚Abschieds-schmerz‘ spricht und Liebeskummer auch Herz-schmerzen nennt. Bis zum Jahr 2003 konnte mandiese Redewendungen jedoch als reine Metaphorikbegreifen, wohingegen seither klar ist, dass dieSprache hier einem genuin phänomenalen Aspektdes Erlebens Ausdruck verleiht. Wenn dasselbe Gehirnmodul Einsamkeit und Schmerzen meldet,dann muss es zu entsprechenden Überschneidun-gen kommen, ähnlich den Überschneidungen bei-spielsweise bei den Rezeptoren auf der Zunge: Dortist beispielsweise der gleiche Rezeptor für ‚heiß‘und ‚scharf‘ zuständig, und so wundert weder, dasswir zu scharfen Speisen gerne etwas Kühles trinkennoch, dass die Engländer scharfes Essen als ‚heißes‘ Essen (hot food) bezeichnen.

    Dass sowohl Schmerzen als auch Einsamkeit das glei-che Gehirnareal aktivieren, erklärt nicht nur zwangloseine ganze Reihe bekannter Erfahrungen. Jede gutewissenschaftliche Einsicht erklärt jedoch nicht nurbereits Bekanntes, sondern führt auch zu neuenFragen, auf die man ohne sie gar nicht gekommenwäre. In Anlehnung an den alten Griechen, der eineEinsicht hatte und nackt „Heureka“ („ich hab’s“) ru-fend durch die Stadt rannte, spricht man vom heuris -tischen Wert einer wissenschaftlichen Erkenntnis.

    Wenn Schmerzen und Einsamkeit vom gleichen Modul registriert werden, dann sollten Gedankenan soziale Einbettung/Unterstützung somatischeSchmerzen lindern. Um dies nachzuweisen, zeigtenMaster und Mitarbeiter (2009) ihren Versuchsper-sonen entweder Bilder von deren jeweiligem Partner oder fremder Person oder von Objekten,während ihnen zugleich experimentell Schmerzen

    zugefügt wurden, deren Stärke jeweils einzuschät-zen war. Das Bild des Partners verringerte dabeidie Schmerzen deutlich, während Bilder von ande-ren Personen oder Objekten die Schmerzwahrneh-mung unverändert ließen. Eine Studie von Youngerund Mitarbeitern (2010) konnte zudem mittelsfunktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT)nachweisen, dass der Anblick eines geliebten Menschen nicht nur experimentell induzierteSchmerzen reduziert, sondern auch die Aktivitätdes anterioren Gyrus cinguli. Haben Sie sich auchschon darüber gewundert, wie häufig ein Bild desPartners oder der ganzen Familie bei Krankenhaus-Patienten auf dem Nachttischchen steht? Im Lichteder hier dargestellten Erkenntnisse leuchtet dieseunmittelbar ein: Die Patienten reduzieren ihreSchmerzen!

    Die Wechselwirkungen zwischen körperlichen undseelischen Schmerzen beschränken sich keines-wegs auf psychologische Effekte auf somatischeSchmerzen, auch umgekehrt gibt es somatische Effekte auf psychologische Schmerzen. So wirktbeispielsweise das Schmerzmittel Paracetamolauch gegen Einsamkeit, wie im Rahmen zweier randomisierter Placebo-kontrollierter Doppelblind-studien nachgewiesen wurde (DeWall et al., 2010).

    Neueste Befunde aus der Entwicklungsneurobiolo-gie zeigen zudem, dass dieses ‚Messinstrument‘ inunseren Köpfen für Schmerzen und Einsamkeit einer interessanten Entwicklung unterliegt: Im Laufedes Heranwachsens werden Beziehungen zu Gleich-altrigen immer bedeutender, entsprechend reagie-ren Jugendliche mit zunehmendem Alter verstärktauf sozialen Ausschluss – im Verhalten und auch

    Aktivierung des anterioren Gyrus cinguli in der Studie von Eisenberger et al. 2003

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    16 SCHWERPUNKT

    Niemand möchte im Al-ter allein und isoliert le-ben. Das ist aber fürhochbetagte Menschen

    – besonders dann, wenn sie in ihrerMobilität eingeschränkt sind – ofttraurige Realität.

    Immer mehr Menschen wollen dortalt werden, wo sie wohnen. Ob-wohl wünschenswert und nachvoll-ziehbar, birgt der Wunsch, im ver-

    trauten Wohnquartier alt zu werden, eine Reihe vonRisiken. Bereits heute erhält ein großer Teil der Äl-teren keine Unterstützungsleis tungen mehr von Fa-milie, Freunden oder nachbarschaftlichem Umfeld– ein Trend, der zunimmt. Durch den Ausbau ambu-lanter Pflegedienste konnte zwar die Zeit zu Hauseerheblich verlängert werden, bei komplexen Pro-blemlagen oder einer als schmerzvoll empfundenenIsolation bleibt jedoch oft als scheinbar einzigeMöglichkeit die Übersiedlung in ein Pflegeheim. DieUrsachen für diesen vermeintlichen Automatismusliegen auf vielen Ebenen: Wohnungen, die nicht

    GEGEN EINSAMKEIT UND ISOLATION IM ALTER Porträt über den Berliner Verein Freunde alter MenschenKLAUS-W. PAWLETKO

    Klaus-W. Pawletko

    was die Aktivierung ihresanterioren Gyrus cingulianbelangt. Dies ergab eine Studie an 7- bis

    17-Jährigen (Bolling et al., 2011). AltersabhängigeEffekte konnten auch bei Erwachsenen gezeigt werden. Hier zeigte sich bei experimenteller sozialerAusgrenzung im oben beschriebenen Ballspiel einstärkeres Gefühl der Einsamkeit bei jüngeren (18-25 Jahre) als bei älteren Erwachsenen (26-50bzw. 51-86 Jahre) (Hawkley et al., 2010). Aus diesenErgebnissen kann also die Hypothese gebildet werden, dass es eine Zeit besonderer Empfindlich-keit gegenüber sozialem Ausschluss gibt: die Adoleszenz.

    Eine protektive Wirkung auf eine erhöhte Sensiti-vität für sozialen Schmerz scheint die Zeit zu haben,die Jugendliche mit ihren Freunden verbringen(Mas ten et al., 2010). Die verbrachte Zeit mit Freun-den korrelierte negativ mit der Aktivierung des anterioren Gyrus cinguli während einer Ausschluss-situation zwei Jahre später. Insgesamt mehren sichdie Befunde dazu, dass soziale Unterstützung undGruppenzugehörigkeit die neuronalen und psycho-logischen Auswirkungen von sozialem Schmerz (Eisenberger et al., 2007; Onoda et al., 2009; Krill& Platek, 2009; Bernstein et al., 2010), aber auch

    die von physischem Schmerz mindern (Brown etal., 2003; Master et al., 2009). Entsprechend findetman nicht nur Fotos der Familie, sondern gelegent-lich auch des Lieblingsfußballvereins auf denNachttischchen der Patienten. Sie wissen schonselbst am besten, was gut für sie ist. Und wer hättegedacht, dass sich unsere chronisch einsamen älteren subdepressiven Menschen mit Schmerzmit-telabusus nicht einfach ‚betäuben‘ oder einem völlig inadäquaten Verhalten anheim gefallen sind,sondern sich effektiv selbst behandeln? Entspre-chend lautet die klinische Konsequenz in diesenFällen unter Umständen nicht: „Alles absetzen,bringt sowieso gar nichts!“, sondern vielmehr: Anti-depressiva zuerst aufdosieren und erst dann dieSchmerzmittel ausschleichen. Es ist schön, dassdie Neurobiologie gelegentlich die Weisheit derSprache wie auch die Weisheit unserer Patientenbestätigt. Sie mahnt uns, dass die Welt komplexerist, als wir das zuweilen gerne wahrhaben wollen.Und sie zeigt, dass das beste Mittel gegen ein zueinfaches wissenschaftliches Weltbild in genaue-rem Hinsehen und damit in mehr und besserer Wis-senschaft besteht.

    Literatur beim Verfasser

    Manfred SpitzerUniversitätsklinikum Ulm

    » Zeit mit Freunden zuverbringen, hat eineprotektive Wirkung.

  • mehr bedarfsgerecht sind, ein ausgedünntesDienstleistungsangebot und eine zunehmend anonyme Nachbarschaftsstruktur verstärken Ten-denzen zur Abhängigkeit von professionellenHilfesys temen bei gleichzeitigem Verlust einesselbstbestimmten Lebens. Der betroffene alteMensch und sein Umfeld sehen unter diesen Um-ständen häufig keine andere Lösung als den Umzugin ein Pflegeheim. Gewollt ist die-ser Umzug in den meisten Fällennicht. Nachbarschaftliche und familiale Hilfe in Kombination miteinem verlässlichen professionel-len Hintergrundsystem sind dietragenden Säulen für ein selbstbe-stimmtes Wohnen und Leben imAlter.

    Dort, wo keine Familienmitglieder (mehr) vorhan-den sind, gewinnen nachbarschaftliche und freund-schaftliche Kontakte noch größere Bedeutung.

    Bei der Zielgruppe des Vereins handelt es sich häu-fig um ‚Übriggebliebene‘, das heißt Menschen, denen ihr vertrautes soziales Umfeld weggebro-chen ist. Freunde und Verwandte sind verstorben;Kinder – wenn überhaupt vorhanden – wohnennicht in räumlicher Nähe.

    Der Verein Freunde alter Menschen hat sich zur Aufgabe gemacht, hochbetagte Menschen vor Einsamkeit und Isolation zu bewahren. Das Enga-gement dabei ist vielfältig:

    Im Mittelpunkt stehen Besuchspartnerschaftenzwischen Jung und Alt, bei denen ein Ehrenamt-licher einen alten Menschen besucht. Diese

    ,Besuchspartnerschaften‘ werdenvon einer professionellen Koordi-natorin sorgfältig vorbereitet.Nach einem sogenannten Erst -besuch bei einem alten Menschenwird ein potentiell passender Ehrenamtlicher gesucht, der demalten Menschen dann in einem

    zweiten Besuch – wiederum begleitet von der Koordinatorin – vorgestellt wird.

    Danach können beide Seiten in Ruhe überlegen,ob sie sich auf diese neue Partnerschaft einlassenwollen. Sind sich beide Seiten einig, es miteinanderversuchen zu wollen, organisieren sie fortan dieFrequenz und den Inhalt Ihrer Treffen autonom. Inregelmäßigen Abständen werden beide Besuchs-partner von der Koordinatorin befragt, wie derStand der Beziehung ist und ob Interventionsbe-darf besteht.

    17H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    Isabelle besucht Anita (96) regelmäßig

    » Nachbarschaft, Familieund professionelle Be-gleitung sind tragendeSäulen.

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    18 SCHWERPUNKT

    Aus Besuchspartnerschaften werden FreundschaftenDie besondere Qualität dieser Beziehungen be-steht zum einen darin, dass es sich nicht um einebezahlte Dienstleistung handelt, sondern dass derEhrenamtliche seine Besuche macht, weil er selbstFreude daran hat. Zugleich haben beide Seiten dieMöglichkeit, Intensität und Häufigkeit der Kontaktemiteinander auszuhandeln und somit die Besuchs-partnerschaft so auszubalancieren, dass sie für bei-de Seiten als befriedigend erlebt wird. Das Gefühl

    von Einsamkeit resul-tiert ja nicht aus Kon-taktmangel als solchem,sondern aus dem Fehlenvon ‚relevanten Ande-ren‘, Menschen also, de-nen man etwas bedeu-tet und die einem selbstwichtig sind.

    Aus den Besuchspartnerschaften entwickelt sichim Idealfall eine Beziehung ‚auf Augenhöhe‘, beider beide Partner einander zu ‚relevanten Anderen‘werden. Oft wird daraus eine Freundschaft, die biszum Lebensende des alten Menschen andauert undaus alten Menschen werden Alte Freunde.

    Inter- und intragenerationelle Kontakte in denTreffpunktenAlte Menschen brauchen aber auch den Kontakt zuGleichaltrigen! In den Treffpunkten des Vereins fin-den regelmäßig zahlreiche Veranstaltungen, wiezum Beispiel Erzählcafés sowie gemeinsame Koch-und Spielrunden statt. Bei allen Aktivitäten giltstets das Prinzip eines freundschaftlichen Kontaktsauf Augenhöhe. Dabei wird auf eine gute Mischungvon (jungen) Ehrenamtlichen und Alten Freundengeachtet. Bei regelmäßigen Veranstaltungen ist dasVerhältnis 1:3, manchmal auch 1:2; bei besonderenAnlässen, wie zum Beispiel Heiligabend, ist dasVerhältnis zwischen Jung und Alt auch 1:1!

    Die Veranstaltungen haben eine besondere Bedeu-tung für die Alten Freunde: Sie bieten Gelegenheit,die eigene Wohnung zu verlassen. Denn das ist oft-mals ohne fremde Hilfe nicht mehr oder nur einge-schränkt möglich. Sie haben des Weiteren einen‚Highlight‘-Charakter im oftmals monotonen Alltagunserer Alten Freunde. Und sie bieten – was nichtzu unterschätzen ist – auch die Gelegenheit mitGleichaltrigen ins Gespräch zu kommen. Möglichist all dies durch die Kooperation mit einem priva-ten Transportdienst, der die Alten Freunde von derHaustüre abholt und sie auch dorthin wieder zu-

    Jung und Alt haben Spaß miteinander

    » Manchmal entwickeltsich eine Beziehungauf Augenhöhe, oftwird daraus eineFreundschaft.

  • rückbringt. Finanziert wird das alles im Wesent-lichen durch Spenden.

    Um die Zielgruppe besser erreichen zu können,baut der Verein auch auf Kooperationen mit derWohnungswirtschaft. Die Kooperation mit verschie-denen Wohnungsbaugenossenschaften bietet einehervorragende Möglichkeit, mit alten, von Isolation und Einsamkeit betroffenen oder bedroh-ten Menschen in Kontakt zu kommen. Durch diegenossenschaftlichen Strukturen haben sich in deren Wohnungsbeständen Ansprechpartner und‚Frühwarnsysteme‘ (zum Beispiel festangestellteHauswarte, die ihre Mieter seit Jahren kennen!) ent-wickelt, die es dem Verein erleichtern, seine Ange-bote vorzustellen und eventuelle Schwellenängstezu überwinden.

    FazitDurch die mittlerweile über 20-jährige Tätigkeit inBerlin hat der Verein das Wesen und die Erschei-nungsformen von „Einsamkeit im Alter“ in all sei-nen Dimensionen erfahren können. Dabei ist eineGrundproblematik dieses Phänomens auch vomVerein nur sehr schwer aufzubrechen: Isoliert le-bende und sich einsam fühlende alte Menschentun sich – verständlicherweise – schwer damit, ihreSituation zu veröffentlichen. Einsamkeit wird häufigals (selbstverschuldeter) Makel empfunden, denman nicht gerne nach außen trägt. Hinzu kommt,dass isoliert lebende Menschen objektiv sehrschwer zu erreichen sind.

    Nach umfangreichen Öffentlichkeitskampagnen,Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten über dieArbeit der Freunde alter Menschen kommt es zwarin letzter Zeit häufiger vor, dass sich alte Menschendirekt an den Verein wenden, in den meisten Fällenaber ist man auf Netzwerkpartner (Multiplikatoren)angewiesen, die darauf hinweisen, wo sich even-tuell bedürftige alte Menschen befinden und wieKontakt zu Ihnen aufgenommen werden kann.

    Insbesondere die Kooperation mit den Wohnungs-baugenossenschaften scheint dabei ein erfolgver-sprechender Weg zu sein, im Rahmen von nachbar-schaftlichen Strukturen aus alten vereinsamtenMenschen neue Alte Freunde zu machen! An Hel-fern mangelt es dabei nicht; in 2014 haben über200 – meist junge – Menschen ihre ehrenamtlicheMitarbeit angeboten. Offensichtlich scheint dieIdee, einen alten Menschen als Alten Freund zu ge-winnen, auf fruchtbaren Boden zu fallen!

    Allgemeine Daten und FaktenArmand Marquiset gründete 1946 in Paris unterdem Namen „Les petits frères des Pauvres“ (diekleinen Brüder der Armen) den Verein. Heute ist erals internationale Freiwilligenorganisation tätig.Neben Frankreich und Deutschland ist er auch inSpanien, Irland, Polen, Schweiz, Mexiko, den USAund Kanada aktiv. Alle Organisationen sind in einerInternationalen Föderation zusammengeschlossen.Die Mitglieder eint der Kampf gegen Einsamkeitund Isolation im Alter.Oberstes Prinzip dabeiist stets, alte Men-schen nicht als Hilfe-empfänger zu sehen,sondern ihnen freund-schaftlich und auf Augenhöhe zu begegnen. Das Motto des Vereinslautet Alte Freunde sind die besten!

    Der deutsche Ableger wurde 1991 in Berlin gegrün-det. Er hat derzeit drei Standorte in Berlin, einen inKöln und einen in Hamburg. Insgesamt sind sechshauptamtliche Mitarbeiter und über dreihundertEhrenamtliche aktiv. Sie begleiten über 250 alteMenschen in ihren eigenen Wohnungen, Pflegeein-richtungen und Demenz-Wohngemeinschaften.

    Freunde alter Menschen e.V.Geschäftsführer

    Klaus-W. PawletkoTieckstraße 9

    10115 BerlinTel.: 0 30 - 13 89 57 90 [email protected]

    www.famev.de

    19H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    » Die Kooperation mit derWohnungswirtschaft istein wichtiges Element.

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    20 SCHWERPUNKT

    Niemand soll im Alter in seinen vier Wän-den zuhause vereinsamen, sagt Sozial-senatorin Anja Stahmann, schon garnicht, wenn man über Jahrzehnte in sei-

    ner Nachbarschaft verwurzelt ist. Immer mehr älte-re Menschen drohen in die Einsamkeit und Isola-tion zu geraten.

    Die Stadt Bremen hat das erkannt. Mit einem Mo-dellprojekt „Aufsuchende Altenarbeit-Hausbesu-che“ hat sie im Jahr 2008 zunächst in zwei Stadt-teilen auf diese Situation reagiert. Gröpelingen isterst 2013 und Blumenthal 2015 dazu gekommen.Diese begann miteiner fünfjähri-gen Modellphaseund mündete ineinem besonde-ren Konzept: Sogibt es seit April2013 Hausbesu-che – als Regel-angebot der ambulanten Al-tenhilfe – inzwi-schen in vierStadtteilen. Rea-lisiert wird diesesniedrigschwelli-ge Angebot vonTrägernetzwer-ken der jeweili-gen Stadtgebie-te. Dies sind z. B.im StadtteilObervieland, be-stehend aus denOrtsteilen: Kat-tenturm, Katte-nesch, Arstenund Habenhau-sen, die Evange-lische Thomas-Gemeinde Bre-men und die

    Evangelische St. Markus-Gemeinde in Kooperationmit der Paulus- Gemeinde in Habenhausen, denStadtteilhäusern der Bremer Heimstiftung Katten-turm und Kattenesch sowie der Wohnungsbauge-sellschaft BREBAU.

    Die „Aufsuchende Altenarbeit-Hausbesuche“ hat inihrem jeweiligen Ortsteil einen eigenen kostenlosenBesuchsdienst eingerichtet. Diese präventiven Haus-besuche haben zum Ziel, die Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben wieder zu aktivieren und einerdrohenden Kontaktarmut entgegenzuwirken.Der Ablauf gestaltet sich in allen Fällen vergleich-

    bar: Der ersteHausbesuch er-folgt durch diehauptamtlichenMitarbei ter in-nen, die soge-nannten Freiwilli-genkoordinato-rinnen. Dieserdient der erstenKontaktaufnah-me. Was sich ausdem ersten Ge-spräch ergibt,hängt von denPersonen und ih-ren individuellenBedürfnissen ab.So könnten z. B.weitere Hausbe-suche durch frei-willige Besucherund Besucherin-nen hilfreich seinoder nur eine Be-gleitung zumSpaziergang. DesWeiteren werdendie Senioren vonden Freiwilligenüber die Angebo-te im Stadtteil in-

    BEGEGNEN, BESUCHEN, BEGLEITEN, BERATENAufsuchende Altenarbeit-Hausbesuche in BremenYVONNE FINKE, HEIDI PETERSEN

    Bremen, Schnoorviertel

  • formiert, Unterstützung vermittelt oder die Teilnah-me an Veranstaltungen organisiert. Die Freiwilli-genkoordinatorinnen in den Stadtteilen sind für dieOrganisation, Koordination und fachliche Beglei-tung der Hausbesuche verantwortlich.

    Ein übergreifendes Ziel ist es, die Lebensqualitätfür ältere Menschen im Stadtteil unter Beteiligungder Bürgerinnen und Bürgersowie der Akteure vor Ort zuverbessern. Selbsthilfe undgegenseitige nachbarschaft-liche Hilfen sollen gestärktwerden.

    Aber auch das Freiwilligen Engagement ist ein wich-tiger Punkt in der Arbeit der „Aufsuchenden Alten-arbeit-Hausbesuche“, ohne das es nicht funktio-nieren würde. Im Rahmen von bürgerschaftlichemEngagement sprechen die Freiwilligenkoordinato-rinnen interessierte jüngere und ältere Menschenan. Dadurch, dass es sich dabei um Personen han-

    21H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    delt, die im selben Stadtteil wohnen, ist es möglich,sich gemeinsam für eine tatsächlich ‚gelebte Nach-barschaft‘ einzusetzen.

    Die Arbeit der Freiwilligen bezieht sich in der Regelauf Einzelpersonen und umfasst etwa einen wö-chentlichen Hausbesuch. Es gibt keine Zielvorga-ben bzgl. der Kontakthäufigkeiten und auch keineZeitvorgaben. Die Besucherinnen und Besucherverstehen sich in erster Linie als Kontaktpersonen.Sie bieten Unterhaltung und begleiten zu Veran-staltungen oder Kontaktstellen im näheren Umfeld.Auf Wunsch können sie zum Einkaufen oder beiArztbesuchen begleiten.

    Was aus einem solchen Kontakt ent-stehen kann, ist sehr unterschiedlich.So kann sich bei einem Menschen einBesuchsdienst von mehreren Mona-ten ergeben, bei einem anderen ent-stehen mit der Unterstützung der eh-renamtlichen Mitarbeiterin schnellerneue Kontakte im sozialen Umfeld. ImVordergrund steht dabei, das Gefühlder Zugehörigkeit und Teilhabewiederherzu stellen.

    Über verschiedene Formen und Wegeder Ansprache werden ältere Men-schen erreicht, um ihnen Informatio-nen über Hilfsangebote vor Ort zu ge-ben. Mit dieser ‚Bring-Struktur‘ kön-nen vorhandene Schwellen für ältereMenschen überwunden werden. Da-für stehen die vier B.

    Weitere Informationen erhalten Sieauf der Internetseite:www.Aufsuchende-Altenarbeit.de

    » Die individuellenBedürfnisse stehenim Vordergrund.

    Yvonne Finke

    Heidi Petersen

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    22 SCHWERPUNKT

    D ie Idee zu dieser Initia-tive entstand vor ca. 12-13 Jahren im sogenann-ten „City Center“, unse-rer damaligen Suppenküche derDiakonie in Minden, für dieich als Sozialarbeiter ver-antwortlich war. Die meis -ten unserer Gäste kamennicht nur wegen der güns -tigen Mittagsmahlzeit,sondern hauptsächlichwegen der Gemeinschaft, die vielevon ihnen sehr schätzten. Vielewaren durch verschiedene Um-

    stände schon zu Lebzeiten die ‚schwarzen Schafe‘ihrer Familien oder wurden dazu gemacht. Sie lebtendementsprechend schon lange alleine. Natürlich fiel

    uns auf, dass Gäste, die ansonsten fast täglich zumMittagessen kamen, plötzlich mehrere Tage fehlten.Da keiner so recht wusste, was mit ihnen los war,forschten wir nach und erfuhren auch einige Male,dass sie verstorben waren oder tot in ihrer Wohnung

    aufgefunden wur-den.

    Später hörten wir,dass die meistenvon ihnen durcheine sogenannte

    „Ersatz-Bestattung“, die vom Ordnungsamt nacheinem Landesgesetz geregelt ist, beigesetzt wur-den. Diese werden normalerweise auch nicht be-kannt gemacht und finden fast immer ohne Trauer-feier und einen Pfarrer statt. Meist wurden und wer-den sie ohne weitere Beteiligung als anonyme

    Ulrich Treude

    AUF DEM LETZTEN WEG NICHT ALLEINWürdige Bestattungen für mittellose Menschen – Friedhofsgruppe Minden ULRICH TREUDE

    » Für uns gilt die Menschen-würde über den Tod hinaus

    Jährliche Lichterandacht an dem Grabfeld

  • 23H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    Gedenkstelen für früher anonym bestattete Gäste

    Urnenbestattung durchgeführtund auch nicht immer an dem Ort,wo die oder der Verstorbene zu-letzt gelebt hat, sondern irgend-wo, wo es möglicherweise ‚kos -tengünstiger‘ ist.

    Dies wollten wir, das heißt einigeGäste und ich, als damals Verant-wortlicher für diese Einrichtung,nicht so einfach hinnehmen, da –nach unserer Überzeugung – jederMensch ein Recht auf einen gutenAbschied und eine würdige Bestat-tung hat. Wenn jemand kein Geldhat und selbst keine Vorsorge fürseine eigene Beerdigung treffenkann, wenn er zudem weiß oderannehmen kann, dass sich späterniemand um seine Beisetzung küm-mern wird, steht ihm unserer Mei-nung nach gerade deshalb eine würdige Bestattungund Grabpflege zu. Für uns gilt die Menschenwürdeüber den Tod hinaus.

    In der Folgezeit begannen wir dann mit der Recher-che, wer von unseren ehemaligen Gästen wann undwo verstorben war und wo sie bestattet wurden. Eswar eine relativ große Anzahl. Nur bei sieben von ih-

    nen, die vor dem Jahre 2003 verstorben waren, fan-den wir die Orte ihrer Beisetzungen auf zwei städti-schen Friedhöfen in Minden wieder. Ihre Grabstättenwaren aber als solche nicht mehr zu erkennen.

    So begann mit einem ersten tatkräftigen Einsatzzur Errichtung der Einzelgrabstellen vor 10 Jahrendie Arbeit unserer ‚Friedhofsgruppe‘, die damalsaus einigen Gästen unserer Suppenküche, zwei

    weiteren Ehren-amtlichen und mirbestand.

    Wir suchten zu -erst die verwilder-ten Grabstellen,markierten sie mitkleinen Holzkreu-zen, auf die wirals Orientierungs-hilfe die Namender Verstorbenenschrieben, undtrugen zunächstdie verkrusteteOberfläche ab.Dann legten wirdie Gräber an, be-pflanzten sie undpflegen dieseauch weiterhin.Später legten wirbei jeder Einzel-

    Gegen das Vergessen – Verwahrloste Grabstelle

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    24 SCHWERPUNKT

    grabstätte noch eine Umrandung aus Natursteinenan und ließen uns durch einen Fachmann, den wirdann auch für unsere Gruppe gewinnen konnten,jeweils eine Namenstafel aus Granit fertigen undanbringen.

    Als wir noch überlegten, wie wir unseren Gästenbereits schon zu Lebzeiten ein Angebot für einenguten Abschied und eine würdige Bestattung ma-chen könnten, kam uns der Zufall zur Hilfe. Mitar-beiter und Freunde aus einer Suppenküche in Dort-mund hatten dort ein Grabfeld auf einem städti-schen Friedhof angelegt, auf dem sie ihre Gäste,meist wohnungslose Menschen der Stadt, im Rah-men einer kleinen Trauerfeier beisetzen konnten.Mit unserer Friedhofsgruppe und einigen Mitarbei-

    tern des HerforderMittagstisches undder Gütersloher Ta-fel haben wir unsdann vor Ort erkun-digt, wie die Ent-wicklung dort zu-stande kam.

    Im Jahre 2007 haben wir dann, mit städtischer Hilfeund viel privater, öffentlicher und kirchlicher Unter-stützung, aber auch durch den tatkräftigem Einsatzeines jedes Einzelnen aus unserer Gruppe, in Min-den ein eigenes „Grabfeld der Erinnerung“ auf demNordfriedhof an der Marienstraße anlegen können.Hier war nun ein schön gestalteter Ort für etwa 60-80 namentliche Urnenbestattungen und ca. 10-20Erdbeisetzungen geschaffen worden. Gleichzeitigkonnten wir hier drei Gedenkstelen aufstellen, aufdenen wir 12 Namen von ehemaligen Gästen ange-bracht haben, die vor dieser Zeit gestorben und anuns unbekannten Orten beigesetzt wurden. Dieökumenische Einweihung fand im September desgleichen Jahres statt.

    Inzwischen haben wir unser Angebot auf alleinste-hende mittellose Personen ohne bestattungspflich-tige Angehörige im gesamten Kirchenkreis Mindenerweitert. In den nächsten Wochen werden wir aufunserem „Grabfeld der Erinnerung“ die 50. Beiset-zung mit einer vorherigen Trauerfeier in der Kapelledurchführen. Jeder Verstorbene erhält eine eigeneTafel mit seinem Namen, seinem Geburts- und Ster-

    Monatliche Pflege des Grabfeldes

    » Etwas für Menschen zu tun,auch wenn man ihnen imLeben nie begegnet ist,kann eine bereicherndeAufgabe sein.

  • bedatum. Betroffene Personen, die heute schonwissen, dass es keine verpflichteten Angehörigengibt oder jemand, der sich um ihre Beerdigungkümmert, können als Vorsorge für ihre eigene Bei-setzung auf unserem Grabfeld eine von uns vorbe-reitete „Verfügung für den Todesfall“ ausfüllen odererstellen. Der dadurch geäußerte und bekannteWille des Verstorbenen wurde von den Ämtern bisheute immer berücksichtigt. Durch unsere Verfü-gungen versuchen wir armen und alleinstehendenMenschen eine Sorge für ihr Lebensende zu neh-men. Zurzeit haben wir etwa 20 solcher Verfügun-gen, die wir dann zeitnah an das jeweilige Ord-nungsamt weitergeben.

    Jede Beerdigung wird in unserer Tageszeitungdurch eine Traueranzeige veröffentlicht und zu denBeerdigungen und Trauerfeiern mit dem Textzusatz„Jeder ist eingeladen!“ bekannt gemacht. Zu diesenBeisetzungen, bei denen immer ein Pfarrer anwe-send ist, waren bisher durchschnittlich 20-25 Trau-ergäste, ehemalige Nachbarn, Arbeitskollegen,Freunde, Kumpel oder andere Bekannte in der Ka-

    pelle anwesend. Nach derTrauerfeier, auf dem Wegzum Grabfeld, leuchtenwir dem Verstorbenenheim, indem wir ihm oderihr eine kleine Laterne mit einer brennenden Kerzevoraustragen.

    Inzwischen lädt unser schön gestaltetes und ge-pflegtes Grabfeld auch zum Verweilen ein und wirdgerne von anderen Friedhofsbesuchern aufgesucht.Sie empfinden das Ambiente dort als wohltuendund entspannend.

    Wir sind eine ehrenamtlich tätige Gruppe von z. Zt.12 Aktiven unter dem Dach der Diakonie StiftungSalem in Minden und treffen uns regelmäßig ein-bis zweimal im Monat, um das Grabfeld und dieEinzelgräber zu pflegen und nach Möglichkeit auchan Beisetzungen teilzunehmen. Wir machen durchöffentliche Beiträge in den Medien, durch Referatein sozialen Einrichtungen, Kirchengemeinden undinteressierten Gruppen auf unsere Arbeit aufmerk-

    25ALLEIN, EINSAM, VERLASSEN?

    » Jeder ist eingeladen!

    Friedhofsgruppe Minden

  • Hospiz-D

    ialog NRW

    - April 2015/63

    26 SCHWERPUNKT

    sam. Durch diese öffentlichen Auftritte werdenSpenden eingeworben, die die Grundlage unsererFinanzierung sind.

    Die Motivation der Mitglieder unserer Friedhofs-gruppe ist unterschiedlich ebenso der kulturelleHintergrund. Für das gemeinsame Wirken an unse-rer Sache ist uns deshalb die Gemeinschaftspflegeein großes Anliegen. Nicht zuletzt auch, um unsuntereinander zu vertrauen, zu verstehen und zutolerieren. Einige Ehrenamtliche sind schon seit Be-ginn dabei. Gerne begrüßen wir aber auch Interes-sierte in unserer Mitte, die sich vorstellen könnenfür Menschen etwas zu tun, denen sie im Leben

    persönlich vermutlich nie begegnet sind. Es kanneine bereichernde Aufgabe werden.

    Für mich war und ist sie das immer gewesen. Indiesem Jahr werde ich mich jedoch zurückziehenund die Verantwortung in jüngere Hände geben. Esgeht weiter… und das ist auch gut so!

    Ulrich Treude Dipl. Sozialarbeiter und Gestalttherapeut i. R.

    Initiator und Koordinator der Friedhofsgruppe Minden

    Tel.: 05 71 – 8 29 28 [email protected]

    Nachbars Garten in der Eifel

  • 27H

    ospi

    z-D

    ialo

    g N

    RW -

    Apr

    il 20

    15/6

    3

    09. 04. 2015 WienBuntes Leben von ehrenamtlichen HospizmitarbeiterInnen in Europa 2. Symposium, Hospiz Österreich und European Association for Palliative Care Tel.: +43 (0) 18 03 98 [email protected]/symposium_volunteering_2015

    20.04. - 24.04.2015 EngelskirchenSeminar zur Führungskompetenz (§ 39a SGB V)Malteser Hilfsdienst e.V.Tel.: 0 22 63 - 9 23 [email protected]

    22.04. - 24.04.2015 KölnDie Rolle der Helfer im familiären GeflechtHandlungskompetenz im SpannungsfeldFamilieDr. Mildred Scheel AkademieTel.: 02 21 - 9 44 04 90www.mildred-scheel-akademie.de

    11.05. - 12.05.2015 WürzburgPalliative Geriatrie – Herausforderung der ZukunftAkademie für Palliativmedizin, Palliativpflege und HospizarbeitStiftung Juliusspital WürzburgTel.: 09 31 - 3 93 22 [email protected]

    15.05. - 17.05.2015 KölnSterben helfen? Sterben dürfen? In Gottes und der Menschen HandPro und Contra aus ethischer, medizinischer,rechtlicher und theologischer Sicht in offenen Diskussionen und mit Vertreternaus den Wissenschaften, den großen Kirchen und der PolitikGemeinschaft Katholischer Männer undFrauen (KMF) u. a.Tel.: 02 21 - 94 20 18 [email protected]/veranstaltungen/tagung-2015-sterben-duerfen-sterben-helfen/

    Veranstaltungen

    27.05. - 29.05.2015 BonnTrauergruppen aufbauen, leiten, begleitenZentrum für Palliativmedizin Tel.: 02 28 - 6 48 15 39www.malteser-krankenhaus-bonn.de

    28.05. - 31.05.2015 BielefeldSeminar End-of-Life: Jewish PerspectivesKlinikum Bielefeld und Jüdisches Gemeindezentrum Beit Tikwa BielefeldTel.: 05 21 - 5 81 - 36 [email protected]

    29.05. - 31.05.2015 BerlinKleine Basis-Qualifizierung TrauerbegleitungTel.: 0 30 - 4 95 57 [email protected]

    09.06. - 10.06.2015 HerneBeratung bei der Erstellung von PatientenverfügungenAPPH Ruhrgebiet – Akademie für Palliativ-medizin, Palliativpflege und HospizarbeitRuhrgebietTel.: 0 23 23 - 4 98 26 00 [email protected] www.apph-ruhrgebiet.de

    12.06. - 14.06.2015 CoesfeldTrauer und Trauma treffen zusammen –Was tun?Kolping-Bildungsstätte CoesfeldTel.: 0 25 41 - 8 03 03info@bildungsstaette.kolping-ms.dewww.kolping-bildungsstaette-coesfeld.de

  • ALPHA-RheinlandHeinrich-Sauer-Straße 1553111 BonnTel.: 02 28 - 74 65 47Fax: 02 28 - 64 18 [email protected]

    ALPHA-WestfalenFriedrich-Ebert-Straße 157-159 48153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48Fax: 02 51 - 23 65 [email protected]