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14 Die Scrum-Einführung Im Folgenden finden Sie eine Fallstudie, die zwar auf realen Erfahrungen beruht, aber in keinem meiner Projekte in Summe genau so stattgefunden hat. Ziel ist, den abstrakten theoretischen Inhalt dieses Buches ein wenig greifbarer zu machen. Je nach Ihrer eigenen Situation werden Ihnen bestimmte Aspekte dieses Buches vielleicht überzeichnet oder un- realistisch vorkommen. Möglicherweise finden Sie aber auch sich selbst an der ein- oder anderen Stelle wieder. Falls Sie mit den Protagonisten durcheinander kommen: In Abschn. 14.11 finden Sie eine Kurzübersicht über alle genannten Personen. 14.1 Aller Anfang ist schwer Peter ist Entwicklungsleiter in einem großen Unternehmen. Er kämpſt mit dem Problem, dass seine 100 Soſtwareentwickler immer länger brauchen, um immer weniger Funktionen zu liefern. Die Releases des Produktes verschieben sich ständig und die Qualität lässt sehr zu wünschen übrig. 80 % der Zeit werden von den Entwicklern nicht für produktive Ar- beit an neuen Funktionalitäten verwendet, sondern für Besprechungen, Bugbehebung und Einarbeitung. Jeder Entwickler arbeitet im Schnitt an zwei Projekten – und damit an zwei Produkten – gleichzeitig. Das hat die letzten Jahre recht gut funktioniert, aber die Kon- kurrenz wird stärker. Die letzten drei Quartale in Folge hat das Unternehmen Kunden an die Mitbewerber am Markt verloren. Peter hat sich die Zeit genommen, diesen Trend mit Zahlen zu belegen und in die Zukunſt zu extrapolieren: Wenn alles so weitergeht, wie die letzten Quartale, dann ist sein Unternehmen in weniger als 2 Jahren in ernsten Schwie- rigkeiten. Er geht zu Steffen, dem Geschäſtsführer, und schildert ihm die Sachlage. Steffen ist ein Entscheider mit einer das-packen-wir-Haltung. Er trommelt sofort seine gesamte Führungsmannschaſt zusammen und bittet Peter, die Lage erneut zu erklären. Betretenes Schweigen breitet sich im Besprechungszimmer aus. Geahnt hatte man so etwas ja schon, aber offen ausgesprochen wurde es noch nie. Was würde jetzt passieren? Steffen ergreiſt 115 D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis, DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis || Die Scrum-Einführung

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14Die Scrum-Einführung

Im Folgenden finden Sie eine Fallstudie, die zwar auf realen Erfahrungen beruht, aber inkeinem meiner Projekte in Summe genau so stattgefunden hat. Ziel ist, den abstraktentheoretischen Inhalt dieses Buches ein wenig greifbarer zu machen. Je nach Ihrer eigenenSituation werden Ihnen bestimmte Aspekte dieses Buches vielleicht überzeichnet oder un-realistisch vorkommen. Möglicherweise finden Sie aber auch sich selbst an der ein- oderanderen Stelle wieder.

Falls Sie mit den Protagonisten durcheinander kommen: In Abschn. 14.11 finden Sieeine Kurzübersicht über alle genannten Personen.

14.1 Aller Anfang ist schwer

Peter ist Entwicklungsleiter in einem großen Unternehmen. Er kämpft mit dem Problem,dass seine 100 Softwareentwickler immer länger brauchen, um immer weniger Funktionenzu liefern. Die Releases des Produktes verschieben sich ständig und die Qualität lässt sehrzu wünschen übrig. 80% der Zeit werden von den Entwicklern nicht für produktive Ar-beit an neuen Funktionalitäten verwendet, sondern für Besprechungen, Bugbehebung undEinarbeitung. Jeder Entwickler arbeitet im Schnitt an zwei Projekten – und damit an zweiProdukten – gleichzeitig. Das hat die letzten Jahre recht gut funktioniert, aber die Kon-kurrenz wird stärker. Die letzten drei Quartale in Folge hat das Unternehmen Kunden andie Mitbewerber am Markt verloren. Peter hat sich die Zeit genommen, diesen Trend mitZahlen zu belegen und in die Zukunft zu extrapolieren: Wenn alles so weitergeht, wie dieletzten Quartale, dann ist sein Unternehmen in weniger als 2 Jahren in ernsten Schwie-rigkeiten. Er geht zu Steffen, dem Geschäftsführer, und schildert ihm die Sachlage. Steffenist ein Entscheider mit einer das-packen-wir-Haltung. Er trommelt sofort seine gesamteFührungsmannschaft zusammen und bittet Peter, die Lage erneut zu erklären. BetretenesSchweigen breitet sich im Besprechungszimmer aus. Geahnt hatte man so etwas ja schon,aber offen ausgesprochen wurde es noch nie. Was würde jetzt passieren? Steffen ergreift

115D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis,DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_14,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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das Wort und bittet seine Kollegen, die Situation in ihren Bereichen zu überprüfen sowieDatenmaterial zu sammeln. Er will sicher wissen, ob es wirklich eine Krise gibt, oder nicht.Er will Beweise.

Genau eine Woche später kommt die Führungsmannschaft wieder zusammen. Die Si-tuation stellt sich als noch erschreckender dar, als zunächst vermutet. Sarah, die Chefindes Controllings, belegt, dass nicht nur eine Menge Kunden abspringen, wie von Petergeschildert, sondern dass die bestehenden Kunden durch immer höhere Rabatte und Ku-lanzzahlungen „bei Laune“ gehalten werden müssen. Sie bestätigt die Schätzung des Fir-menkollapses von zwei Jahren. Da schaltet sich Frederick aus der Rechtsabteilung ein: „Solange wird es nicht dauern. Seit drei Monaten nimmt die Zahl der Rechtsstreite rapide zu.Unsere Software verursacht den Kunden Verdienstausfälle, für die wir in manchen Fällengeradestehen müssen. Jeden Monat verlieren wir so 20 Mio. Euro an Verfahrenskosten,Vergleichen und Strafen. Wenn ich das auf die Daten anrechne, dauert es noch maximalanderthalb Jahre, bis wir es uns nicht mehr leisten können, amMarkt zu agieren.“

Anne schaltet sich als Vertreterin der Personalabteilung ein: „Werte Kollegen, ihr habtjetzt fast eine Stunde lang nur über Geld gesprochen. Bei uns arbeiten aber Menschen –und die werden immer unzufriedener. Die Fluktuationsrate beträgt mittlerweile 15%. Voreinem Jahr lag sie noch bei 8%.“

Steffen ist schockiert über das Ausmaß der Probleme und erwartet Vorschläge.„Mehr Druck! Wirmüssen alle Entwickler feuern, die Fehler in die Software einbauen!“„Mehr Leute! Wir brauchen mehr Leute!“„Wir müssen die Softwareentwicklung auslagern. Am besten nach Indien. Die Inder

sind gut ausgebildet!“„Weihnachtsgeld streichen und Gehalt kürzen. Nur so können wir uns konsolidieren!“„Wir müssen die bestehende Software wegwerfen und neu programmieren. Sonst wer-

den wir die Altlasten nie los!“Nur Peter hat sich bisher zurückgehalten: „Liebe Kollegen, durch Druck und Gehalts-

kürzungen halten wir die Mitarbeiter nicht im Boot und steigern auch nicht die Qualitätunserer Produkte. Stattdessen generieren wir ein Klima der Angst. Mehr Leute einzustel-len, bringt vielleicht langfristig etwas, aber wir haben die Probleme heute. Bis die neuenKollegen eingearbeitet sind, kann bis zu einem Jahr vergehen – soviel Zeit haben wir nicht.Auch dieAuslagerung nach Indien ist eine langfristigeMaßnahme, die zudemunsereKern-kompetenz – nämlich Software zu entwickeln – an ein fremdesUnternehmen abgibt. UnserSchicksal läge damit nicht mehr in unseren Händen. Nein, Kollegen, statt die Schuld beiden Entwicklern zu suchen, sollten wir in einen Spiegel blicken. Wir sind alsManager dafürverantwortlich, was in unseremUnternehmen geschieht. Wenn uns da ein Fehler unterlau-fen ist, müssen wir auch die Konsequenzen tragen.“

Steffen überlegt: „Peter, du hast Recht. Wir sind in der Verantwortung. Die Problemewerden aber nicht dadurch gelöst, dass wir uns von Mitarbeitern trennen. Lasst uns lieberkonstruktiv nach Lösungen suchen.“

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14.1 Aller Anfang ist schwer 117

Nach einer erneuten Diskussion einigt man sich darauf, über dasWochenendenach Lö-sungen zu suchen. Dabei sollen die Kriterien Kundenzufriedenheit,Mitarbeitermotivation,Produktqualität, Produktivität und Softwarestabilität die Gedanken leiten.

AmMontagmorgen versammeln sich alle etwas verschlafen um 7 Uhr. Kaffee wird ver-teilt, die Diskussion beginnt. Jeder hat ein paar Vorschläge beizutragen. Alle werden auf-geschrieben und an die Wand geheftet. Peter hält sich erstaunlich zurück. Er sieht müdeaus, hat tiefe Ränder unter den Augen und trinkt schon seine dritte Tasse Kaffee. Als An-ne ihn darauf anspricht, nimmt er sich zusammen und berichtet, dass er das Wochenendemit Marc, einem seiner besten Entwickler, verbracht hat. Marc hatte erstaunlicherweiseviel beizutragen. Es stellte sich heraus, dass Marc sich gut in Prozessen und Modellen aus-kannte, ja er konnte Peter fast alle Probleme aufzählen, die dieser tagsüber während derKrisenmeetings mühevoll mit seinen Kollegen erarbeitet hatte. Eine Analyse des Software-entwicklungsprozesses, ein Ist-Soll-Vergleich sowie einer Liste mit Verbesserungsmaßnah-men.

Die Truppe nickt anerkennend und ziehtMarc hinzu – schließlich hat ermaßgeblich zudiesem Ergebnis beigetragen. Außerdem stellt Anne fest, dass Mitarbeiter eher zufriedenund motiviert sind, wenn Sie aktiv an ihrer Zukunft beteiligt werden. Marc ist zunächstetwas schüchtern, da er die meisten Führungskräfte bislang nur aus der Ferne gesehen hat.Seine Zurückhaltung verfliegt aber, als er seine Analyse vorstellt. Er legt das Ergebnis desIst-Soll-Vergleichs vor und etwas verlegen deutet Marc auf ein rot unterstrichenes Wort.„Vorsintflutlicher Prozess – meine Oma hat schon so programmiert!“ steht da. Marc ent-schuldigt sich: „Tut mir Leid, ich hatte keine Zeit das noch mal zu überarbeiten. Es ist aberwirklich so, dass wir nicht mehr am Puls der Zeit sind. Wir entwickeln noch so, wie manes schon in den 1980ern für nicht Erfolg versprechend gehalten hat.“

Steffen sieht Peter an: „Ist das wirklich so?“Peter nickt. Ja, es sei wirklich so. Das sei ihm nicht so bewusst gewesen, aber mittler-

weile gebe es Lösungen für diese Probleme, die irgendwie an ihm vorbeigegangen seien.Jedenfalls sei das Phasenmodell für so komplexe Softwareentwicklung, wie sie hier benötigtwürde, nicht geeignet. Heutzutage würde man an solche Projekte mit sogenannten „agilenMethoden“ herangehen. Außer Marc habe aber niemand im Unternehmen damit Erfah-rungen. Steffen sieht Marc an: „Können wir unsere Prozesse denn agil1 machen?“

Marc kratzt sich am Kopf, denkt kurz nach und sagt dann: „Der bekannteste Vertre-ter der agilen Methoden ist „Scrum“. Scrum einzuführen ist am Anfang nicht schwer, wirmüssen nur ein paar Rollen vergeben und ein paar Besprechungen regelmäßig durchfüh-ren. Das steht alles im Scrumguide. Aber dadurch lösen sich unsere Probleme noch nicht.Scrum zeigt uns unsere Probleme, es löst sie aber nicht. Diese Missstände zu lösen wird einhartes Stück Arbeit, da müssen wir an den Kern des Unternehmens ran.“

Die Teilnehmer der Managementrunde brechen in kleine Diskussionsrunden aus undSteffen hat alle Mühe, den Fokus wieder herzustellen. Es gelingt ihm schließlich. Er bittet

1 In der Realität würde man selbstverständlich etwas ausführlicher prüfen, ob agile Methoden, imspeziellen Scrum, für das anstehende Vorhaben passen.

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Marc, allen Anwesenden am folgenden Tag eine kurze Einführung in dieses „Scrum“ zugeben. Außerdem sollen sich die Anwesenden schon mal diesen „Scrumguide“ durchle-sen und Peter soll eine Liste von Beratern zusammenstellen, die bei der Einführung vonScrum – so man sich denn dafür entscheiden sollte – helfen könnten.

Die kurze Einführung findet statt und dauert zwei Stunden. Immer wieder stößt dieGruppe an ihre Grenzen, da Marc einfach nicht alle Fragen beantworten kann. Er kenntzwar die Sicht des Entwicklers auf Scrum, der Standpunkt des Managements ist aber un-gewohnt für ihn. Trotzdem sieht die Gruppe das Potential und beschließt, einen externenBerater für eine „richtige“ Scrumeinführung einzukaufen. Peter runzelt die Stirn: „Aberwelchen Berater sollen wir nehmen? Es gibt tausende amMarkt! Alle schreiben, sie könn-ten Scrum einführen, und alle geben Einführungskurse. Nach welchen Kriterien sollen wiruns entscheiden?“

Mit Marcs Hilfe erarbeitet die Gruppe eine Liste mit Kriterien, die ein Berater erfül-len muss: Er muss schon seit wenigstens 3 Jahren Scrum machen, er muss Referenzen vonScrumeinführungen benennen können und er muss sich mit Veränderungsprozessen inUnternehmen auskennen. Er sollte außerdem seine Kompetenz auch indirekt nachgewie-sen haben: durch Veröffentlichungen, Forenbeiträge oder ähnliches. Am Schluss fällt Marcnoch etwas ein: „Ach ja: Bei der Scrumeinführung, die ich bei meinem letzten Arbeitgebererlebt habe, hatten wir zunächst den falschen Berater angeheuert. Er war zwei Wochen da,hat Scrum eingeführt und war dann wieder weg. Das hat zu massiven Problemen geführt,weil wir unsere Probleme dann alleine entdecken und lösen mussten. Danach haben wirjemanden gefunden, der längerfristig bei uns war. Anfangs täglich, nach ein paar Monatendann noch zwei Tage die Woche und als wir zufrieden waren, ist er zum nächsten Projektgewechselt.“

Es wird daher das Kriterium „kümmert sich nicht nur zwei Wochen lang um den ein-fachen, sondern auch danach um den schwierigen Teil“ der Liste hinzugefügt.

Peter trifft eine Vorauswahl anhand der Kriterien und schickt den vielversprechendstenzehn Kandidaten eine E-Mailanfrage mit einer Situationsbeschreibung. Diese wird durchdie Frage abgerundet, wie dieser Berater denn das Problem lösen würde. Das Ergebnis fällternüchternd aus: Zwei Anfragen werden nicht beantwortet, auf fünf folgt nur eine Stan-dardantwort nach dem Motto „alle Probleme werden gelöst, wenn wir bei Ihnen Scrumeinführen.“

Die restlichen drei Berater reagieren etwas differenzierter. Es finden Rückfragen per E-Mail undTelefon statt, dieDetails der Situationwerden genau hinterfragt. Einer der Beraterfindet denAuftrag zwar interessant, hat aber keineZeit, da er in einemanderen Engagementfeststeckt. Die verbleibenden zwei Scrum-Experten besprechenmöglicheVorgehensweisenmit Peter, wirken sehr kompetent und differenzieren auch nach kurzfristigem und langfris-tigem Erfolg für das Unternehmen. Peter lädt sie beide ein, damit sie jeweils eine eintägigeEinführung in Scrum geben. Dabei spielt er mit offenen Karten und gibt zu, dass mehrereBerater im Rennen sind. Diese sind nicht überrascht und bieten an, denWorkshop kosten-los durchzuführen, bzw. die Kosten im Falle einer Zusammenarbeit auf die erste Rechnunggutzuschreiben.

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14.2 Dringlichkeit 119

Die Einführungen laufen gut, beide Berater können auf alle Fragen der Gruppe antwor-ten.Dabei hat der zweite Berater einen schwierigeren Job, denn durch den erstenWorkshopsind die Teilnehmer schon auf einem höheren Niveau als zuvor. Aber er wirkt irgendwiesympathischer, obwohl niemand so richtig sagen kann, warum eigentlich. Nachdem dieAngebote beider Berater geprüft wurden, entscheidet sich die Gruppe dafür, mit dem zwei-ten Berater zusammenzuarbeiten.

Die Terminfindung gestaltet sich zwar etwas schwierig, jedoch ist es mit ein wenig Ter-minjonglage möglich, schon in der nächsten Woche zu starten.

Der Coach beginnt damit, die verschiedenen Zielzustände wie Scrum PRN und dasScrumStudio vorzustellen. Dann erörtert er das Acht-Stufen-Modell vonKotter undmachtder Gruppe klar, wie viel Arbeit auf es zukommt. Der erste Tag wird damit beendet, dassder Coach das Team bittet, sich einen Namen zu geben und bis zur nächsten Woche ander ersten Stufe, der Dringlichkeit, zu arbeiten. Steffen fasst diesen Tag zusammen: „Wirsind also eine Führungskoalition. Es gibt verschiedene Ausprägungen von Scrum, alle mitverschiedenen Vor- und Nachteilen. Es liegen viele Entscheidungen und nochmehr Arbeitvor uns. Nur gut, dass wir zumindest bei der Dringlichkeit schon gute Vorarbeit geleistethaben! Wie sollen wir uns nennen?“

In der Führungskoalition hat sich das Gefühl ausgebreitet, dass es für die festgestelltenProbleme eine Lösung geben könnte. Die Motivation und Energie sind deutlich spürbar.Daher sprudeln auch die Namensvorschläge nur so. Am Ende sind sich alle einig: Die Füh-rungskoalition des Unternehmens heißt „Notfall Power Team“.

14.2 Dringlichkeit

Als das „Notfall Power Team“ in der folgenden Woche erneut zusammenkommt, hat je-der einen Stapel Papier und seinen Laptop dabei. Unmengen an Daten, Zahlen und Faktenwurden zusammengetragen. Der Coach zeigt sich erfreut und verlangt eine Ursachenfor-schung: „Wenn es einen dringlichen Grund dafür gibt, dass Sie gerade nicht Ihrem Tages-geschäft nachgehen, dann möchte ich diesen jetzt erfahren.“

Nach und nach tröpfeln die Antworten ein.

• „Wir sind bald pleite“• „Unsere Produktqualität ist schlecht“• „Die Kunden laufen uns weg“• „Rechtsstreitigkeiten kosten Millionen“

Steffen merkt, worauf der Coach hinaus will und greift ein: „Liebe Kollegen, die voneuch genannten Gründe sind alle gut und richtig. Aber jeder von uns hat seine eigeneVorstellung von der Dringlichkeit. Sie ist so nicht kommunizierbar. Wir müssen mit einerklaren, konsolidierten Aussage an die Belegschaft herantreten.“

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120 14 Die Scrum-Einführung

Gemeinsam analysiert das Team. Schnell ist man sich einig, dass alle AnwesendenScrum einführen wollen. Marc fügt noch hinzu, dass er sich sicher ist, dass auch die Ent-wickler den Versuch mittragen werden. Keine wichtige Führungskraft fehlt, jedoch wurdedie untere Führungsebene nicht eingebunden. Der Coach schärft das Bewusstsein dafür,dass gerade dieser Personenkreis aber durchaus von Scrum betroffen ist und möglicher-weise Macht verliert. Damit ist mit Widerstand zu rechnen, wenn diese Kollegen nicht vonden Vorteilen überzeugt werden können. Steffen notiert dies auf dem Whiteboard undfragt in die Runde: „Okay wir wissen jetzt, dass wir Scrum einführen wollen. Wir wissenauch, wer das möglicherweise nicht will. Was genau wird sich eigentlich durch Scrumändern?“

„Das hängt zum einen von der Situation Ihres Unternehmens ab, zum anderen aberauch von derAusprägung, für die Sie sich entscheiden“, antwortet derCoach. „Zur Situationim Unternehmen kann ich einiges beitragen“, sagt Sarah und präsentiert sogleich umfang-reiches Datenmaterial. Am Ende kommt sie zu folgendem Schluss: „Unsere Konkurrenzentwickelt schneller und qualitativ besser als wir. Die Kunden wissen das und wechseln.Um das zu kompensieren, bauen wir Druck auf. Dieser ständige Druck führt aber dazu,dass unsere Mitarbeiter kündigen. Dieser Teufelskreis führt dazu, dass wir – sollte es unsnicht gelingen, ihn zu durchbrechen, in 18 Monaten Insolvenz anmelden müssen.“

Die Deutlichkeit des Ergebnisses ist erneut erschütternd. Dieses Desaster muss verhin-dert werden! Gemeinsam wird erarbeitet, was als nächstes zu tun ist: Es fehlt ein Konzept,wie diese Krise transparent an alle Mitarbeiter kommuniziert werden kann. Auch ist nochvöllig unklar, was sich für das Unternehmen und jeden Einzelnen durch die Einführungvon Scrum verändert. Hier versucht der Coach zu helfen, indem er erneut die verschiede-nen Scrum-Modelle erklärt. Alle hören aufmerksam zu, am Ende aber sagt Steffen: „Dasist ja alles gut und schön – aber wir brauchen eine schnelle Lösung. Wir haben keine Zeit,die gesamte Organisation umzukrempeln, dafür sind wir auch zu groß. Wir müssen unserst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen, bevor wir weitere Schritte in Betracht ziehenkönnen.“

Der Coach nickt. „Dann sollten wir mit dem kritischsten Projekt anfangen, dieses ret-ten und erst dann nach und nach über weitere Projekte nachdenken. Das bedeutet, wirbeginnen mit einer Top-Down Scrum PRN Implementierung. Die Option auf ein Studiooder sogar Tiefen-Scrum haben wir ja immer noch. Wir müssen aber darauf achten, dasswir das Wissen aus unseren PRN-Projekten nicht verlieren. Sonst machen wir alle Fehlermehrmals.“

Das kritische Projekt erhält zunächst eine neue Struktur. Die Rollen des Product Ow-ners und des ScrumMasters kommen dazu, während der Projektmanager als solcher nichtmehr existiert. Schnell wird klar, dass dies schwerwiegende Folgen hat: Als Product Ownerkommt nur die Produktmanagerin Claudia in Frage, da nur sie genug Wissen darüber hat,was der Markt von dem Produkt erwartet. Als Product Owner ist sie aber allein verant-wortlich für das gesamte Produkt. Damit darf und muss sie auch Entscheidungen zu demProdukt treffen. Das oblag bisher aber ihrem Chef, zusammen mit ein paar anderen hoch-rangigen Managern. Diese wären dann nur noch als „Stakeholder“ beteiligt, nicht mehr als

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14.2 Dringlichkeit 121

Entscheider. Auch wird ein ScrumMaster benötigt. Marc wäre verfügbar, aber was passiertmit dem bisherigen Projektmanager? Er hat keine Ahnung von Scrum und pflegt eineneher autoritären Führungsstil, was sich nicht gut mit Scrum verträgt. Wo kann er sinnvolleingesetzt werden? Diese Frage ist noch unklar.

Der Coach zeigt dann auf, dass auch innerhalb des Entwicklungsteams mit Problemenzu rechnen ist: Bislang wurden die Entscheidungen zum allergrößten Teil vom Manage-ment getroffen. Scrum fordert aber, dass die gesamte technische Verantwortung ins Teamwandert. Noch schlimmer: Scrum fordert, dass das Team sich „selbst organisiert“ – oft-mals wissen die Teammitglieder aber nicht, wie das geht. Im privaten Bereich bauen sieHäuser und ziehen Kinder groß, aber im beruflichen Umfeld wurden sie Jahrzehnte langdarauf trainiert, sich von anderen organisieren zu lassen. Eine solche Veränderung kannMenschen leicht überfordern. Als wäre das noch nicht genug, sieht Scrum keinen Grup-penleiter vor und bezeichnet auch Architekten als „Entwickler“ – ein Statusproblem fürdie Personen, die aktuell diese Rollen bekleiden. Zwar sind deren Fähigkeiten nach wie vorgefragt, aber innerhalb des Entwicklungsteams ist keine Höherstellung einzelner Personenvorgesehen.

Nachdenklich diskutiert das Notfall Power Team über diese Probleme, kommt aber zukeinem Ergebnis. Peter schaltet sich ein: „Für unser kritischstes Produkt arbeiten 20 Ent-wickler und zwei Gruppenleiter. Wieso fragen wir die Betroffenen nicht direkt?“

„Sollten wir davor nicht unsere Aussage zur Dringlichkeit finalisieren?“, erwidert Anne.„Wennwir über die Einführung von Scrum sprechen, ohne gleichzeitig zu erklären, warumwir das wollen, werden wir wohl eher nicht auf Zustimmung stoßen.“

Alle nicken undmachen sich wieder an die Arbeit. Am Ende eines arbeitsreichen Tagessteht folgendes Ergebnis:

Unser Unternehmen sieht sich der größten Krise seiner Geschichte gegenüber. Unse-re Konkurrenz entwickelt schneller und qualitativ besser als wir. Die Kunden wissen dasund verlassen uns in Scharen. Unsere Mitarbeiter sind unzufrieden und kündigen. Die-ser Teufelskreis führt dazu, dass wir – sollte es uns nicht gelingen ihn zu durchbrechen –in 18 Monaten Insolvenz anmelden müssen. Wir, das Notfall Power Team, arbeiten mitHochdruck daran, dieses Unheil abzuwenden und bitten um Ihre Unterstützung.

Am nächsten Morgen trifft sich das Team wieder und auch die beiden Gruppenleiterdes kritischsten Produktes sind dabei. Marc fällt auf, dass seine Entwicklerkollegen nichtmit dabei sind. Aber ging es nicht um diese? Er spricht den Sachverhalt an. Antwort: „DieEntwickler stehen unter Termindruck. Wir haben keine Zeit, um mal eben einen Tag füreinen Workshop zu opfern. Außerdem sind wir Gruppenleiter ja da – damit können wirauch alle nötigen Entscheidungen treffen.“

Steffen ergreift dasWort: „Unser Unternehmen befindet sich in einer tiefen Krise, werteKollegen. Es spielt keine Rolle mehr, ob Ihre Teams noch einen Tag mehr auf die altherge-brachte Weise entwickeln. Bitte holen Sie die Kollegen dazu, dann erkläre ich Ihnen alles.“

Mit Sorgenfalten auf der Stirn machen sich die beiden Gruppenleiter auf den Weg undkommen kurz darauf mit den Entwicklern zurück. Steffen zeigt auf die Dringlichkeitsaus-sage an der Wand: „Meine Damen und Herren, wir haben ernste Probleme. Wenn wir

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so weitermachen wie bisher, sind wir in 18 Monaten aus dem Geschäft und Sie sind al-le arbeitslos. Das liegt weder in meinem noch in Ihrem Interesse, deshalb sind Sie hier.Wir haben die Situation analysiert und glauben, dass wir mit Hilfe von Scrum aus dieserKrise gestärkt hervorgehen können. Wir möchten aber, dass Sie verstehen, welche Verän-derungenmit Scrum auf Sie zukommen. IhreMeinung ist uns hier sehrwichtig, denn nochkönnen wir auch andere Wege suchen.“

Es folgt eine längere Diskussion mit vielen Rückfragen. Würden Kollegen gekündigt?Gibt es weiter Weihnachtsgeld? Was ist eigentlich Scrum? Der Coach gibt einen Schnell-kurs in Scrum, wobei er sich auf die Chancen und Risiken konzentriert. Am Ende lässt erdann die Bombe platzen: „Mit Scrum brauchen wir die Funktion des Gruppenleiters nichtmehr, da das Team sich selbst organisiert. Auch sind innerhalb eines Entwicklungsteamsalle gleich wichtig.“

Die Teammitglieder und Gruppenleiter reagieren höchst unterschiedlich. Einige Ent-wickler atmen erleichtert auf und freuen sich darauf, dass sie endlich auch offiziell die Ent-scheidungen treffen dürfen, die sie sowieso schon immer getroffen haben. Andere machensich Sorgen, was dieses „sich selbst organisieren“ bedeutet. Die Gruppenleiter reagierenaber am ambivalentesten. Während der eine sich freut, dass er als Scrum Master „endlichnur noch die wichtigen Dinge tun“ kann – so er denn Scrum Master würde - regt sichder andere Gruppenleiter sehr emotional auf: „Ich bin nicht unwichtig! Ihr könnt michnicht einfach wegrationalisieren! Ein Team kann sich nicht selbst organisieren. Das wirdein Nachspiel haben!“

Steffen schreitet ein: „Bitte keine Drohungen. Wir schätzen Ihre Arbeit sehr. Wir soll-ten darüber sprechen, welche anderen Betätigungsfelder es auch mit Scrum gibt, in denenSie gerne arbeiten würden. Gute Entwickler brauchen wir zum Beispiel immer. Auch dieRolle des Scrum Masters könnte interessant für Sie sein. Natürlich können Sie auch vor-erst Gruppenleiter bleiben – wenn auch für ein anderes Team. Im Moment reden wir nurdarüber, diese 20 Personen nach Scrum zu organisieren.“

Der Gruppenleiter beruhigt sich ein wenig. Die Idee, wieder entwickeln zu dürfen, ge-fällt ihm. Das hat er die letzten Jahre sehr vermisst. „Ichmuss da nochmal drüber schlafen“,entgegnet er schon etwas sanfter.

Der Coach spricht eine Grundregel von Scrum an: „Wir haben hier 20 Entwickler.Scrum erfordert eine Teamgröße von maximal 9 Personen. Sollen wir mit zwei Teamsbeginnen?“

DasThemawird diskutiert. So richtig einig wirdman sich nicht, bis schließlich einer derEntwickler sich einschaltet und darauf hinweist, dass jeder einzelne von ihnen bislang anzwei bis drei Projekten gleichzeitig arbeitet. Nimmt man nur die prozentualen Anteile andiesem wichtigsten Projekt, so arbeiten eigentlich nur acht Personen daran. Das Problemist allerdings, dass bislang die Produktmanager direkten Zugriff auf die Entwickler haben –das wäre mit Scrum anders. Außerdem wären nicht mehr alle Personen für die Produkt-manager verfügbar, wenn acht Personen Vollzeit (statt wie bisher 20 Personen in Teilzeit)an dem Projekt arbeiten. Claudia nickt bedächtig: „Wenn wir dafür andere, ebenso fähi-

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14.3 Die Führungskoalition 123

ge Personen zu einem größeren Anteil bekommen, dann können wir sowohl auf einzelnePersonen als auch auf den direkten Zugriff verzichten. Die Krise ist jetzt wichtiger.“

Die Entwickler erhalten den Auftrag, sich in Scrum einzulesen und einen Vorschlagfür ein Team von acht Personen zu erarbeiten. Die Gruppenleiter erhalten den gleichenAuftrag, allerdings soll der Vorschlag unabhängig von den Entwicklern erarbeitet werden.Auch sollen sich beide Personengruppen darüber klar werden, wo sie sich in einer Orga-nisation, die Scrum einsetzt, sehen.

Steffenwendet sich einweiteresMal an seine Führungskoalition: „Wiewollenwir unsereKrise denn an alle Mitarbeiter kommunizieren? Wir haben heute die Erfahrung gemacht,dass es viele Fragen gibt, die es zu beantworten gilt. Auch haben wir erlebt, dass Ängsteentstehen, die wir adressieren müssen. Und was alle von uns haben wollen, sind Lösungen,wie wir diese Krise abwenden. Habt ihr Vorschläge zu einem Kommunikationskonzept?“

Anne blüht auf: „So etwas haben wir als Personaler öfter zu tun. Zum Glück haben wirhierarchische Strukturen. Ich schlage deshalb vor, dass wir zunächst eine ausführliche In-formationsveranstaltung mit allen Führungskräften durchführen. Danach sollten wir eineMitarbeiterversammlung einberufen und diese informieren. Die Vorgesetzten der Mitar-beiter sowie wir als Notfall Power Team sollten für Fragen zur Verfügung stehen. Darüberhinaus sollten wir uns mit demMarketing zusammensetzen und eine Plakataktion, Artikelin der Firmenzeitschrift und E-Mailinformationen veröffentlichen. Aktuell habenwir nochkeine Patentlösung für unsere Probleme – das sollten wir auch offen kommunizieren.“

Der Vorschlag wird einstimmig angenommen. Steffen ergänzt ihn allerdings: „Wir ha-ben eine Krise, also müssen wir uns auch so verhalten. Sarah, sorge bitte dafür, dass alleunnötigen Ausgaben ab sofort eingespart werden. Das gilt auch für uns: Wir dürfen absofort keine unnötigen Ausgaben mehr tätigen. Wir müssen durch unser Vorbild führen.Das bedeutet, dass wir keine unnötigen Papiere mehr ausdrucken, bei Dienstreisen zweiterKlasse fahren sowie in einem günstigen Hotel übernachten. Und es bedeutet, dass wir alleVorhaben und Projekte darauf überprüfen, ob sie die Wertschöpfung unseres Unterneh-mens steigern. Eigentlich etwas, das wir schon längst getan haben sollten.“

14.3 Die Führungskoalition

Schon wenige Tage später hat die Mitarbeiterversammlung stattgefunden. Zeitgleich hatdie Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eine Pressemitteilung herausgegeben, damit keineGerüchte in die Presse gelangen. Im Speisesaal, in dem sich die Führungskoalition versam-melt hat, spricht der Coach ein weiteres Problem an: „Wir haben schon sehr gute Arbeitgeleistet. Das meiste haben wir richtig gemacht. Ein Punkt macht mir allerdings nochSorgen: wir selbst, als Notfall Power Team. Haben wir alle nötigen Leute dabei? Sind alleTeammitglieder wirklich nötig? Außerdem sind wir selbst noch nicht in Scrum organisiert,wollen aber mit Scrum unsere Probleme lösen. Hier haben wir noch Arbeit vor uns. Lasstuns das morgen früh angehen.“

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124 14 Die Scrum-Einführung

Am nächsten Morgen beginnt Frederick: „Ich habe heute Nacht darüber nachgedacht,ob ich imNotfall Power Team richtig bin.Mir macht die Arbeit mit euch großen Spaß, aberich glaube mittlerweile, dass sich meine Nützlichkeit erschöpft. Anfangs konnte ich bei derDringlichkeit unterstützen, aber für die Scrumeinführung sollte ich wohl nur ab und anunterstützen und nicht die gesamte Zeit mit dabei sein.“

Die Gruppe denkt kurz nach, dann verabschiedet sie Frederick mit viel Händedrücken.Schließlich weist der Coach noch darauf hin, dass es bald Reviews des Teams geben wirdund Frederick auf jeden Fall dort dabei sein sollte. Seine Meinung und sein Fachwissensind wichtig für das Team. Anne rutscht etwas nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Auchsie zeigt sich unsicher: „Naja, die Personalabteilung hat ja eigentlich auch nicht soviel mitSoftwareentwicklung zu tun. Kann ich denn wirklich etwas beitragen?“

Peter greift sofort ein: „Anne, ohne dein Fingerspitzengefühl und deine Erfahrung hät-ten wir spätestens bei der Kommunikation der Dringlichkeit Fehler gemacht. Ich halte dichfür ein sehr wertvolles Teammitglied und möchte dich auf keinen Fall verlieren.“

Gemurmelte Zustimmung wird laut. Der Coach schreibt den ersten Punkt auf das Flip-chart: „Hierarchische Macht“. Er blickt in die Runde und stellt fest: „Mir scheint es, alswäre der Geschäftsführermit dabei und alle Bereichsleiter eingebunden. Aus meiner Sichtverfügen wir über hierarchische Macht in unserer Führungskoalition.“

Er schreibt den zweiten Punkt auf: „Experte für die bisherigen Prozesse“. Auf die Frage,wer das denn im Team sei, antwortet ihm nur Schweigen. „Es scheint so, als bräuchten wirhier noch jemanden“, stellt er fest, „wer könnte das sein?“

Steffen sagt nachdenklich: „Eigentlich kümmert sich Christina bei uns um Prozesse.Warum ist sie eigentlich nicht dabei?“

Thomas, bisher eher schweigsam, schaltet sich ein: „Christina ist mir als dem Leiterdes Qualitätsmanagements unterstellt. Ich habe sie bislang nach unseren Besprechungeninformiert und es nicht für nötig gehalten, sie direkt einzubinden. Aber du hast Recht: Siesollte dabei sein.“

Ein kurzes Telefonat später kommt Christina dazu. Nach einer kurzen Diskussion dar-über, was das Notfall Power Team gerade tut, ist sie Feuer und Flamme. „Ich glaube schonlänger, dass wir etwas verändern müssen. Ich bin dabei!“

Der Coach wendet sich wieder dem Flipchart zu und schreibt einen dritten Punkt dar-auf: „Scrum-Veteran“.

Er fügt hinzu: „Im Moment kann ich diese Rolle einnehmen, denn ich kenne Scrumin- und auswendig. Mittelfristig sollte das aber einer Ihrer internen Kollegen übernehmen.Marc, könntest du dir das für dich vorstellen?“

Marc nickt: „Während der letzten Wochen habe ich sehr intensiv darüber nachgedacht.Ich bin mir sicher, dass ich ein guter ScrumMaster werden kann. Ich will etwas bewegen –da scheint mir diese Rolle genau das Richtige zu sein.“

Steffen und Peter nicken zustimmend und der Coach fährt mit dem Punkt „Alle Perso-nen, die unsere Scrumeinführung unterstützen oder behindern könnten“ fort. Das führtzu einigen Diskussionen. Wer kann unterstützen? Wer kann behindern? Wurde an allegedacht? Am Ende der Diskussion sind zwei weitere Personen identifiziert: Hannah, die

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14.3 Die Führungskoalition 125

Leiterin des IT-Betriebs, sowie Larry, ein altgedienter Software-Architekt, der großes An-sehen bei den Entwicklern genießt, aber für seine kritische Grundeinstellung bekannt ist.Steffen ruft beide an. Hannah ist kurz darauf mit im Raum und lässt sich von den übrigenTeilnehmern den Stand der Dinge erläutern. Larry hingegen lässt auf sich warten. Schließ-lich ruft Steffen ihn wieder an, diesmal über das Konferenztelefon mit Lautsprecher. Larrylehnt ein Treffen explizit und kategorisch ab. Weder der Hinweis auf seine für den Wandelbenötigte Kompetenz noch die Darstellung der negativen Geschäftsentwicklung könnenihn umstimmen. Alle zeigen sich von seiner Reaktion sehr betroffen.

Marc kratzt sich am Kinn: „Ich denke, ich sollte mal mit ihm unter vier Augen reden.Bisher hatten wir immer ein sehr gutes Verhältnis, wir schätzen uns als Kollegen. Vielleichtfinde ich etwas über den Grund für diese Ablehnung heraus.“

Der Coach fügt den Punkt „Glaubwürdigkeit“ auf dem Flipchart hinzu. Im ersten Im-puls versucht die Gruppe, den Punkt als gegeben wegzuwischen, aber er bleibt hartnäckig:Wenn die Glaubwürdigkeit wirklich so hoch ist, wie kann dann Larry behaupten, die Pro-zesse würden keine Rolle spielen? Wie wirkt sich das auf die Glaubwürdigkeit aus, wennein Mann einen Staat im Staate gründet? Gibt es vielleicht noch andere Stellen, an denendie Glaubwürdigkeit nicht in dem Maße vorhanden ist, wie sie es sein sollte? Die Rundetrennt sich für heute mit der Aufgabe, nach Indizien zu suchen, die für oder gegen einehohe Glaubwürdigkeit sprechen.

Zwei Tage später kommt das Team wieder zusammen – allerdings auf Vorschlag desCoaches in einemHotel mehr als 100 km vomFirmensitz entfernt. Das garantiert, dass kei-neAufgaben des Tagesgeschäfts dieAbwendung derKrise behindern. Zunächst beginnt dasTeam mit ein paar spielerischen Übungen, die zum einen die Gruppe zusammenschwei-ßen und zum anderen einfach Spaß machen. Danach beginnt die eigentliche Arbeit. DieAnalyse der vergangenen Tage zeigt, dass die Glaubwürdigkeit der Führungskoalition imgesamten Unternehmen sehr hoch eingeschätzt wird. Lediglich Larry scheint da eine ande-re Meinung zu haben. Marc hat dazu etwas zu ergänzen: „Larry hat auch unter vier AugenseineMeinung nicht geändert. Er steht nach wie vor auf dem Standpunkt, dass die von unsgeschilderten Probleme nicht real sind und er allein für den Erfolg des Unternehmens zu-ständig ist. Von Teamarbeit hält er nichts. Er hat mir gegenüber keine neuen Argumentevorgebracht.“

Anne schaltet sich ein: „Wir haben einen begabten Mediator bei uns im Team. Ich redemit ihmund setzemichmit Larry zusammen. Esmuss doch einenGrund für seinVerhaltengeben.“

„Danke“, beginnt der Coach, „ich habe aufgeschrieben, wer jetzt zu unserem Team ge-hört.“

Er zeigt auf ein Flipchart, das an der Wand hängt. Darauf steht:Notfall Power Team

Steffen (Geschäftsführer)Peter (Entwicklungsleiter)Anne (Personalleiterin)

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126 14 Die Scrum-Einführung

Marc (Scrum Entwickler und zukünftiger ScrumMaster)Sarah (Leiterin Controlling)Claudia (Produktmanagerin)Thomas (Leiter Qualitätsmanagement)Christina (Unternehmensprozesse)Hannah (Leiterin IT-Betrieb)

„Wir sind also neun Personen im Team, wobei ich selbst nur temporärer Gast bin unddaher nicht zähle“, fährt der Coach fort. „Außerdem steht uns Frederick als Helfer zurVerfügung,wenn es umRechtsfragen geht. Bei Larry sindwir uns noch unschlüssig, wiewirmit ihmumgehen sollen. Damit habenwir die formaleAnforderungder Teamgröße erfüllt.Wir sollten jetzt damit beginnen, uns selbst nach Scrum zu organisieren, um glaubwürdigzu bleiben und dazuzulernen.“

Schon bald sind alle Rollen besetzt: Steffen übernimmt die Aufgaben des Product Ow-ners für das Notfall Power Team, Marc meldet sich als ScrumMaster. Er fordert allerdingsaktive Unterstützung durch den Coach ein, bis er seine Rolle voll ausfüllen kann. DieseForderung wird ihm gerne erfüllt.

Als jeder seine Rolle kennt, stellt der Coach eine provokante Frage: „Lieber ProductOwner, was ist eigentlich dein Produkt?“

Steffen denkt nach: „Das ist gar nicht so einfach. Es ist jedenfalls keine Software. Pro-dukt hat etwas mit produzieren zu tun. Was wir produzieren, ist aber kein Produkt imklassischen Sinne, sondern es sindProzesse. Ich denke, unser Produkt sindUnternehmens-prozesse.“

Der Coach ist beeindruckt. Normalerweise dauert es länger, bis diese Erkenntnis in sol-chen Teams reift. Er lobt die Runde: „Sehr gut! Genau so ist es. Das bedeutet, wir müssenam Ende jedes Sprints inkrementell verbesserte Prozesse liefern. Eigentlich haben wir auchviele Produkte, denn wir werden uns nicht nur einem Prozess widmen, sondern mehre-ren. Unser Ausgangspunkt ist aber der Softwareentwicklungsprozess.Wir kennen jetzt alsounser Artefakt des Produktinkrements. Als nächstes benötigen wir eine Vision und Zielefür Herz und Verstand. Eigentlich sogar beides im Doppelpack: einmal für uns als NotfallPower Team, zum anderen für die Lösung der Krise.“

Das Team teilt sich in zwei kleinere Gruppen auf, um effektiver arbeiten zu können.Ein Subteam kümmert sich um die Vision für das Notfall Power Team, das andere um dieglobaleren Themen. Es wird vereinbart, nach einer Stunde wieder zusammenzukommen,um die vorläufigen Ergebnisse zu vergleichen. Eifrig beginnt der Findungsprozess und amEnde der abgelaufenen Zeit präsentiert die erste Gruppe zufrieden ein Zwischenergebnis.Hannah führt aus: „Für uns als Team ist die Vision eigentlich klar: Wir wollen unser Un-ternehmen retten!“

Diese Formulierung findet schnell den Beifall der Runde. Steffen bemerkt jedoch: „Die-se Vision ist super kommunizierbar und spricht das Herz an. Der Verstand ist jedoch nichtbefriedigt. Helfen hier vielleicht eure Ziele?“

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14.3 Die Führungskoalition 127

Hannah nickt und stellt die einzelnen Ziele vor:

1. Die Kundenzufriedenheit muss erheblich gesteigert werden. Nach Sarahs Zahlen kön-nen wir statt 250 Kündigungen pro Monat maximal 50 verkraften. Daher müssen wirdie Kundenzufriedenheit um 500% steigern.

2. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter ist ein hohes Gut. Anne hat belegt, dass bislang 8%Fluktuation pro Jahr normal waren und wir heute 15% verkraften müssen. Wir wollenaber besser werden, als wir es waren, daher muss die Zufriedenheit der Mitarbeiter um300% erhöht werden. Das entspricht einer Fluktuationsrate von 5% pro Jahr.

3. Wir reagieren zu langsam im Vergleich zum Wettbewerb. Unsere Zahlen belegen, dasswir aktuell 9 Monate benötigen, um einen Kundenwunsch umzusetzen. Unser Ziel ist,hier besser zu werden als die Konkurrenz und einen Kundenwunsch in spätestens 2Mo-naten umzusetzen.

4. Unsere Produktivität ist zu gering. Wir kennen unsere reale Produktivität noch nichteinmal. Unser Ziel ist daher, die Produktivität objektiv zumessen und imVergleich zumheutigen Stand zu verdreifachen.

„Das sind aber ehrgeizige Ziele“, meint Thomas. Steffen nickt, weist aber sofort daraufhin, dass die Ziele ehrgeizig sein müssen, wenn wirklich etwas verändert werden soll. Ersagt: „Gut gemacht. Wenn wir diese Ziele erreichen, sind wir gerettet. Der Weg dahin istzwar noch unklar, aber da kann bestimmt die zweite Gruppe helfen.“

Peter steht auf: „Die Vision und die Ziele für das Unternehmen sind eigentlich ganzähnlich. Wir haben lediglich noch hinzugefügt, dass Scrum dazugehört.“

Die Diskussionen gehen bis in den späten Nachmittag weiter. Am Ende entschließt sichdie Führungskoalition, die gleiche Vision und die gleichen Ziele zu übernehmen, die sieauch für das Unternehmen sehen. Das Ergebnis lautet:

Unser Unternehmen steckt in einer tiefen Krise. Um unsere Schließung in 18 Monatenabzuwenden und das Unternehmen zu retten, müssen wir:

• Die Kundenzufriedenheit verfünffachen (maximal 50 Kündigungen proMonat statt bis-her 250)

• Die Mitarbeiterzufriedenheit verdreifachen (5% Fluktuation pro Jahr statt bisher 15%)• Schneller auf Kundenwünsche reagieren und in spätestens zwei Monaten (statt bisher 9)den Kundenwunsch in unserer Software implementiert haben.

• Unsere Produktivität objektiv messen und mindestens verdreifachen.

Um diese Ziele zu erreichen, werden wir unser kritischstes Softwareentwicklungspro-jekt innerhalb des nächsten Monats auf Scrum umstellen, ein agiles Produktentwicklungs-framework. Scrum ermöglicht es uns, schnell auf Anforderungen zu reagieren und die Pro-bleme aufzudecken, die der Erreichung der oben genannten Ziele entgegenstehen. Dannwird das weitere Vorgehen geplant und kommuniziert. Das Notfall Power Team hat dabeidie Aufgabe, diese Umstellung anzuführen und zu begleiten.

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128 14 Die Scrum-Einführung

Mit diesem ersten Entwurf sind alle Beteiligten zufrieden. Der Coach weist allerdingsnachdrücklich darauf hin, dass diese Ziele in den nächsten Monaten ständig überarbeitetwerden müssen und mit Sicherheit noch lange nicht final sein werden. Die Führungs-koalition bezieht ihre Zimmer und lässt den Abend dann gemeinsam an der Hotelbarausklingen. Am folgenden Morgen finden sich alle wieder im Konferenzraum des Hotelsein und blicken den Coach erwartungsvoll an. Dieser zieht ein paar Klebezettel aus seinemModeratorenkoffer und verteilt sie an die Anwesenden: „Wir haben uns entschieden, nachScrum zu arbeiten.Wir kennen unsere Ziele. Jetzt benötigen wir noch ein Product Backlog.Bitte schreibt alles auf, was wir tun müssen oder sollten, um die Ziele zu erreichen.“

Diese Arbeitsweise ist für die Anwesenden zwar ungewohnt, aber effektiv. Nach einigenMinuten werden die Anwesenden in drei Gruppen aufgeteilt. Sie erhalten die Aufgabe,neue Zettel zu schreiben und die bestehenden zu konsolidieren. Nach diesem Arbeits-schritt tragen alle Gruppen ihre Ergebnisse zusammen und kleben sie an dieWand. Herauskommt ein bunter Zettel-Wald mit den vielfältigsten Ideen. Der Coach greift wieder ein:„Sehr schön. Als nächstes möchte ich, dass ihr diese Zettel in eine eindeutige Reihenfol-ge bringt, in der wir sie abarbeiten müssen, um die Ziele zu erreichen. Selbstverständlichdürft ihr auch neue schreiben, wenn welche fehlen. Das letzte Wort hat dabei euer ProductOwner.“

Diese Aufgabe führt zu vielen Diskussionen und benötigt entsprechend viel Zeit. NachdemMittagessen bricht derCoach dieArbeit ab: „Wir sind uns bei denwichtigsten Elemen-ten einig. Die weniger wichtigen können wir auch später noch diskutieren und anordnen.Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass wir überhaupt anfangen können zu arbeiten.“

Alle begutachten das Ergebnis. Die ersten Elemente lauten:

1. Unseren Sprint planen2. Allgemeine Scrum-Schulung für die Führungskoalition3. Product Owner Schulung für Steffen4. ScrumMaster Schulung für Marc5. Larry überzeugen6. Vision und Ziele an das gesamte Unternehmen kommunizieren7. Unser Product Backlog für alle transparent machen8. Projekt auf Scrum umstellen9. Projektablauf überwachen

Es folgen noch viele weitere Punkte, aber der Coach entscheidet, hier erst einmal zustoppen. Er hängt die neun Zettel an ein Flipchart-Blatt und sagt: „Das ist ein guter An-fang. Wir sind mitten in der Sprintplanung, das erste Element ist also schon begonnen.Lasst uns diese Punkte einmal abschätzen, um zu sehen, wo wir noch Arbeit vor unshaben.“

Er teilt Spielkarten aus und erklärt, dass es sich dabei um „Planning Poker“ handelt. Erfährt fort: „Wirwissen nicht, wie langewir für jeden einzelnen Punkt brauchen. Selbstwennwir es wüssten, könnte sich diese Zeit im Verlauf unserer Rettungsaktion ändern, wenn wir

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14.3 Die Führungskoalition 129

auf Probleme stoßen oder schneller werden. Würden wir in absoluten Zeiteinheiten schät-zen, müssten wir dann das gesamte Backlog neu schätzen. Daher schätzen wir relativ mitdiesen Karten. Ihr findet die Karten mit den Werten 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 40 und 100 ineurem Stoß. Bis zur 21 wurde absichtlich eine Fibonacci-Folge gewählt, damit ihr euch be-wusst überlegen müsst, wie groß ein Element ist – sonst passiert es oft, dass immer dasDoppelte geschätzt wird, ohne das zu hinterfragen. Über 21 werden dieWerte so groß unddamit so ungenau, dass die Fortführung von Fibonacci keinen Sinn macht. Ich definierejetzt willkürlich, dass die Planung unseres Sprints den Wert „3“ erhält, da es vermutlichunser kleinstes Element ist. Bitte schätzt alle weiteren Elemente des Product Backlogs re-lativ im Vergleich zu diesem Punkt. Wenn ihr also glaubt, die allgemeine Scrum-Schulungwäre doppelt so aufwändig wie die Sprintplanung, dann dürft ihr euch für eine 5 oder ei-ne 8 entscheiden. Die Karten werden dann gleichzeitig umgedreht und über Unterschiedewird diskutiert. Lasst es uns einfach mal ausprobieren. Marc, als Scrum Master darfst dunicht mitschätzen. Aber du arbeitest auch als Teammitglied mit – eine Situation, dieman inEntwicklungsteams vermeiden sollte, in einem Führungsteam aber normal ist. Also darfstdu schätzen, wenn du willst. Steffen, als Product Owner darfst du nicht mitschätzen. Dafürdarfst du Fragen beantworten und Entscheidungen treffen.“

Anfangs noch etwas unsicher beginnen die Anwesendenmit der Schätzung. Das zweiteProduct Backlog Item wird vom Product Owner nochmals kurz beschrieben, dann haltenalle die Karten verdeckt vor sich. Gleichzeitig werden sie umgedreht. Der Coach kommen-tiert das Bild: „Okay, wir haben hier dreimal die 5, dreimal die 8, einmal die 21 und einmaldie 1. Anne, du hast die 21. Könntest du uns bitte erklären, warum?“

„Aber gerne. Mit der Planung des Sprints sind wir spätestens morgen Abend fertig. Soeine allgemeine Schulung dauert aber zwei Tage. Zwei Tage mal neun Personen sind 18,deshalb habe ich mich für die 21 entschieden.“

Der Coach greift ein: „Vorsicht Anne, es war nicht Ziel der Aufgabe, Personentage ab-zuschätzen, sondern die relative Größe der Elemente zueinander. Dieser Fehler wird oftgemacht – bitte versuche ihn im nächsten Durchgang zu vermeiden. Sarah, du hast dichfür die 1 entschieden. Warum?“

Sarah: „Naja, eigentlich halte ich beide Elemente für gleich groß, denn beide benötigenzwei Tage für uns alle. Allerdings glaube ich nicht, dass wir zwei Tage brauchen. Durchunseren Coach sind wir schon so gut vorbereitet, dass es auch ein Tag tun müsste. Deshalbdie eins.“

Steffen ist erfreut: „Hey, dann können wir ja schon beim zweiten Element Zeit sparen!Klasse!“

Alle lachen. Der Coach klärt auf: „Ja, das würde hier sogar wirklich funktionieren. Ihrmerkt, dass es beim Planning Poker gar nicht so sehr um eine perfekte Schätzung geht,sondern um die Diskussion miteinander. Wir haben durch die Schätzung gerade eine Un-schärfe in der Anforderung entdeckt, die unser Product Owner aufklären muss. Auch wirduns allen immer klarer, was eigentlich gefordert ist. Die Schätzung dazu ergibt sich am En-de fast von selbst. Euer Product Owner hat gerade klargestellt, dass es kein Standardkursfür euch sein muss, sondern auch einer sein kann, der genau auf eure Bedürfnisse zuge-

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130 14 Die Scrum-Einführung

schnitten ist. Als euer Coach kann ich euch versichern, dass wir das durch unsere ständigeZusammenarbeit auch an einem Tag schaffen. Bitte schätzt neu.“

Alle Beteiligten entscheiden sich wieder für Karten und halten diese verdeckt vor sich.Als alle umgedreht sind, schwanken die Werte zwischen eins und zwei. Der Coach legtdas Ergebnis fest: „Wenn wir so dicht beieinander liegen, nehmen wir einfach die größereZahl. Eine Größenordnung kleiner oder größer spielt beim Planning Poker keine großeRolle, da diese Schätzungen erst durch die Teamgeschwindigkeit, die so genannte Velocity,eine Planbarkeit ermöglichen. Sind die Schätzungen höher, steigt auch die Velocity, dahermüssen wir uns hier keine Sorgen machen.“

Gemeinsam werden alle Punkte geschätzt und es geht immer schneller von der Hand.Nach einer halben Stunde liegt ein erstes Ergebnis vor:

1. Unseren Sprint planen – 32. Allgemeine Scrum-Schulung für die Führungskoalition – 23. Product Owner Schulung für Steffen – 14. ScrumMaster Schulung für Marc – 15. Larry überzeugen – 26. Vision und Ziele an das gesamte Unternehmen kommunizieren – 407. Unser Product Backlog für alle transparent machen – 18. Projekt auf Scrum umstellen – 1009. Projektablauf überwachen – 100

Während einige Punkte sehr klar zu sein scheinen, besteht große Unklarheit bei an-deren. Klar ist zum Beispiel, dass Vision und Ziele vielfach und dauernd kommuniziertwerden müssen – aber wie genau liegt noch im Dunkeln. Was für die Umstellung einesProjektes auf Scrum nötig ist, stellt für alle, abgesehen vom Coach, noch eine große Un-bekannte dar. Steffen schlägt daraufhin vor, die Punkte in kleinere Aufgaben herunter zubrechen, sofern nötig. Für die Projektumstellung gelingt dies noch nicht, für die Kommu-nikation der Ziele aber schon. Nach kurzer Diskussion ändert sich das Product Backlog:

1. Unseren Sprint planen – 32. Allgemeine Scrum-Schulung für die Führungskoalition – 23. Product Owner Schulung für Steffen – 14. Scrum Master Schulung für Marc – 15. Larry überzeugen – 26. Kommunikationskonzept erstellen – 37. Unser Product Backlog für alle transparent machen – 18. Vision und Ziele an das gesamte Unternehmen kommunizieren – 409. Projekt auf Scrum umstellen – 10010. Projektablauf überwachen – 100

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14.3 Die Führungskoalition 131

Das Notfall Power Team entscheidet sich dafür, mit diesem Product Backlog zu begin-nen. Allen ist bewusst, dass hier noch viel Feinarbeit nötig ist, diese kann aber auch parallelzur Lösung der ersten Aufgaben weitergehen.

Als letzte Aufgabe für den Tag bittet der Coach dann alle Beteiligten, Ihre Beweggründefür die Mitarbeit im Notfall Power Team auf Klebezettel zu schreiben. Dabei ist Offen-heit und Ehrlichkeit enorm wichtig2 . Die Ergebnisse überraschen alle Beteiligten: Zwartaucht auch die Rettung des Unternehmens auf, allerdings nur untergeordnet. Viel häufi-ger kommen Begriffe wie „Karriere“, „Herausforderung“, „Stabilität“ und „Spaß“ vor. Esscheint so, als hätte jeder Einzelne im Team seine ganz persönlichen Beweggründe, sichüberdurchschnittlich zu engagieren und das Unternehmen zu retten. Erstaunlich ist, dassjeder persönliche Beweggrund sich mit der gemeinsam verfassten Vision (inklusive derdazugehörigen Ziele) vereinbaren oder sogar fördern lässt. Das scheint der Grund zu sein,weshalb dieseVision eine so großeKraft auf dieMitglieder des Notfall Power Teams ausübt.Mit diesen Erkenntnissen geht das Team etwas nachdenklich wieder auseinander.

Am dritten Tag plant das Team seinen Sprint. Es entscheidet sich für eine Sprintlän-ge von zwei Wochen und prognostiziert, dass es die ersten sieben Elemente des ProductBacklogs in dieser Zeit abschließen wird. Es entsteht auch ein präziser Plan, wie genau dieeinzelnen Aufgaben angegangen werden sollen. Nachdem noch einige Absprachen zu Ter-minen stattgefunden haben, fährt die Gruppe wieder nach Hause.

Am nächsten Arbeitstag klingelt schon um 7:00 Uhr das Handy von Steffen. Frederickberichtet aufgeregt: „Steffen, gut dass ihr wieder da seid! Die letzten drei Tage war hier derTeufel los. Irgendjemand hat begonnen, Horrorgeschichten über das Ende des Unterneh-mens zu verbreiten. Die Gerüchteküche brodelt. Wir müssen sofort etwas unternehmen!“

Steffen trommelt sein Führungsteam zusammen und gemeinsam erforschen sie dieQuelle der Unruhe. Es kristallisiert sich ein eindeutiges Bild heraus: Larry scheint in ge-wohnt destruktiver Manier während einer seiner Mittagspausen ein paar Halbwahrheitenan seine Kollegen kommuniziert zu haben. Wie das so geht, wurden die Geschichten dannimmer größer und größer, bis die Parole auf den Gängen kursierte, das Unternehmenwerde bis Ende des Quartals die Hälfte der Mitarbeiter entlassen. Wie ein Eitergeschwürist die Gerüchteküche während der letzten drei Tage immer weiter gewuchert und brauchtjetzt dringend eine Behandlung.

Das Notfall Power Team beratschlagt, was hier zu tun sei. Schließlich fasst es einenEntschluss: Um die aktuellen Gerüchte zu widerlegen, wird Steffen eine E-Mail an alleMitarbeiter senden. Darin wird er auch alle Mitarbeiter zum Sprint Review in zwei Wo-chen einladen. Außerdem werden sowohl das Product Backlog als auch das Sprint Backlogdes Teams für alle sichtbar in der Kantine aufgehängt. Um Gerüchte in Zukunft zu un-terbinden, wird eine Gerüchtewand in der Kantine aufgehängt. Diese wird täglich durchdas Team überprüft und beantwortet. Den Anfang macht dasThema „Belegschaft bis zum

2 Normalerweise ermittelt man diese Beweggründe eher in 4-Augen-Gesprächen, da meist anfangsnicht genug Vertrauen vorhanden ist, um hier ehrlich zu antworten. Zur Vereinfachung habe ich hiervorausgesetzt, dass bereits ein tiefes Vertrauen zwischen allen Beteiligten entstanden ist.

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132 14 Die Scrum-Einführung

Quartalsende abbauen“. Die Antwort wird gleich dazugehängt: „Das ist Blödsinn.Wir wer-den bis zumEndedes Jahres keine betriebsbedingtenKündigungen aussprechen,wenn sichdie wirtschaftliche Lage des Unternehmens nicht weiter verschlechtert.“

Der Grundstein für offene Kommunikation ist gelegt.

14.4 Vision und Strategie

In den kommenden zweiWochen hat das Team alle Hände voll zu tun. Schulungen werdengeplant und durchgeführt, am Kommunikationskonzept wird gefeilt und es finden diverseGespräche mit Larry statt. Darüber hinaus verlangt der Coach aber auch weitere strategi-sche Arbeit vom Team, die sich hauptsächlich mit Vision und Kommunikation befasst. Ersagt: „Wir haben bereits einen ersten Entwurf unserer Vision und Strategie erstellt. Wie be-reits angekündigt, müssen wir aber daran noch etwas feilen. Immerhin bilden diese beidenPunkte das Fundament unseres Veränderungsprozesses.“

Alle Blicke wandern zum Plakat mit der Vision und der Coach liest dieses erneut lautvor: „UnserUnternehmen steckt in einer tiefenKrise.Umunsere Schließung in 18Monatenabzuwenden und das Unternehmen zu retten, müssen wir:

• Die Kundenzufriedenheit verfünffachen (maximal 50 Kündigungen proMonat statt bis-her 250)

• Die Mitarbeiterzufriedenheit verdreifachen (5% Fluktuation pro Jahr statt bisher 15%)• Schneller auf Kundenwünsche reagieren und in spätestens zwei Monaten (statt bisher 9)den Kundenwunsch in unserer Software implementiert haben.

• Unsere Produktivität objektiv messen und mindestens verdreifachen.

Um diese Ziele zu erreichen, werden wir unser kritischstes Softwareentwicklungspro-jekt innerhalb des nächstenMonats auf Scrum umstellen, ein agiles Produktentwicklungsf-ramework. Scrum ermöglicht es uns, schnell auf Anforderungen zu reagieren und die Pro-bleme aufzudecken, die der Erreichung der oben genannten Ziele entgegenstehen. Dannwird das weitere Vorgehen geplant und kommuniziert. Das Notfall Power Team hat dabeidie Aufgabe, diese Umstellung anzuführen und zu begleiten.“

Er lässt die Vision kurz wirken, dann fährt er fort: „Meine Damen und Herren, eineVision sollte immer eine klare Richtung hin zu einer erstrebenswerten Zukunft vorgeben.Ist unsere Vision erstrebenswert?“

„Natürlich ist sie das! Sonst sind wir in 18 Monaten pleite!“Marc schüttelt denKopf: „Für unsere gutenMitarbeiter ist das kein Problem.Die suchen

sich halt einen neuen Job. Es braucht schon mehr, damit die Vision für jeden Einzelnenerstrebenswert wird.“

Peter ergänzt: „Wir sind nicht transparent genug.“Mittlerweile haben alle Schulungen für das Notfall Power Team stattgefunden. Entspre-

chend hoch ist dasWissen der Gruppe über Scrum und seine Vorteile. Gemeinsamwerden

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14.4 Vision und Strategie 133

die entsprechenden Punkte herausgearbeitet. Am Ende entsteht ein Plakat mit der Über-schrift „Wir wollen Scrum, weil“:

• klare Verantwortlichkeiten definiert sind.• während einer Iteration das Team in Ruhe arbeiten kann.• das Entwicklungsteam selbst entscheiden darf, wie es die Anforderungen umsetzt.• es jemanden gibt, der für das Entwicklungsteam Probleme aus der Welt schafft.• das Scrum Team seinen Prozess selbst verbessern darf.• der Kunde einen einzelnen Ansprechpartner hat.• der Kunde jederzeit Wünsche einbringen kann.• wünsche des Kunden innerhalb kürzester Zeit umgesetzt werden können.• die Qualität des Produktes im Mittelpunkt steht und nicht aufgrund von Termindruckvernachlässigt wird.

Die Führungskoalition beschließt, diese Punkte unterhalb der bisherigen Vision mitaufzunehmen. Anne springt aber sofort ein Makel ins Auge: „Wir reden viel über Scrumundwissen auch, was damit gemeint ist. Die übrigenMitarbeiter wissen das aber nicht.Wirsollten unbedingt Kurzeinführungen für alle Mitarbeiter anbieten.“

Der Coach stimmt zu: „In anderen Unternehmen werden jede Woche ein- bis zwei-stündige Einführungsveranstaltungen angeboten, die jedeWoche am gleichen Tag und zurgleichen Zeit stattfinden. Das ermöglicht es den Mitarbeitern, auf einfache Art und Weisemit demThema in Kontakt zu kommen und Grundlagenwissen aufzubauen.“

Es wird beschlossen, dassMarc dieseVeranstaltungen planen und durchführen soll, wo-bei der Coach beim ersten Mal noch unterstützend mitwirkt. Dieses Vorgehen bietet auchden Vorteil, dass Marc auf diese Weise aus erster Hand erfährt, welche Fragen die Mitar-beiter beimThema Scrum bewegen. Christina meldet sich zuWort: „Wollen wir eigentlichwirklich nur ein Team auf Scrum umstellen, oder zielen wir auf die ganze Organisationab? Nachdem wir so viel über Scrum gelernt haben, glaube ich, dass wir dann am meistenaus diesem Framework herausholen können, wenn wir es auf das gesamte Unternehmenanwenden.“

„Du hast Recht, Christina“, antwortet Steffen, „allerdings möchte ich unseren Mitar-beitern keine Angst machen. Die Umstellung der gesamten Organisation bedeutet eine sogroße Veränderung, dass die meisten Kollegen Angst davor haben werden. Im Gegensatzdazu ist es leichter erträglich, dass nur ein Pilotteam auf Scrum umgestellt wird.“

Peter meldet sich zu Wort: „Wir sollen doch unsere Vision vorleben. Offenheit – unddamit Ehrlichkeit – ist ein Grundwert von Scrum. Sollten wir dann nicht klar und deutlichkommunizieren, was Sache ist?“

Es bricht eine teilweise hitzige Debatte aus. Begriffe wie Ehrlichkeit, Integrität und Per-spektive beherrschen dieDiskussion. Letzten Endes einigt sich das Teamaber darauf, einigeSätze der Vision zu ändern:

Damit diese Ziele erreicht werden können, müssen wir uns langfristig verändern. Um dieAnwendbarkeit neuer Ansätze für das Unternehmen zu testen, werden wir unser kritischstes

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134 14 Die Scrum-Einführung

Softwareentwicklungsprojekt innerhalb des nächstenMonats auf Scrum umstellen, ein agilesProduktentwicklungsframework.

Die Gruppe ist zufrieden mit der aktuellen Lösung. Allerdings wird allen langsam klar,dass die Ziele sich während der nächsten Monate verändern werden. Zunächst wird einProjekt auf Scrum umgestellt, in Abhängigkeit von den Erfahrungen werden aber weitereProjekte folgen. Vermutlich wird ScrumPRNdann nichtmehr reichen und ein Studio oderTiefen-Scrum könnte nötig werden. Das würde sich selbstverständlich auch auf die Zieleauswirken, möglicherweise sogar auf die Vision. Das Notfall Power Team beschließt, wäh-rend seiner Retrospektiven, also alle zwei Wochen, Vision und Ziele zu überprüfen. DerCoach fokussiert die Gruppe wieder: „Sehr schön, für den Moment sind wir alle mit derVision und den Zielen zufrieden. Lasst uns überprüfen, obwir alle erforderlichenKriterieneingehalten haben. Erfüllt unsere Vision die Bedürfnisse der Betroffenen?“

Nach kurzem Zögern schaltet sich Anne ein: „Na ja, grundsätzlich wollen Menschenüber ihr eigenes Schicksal bestimmen. Scrum hilft hier, indem es Verantwortung in dasEntwicklungsteam gibt. Das haben wir auch durch unsere Ergänzung der Vision deutlichgemacht. Also: Ja.“

Sarah wirft ein: „Was ist mit Sicherheit? Wenn die Mitarbeiter sich nicht sicher fühlen,sind alle anderen Bereiche irrelevant.“

Steffen schlägt vor, einen weiteren Punkt in die Aufzählung aufzunehmen:

• Keine betriebsbedingten Kündigungen aussprechen, damit uns dieMitarbeiter als wich-tigstes Kapital des Unternehmens erhalten bleiben.

Das findet allgemeinen Anklang. Das Team überlegt weiter, ob alle Bedürfnisse erfülltsind, kommt aber auf keine neuen Ideen. Es wird beschlossen, Änderungen vorzunehmen,wenn erste Rückmeldungen aus der Belegschaft eingetroffen sind. Der Coach stellt seinezweite Frage: „Sind unsere Ziele herausfordernd, aber gleichzeitig machbar?“

Sofort ist klar, dass die Ziele herausfordernd sind. Eine Vervielfachung aller wichtigenBereiche ist nicht mit Links zu schaffen. Die Machbarkeit ist da schon die größere Hürde:Zwar haben alle das Gefühl, dass es machbar sein müsste, aber keinerlei Datenmaterial,welches dies belegen würde. Um Sicherheit und Glaubwürdigkeit zu erreichen, ist solchesZahlenmaterial aber wichtig. Alle schauen sich die einzelnen Ziele nochmals genau an:

• Die Kundenzufriedenheit verfünffachen (maximal 50 Kündigungen proMonat statt bis-her 250)

• Die Mitarbeiterzufriedenheit verdreifachen (5% Fluktuation pro Jahr statt bisher 15%)• Schneller auf Kundenwünsche reagieren und in spätestens zwei Monaten (statt bisher 9)den Kundenwunsch in unserer Software implementiert haben.

• Unsere Produktivität objektiv messen und mindestens verdreifachen.• Keine betriebsbedingten Kündigungen aussprechen, damit uns dieMitarbeiter als wich-tigstes Kapital des Unternehmens erhalten bleiben.

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14.4 Vision und Strategie 135

Anne meldet sich zu Wort: „Wir könnten den letzten Punkt abdecken, indem Sarahmit Ihrem Controllingteam nochmals prüft, ob wir wirklich die nächsten 18 Monate aufbetriebsbedingte Kündigungen verzichten können, wenn die Lage des Unternehmens sichnicht verändert. Anschließend könnten wir eine offizielle Vereinbarung mit dem Betriebs-rat schließen. Etwas in der Richtung von: Wenn die Belegschaft unsere Bemühungen zurKonsolidierung des Unternehmens unterstützt und sich die wirtschaftliche Situation nichtwesentlich verschlechtert, werden wir niemanden betriebsbedingt kündigen.“

Die Idee wird ein wenig diskutiert, aber doch recht schnell für gut befunden. Für dieanderen Punkte ist eine Verifikation allerdings nicht möglich. Es fehlen einfach die Refe-renzdaten. Schließlich resigniert Steffen: „Wir müssen ein Referenzunternehmen aus unse-rer Branche finden, das noch dazu Kennzahlen zu den von uns angestrebten Zielen erfassthat und bereit ist, diese mit uns zu teilen.“

Gemeinsamwird beschlossen, dass alle Teammitglieder bis zum folgenden Tag eine Lis-te mit in Frage kommenden Unternehmen erarbeiten und diese dann abgeglichen werdensoll. Auch der Coach streut Erfahrungen mit ein, allerdings ist er an vielen Stellen vertrag-lich gebunden, keine Informationen herauszugeben. Lediglich beim Punkt „Produktivität“kann er konkrete Beispielzahlen liefern. Ansonsten ist das Team mehr oder weniger aufsich allein gestellt. Nach einer kurzen Erfrischungspause geht es weiter: „Ist unsere Visionspezifisch genug, um als Leitfaden zu dienen, aber generisch genug, um Spielräume zuzu-lassen?“ fragt der Coach.

Marc: „Wir haben klar gemacht, dass wir Scrum einführen und Kundenzufriedenheit,Mitarbeiterzufriedenheit, Produktivität sowie Reaktionszeit verbessern wollen. Das istdoch recht spezifisch. Spielraum ist auch vorhanden, denn außer dem Hinweis auf Scrumhaben wir nicht vorgegeben, wie genau diese Ziele zu erreichen sind. Ich glaube, wir habendieses Kriterium voll erfüllt.“

Man einigt sich darauf, auch hier erste Erfahrungen abzuwarten, obwohl alle Marc zu-stimmen. Was folgt, ist eine Prüfung der Kommunizierbarkeit. Die Diskussion zieht sichin die Länge, bis Peter irgendwann genug hat: „Leute, so kommen wir nicht weiter. Ich sa-ge: Probieren geht über studieren! Lasst uns einfach ausprobieren, ob wir Vision und Zieleinnerhalb von fünfMinuten vermitteln können.Wie wäre es mit Frederick? Ihn sollten wirsowieso auf den aktuellen Stand der Dinge bringen.“

Dieser äußerst pragmatische Vorschlag wird sofort in die Tat umgesetzt und kurz dar-auf ist Frederick mit im Raum. Hannah prescht vor und erörtert ihm Vision und Ziele.Nach weniger als einer Minute unterbricht Frederick sie: „Bisher habe ich alles verstanden,aber du hast gerade zweimal das Wort „Scrum“ benutzt. Was ist das – und warum geradeScrum?“

Hannah: „Was Scrum ist, haben wir allerdings nur nebenbei mit dem Ausdruck ,agilesProduktentwicklungsframework‘ erklärt. Wir haben vor, allen Mitarbeitern die Option zugeben, an einem wöchentlich stattfindenden Scrum-Schnellkurs teilzunehmen.“

„Dann sollten wir das vielleicht mit aufschreiben.“, schlägt Frederick vor. „Stehen dieTermine schon fest?“

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136 14 Die Scrum-Einführung

Marc nickt und fügt sofort einen Satz ganz unten an die Ergänzung an: „Wer Lust hat,mehr über Scrum zu erfahren, ist herzlich eingeladen, freitags von 14:00 Uhr bis 16:00 Uhrin Raum 357 einen Scrum-Schnellkurs mitzumachen. Ansonsten steht euch auch MarcBohnental unter der Durchwahl -333 gerne für Fragen zur Verfügung.“

Frederick ist zufrieden und ergreift die Initiative. Er ruft einen Kollegen aus derSoftware-fernen Rechtsabteilung dazu und Hannah erklärt Vision und Ziele erneut. DerKollege hat zwar einige Fragen, diese beziehen sich aber auf die praktische Umsetzungund nicht auf die Vision. Die Führungskoalition ist zufrieden. Der Coach schließt denTag ab: „Normalerweise wäre der letzte Schritt, die gesamte Vision nochmals grundlegendaus Sicht der Betroffenen zu hinterfragen. Das haben wir heute allerdings schon gemacht.Ich schlage vor, dass wir das erneut in zwei Wochen machen und dann unsere neuestenEindrücke direkt mit einfließen lassen.“

Alle sind damit einverstanden. Kurz danach ist der Besprechungsraum zwar verlassen,allerdings prangt auf großen Blättern Brownpaper die Vision mit ihren Zielen:

Unser Unternehmen steckt in einer tiefen Krise. Um unsere Schließung in 18 Monatenabzuwenden und das Unternehmen zu retten, müssen wir:

• Die Kundenzufriedenheit verfünffachen (maximal 50 Kündigungen proMonat statt bis-her 250)

• Die Mitarbeiterzufriedenheit verdreifachen (5% Fluktuation pro Jahr statt bisher 15%)• Schneller auf Kundenwünsche reagieren und in spätestens zwei Monaten (statt bisher 9)den Kundenwunsch in unserer Software implementiert haben.

• Unsere Produktivität objektiv messen und mindestens verdreifachen.• Keine betriebsbedingten Kündigungen aussprechen, damit uns dieMitarbeiter als wich-tigstes Kapital des Unternehmens erhalten bleiben.

Damit diese Ziele erreicht werden können, müssen wir uns langfristig verändern. Umdie Anwendbarkeit neuer Ansätze für das Unternehmen zu testen, werden wir unser kri-tischstes Softwareentwicklungsprojekt innerhalb des nächsten Monats auf Scrum umstel-len, ein agiles Produktentwicklungsframework. Scrum ermöglicht es uns, schnell auf An-forderungen zu reagieren und die Probleme aufzudecken, die der Erreichung der obengenannten Ziele entgegenstehen. Dann wird das weitere Vorgehen geplant und kommu-niziert. Das Notfall Power Team hat dabei die Aufgabe, diese Umstellung anzuführen undzu begleiten.

Wir wollen Scrum, weil:

• klare Verantwortlichkeiten definiert sind.• während einer Iteration das Team in Ruhe arbeiten kann.• das Entwicklungsteam selbst entscheiden darf, wie es die Anforderungen umsetzt.• es jemanden gibt, der für das Entwicklungsteam Probleme aus der Welt schafft.• das Scrum Team seinen Prozess selbst verbessern darf.• der Kunde einen einzelnen Ansprechpartner hat.

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14.5 Kommunikation 137

• der Kunde jederzeit Wünsche einbringen kann.• wünsche des Kunden innerhalb kürzester Zeit umgesetzt werden können.• die Qualität des Produktes im Mittelpunkt steht und nicht aufgrund von Termindruckvernachlässigt wird.

Wer Lust hat, mehr über Scrum zu erfahren, ist herzlich eingeladen, freitags von14:00 Uhr bis 16:00 Uhr in Raum 357 einen Scrum-Schnellkurs mitzumachen. Ansonstensteht euch auch Marc Bohnental unter der Durchwahl -333 gerne für Fragen zur Verfü-gung.

14.5 Kommunikation

Nach einem erholsamen und wohlverdienten Wochenende startet das Notfall Power Teamgestärkt in die neue Woche.

Der Coach beginnt: „Wir haben ja bereits besprochen, dass die Kommunikation derVision ein essentieller Bestandteil des Wandels ist. Wer nicht weiß, worum es geht, wirdauch nicht mitmachen. Wir haben auch bereits besprochen, dass diese Kommunikationeine Führungsaufgabe ist – und damit die Aufgabe der Führungskoalition.“

„Ja, das wissen wir schon.“, sagt Thomas. „Haben wir denn nicht schon mit der Kom-munikation begonnen?“

„Begonnen schon“, erwidert der Coach, „aber nicht geplant und nicht annähernd aus-reichend. Wann haben wir denn zum letzten Mal etwas an die Mitarbeiter kommuniziert?“

„Letzte Woche.“, weiß Steffen.„Eben! Dieser Wandel ist das wichtigste Thema des Unternehmens, denn wenn er fehl-

schlägt, sind wir in 18 Monaten arbeitslos. Dann sollte auch die Kommunikation einenentsprechenden Stellenwert einnehmen. Wir müssen nicht einmal die Woche kommuni-zieren, sondern mehrmals täglich. Ich möchte von euch, dass ihr euch Wege überlegt, wieihr mindestens dreimal am Tag über den Wandel kommunizieren könnt. Ihr habt zehnMinuten Zeit.“

Eifrig beginnen die Teammitglieder sich mit diesem neuen Gedanken zu beschäftigen.Nach zehn Minuten ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Es zeigt sich, dass viele gute Ide-en zusammengekommen sind. Die Führungskräfte glauben, in ihren normalen täglichenBesprechungen die Vision unterbringen zu können. Peter gibt sogar ein Beispiel: „Ges-tern hatte ich mein wöchentliches Statusmeeting mit einem Entwicklungsteam. Das habeich schon mit dem Hinweis auf die aktuelle Situation des Unternehmens und die damitverbundene Wichtigkeit des Projektstatus eingeleitet. Später habe ich dann noch daraufhingewiesen, dass unsere obersten Ziele die Verbesserung der Mitarbeiter- sowie Kunden-zufriedenheit sind, und habe die Teilnehmer gefragt, wie sie diese Ziele in ihrer täglichenArbeit umsetzen können. Dawaren sogar ein paar gute Ideen dabei – ganz unabhängig vonScrum.“

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Es folgen noch ein paar andere Beispiele von anderen Teammitgliedern und alle sindsich sicher, die geforderten drei Kommunikationen pro Tag schaffen zu können.Der Coachlässt aber nicht locker: „Ein guter Anfang! Diesen Kommunikationskanal haben wir alsoabgedeckt. Ein weiterer Kanal ist die Kantinemit unseren Backlogs und derGerüchtewand.Welche Möglichkeiten haben wir noch?“

Schnell kommt eine erhebliche Liste zusammen:

• E-Mails• Flugblätter• Plakate• T-Shirts• Aufkleber• Kugelschreiber• Persönliche Anschreiben per Post• 4-Augen-Gespräche• Informelle Gespräche in der Kaffeeküche• Vorträge in großer Runde• Workshops• Anlaufstelle für Rückfragen• Artikel in der Firmenzeitschrift• Diskussionsrunden• Diskussionsforen im Intranet

„T-Shirts und Kugelschreiber?“, fragt Hannah, „Wie sollen die uns denn bitte helfen?Dakriegen wir doch nichts drauf.“

Claudia antwortet: „So etwasmachenwir im Produktmanagement öfter gemeinsammitdem Marketing. Wenn wir auf anderen Kanälen ausführlich kommunizieren, dann reichtein Logo oderWort, um wieder Assoziationen zu wecken. Die Leute erinnern sich dann andas, was sie schon einmal gehört haben. So kann sogar ein Kugelschreiber helfen.“

Lange diskutiert die Gruppe, auf welchen Kanälen sie kommunizieren will. Schließ-lich fällt die Entscheidung, es auf allen erarbeiteten Wegen zu versuchen. Die Details dazusollen im Kommunikationskonzept, das sowieso Ende der Woche fällig ist, ausgearbeitetwerden. Besonderen Wert soll dabei auf interaktive Workshops für die Mitarbeiter gelegtwerden, da diese besonders gut im Gedächtnis haften bleiben und darüber hinaus auchwertvollen Input für das weitere Vorgehen liefern können.

Sarah ist aber noch nicht ganz glücklich mit dem Ergebnis: „Wie sorgen wir eigentlichdafür, dass alle Mitarbeiter von uns allen immer das Gleiche hören? Also dass die Informa-tionen auf allen Kanälen konsistent sind?“

„Lasst uns alle Fragen und alle Antworten, denen wir begegnen, sammeln. Wir könn-ten die dann auch gleich ins Intranet stellen“, schlägt Hannah vor. „So schlagen wir zweiFliegen mit einer Klappe: Wir finden die Informationen jederzeit schnell wieder und dieMitarbeiter können nachlesen, statt Gerüchten hinterherzulaufen.“

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14.6 Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen 139

DerCoach ergreift dasWort: „EuerVerhalten ist dasmaßgeblicheElement bei derKom-munikation des Wandels. Ich weiß, dass ich euch das eigentlich nicht sagen muss, aber esist wichtig, dass wir hier alle der gleichen Meinung sind. Stimmt ihr mir zu, dass die Mitar-beiter nur dann unserem Beispiel folgen, wenn wir genau das darstellen: ein vorbildlichesBeispiel?“

Seine Aussage findet allgemeine Zustimmung. Er fährt fort: „Dann lasst uns danachleben. Lasst uns bei allem, was wir tun oder sagen, vorher überlegen, ob das zu unsererVision passt und dem Unternehmen hilft.“

14.6 Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen

Die Kommunikation von Dringlichkeit, Vision und Zielen läuft gut an. Das Team erstelltnicht nur ein Kommunikationskonzept, sondern beginnt auch gleich damit, es in die Tatumzusetzen. Neben der aktiven täglichen Kommunikation findet Steffen die Zeit, einenBeitrag für die Firmenzeitschrift zu schreiben und Claudia setzt sich mit dem Marketingzusammen, um Flugblätter und Plakate zu entwerfen. Fragen der Mitarbeiter werden füralle sichtbar beantwortet, die Gerüchtewand in der Kantine füllt sich langsam. Täglichkommt das Notfall Power Team zusammen, um das weitere Vorgehen zu planen. Natür-lich wird dabei auch über Larry gesprochen. Alle Versuche, auch die durch einen Mediatorgeleiteten Gespräche, bringen keine Veränderung seiner Einstellung. Im Gegenteil: Lar-ry fühlt sich durch die plötzliche Aufmerksamkeit bestärkt und beginnt, eine Gruppe vonähnlich Denkenden um sich zu scharen. Er nennt diese Gruppe sogar „Resistance“. ZweiTage vor demReview bringt AnnedasThema nach demDaily Scrumwieder vor: „Ich glau-be, wir können Larry nicht für uns gewinnen. Er tritt jetzt aktiv in die Opposition ein undzieht andere mit.“

Trotz weiterer Gesprächsversuche, auch unter vier Augen, gelingt ein Einvernehmenmit Larry nicht. Im Gegenteil: Er reicht zum Bedauern aller seine Kündigung ein.

Am Tag des Reviews folgen über 100 Mitarbeiter der Einladung und finden sich in derKantine ein. Das Notfall Power Team beginnt zunächst damit, Dringlichkeit und Visionwieder zu erläutern. Dann erzählt Marc kurz, wie das Team sich selbst organisiert hat, undzeigt das Sprint Backlog:

1. Unseren Sprint planen – 32. Allgemeine Scrum-Schulung für die Führungskoalition – 23. Product Owner Schulung für Steffen – 14. ScrumMaster Schulung für Marc – 15. Larry überzeugen – 26. Kommunikationskonzept erstellen – 37. Unser Product Backlog für alle transparent machen – 1

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Abwechselnd stellt das Team dann die Ergebnisse des letzten Sprints vor. Es gibt einigeRückfragen, aber bis zum fünften Punkt keine Diskussion.Hier wird aber schon beim Vor-lesen des Punktes Gemurmel laut. Anne ergreift das Wort: „Larry ist ein guter Architektund wir haben seine fachliche Arbeit sehr geschätzt. Leider waren seine sozialen Fähigkei-ten nicht so gut ausgeprägt. Er hat sich nicht nur gegen dieVeränderungen ausgesprochen –was das Recht jedes einzelnen ist – sondern er hat uns vielfach beleidigt und sogar aktivgegen das Unternehmen gearbeitet. Gerade angesichts der Krise, in der wir uns befinden,war das nicht tolerierbar. Am Ende ist der Streit eskaliert und Larry ist einer Kündigungdurch uns durch seine eigene zuvor gekommen.3“

Die folgende Diskussion wird zwar laut, bleibt aber im Großen und Ganzen sachlich.Es werden Erklärungen und Beispiele gefordert, die Mitarbeiter wollen wissen, was getanwurde, um Larry zu halten. Allerdings werden auch ein paar Stimmen laut, die eher er-leichtert über den Weggang des „Egozentrikers“ Larry sind. Am Ende der Diskussion istallen klar, dass hier wirklich alles versucht wurde, um Larry zu halten, ja dass Larry sostark in den Mittelpunkt gerückt wurde, wie zuvor noch kein Mitarbeiter, der sich falschverhalten hatte. Niemand behält das Gefühl, dass Larry vomManagement falsch oder un-gerecht behandelt wurde. Das Vertrauen der Mitarbeiter wächst durch die Offenheit derFührungskoalition sogar noch.

Bei der Vorstellung des Kommunikationskonzeptes entsteht eine produktive, fachlicheDiskussion.Viele der Anwesenden haben gute Ideen. Das Teamnotiert diese eifrigmit undhängt sie gut sichtbar für alle auf. Am Ende ist sich das Team einig: Das Kommunikations-konzept konnte gemeinsamverbessertwerden.AmEndederVeranstaltung fragt derCoachnoch in die Runde, welche Punkte die Anwesenden denn gerne vom Notfall Power Teamumgesetzt sehen würden. Jeder darf vor dem Gehen noch einen Punkt auf ein Kärtchenschreiben und an die Wand hängen. Lediglich der Name muss vermerkt sein, damit Rück-fragen möglich sind. Es kommen fast 30 Punkte zusammen, von denen einige sogar in denKontext der Scrumeinführung passen. Der Coach nickt in Richtung derWand und sagt zuSteffen: „So, lieber Product Owner, das war gerade deine erste Stakeholderbefragung. Einwenig Input für dein Product Backlog. Das solltest du ab jetzt öfter machen.“

Zur Planung des nächsten Sprints hat die Gruppe auf Veranlassung des Coaches verein-bart, noch einen umfangreichen Workshop durchzuführen. Dieser führt aus: „Nachdemwir Dringlichkeit, Vision und Ziele erfolgreich kommuniziert haben, kommt die eigentli-che Arbeit auf uns zu. Das Kommunikationskonzept steht und die nächste Sprintplanungist erst in zwei Wochen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir bis dahin noch einige an-dere Dinge tunmüssen, als zu kommunizieren.Wirmüssen unsereMitarbeiter befähigen.“

3 Dieses Beispiel ist bewusst überzeichnet. Es geht hier nicht darum, Larry „an den Pranger“ zu stel-len, sondern in denDialogmit den übrigenMitarbeitern einzutreten und die Folgen vonArbeit gegendas Unternehmen deutlich zu machen. Die Glaubwürdigkeit einer Führungskoalition ist gefährdet,wenn sie massives Fehlverhalten unterstützt. Dies ist eine Gratwanderung, bei der das Vertrauen zuden Mitarbeitern behalten und gestärkt werden muss. Nur wenn alles Mögliche zum Halten Larrysgetan wurde und von den übrigen Mitarbeitern auch so gesehen wird, ist eine Trennung ohne Schä-digung des Vertrauens möglich.

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„Befähigen?“, fragt Thomas. „Aber unsere Mitarbeiter sind doch befähigt. Sie sollendoch mitmachen, oder?“

„Na ja“, sagt der Coach, „von uns aus stimmt das. Aber aus Sicht der Mitarbeiter bin ichmir da noch nicht so sicher. Wen müssen wir eigentlich befähigen?“

Marc formuliert seine Idee: „Also zu Anfang wollen wir ja eine Scrum PRN Implemen-tierung für ein einzelnes Produktteam. Reicht es da nicht, wenn die zu Anfang befähigtsind?“

Peter fügt hinzu: „Wir sollten allerdings die mit diesem Team zusammenhängendenBereiche wie Produktmanagement und IT-Betrieb nicht vergessen. Auch die müssen jamithelfen.“

Der Coach übernimmt wieder: „Wir haben vier Kernprobleme, die wir lösen müssen:Misstrauen, mangelnde Fähigkeiten, die Einstellung der Mitarbeiter und hemmende Fak-toren.“

„DasMisstrauen haben wir doch schon überprüft. Bis auf Larry hat uns jeder vertraut.“,meint Sarah. „Da sehe ich aktuell keinen Handlungsbedarf.“

„Stimmt.“, ergänzt Steffen, „Solange wir weiter das vorleben, was unsere Vision fordert,sollten wir auf der sicheren Seite sein. Was ist mit den Fähigkeiten? Entwickeln könnenunsere Mitarbeiter doch?“

Peter beantwortet die Frage: „Natürlich. Aber sie haben bisher nie nach Scrum gearbei-tet. Da werden zusätzlich noch weitere Fähigkeiten benötigt. Außerdem wollen wir Kun-denorientierung – ein ganz neues Feld für die meisten Entwickler.“

„Okay, ich nehme die beiden Schulungspunkte für Scrum und Kundenorientierung inunser Backlog mit auf. Die Reihenfolge können wir ja auch später noch festlegen.“, stimmtSteffen zu. „Um den nächsten Punkt gleich vorweg zu nehmen: Ich fand die Einstellungunseres auserkorenen Teams eigentlich recht positiv. Sieht da jemand Handlungsbedarf?“

Allgemeines Kopfschütteln. Steffen fährt fort: „Okay, also machen wir da im Momentauch nichts. Was aber sind hemmende Faktoren?“

Der Coach erklärt: „Das sind Strukturen, Systeme und auch Vorgesetzte, die dazu bei-tragen, dass der Wandel behindert wird. In unserem Fall also alles, was die Scrumeinfüh-rung behindert. Einen Punkt hatten wir sogar schon identifiziert: dass alle Entwickler anmehreren Projekten gleichzeitig arbeiten. Hier hatte Claudia angeboten, die Entwickler et-wa zu gleichen Teilen auf die Projekte zu verteilen und so ein voll verfügbares Team fürunser primäres Projekt zu bekommen.Wir hätten natürlich auch ohne diese Übereinkunftstarten können, aber dann hätte unser Projektteam nicht so produktiv sein können, wie esdas jetzt kann.“

Die Diskussion geht noch ein paar Minuten weiter, dann erfolgt das Brainstorming.Alle Anwesenden sammeln alles, was ihnen zu „hemmenden Faktoren“ einfällt. Nach einerGruppierung werden einige der Punkte als „im Moment nicht relevant“ eingestuft und anMarc als ScrumMaster der Führungskoalition übergeben. Übrig bleibt die folgende Liste:

• Wir haben bislang Programmierer und einen Architekten im Entwicklungsteam, aberkeine Tester.

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• Die genaue Teamzusammensetzung ist noch unbekannt.• Die Infrastruktur für die Entwicklungsumgebung ist noch nicht verfügbar.• Neue Entwicklungsserver werden dringend benötigt, können aber nicht bestellt werden,da das Budget für dieses Jahr schon festgelegt ist.

• Die Entwickler sind noch Scrum-Anfänger.• Die Entwickler haben Desktop-Computer, aber keine Laptops.• Es gibt keinen Raum, in dem alle Entwickler des Teams gemeinsam arbeiten können.• Es existiert noch keine Definition, wie das Entwicklungsteam seine Arbeitsergebnissequalitätssichern und in die Produktion geben kann.

Thomas schaltet sich ein: „Wieso brauchen wir denn Tester im Team?Unser Prozess legtdoch ganz klar fest, dass die Endabnahme durch meine Leute erfolgt.“

Peter: „Die Entwicklungsteams müssen jeden Sprint fertige Software abliefern.Würdestdu etwa ungetestete Software als fertig bezeichnen?“

„Natürlich nicht.“, verteidigt sich Thomas. „Aber wir können ja jeweils im Folgesprintdie Ergebnisse des letzten Sprints testen.“

„Das bedeutet doch, dass wir Fehler frühestens imFolgesprint finden. Die dann zu repa-rieren würde erfordern, dass die Entwickler sich wieder neu in die Aufgabe eindenken. Dasdauert doch viel zu lange – und kostet Geld“, mischt sich Claudia ein. „Thomas, wenn ichim Produktmanagement auf meine Kronjuwelen verzichte, dann solltest du das auch tun.Ich bin dafür, dass du deine Leute direkt in die Entwicklungsteams steckst. Disziplinarischkönnen sie ja bei dir bleiben.“

„Aber das geht doch nicht! Dann habe ich ja gar keinen Zugriff mehr auf sie. Das Ta-gesgeschäft bleibt dann doch liegen“, baut ThomasWiderstand auf.

Claudia kontert: „Wenn die Fertigstellung der Software oberste Priorität hat, musst dudas wohl in Kauf nehmen. Genau wie ich hast du dann eben nicht mehr den Zugriff aufalle Mitarbeiter, sondern musst ein wenig umdisponieren. Hast du denn schon vergessen,wie es um unser Unternehmen steht?“

„Natürlich nicht“, gibt Thomas zu. „Aber es gefällt mir trotzdem nicht.“Der Coach schaltet sich ein: „Thomas, ich kann deine Gefühle verstehen. Es fühlt sich

an, als würde man dir etwas wegnehmen, das dir wichtig ist. Mach dir keine Sorgen: Nie-mand nimmt dir etwas weg. Im Gegenteil, deine Verantwortung wird noch höherwertiger.Wenn die operativen Aufgaben innerhalb der Entwicklungsteams erledigt werden, hast dumehr Zeit für strategische Themen. Zum Beispiel brauchen wir auf jeden Fall noch einausgefeiltes Testkonzept für unser Produkt – das alte passt nicht mehr auf die heutigen An-forderungen. Wir müssen auch klar definieren, wie ein Stück Software vom Rechner desEntwicklers bis in die Produktion kommt.“

Thomas’ Gesicht hellt sich auf: „Das wollte ich schon lange überarbeiten. Das alte Kon-zept stammt noch aus denNeunzigern.Wegen der ganzenmanuellen Testerei sindwir dazubislang nicht gekommen.“

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„Sehr schön“, meldet sich Steffen zu Wort. „Dann suche bitte ein paar gute Leute aus,die dann voll in unser erstes Scrum-Team wechseln. Apropos: Wir müssen unbedingt dieTeamzusammensetzung festlegen.“

„Wieso lassen wir das nicht die Entwickler selbst machen?“, fragt der Coach. „Sie müs-sen schließlich miteinander arbeiten. Wir müssten lediglich ein paar Rahmenbedingungenvorgeben, zum Beispiel die maximale Teamgröße.“

Endlich eine Möglichkeit, das Phänomen der Selbstorganisation an einem realen Bei-spiel auszuprobieren. Peter bekommt den Auftrag, die Entwickler zusammen mit Thomaszu informieren, damit auch die Tester direkt integriert werden können. Der Coach gibtnoch ein paar Tipps: „Das Entwicklungsteam darf neun Personen nicht überschreiten, wo-bei sieben besser wären. Darüber gibt es zu viele Kommunikationswege und das Teamzerfällt automatisch in kleinere Subteams. Das Team muss außerdem in der Lage sein,am Ende jedes Sprints fertige Software zu liefern – dessen müssen sich die Kollegen be-wusst sein und entsprechende Rollen auswählen. Die Erfahrung zeigt, dass etwa genausoviele Tester wie Programmierer benötigt werden, wobei die Tester auch Programmcode inForm von automatisierten Tests schreiben müssen. Mit diesen Informationen sollten dieEntwickler binnen einer Stunde ein Team bilden können.“

So wird es gemacht. Während einer Pause informieren Peter und Thomas die Ent-wickler und erteilen den Auftrag, ein Team zu formen. Kurz darauf sitzen alle wiederzusammen.

Hannah beginnt: „Im IT-Betrieb haben wir noch keine Entwicklungsumgebung ver-fügbar. Unsere aktuellen Tools sind nicht dafür geeignet, kontinuierlich zu integrieren undzu testen. Auch können wir noch keine Codezweige anlegen oder sinnvoll automatisierttesten. Zum einen fehlen uns die Server. Wir können die benötigte Rechenpower einfachnicht bereitstellen. Diese Server sind aber nicht eingeplant und können daher nicht bestelltwerden. Zum anderen habenwir die benötigten Tools noch nicht evaluiert und angeschafft.Bis wir sicher sind, dass die neuen Tools in unsere IT-Landschaft passen, können schon einpaar Monate vergehen. Wir wollen ja nichts zerstören.“

Steffen kontert: „Das verstehe ich. Auch ich will unsere IT nicht gefährden. Allerdingsmüssen wir unser Team ans Fliegen bekommen – du kennst unsere Dringlichkeit. Überwelche Softwarekomponenten reden wir eigentlich?“

„Das sind einerseits Serverapplikationen zur zentralen Quellcodeverwaltung und zurUnterstützung der Entwicklung“, beantwortet Hannah die Frage ausführlich, „auf den Ar-beitsplatzrechnern wiederum muss eine integrierte Entwicklungsumgebung, eine so ge-nannte IDE installiert werden, die gut mit den Serverkomponenten zusammenarbeitet.Außerdem brauchen wir noch ein paar Tools zur Qualitätsmessung der geleisteten Arbeit,die ebenfalls kompatibel sein müssen.“

„Wenn wir sowieso neue Server anschaffen, können wir die dann nicht so abtrennen,dass bei Problemen mit den genannten Programmen kein Schaden an unserer sonstigenIT-Infrastruktur entsteht?“, legt Steffen nach.

Hannah denkt einen Moment angestrengt nach. Dann sagt sie: „Das könnte wohl fürdie Server möglich sein. Aber die Mitarbeiter müssen auch auf das Dateisystem und auf

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Ihre E-Mails zugreifen können. Dazumüssen sie an unser normales Netzwerk. Ich fürchte,Querwirkungen lassen sich nicht ganz ausschließen.“

„Okay, das verstehe ich.“, überlegt Steffen. „Wir müssen aber schnellstmöglich – unddamit meine ich nächste Woche – arbeitsfähig sein. Ich mache dir einen Vorschlag: Ichkümmere mich darum, dass deine Bestellanforderung für Server und Software bewilligtwird. In dieser Zeit erarbeitest du eine Lösung, wie wir auch ohne die langwierige Evaluie-rungsphase starten können.Mir ist es lieber, wir fangen schnellmit der zweitbesten Lösungan, als dass wir in sechs Monaten mit den perfekten Tools starten.“

Marc steigt mit in die Diskussion ein: „Unsere Entwickler klagen schon lange darüber,dass sie nur große, klobige Computer an ihren Arbeitsplätzen haben. Besprechungen kön-nen so nicht effektiv durchgeführt werden. Auch kann man nicht so einfach den Raumwechseln, um in einer ruhigeren Ecke zu programmieren. Wir brauchen Laptops mit erst-klassigen Leistungsdaten.“

Mit einem Achselzucken fügt er hinzu: „Die sind natürlich auch nicht eingeplant. Ichhabe hier mal etwas herausgesucht und mit den Entwicklern abgestimmt. So ein Laptopkostet fast 4000 Euro.“

Steffen schluckt: „Viertausend Euro mal neun Entwickler, das sind sechsunddreißig-tausend Euro. Zusätzlich zu den Servern und Softwarelizenzen. Ich glaube nicht, dass derBeirat uns das genehmigt. Gibt es keine andere Lösung?“

„Vielleicht doch“, meint Peter. „Vermutlich reichen auch zwei Laptops im Team. Wer ei-nes benötigt, kann es sich dann nehmen. Das fühlt sich dann zwar nicht wie der eigeneRechner an, aber es reicht für eine Weile. Wir müssten sie halt so einrichten, dass alle per-sönlichen Einstellungen der Entwickler nicht jedes Mal von Hand neu eingegeben werdenmüssen.“

„Keine Sorge, dasmachen wir sowieso schon ordentlich“, grinst Hannah. „Damit hattenwir in der Vergangenheit genug Ärger. Das klappt schon automatisch, sofern der Rechneran unser Firmennetzwerk angeschlossen ist.“

„Zwei Laptops kann ich auch ohne den Beirat bestellen. Ich kümmere mich darum“,verspricht Steffen.

„Wo wir gerade von ruhigen Ecken sprechen“, gibt Anne zu bedenken, „wir haben nochkeine Räumlichkeiten. Wo sollen unsere Entwickler denn sitzen?“

Sarah wirft ein: „Die sitzen doch jetzt auch schon irgendwo. Warum kümmern wir unsum so etwas Unwichtiges?“

Anne kann das nicht hinnehmen: „Es weiß doch jedes Kind, dass nur dann aus einerGruppeMenschen ein Team entsteht, wenn diese auch physisch zusammenarbeiten. Sonstbekommen wir nur eine Arbeitsgruppe. Wenn wir den gleichen Fehler wie in der Vergan-genheit machen, dann werden auch jetzt wieder jede Menge Informationen nicht sauberkommuniziert werden, die Leute arbeiten alleine vor sich hin und die Motivation steigtkeinen Millimeter. Nein! Wir brauchen einen Teamraum, in dem das gesamte Team sitzt.Ohne Ausnahme. Ein Teamraum sollte groß und offen gestaltet sein, damit alle Entwicklersich sehen und miteinander arbeiten können. Gleichzeitig brauchen wir aber auch Stillar-beitsplätze, wenn einmal ein besonders kompliziertes Problem gelöst werden muss, und

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Räume für Diskussionen, Besprechungen und Telefonate, damit nicht immer alle Kolle-gen mithören müssen. Die Details sollten vom Entwicklungsteam mitgestaltet werden, aufdiese Weise fühlen sich die Mitarbeiter in diesem Raum eher zuhause.“

Steffen schüttelt den Kopf: „Wo soll ich denn auf die Schnelle einen solchen Raum her-bekommen? Das geht nicht.“

Der Coach lässt das nicht gelten. Er fragt: „Sehen das die anderen auch so?“Alle beginnen zu grübeln. Schließlich fällt Peter etwas ein: „Wir haben im Keller noch

ein paar Räume. Die sind zwar etwas ab vom Schuss, aber sie sind verfügbar und geräumig.Da war mal ein Warenlager, das haben wir aber ins Erdgeschoss verlegt. Seitdem sind dieRäume leer. Mit etwas Farbe und ein paar Möbeln müsste das gehen. Ich schaue es mirnoch mal etwas genauer an. Anne, kommst du mit?“

„Aber gerne!“, freut sich Anne. „Das lasse ich mir nicht entgehen.“Auch Hannah und Claudia bekunden ihr Interesse, aber die Besichtigung wird auf den

späten Nachmittag verschoben, da der Coach schon seine nächste Frage stellt: „Unsere Ent-wickler sind noch Scrum-Anfänger. Die Schulung ist zwar ein guter Anfang, aber sie wirddas Problem nicht zur Gänze lösen. Bitte nehmt euch fünfMinuten Zeit und überlegt euch,was wir noch tun können, um unserem Team den Anfang zu erleichtern.“

Fünf Minuten später entbrennt eine angeregte Diskussion über Probleme und derenLösung. Der Coach lässt diese ein paar Minuten laufen, dann greift er ein: „Ich freuemich, dass ihr so viele Vorschläge erarbeitet habt. Lasst uns diese sammeln und gruppie-ren. Anschließend priorisieren wir sie so, dass wir wissen, was wir davon tun und wasnicht.“

Die Diskussion wird fortgeführt, allerdings deutlich fokussierter als zuvor. Währendder Arbeit werden auch ein paar neue Ideen gefunden und sofort aufgeschrieben. Nachgut einer Stunde hat sich das Notfall Power Team auf fünf Punkte geeinigt:

• Enge und tägliche Betreuung durch den Coach• Direkte Ansprechpartner aus dem Notfall Power Team für das Team• Literatur über Scrum für das Team beschaffen• Eine „Community of Practice“ für den Erfahrungsaustausch gründen, in der auch un-ternehmensfremde Personen teilnehmen

• Kleine, auf das Teamzugeschnittene Schulungseinheiten von nichtmehr als einer Stundepro Woche

„Ach übrigens“, setzt der Coach nach einem Blick auf die fertige Liste an, „in unsererStadt gibt es bereits eine etablierte Community of Practice. Sie heißt ScrumTisch und findeteinmal im Monat statt. Die Teilnehmer kommen aus der gesamten Region. Ist das in etwadas, was ihr euch vorgestellt habt?“

Marc ist begeistert: „Gute Idee, da war ich auch schon.Der Erfahrungshorizontder Teil-nehmer dort ist sehr durchmischt, aber gerade das macht den Reiz aus. Man kann dortsowohl lehren als auch lernen. Ich glaube, das passt für uns. Das nächste Treffen ist übri-gens amMittwoch.“

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146 14 Die Scrum-Einführung

„Sehr gut, ich sage das gleich dem Team“, freut sich Peter. „Ich wollte sowieso zu denKollegen und sehen, wie es mit der Teambildung geklappt hat.“

„Okay“, sagt der Coach, „dann lasst uns den Workshop für heute beenden. Steffenbraucht Zeit, um sein Product Backlog fertig vorzubereiten und Peter muss nach demTeam schauen. Lasst euch die heutigen Erkenntnisse noch etwas durch den Kopf gehen.Falls euch neue Punkte einfallen, die Hindernisse für eine Scrumeinführung darstellen,schreibt sie auf. Wir beurteilen dann gemeinsam, ob sie im Vorfeld gelöst werden müssen,oder ob wir sie auch später angehen können. Bis morgen!“

Müde und nachdenklich, aber doch recht zufrieden mit ihrer Leistung, geht die Gruppeauseinander.

Am nächsten Morgen treffen sich alle wieder zu gewohnt früher Stunde.„Wir haben ein Team!“, Peter schaut in die Runde.„Das ist gut!“, freut sich der Coach. „Wir können nur deshalb so erfolgreich weiterma-

chen, weil wir Dringlichkeit und Vision sauber ausgearbeitet und kommuniziert haben.Wäre das nicht so, müssten wir von vorne anfangen. Ich bin stolz auf uns!“

Peter führt die Einzelheiten des gestrigen Nachmittags aus. Besonders beeindruckt dieGruppe dabei seine Schilderung, wie das A-Team, so nennt sich die neueGruppierung, vondemMoment an, in dem klar war, dass sie sich ohne Zutun desManagements konstituierendurften, angefangen hatte, sich selbst zu organisieren. Als Peter dann nach demWorkshopzurückkam, saßen bereits sieben fröhliche Entwickler beisammen und diskutierte über dieArt undWeise der Zusammenarbeit.

„In demTeam stecken jetzt ein Architekt, vier Programmierer und zwei Tester“, schließtPeter seine Schilderungen ab. „Das A-Team war der Meinung, so wären sie am produktivs-ten.“

„Das ist doch ein super Anfang!“, lobt der Coach. „Dann lasst uns jetzt unseren Sprintplanen.“

Diese zweite Planungsrunde geht dem Notfall Power Team schon wesentlich flüssigervon der Hand als zwei Wochen zuvor. Nach nur anderthalb Stunden hat das Team sich füreine Auswahl der Product Backlog Items entschieden und diese geschätzt.

1. Ausbau der Räumlichkeiten für das A-Team – 132. Scrum-Schulung für die Entwickler des A-Teams – 13. Schulung zur Stärkung der Kundenorientierung für die Entwickler des A-Teams – 14. Aufbau der Entwicklungsumgebung inklusive der Server – 135. Aktive Unterstützung des A-Teams in Scrum-Fragen – 36. Beschaffung von zwei für die Entwickler geeigneten Laptops – 57. Flyer für die Kommunikation unserer Vision erstellen – 38. Plakate für die Kommunikation unserer Vision erstellen – 2

Zwar ist die Summe der Schätzungen der einzelnen Elemente wesentlich höher als imvergangenen Sprint, aber dieTeammitglieder sind sich trotzdemeinig, dass sie diese Punkteumsetzen können undwerden. Hochmotiviert geht das Notfall Power Team an die Arbeit.

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14.7 Schnelle Erfolge erzielen

Eine Woche später trifft sich das Notfall Power Team wieder. Mittlerweile sind die Räu-me im Kellergeschoss mit Möbeln und Technik ausgestattet. Die Scrum-Schulung für dasA-Team soll an den folgenden zwei Tagen stattfinden, jedoch steht noch kein Termin fürdie Schulung zur Kundenorientierung fest. Die übrigen Punkte sind noch mitten im Fluss.Da sich die Führungskoalition in der vergangenen Woche täglich kurz über den Standder Dinge informiert hat, sind all diese Informationen bereits bekannt. Der Coach mel-det sich zuWort: „Wir machen gute Fortschritte und helfen uns gegenseitig bei Problemen.Daher können wir den heutigen Tag dazu nutzen, ein wenig tiefer in den Veränderungs-prozess einzutauchen. Bei jedem Veränderungsprozess müssen wir schnelle Erfolge erzie-len. Stellt euch einmal vor, der Gesamtprozess würde drei Jahre dauern: Ohne ein paarmotivierende Erfolge alle paar Monate würde das wohl niemand durchhalten. Außerdemzeigen diese Erfolge der Geschäftsführung und anderen Stakeholdern, dass sich die Mühelohnt.“

Zustimmendes Nicken von allen Seiten.„Mit der Größe des Veränderungsprojektes steigt auch die Notwendigkeit für schnelle

Erfolge. Nehmen wir zum Beispiel unser eigenes Projekt: Wenn wir daran denken, nur einScrum-Team aufzubauen, dann reicht es vermutlich, dieses schnell arbeitsfähig zu bekom-men und danach Produktivitätszuwächse nachzuweisen. Denken wir aber an die Transfor-mation aller Entwicklungsteams undmit ihnen des Unternehmens, dann wäre ein produk-tives A-Team ein kurzfristiger Erfolg.“

Steffen fragt genauer nach: „Was verstehst du denn dann unter kurzfristig? Das scheintja in jedem Kontext etwas anderes zu bedeuten.“

„Genau!“, bestätigt der Coach erfreut. „Die Dauer variiertmit der Gesamtgröße des Ver-änderungsvorhabens. Grundsätzlich ist es aber ratsam, alle drei bis sechs Monate konkreteErfolge zu generieren. In unserem Fall sollten wir uns alle ein bis zwei Monate um Erfolgebemühen, schließlich haben wir nur noch siebzehn davon übrig. Wenn wir so weiterma-chen könnenwir im erstenMonat unserer Arbeit den Erfolg vorweisen, dass unser A-Teamproduktiv arbeitet.“

„Dann haben wir doch Erfolge“, wirft Hannah ein. „Wieso reden wir dann so lange dar-über? Es läuft doch!“

„Das ist richtig“, gibt der Coach zu. „Allerdings kommen Erfolge nicht von alleine. Wirmüssen sie planen und darauf hinarbeiten. Wer seine Erfolge dem Zufall überlässt, wird sienicht erreichen.“

Steffen denkt kurz darüber nach. Dann sagt er: „Lasst uns doch mal ein paar Erfolgeplanen. Einer pro Monat sollte für den Anfang reichen. Was meint ihr?“

Die Gruppe einigt sich schnell darauf, ein Brainstorming durchzuführen. Ziel ist da-bei, sechs Erfolge zu generieren. Bevor es losgeht, schaltet sich der Coach nochmals ein:„Vorsicht: Die Erfolge müssen eindeutig undmakellos sein. Sie müssen außerdem zu unse-rer Vision passen. Jeder Mitarbeiter muss in der Lage sein, den Erfolg selbst zu sehen undnachzuprüfen.“

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148 14 Die Scrum-Einführung

Die Diskussionen dauern fast eine Stunde. Immer wieder werden Punkte verworfen,weil sie nicht denKriterien entsprechen. Auch herrscht langeUnklarheit darüber, was dennein eindeutiges und transparentes Ziel ausmacht. Schließlich einigt man sich auf Kriterienund bringt dieDiskussion zu einem gutenAbschluss. Sarah fasst die Ergebnisse zusammen:„Bevor wir in die wohl verdiente Kaffeepause flüchten, lasst mich doch noch mal kurz zu-sammenfassen, worauf wir uns jetzt geeinigt haben. Zunächst haben wir beschlossen, dassnur solche Kriterien als Erfolg gelten können, die messbar sind. Außerdemmüssen Sie derRettung unseres Unternehmens zuträglich sein. Danach haben wir folgende Punkte erar-beitet:

1. Das A-Team arbeitet Vollzeit nach Scrum an unserem wichtigsten Produkt.2. Das A-Team liefert messbare Ergebnisse.3. Die Produktivität des A-Teams ist mindestens 50% höher als im Vormonat.4. Die Mitglieder des A-Teams sind zufriedener mit ihrer Arbeit als heute.5. Das A-Team hat eine stabile Geschwindigkeit erreicht und seine Prognosen treffen im

Großen und Ganzen zu.6. Unser A-Team ist so zufrieden und glücklich, dass andere Entwicklungsteams von sich

aus auf uns zukommen, um ebenfalls so arbeiten zu dürfen.

Habe ich noch etwas vergessen?“Die übrigenMitglieder des Notfall Power Teams schütteln denKopf. Anne ergänzt aller-

dings: „Wir haben mehrfach die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter als Kriterium gewählt.Damit wir das nachweisen können, müssen wir schon jetzt anfangen, diese zu messen. Dasist dann unser Referenzwert. Mit so etwas haben wir in der Personalabteilung Erfahrung.Marc, würdest du mir dabei helfen?“

Marc: „Klar! Aber erst nach der Pause – jetzt brauche ich einen Kaffee.“Der Coach ergreift das Wort: „Wir haben einige kurzfristige Erfolgsziele festgelegt. Ich

bitte euch aber darum, unsere Vision zu bedenken: die Kundenzufriedenheit zu verfünf-fachen, die Mitarbeiterzufriedenheit zu verdreifachen, die Reaktionszeit auf zwei Mona-te zu reduzieren, die Produktivität zu verdreifachen und keine Kündigungen auszuspre-chen. Unsere kurzfristigen Erfolgsziele erreichen das nicht. Die Kundenzufriedenheit ha-ben wir zum Beispiel nur dadurch gestreift, dass wir die Prognosesicherheit erhöhen wol-len. Lasst uns die kurzfristigen Erfolge dazu nutzen zu prüfen, ob unsere Vision tragfähigist.“

Gemurmel macht sich breit und Peter bringt es auf den Punkt: „Ich war so in diesekurzfristigen Ziele vertieft, dass ich die strategischen ganz aus den Augen verloren habe.Gut, dass du die Vogelperspektive behalten hast!“

Steffen nickt: „Das sehe ich auch so.Wir haben jetzt noch eineWoche, um unser ersteskurzfristiges Ziel zu erreichen. Dazu fehlt uns auf jeden Fall die lauffähige Entwicklungs-umgebung für unser A-Team. Hannah, wie können wir dir helfen?“

„Gar nicht“, kommt es sofort zurück. „Die Server sind bestellt, genauso wie die Lizenzenfür die Entwicklungsumgebung. Wir können nur warten.“

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14.7 Schnelle Erfolge erzielen 149

„Warten?“, entrüstet sich Claudia. „Wenn bis Montag keine Entwicklungsumgebungsteht, sitzt das A-Team nur herum. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern. Können wirdie Lieferung nicht beschleunigen?“

Steffen ist schon am Telefon und ruft bei den Kollegen der Einkaufsabteilung an. Nacheinem kurzen Gespräch legt er, die Stirn runzelnd, wieder auf: „Hm. Das ist nicht gut. DerKollege hatmir gerade erklärt, dass so etwas nicht zu beschleunigen wäre. Er habe es bereitsversucht.“

Ratlosigkeit.Hannah hat schließlich eine Idee: „Na ja – wenn wir ein paar virtuelle Maschinen ver-

schieben und die Arbeitsumgebung nicht voll performant sein muss, geht es vielleicht.Dadurch würden allerdings auch ein paar andere Systeme langsamer. Sobald die neuenServer dann eingetroffen sind, können wir darauf umschalten.“

„Was verstehst du denn unter ,nicht voll performant‘ und ,andere Systeme‘ Hannah?“,fragt Steffen vorsichtig.

„E-Mails würden seltener ausgeliefert und empfangen, Unser Workflowsystem wärespürbar langsamer und dieWahrscheinlichkeit von Systemabstürzen nähme zu“, antwortetdie Chefin des IT-Betriebs. „Außerdemwürde das Ein- undAuschecken vonQuellcode fürdas A-Team eine gefühlte Ewigkeit dauern. Wie viel Leistung wir wirklich verlieren, sehenwir aber erst, wenn wir es ausprobieren.“

Die Runde diskutiert über das Für und Wider, dann entscheiden sie sich dafür, es aus-zuprobieren. Schließlich ist es immer noch besser, langsam zu arbeiten, als gar nichts tunzu können. Steffen informiert die Belegschaft per E-Mail über die zu erwartenden Unan-nehmlichkeiten und nutzt auch gleich die Gelegenheit, erneut auf die Dringlichkeit sowiedie Vision hinzuweisen. Hannah macht sich mit ihren Mitarbeitern an die Arbeit.

Am Ende der Woche ist es schließlich so weit. Das A-Team hat seinen ersten Sprintgestartet, sitzt gemeinsam im neuen Team-Raum und kann wirklich mit der technischenÜbergangslösung arbeiten. Erstaunlicherweise nimmt es die Geschwindigkeitseinbußenbei der täglichen Arbeit gar nicht wahr, sondern betont immer wieder, dass diese neue Ent-wicklungsumgebung schneller und besser sei als die alte. Das A-Teammacht den Eindruck,als sei es stolz auf seine Sonderrolle und die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebrachtwird. Der Umstand, dass alle Teammitglieder Vollzeit für das gleiche Projekt arbeiten dür-fen, wird als Privileg empfunden. Die Teammitglieder scheuen sich auch nicht, die Vorteileihrer Sonderrolle den Kollegen bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase zureiben. Amüsiert kommentiert Christina zu Beginn des folgenden Workshops der Füh-rungskoalition: „Mittlerweile haben jedenfalls alle Kollegen mitbekommen, dass wir einScrum-Team aufgebaut haben, das arbeitet. Übermangelnde Sichtbarkeit könnenwir nichtklagen.“

„Das stimmt zwar, allerdings sollten wir das trotzdem noch ordentlich kommunizie-ren“, meint Steffen. „Mir scheint, dass die Mitglieder des A-Teams hin und wieder etwasübertreiben. Das würde ich gerne ins rechte Licht rücken.“

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150 14 Die Scrum-Einführung

„Eine gute Idee“, stimmt der Coach zu. Lasst uns aber zunächst die Kriterien für schnelleErfolge prüfen. Die Sichtbarkeit hat Christina schon festgestellt. „Wie sieht es mit der Ein-deutigkeit aus? Weist unser Erfolg einen Makel auf?“

Marc wiegt den Kopf bedächtig hin und her: „Das Team kann zwar arbeiten, aber nurmit einer technischen Übergangslösung.“

„Stimmt. Ist damit unser Erfolgsziel verfehlt?“, bohrt der Coach tiefer.„Nach dem Wortlaut nicht“, erwidert Marc. „Aber vom Gedanken her schon. Solange

wir nicht wissen, ob das Team schneller oder langsamer ist als mit der bisherigen Arbeits-weise, könnten Kritiker Haare in der Suppe finden.“

„Das lässt sich leider nicht mehr ändern“, sagtHannah. „Die Lieferung der neuenHard-ware ist mir aber für Mittwoch in acht Tagen zugesagt. Wir können also zumindest dennächsten Sprint des A-Teams mit der vollen Rechenpower starten.“

Der Coach ergreift wieder das Wort: „Ist unser Erfolg denn für alle Mitarbeiternachvollzieh- und nachprüfbar?“

Marc lacht: „Na, die müssen doch nur zu uns in den Keller kommen!“„Stimmt“, gibt Peter zu. „Hat das denn schon jemand getan?“Marc wird stutzig. „Nein, nur zwei Kollegen waren mal da. Aber die hatten ein Anlie-

gen.“„Vielleicht solltet ihr eine offizielle Einladung aussprechen?“, schlägt Anne vor. „Wenn

die Kollegen keine Angst haben müssen, dass sie nicht willkommen sind, trauen sie sichmöglicherweise eher.“

„Gute Idee. Ich rede mit dem A-Team“, beschließt Marc.Der Coach übernimmt wieder die Gesprächsführung: „Steht dieser Erfolg im Zusam-

menhang mit der Vision und der Strategie?“Sarah erläutert: „Wir wollen alle Ziele wie Produktivitätssteigerungen, Kundenzufrie-

denheit und so weiter mit Scrum erreichen. Das können wir aber nur, wenn wir Scrumeinführen – und genau das haben wir getan.“

Der Coach nickt zustimmend. „Habt ihr das auch eindeutig kommuniziert?“Alle Blicke richten sich auf Steffen. Der schaut in die Runde und hüstelt etwas verlegen:

„Dazu bin ich noch nicht gekommen.“„Na, dann los!“, spornt ihn der Coach an. „Bei Organisationsveränderungen gibt es

nichts Wichtigeres als eine gute Kommunikation. Auch die kleinen Erfolge müssen sorg-fältig und ständig kommuniziert werden, um ihre volle Wirkung zu entfalten.“

„Wie wäre es denn, wenn jeder von uns das auch noch in seine jeweilige Abteilungträgt?“, überlegt Christina. „Das ist persönlicher und eindeutiger, als eine E-Mail.“

„Auf die E-Mail würde ich nur ungern verzichten“, erwidert Hannah. „Dann haben dieMitarbeiter etwas, das sie mehrmals lesen können.“

„Lasst uns einfach beides machen“, beendet Steffen die aufkeimende Diskussion, nochbevor sie richtig in Fahrt gekommen ist. „Wir haben doch gelernt, dass wir auf so vielenKanälen wie möglich gleichzeitig kommunizieren sollen.“

Anne schaltet sich ein: „Jetzt wowir das geklärt haben, könnenwir ja weitermachen. Ichbrenne darauf, euch von der Umfrage zu erzählen! Marc und ich haben zusammenmit den

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14.8 Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten 151

übrigen Personalern einen kurzen Fragebogen entworfen. Eine Seite hat gereicht. Der Fo-kus lag dabei auf Fragen, die mit einem Kreuz auf einer unbeschrifteten Skala beantwortetwerden konnten. Wir haben als Hinweis lediglich ein Minus beziehungsweise ein Plus andie Skala gemalt. Diesen Fragebogen haben wir vom A-Team ausfüllen lassen. Das Feed-back haben wir genutzt, um den Fragebogen zu verbessern. Heute haben wir dann allenMitarbeitern einen leeren Fragebogen in ihr Fach gelegt. So bekommen wir einenWert fürdie gesamte Organisation, außerdem sehen wir, wie das A-Team im Vergleich zum Durch-schnitt dasteht.“

„Gute Idee!“, lobt Steffen. „Habe ich auch einen in meinem Fach?“„Nein“, antwortet Anne. „Dir habe ich einen mitgebracht!“Sie teilt an alle Anwesenden Fragebögen aus und fügt hinzu: „Einmal ausfüllen bitte!

Schließlich seid ihr auch Mitarbeiter dieses Unternehmens.“Claudia ist als erste fertig und nutzt die Stille: „Wenn wir schon amVerteilen von Papier

sind: Ich habe euch auch etwas mitgebracht.“Schwungvoll steht sie auf und zieht einen Flyer und ein Plakat aus ihrer Tasche: „Ich

präsentiere: unsere Vision!“Begeistert scharen sich die übrigen Mitglieder des Notfall Power Teams um Claudia

und begutachten die bunten Papiere. Sofort entbrennt eine produktive Diskussion darum,wie man die Plakate noch weiter verbessern könnte. Am Ende sind alle zufrieden. Claudiaschließt den Workshop ab: „Ich überarbeite heute noch den Flyer und das Plakat. Dannsind wir für unser Review bereit.“

14.8 Erfolge konsolidieren undweitere Veränderungen einleiten

DasReview desNotfall Power Teams beginnt erneut im Speisesaal der Firma. Rund fünfziginteressierte Mitarbeiter sind anwesend, unter ihnen auch das komplette A-Team. Steffenpräsentiert zunächst erneut die Dringlichkeit und die Vision, bevor er als Product Ownerdie Ziele des Sprints vorstellt:

1. Ausbau der Räumlichkeiten für das A-Team – 132. Scrum-Schulung für die Entwickler des A-Teams – 13. Schulung zur Stärkung der Kundenorientierung für die Entwickler des A-Teams – 14. Aufbau der Entwicklungsumgebung inklusive der Server – 135. Aktive Unterstützung des A-Teams in Scrum-Fragen – 36. Beschaffung von zwei für die Entwickler geeigneten Laptops – 57. Flyer für die Kommunikation unserer Vision erstellen – 38. Plakate für die Kommunikation unserer Vision erstellen – 2

Steffen gibt nähere Erklärungen: „Wir hatten zum Ziel, ein Team in unserem kri-tischsten Projekt einzusetzen und nach Scrum arbeiten zu lassen. Dieses Team habt ihrgerade gesehen. Den Namen haben sie sich dabei selbst gegeben. Wenn euch das im Mo-

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152 14 Die Scrum-Einführung

ment als Antwort reicht, würde ich euch gerne zeigen, was wir in diesem Sprint erreichthaben.“

Steffen fährt fort und beschreibt dieMaßnahmen, die für den Ausbau der Räumlichkei-ten des A-Teams ergriffen wurden. Als Rückfragen zeigen, dass die verbale Beschreibungeines Raumes wohl nicht die beste Wahl war, verlegt er kurzerhand das Review in denTeamraum des A-Teams. Neben dem offiziellen Mobiliar ziehen besonders die Pflanzenund Poster die Gäste in ihren Bann. Das absolute Highlight ist aber das Tischfußballspiel,um den sich einige Entwickler staunend versammeln.

„Wo habt ihr den denn her?“, fragt Steffen entgeistert.Marc grinst: „Der Hausmeister hatte den noch in einem Lagerraum. Da ist das gute

Stück seit Jahren verstaubt. Wir haben es aus dem Lager geholt und in der Mittagspauseerfreut sich das Ding seitdem größter Beliebtheit. Das war super für die Teamfindung undwirkt echt entspannend. Probiere es doch in deiner nächsten Mittagspause mal aus.“

„Ich glaube, ich habe vor zwanzig Jahren zuletzt Tischfußball gespielt“, entgegnet Stef-fen. „Es reizt mich ja schon ein wenig . . . “

„Aber jetzt erst einmal weiter. Also, wir sind zu einem Review hier. Dieser Raum stelltdas erste Product Backlog Item dar, das wir abgeschlossen haben. Aus unserer Sicht sindwir fertig. Wenn jemand Verbesserungsvorschläge hat, wäre jetzt der optimale Zeitpunktdafür, sie zu äußern.“

Es kommen einige Verbesserungsvorschläge, aber schnell wird klar, dass hier Diskus-sionen mit dem A-Team notwendig sind. Vom A-Team selbst kommt nichts – schließlichwaren sie den ganzen Sprint in die Arbeiten eingebunden. Daher entscheidet Steffen, dassalleVerbesserungsvorschläge an dasA-Teamgerichtetwerden können unddieses sich dannjederzeit an das Notfall Power Team wenden darf. DaMarc das A-Team sowieso als ScrumMaster betreut, ist der direkteKontakt sichergestellt. Es gehtweiter: „Unsere zweite Aufgabewar, mit dem A-Team eine Scrum-Schulung durchzuführen. Sagt selbst: Hat sie stattgefun-den?“

„Ja“, meldet sich einer der Entwickler zu Wort. „Wir haben viel gelernt. Allerdings ha-ben wirThemenwie emergente Architektur und testgetriebene Entwicklung nur amRandegestreift. Keiner von uns hat darin Erfahrung. Hier sollten wir noch ein oder zwei Tage in-vestieren, denke ich.“

Steffen schreibt eine entsprechende Notiz auf einen bunten Klebezettel. „Alles klar, istnotiert. Wir werden das später in unserer Sprintplanung noch einmal diskutieren.“

Er wirft einen Blick auf seine Notizen und fährt fort: „Das nächste Element war dieSchulung zur Kundenorientierung. Hat diese stattgefunden?“

„Nein. So etwas brauchen wir auch nicht. Wir haben doch gar nichts mit Kunden zutun“, erwidert einer der Entwickler.

Steffen kontert: „Ihr habt NOCH nichts mit Kunden zu tun. Das wird sich aber ändern.Selbst wenn ihr niemals einen Kunden live sehen würdet, müsste trotzdem der Kunde euerProdukt benutzen. Es tut daher gut, hin undwieder an dieses unsichtbare PhantomnamensKunde zu denken – der zahlt übrigens im Endeffekt auch eure Gehälter, wenn ich das malanmerken darf.“

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14.8 Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten 153

Claudia schaltet sich ein: „Der Trainer konnte nicht so kurzfristig kommen. Wir habeneinen Termin in acht Tagen bekommen. Da findet die Schulung dann statt.“

„Okay, das Element ist also nicht abgeschlossen“, stellt Steffen fest. „Wirmüssen es somitauch in den nächsten Sprintmit aufnehmen.Wie steht es umdie Entwicklungsumgebung?“

„Die ist toll!“, schwärmt das A-Team. „Schnell, voll integriert und viel besser als die alte.“„Sind denn die neuen Server doch schon fertig?“, wundert sich Steffen.Hannah antwortet ihm: „Nein. Das passiert wie besprochen in den nächsten zwei Wo-

chen.“„Sind wir denn dann fertig, oder nicht?“, fragt Steffen.Der Coach schaltet sich ein: „Ihr habt Kriterien für die Fertigstellung festgelegt. Wir

haben noch keine Ahnung, was hinsichtlich der Performance oder bei mehreren Teamspassiert. Wir haben imMoment sozusagen einen unfertigen Prototyp gebaut. Meine Emp-fehlung lautet, dieses Element nicht abzunehmen und in den nächsten Sprint mitzuneh-men.“

Steffen schaut Hannah an. Sie nickt: „Ich stimme zu. Es funktioniert zwar im Momentalles, aber das ist mehr oder weniger Zufall. Wir sind nicht fertig.“

„Schade“, seufzt Steffen. „Ich hatte gehofft, dasThema wären wir los.“Das Review wird fortgesetzt. Es stellt sich heraus, dass auch die Laptops noch nicht

geliefert wurden. Dafür sind Flyer und Plakate fertig. Die ersten Exemplare werden di-rekt an die Anwesenden verteilt. Die hereinprasselnden Verbesserungsvorschläge werdenaufgeschrieben und zur Evaluierung an Claudia gegeben. Steffen schließt das Review ab:„Claudia, sichte bitte die Vorschläge, dann setzen wir uns zusammenund bewerten sie. Erstdann können wir entscheiden, ob und wie wir die nächste Version der Flyer und Plakateändern. Ansonsten bleibt uns nur, die Velocity auszurechnen. Mal sehen . . . “

Er murmelt und rechnet. Schließlich kommt er auf zweiundzwanzig.„Hey, das ist ja fast doppelt soviel wie letzten Sprint!“, entfährt es Sarah. „Da waren es

nur dreizehn Punkte.“SteffensMiene hellt sich schlagartig auf: „Du hast Recht. Zweiundzwanzig ist zwar nicht

doppelt soviel wie Dreizehn, aber die Steigerung ist trotzdem enorm. Siebzig Prozent –wow!“

Zur Feier des Tages spielt das Notfall-Power Team noch eine Runde Tischfußball gegendas A-Team (und verliert natürlich). Anschließend begibt sich die Gruppe wieder in denbereits lieb gewonnenen Besprechungsraum und plant ihren Sprint.

Während der folgenden vier Wochen geht die Arbeit gut voran. Sowohl Notfall PowerTeam als auch A-Teamwachsen enger zusammen und haben Spaß an der Arbeit. Es gelingtdemA-Team, schon im ersten Sprint ein fertiges Stück Software zu erschaffen. Das vorhan-dene Produkt wird um ein kleines Feature erweitert, das aber als Beweis dafür gilt, dass dieIdeen der Vision funktionieren. In seinem zweiten Sprint schafft es das A-Team sogar, seineProduktivität zu verdoppeln. Allerdings behaupten kritische Zungen, das liege nur daran,dass in den ersten beiden Sprints so viele Schulungen und Vorbereitungen stattgefundenhaben. Der Coach erinnert beide Teams daran, dass die Teamgeschwindigkeit normaler-

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154 14 Die Scrum-Einführung

weise erst nach ungefähr drei Sprints stabil ist und davor nicht als verlässlich angesehenwerden sollte. Danach beruft er einen weiteren Workshop für den Folgetag ein.

Hannah und Sarah kommen zehn Minuten zu spät, weil sie das Tagesgeschäft heutewichtiger fanden. Der Coach bestimmt genau diese Frage zum Thema des Treffens. DasProblem ist, dass auf diese Weise – oft schleichend – die Dringlichkeit in Vergessenheitgerät. Wenn das geschieht, gerät der Veränderungsprozess ins Stocken. Das Tagesgeschäftgewinnt die Oberhandundman fällt ganz langsamwieder in die altenMuster zurück. Fragteuch bitte alle einmal selbst: „Gab es in den letzten zwei Wochen Situationen, in denen ihrrückblickend vielleicht anders hättet handeln sollen?“

Schnell findet jedes Teammitglied ein oder zwei Beispiele. Mal wurde aus Bequemlich-keit weniger getan als gut gewesen wäre, mal wurde weniger wichtigen Themen der Vorzugeingeräumt. Die Gründe dafür sind zwar auf den ersten Blick vielfältig, bei näheremHinse-hen lassen sie sich aber immer auf zwei Ursachen zurückführen: Veränderungsmüdigkeitund daraus resultierende Faulheit oder die Überzeugung, dass keine weiteren Aktionennötig sind – also ein Verlust des eigenen Dringlichkeitsgefühls.

„So wie uns geht es allen unserenMitarbeitern“, führt der Coach weiter aus. „Bei jedemmacht sich früher oder später eine gewisse Erschöpfung breit und das Dringlichkeitsgefühllässt nach.Wirmüssen unbedingt dieDringlichkeit ständig durch aktuelles Zahlenmaterialzurück ins Bewusstsein holen und die nächsten Schritte der Strategie transparent machen.“

Er macht eine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. Dann fährt er fort: „Wir sinddie Führungskoalition. Wir dürfen nicht nachlassen. Es ist essentiell, dass wir präsent undaufmerksam bleiben. Wenn wir nicht vorleben, was wir erreichen wollen, wird uns auchniemand folgen.“

Diesmal warten die Teammitglieder vergebens darauf, dass der Coach weiterspricht.Marc atmet tief ein: „Leute, dasmit dem präsent bleiben könnte problematisch werden. Ichhabe gestern ein Angebot von einem anderen Unternehmen bekommen, das mir erheblichmehr Geld bietet. Dort könnte ich auch als Scrum Master arbeiten mit der Aussicht, michin zwei Jahren als interner ScrumCoach beweisen zu können.Das ist eine sehr verlockendeOption.“

Vollkommen überrumpelt bemüht sich Steffen darum, seine Fassung wiederzugewin-nen: „Also, Marc, das überrascht mich. Bist du denn nicht glücklich bei uns?“

„Doch schon“, rechtfertigt sich dieser. „Aber dort sind meine Aussichten besser.“„Wenn du gehst, verlieren wir unseren internen Scrum-Experten und einen guten

Scrum Master“, erläutert Steffen seine Besorgnis. „Das reißt ein Loch in unsere Füh-rungskoalition, das wir nicht so einfach stopfen können. Das gefährdet das gesamteWandelprojekt.“

Er schluckt und macht dann ein Angebot: „Marc, ich schlage dir Folgendes vor: Dubleibst noch ein Jahr bei uns. Bis dahin wissen wir vermutlich wesentlich besser als heute,wie unsere Chancen stehen, das Ruder noch herumzureißen. Über dein Gehalt sprechenwir noch unter vier Augen. Sollten wir aus dem Tief herausfinden, so wird die ganze Orga-nisation Scrum machen. Dann brauchen auch wir einen Scrum Coach. Wenn wir es nicht

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14.8 Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten 155

schaffen, das Ruder herumzureißen, dann hast du ein Jahr lang wertvolle Erfahrungen ge-sammelt und bist noch attraktiver für die Konkurrenz. Na, was sagst du?“

„Klingt gut. Ich schlafe eine Nacht drüber, dann können wir uns morgen nochmal un-terhalten“, lenktMarc ein. Der Coach ergreift wieder dasWort: „Kündigung, Pensionierungund Beförderung sind die Todfeinde des Wandels. Die müssen wir ausschalten. Was haltetihr davon, wenn wir eine Risikoanalyse zu demThema machen?“

Die Gruppe greift den Vorschlag enthusiastisch auf. Schnell sind die Risiken identifi-ziert. Schwieriger ist es da schon, Vermeidungsstrategien und Maßnahmen zu definieren.Die angespannte finanzielle Lage des Unternehmens ermöglicht auch keinen großen Spiel-raum bei den Gehältern. Am Ende begnügt man sich mit der mündlichen Zusage allerMitglieder des Notfall Power Teams, für wenigstens ein weiteres Jahr an Bord zu bleiben.

„Neben den gerade diskutierten Gründen für den Ausfall unserer Schlüsselspieler, gibtes auch Krankheit und Erschöpfung“, führt der Coach den zuvor begonnenen Gedanken-strang weiter. „Ich will es nicht Burnout nennen, das kommtmir zu sehr wie einModewortvor. Fakt ist aber, dass zu viel Stress Krankheiten fördert. Haben wir hier auch Risiken?“

„Quatsch!“, antwortet Thomas impulsiv. „Wir üben keinen Druck aus und arbeiten ineiner nachhaltigen Geschwindigkeit. Da brennen wir nicht aus.“

Anne schaut ihm tief in die Augen: „Thomas, auf welcheDaten stützt du diese Aussage?“„Na ja, das ist doch offensichtlich!“, verteidigt sich der Qualitätsmanager.Anne intensiviert Ihren Blick noch: „Seit Beginn unserer Wandelbemühungen haben

wir eineReduzierung desKrankenstandes um6%erreicht. Allerdings ist das keinGrund zujubeln. Vor drei Jahren, als es dem Unternehmen noch gut ging, hatten wir im Schnitt nur7 Krankentage pro Mitarbeiter. Heute sind es trotz der erreichten Verbesserungen immernoch 15.“

Steffen greift ein: „Vorsicht, wir sollten hier den Fokus nicht verlieren. Ich glaube, esging um das Risiko für die Führungskoalition, nicht für alle Mitarbeiter. Stimmt’s?“

Der auffordernde Blick trifft den Coach. Dieser wiegt bedächtig den Kopf: „Ja und nein.Es geht darum, welche Folgen der Wandel hat, natürlich primär auf die Schlüsselspielerbezogen. Diese sind aber nicht nur im Notfall Power Team, sondern in der gesamten Or-ganisation anzutreffen. Wie sieht es denn mit euren eigenen Krankheitstagen aus?“

Anne klappt ihren Laptop auf und analysiert die Daten während die übrigen Kollegennachdenken. Schnell wird klar, dass die Teammitglieder nicht so genau wissen, ob sie jetztmehr oder weniger Krankheitstage hatten. Schließlich löst Anne das Rätsel: „Im Vergleichzu vor drei Jahren haben wir hier 10% mehr Fehltage durch Krankheit. Im Vergleich zuletztem Jahr ist es aber gleich geblieben.“

„Okay“, führt der Coach weiter aus. „Wir wissen also drei Dinge: Erstens waren vor derUnternehmenskrise weniger Leute krank als heute. Zweitens haben unsere Veränderungs-projekte bislang nicht zu einer Erhöhung des Krankenstandes geführt. Und drittens geltendiese Beobachtungen für alle, inklusive dem Notfall Power Team.“

Er lässt die Worte ein wenig wirken. Dann fährt er fort: „Das sind zunächst sehr guteNeuigkeiten. Trotzdem schlummern hier enormeRisiken. Klar ist, dass die gesamteMann-

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156 14 Die Scrum-Einführung

schaft bereits unter extremem Druck steht. Wenn wir einen Fehler machen, der den Drucknoch weiter erhöht, kommt es möglicherweise zu Totalausfällen.“

Hannah pflichtet bei: „Die Kollegen müssen die Veränderung wollen!“„Außerdem müssen wir auf uns selbst achten“, ergänzt Steffen. „Wir dürfen auf keinen

Fall bis zur Erschöpfung arbeiten, denn ohne uns als Treiber für die Veränderung könnenwir nur scheitern.“

„Leute, ich bin stolz auf euch!“, strahlt der Coach. „Es gibt Unternehmen, die dieseZusammenhänge niemals begreifen. Ich fasse nochmals zusammen: Organisationsverän-derungen stehen und fallen mit den Menschen, die sie anführen. Fallen diese Menschenaus, so ist der Wandel ernsthaft gefährdet. Daher müssen sie besonders eng ans Unter-nehmen gebunden werden, was in den seltensten Fällen durch rein monetäre Anreize zuschaffen ist. ImÜbrigen sind auch Pilotteams solche Schlüsselfaktoren.Wir müssen daraufachten, dieses nicht aufzulösen, denn es ist unsere Keimzelle für den Wandel. Außerdemhat es eine erhebliche Außenwirkung.“

Dann ergänzt er: „Wir haben heute noch etwas gelernt. Wir dürfen nicht faul oderselbstherrlich werden, sondernmüssen stets die Dringlichkeit unseres Vorhabens im Blickbehalten. Sonst schlafen unsere Bemühungen ein.“

Alle stimmen zu und gönnen sich eine ausgedehnte Mittagspause.Nach einem wohltuenden Mahl macht der Coach einen ungewöhnlichen Vorschlag:

„Lasst uns gemeinsam eine Runde spazieren gehen. Dort besprechen wir dann, wie wirweitermachen.“

„Warum das denn?“, ereifert sich Thomas. „Bisher haben wir doch auch im Bespre-chungsraum gut gearbeitet.“

„Ach komm schon!“, unterbricht Anne ihn. „Ein Spaziergang ist gesund. Die frischeLuft wird uns allen gut tun.“

Das Team setzt sich in Bewegung. Nach etwa einem Kilometer erreicht die Gruppe einemit Bäumen und Sträuchern bewachsene Anhöhe, von der aus man auf das Unternehmenschräg von oben hinabsehen kann. Alle stellen sich in einem Halbkreis auf und betrachtendas Firmengebäude.

Steffen sagt: „Ist schon komisch. In all den Jahren war ich noch nie hier oben. Aus derPerspektive kenne ich das Unternehmen gar nicht.“

„Genau darum geht es“, übernimmt der Coach den Gedanken. „Indem wir das Unter-nehmen von einem anderen Standort aus betrachten, können wir vielleicht auch unserenBlick auf die Probleme im Unternehmen verändern.“

Schweigend genießt das Team den Anblick für einige Minuten. Jeder hängt seinen ei-genen Gedanken nach. Schließlich fährt der Coach fort: „Wie schätzt ihr denn die Er-folgschancen unseres Veränderungsprojektes von hier oben aus ein?“

Marc: „Im Moment läuft alles sehr gut. Besser als ich es erwartet hätte. Daher sehe ichdie Erfolgschancen bei 100%.“

Christina wiegt den Kopf: „Marc, ich weiß nicht, ob du da vielleicht ein wenig zu op-timistisch bist. Wir haben bisher nur ein kleines Teilprojekt angestoßen, nämlich das A-

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Team. Um die Firma zu retten, müssen wir aber alle Bereiche verändern. Dann sind wirruck-zuck bei zwanzig Teilprojekten. Das ist eine ganz andere Dimension.“

Thomas stöhnt: „Oh Gott! Wie sollen wir denn zwanzig Projekte gleichzeitig stemmen?Das ist unmöglich!“

Steffen schüttelt energisch den Kopf: „Nicht unmöglich. Aber schwierig. Das schaffenwir nicht, wenn wir es alleine angehen.“

„Undwas sollen wir tun? Leute einstellen, um die Veränderungsprojekte zu führen?Dasfunktioniert niemals!“, legt Thomas den Finger in die Wunde.

„Stimmt“, erwidert Anne. „Allerdings haben wir doch alles, was wir brauchen: EineFührungskoalition, die führt, und engagierte Mitarbeiter, die mithelfen wollen, das Unter-nehmen zu retten.“

„DieMitarbeiter schaffen das nicht alleine.Wirmüssen ständig prüfen, ob auch die Teil-ziele eingehalten wurden, sonst läuft das ins Leere!“, legtThomas nach. Steffen wendet sichan die Gruppe: „Wir sollten uns nicht streiten. Wir müssen es mit den vorhandenen Kolle-gen schaffen, denn anderewerden wir nicht bekommen. Außerdem ziehen dieseMenschenKinder groß, bauen Häuser und leiten Vereine – weshalb sollten sie nicht auch ein kleinesTeilprojektchen stemmen können? Zumal wir nicht den Fehler machen dürfen, Führungmit Management zu verwechseln. Wir werden auch bei zwanzig Projekten dafür sorgenmüssen, dass allen das Ziel klar vor Augen steht und jeder uns dahin folgen will. Das istFührung. Jeden Schritt dahin zu überwachen, können wir nicht leisten, da müssen wir un-seren Kollegen vertrauen. Was wir allerdings tun müssen ist, alle zu befähigen, auch denneuen Aufgaben gerecht werden zu können.“

„Genau das ist es!“, bestätigt der Coach. „Wenn ihr erfolgreich sein wollt, werdet ihreuren Mitarbeitern vertrauen und einen Teil eurer Aufgaben abgeben müssen. Auch wennes schwer fällt. Sonst reibt ihr euch in dem Versuch auf, jedes Detail zu kontrollieren.“

Es entbrennt eine kurze Diskussion über den richtigen Zeitpunkt der Einbindung wei-terer Mitarbeiter, an deren Ende sich aber alle einig sind: Besser zu früh einbinden als zuspät.

Steffen macht einen Vorschlag: „Was haltet ihr davon, wenn wir einenWettbewerb aus-loben? Alle Teams, die auch nach Scrum arbeiten wollen, müssen gemeinsam eine Bewer-bung schreiben.Die beste und originellste gewinnt undder Sieger darf als zweites Pilotteamstarten.“

„Klasse Idee!“, finden alle und gehen gemeinsam zurück in das Firmengebäude, um dieIdee auch in die Tat umzusetzen.

Zurück im Raumbeginnt Marc: „Also, wir brauchen für ein zweites Pilotteam auf jedenFall einen Scrum Master, einen Product Owner und Arbeitsmittel. Und natürlich einenRaum, in dem sie alle zusammensitzen können.“

„Das wird schwierig“, kommentiert Sarah. „Wir haben keine Räume mehr, die groß ge-nug sind. Außerdem sind alle Räume belegt.“

„Dann reißen wir halt ein paarWände heraus.“, meint Marc. „Mindestens die Plätze, andenen bisher die A-Team-Mitglieder gesessen haben, müssen doch frei sein.“

„So einfach ist das nicht“, erwidert Sarah.

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158 14 Die Scrum-Einführung

„Warum nicht?“, fragt Marc und malt eine Raumskizze an das Whiteboard. „Also, wirmüssten nur die fünf Leute umsetzen, dieseWand hier entfernen und schon sindwir fertig.Geht doch ganz leicht.“

Steffen klärt auf: „Bei diesen fünf Leuten handelt es sich in zwei Fällen um Führungs-kräfte. Es hat sich eine Kultur etabliert, in der Büroräume als Statussymbol angesehenwerden. In der Vergangenheit hat es schon schwere Konflikte gegeben, weil jemand einenBürostuhl verschoben hat – was, glaubst du, passiert, wenn wir ihnen jetzt sogar das ganzeBüro wegnehmen? Aber du hast Recht, Marc. Wir sind nicht hier, um Egos zu befriedi-gen, sondern um die Firma zu retten. Damit sollten wir bei uns anfangen. Würde der Platzausreichen, wenn wir mein Büro abreißen?“

Steffen bringt Ruhe in das jetzt aufbrechende Chaos: „Hört mir doch mal zu! Bitte! Wirhaben doch gelernt, dass wir durch unser Vorbild führen müssen. Wie kann ich von denMitarbeitern erwarten, dass sie ihre Büros aufgeben, wenn ich anmeinem hänge? Daswäreja genauso, als würde ichWasser predigen undWein trinken. Das geht nicht. Alsomuss ichder erste sein, der seine Wände einreißt.“

Das Team setzt zu einem erneuten Redeschwall an, den Steffen aber mit einer Hand-bewegung unterbindet. „Allerdings“, fährt er fort, „müssen wir das ordentlich planen. Ir-gendwomüssen die Akten hin, ich brauche Besprechungsräume, wo ich ungestört sein undGäste empfangen kann. Ich fürchte, das erfordert ein komplett neues Raumkonzept.“

Anne bringt sich ein: „Steffen, ich weiß nicht, ob das so einfach gehen wird. Wir habenaber einen Spezialisten für so etwas bei uns in der Abteilung. Ich setze ihn auf das Themaan.“

Die Diskussion wird noch einige Minuten fortgesetzt, dann greift der Coach ein: „Wirhaben heute unser erstes systemisches Problem identifiziert. Gönnt euch mal das Gedan-kenspiel, was passiert wäre, wenn wir es übersehen hätten. Zuerst hätten sich Kollegengegen den Wandel gestemmt, weil sie dadurch ihre Statussymbole verloren hätten. Dannhätten sie gegen die anderen Kollegen gearbeitet, die keine vergleichbaren Verluste erlittenhätten. Und schließlich hätten alle Führungskräfte gegeneinander gearbeitet, um zu ver-hindern, ebenfalls die Symbole ihrer Macht einzubüßen. Alle wären auf das Thema fixiertgewesen. Hätten wir an einem Ende der Organisation etwas verändert, hätte das Auswir-kungen auf alle anderen Bereiche haben können, ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre.Aber das ist rein hypothetisch.“

Murmeln und Kopfnicken pflichten ihm bei.„Je weiter wir mit unseremWandel kommen, destomehr systemische Probleme werden

wir identifizieren. Diewenigstenwerden dabei so klar und eindeutig in ihrenUrsachen seinwie die Raumthematik. Haltet die Augen offen!“

Mit diesen Schlussworten wird der Workshop aufgelöst und alle gehen nachdenklichzurück an ihre Arbeit.

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14.9 Neue Ansätze im Unternehmen verankern 159

14.9 Neue Ansätze im Unternehmen verankern

Die Arbeit der Führungskoalition geht weiter. Jeden Sprint arbeiten alle intensiv am Erfolgder Pilotteams und des Unternehmens. Der Coach unterstützt dabei tatkräftig. Sechs Mo-nate später sind Themen wie Ausbildung der Entwickler, Aufteilung der Büros, Bindungder wichtigsten Mitarbeiter an das Unternehmen und Verantwortung anMitarbeiter abge-ben gelöst. Neue Probleme sind aufgetaucht und wurden bereits adressiert oder sind nochin Bearbeitung. Alles in allem läuft das Notfall Power Team rund und erfolgreich. In einemder Workshops lobt der Coach das Team: „Ich bin sehr stolz auf euch. Ihr leistet hervor-ragende Arbeit. Wenn wir genauso weitermachen, werden wir das Unternehmen retten.Wir sind auf einem guten Weg. Ihr kommt langsam in die letzte Stufe des Wandelprozes-ses, daher habe ich heute etwas Neues für euch vorbereitet. DerWandel einer Organisationerfolgt in acht Schritten. Bisher habt ihr alle sehr gut gelöst, der letzte steht aber noch aus:Die neuen Ansätze im Unternehmen zu verankern. Dabei geht es darum, die Kultur desUnternehmens so nachhaltig zu verändern, dass auch euerWeggang nicht dazu führt, dassalle Mitarbeiter in die alten Muster zurückfallen.“

Der Coach fährt in seinen Erläuterungen fort und nutzt dabei ausgiebig das White-board, um seine Erklärungen im wahrsten Sinne des Wortes grafisch zu untermalen. Erbeschreibt, dass Unternehmenskultur etwas sehr schwer Greifbares ist, da sie sich auf ver-schiedenen Ebenen abspielt. Die Handlungsweisen der Betroffenen werden durch das Ge-fühl angetrieben, das Richtige zu tun. Dieses Gefühl wiederum entsteht aus der Summeder einzelnen persönlichen Werte und Eigenschaften der einzelnen Personen. Der erfolg-reiche Einsatz dieser Werte führt dazu, dass die Kultur sich festsetzt – und zwar bei allenMitarbeitern, nicht nur bei einzelnen. Da die Kultur so schwer greifbar ist, wird sie beiMisserfolgen nur sehr selten als Verursacher identifiziert oder gar verändert. Der einzigeWeg, das zu erreichen ist, die Kultur durch eine neue zu ersetzen. Dies funktioniert nurdann, wenn die neuen Werte sowohl das Herz als auch den Verstand ansprechen.

Hannahmeldet sich zuWort: „Habenwir denn irgendwo etwas getan, was nicht unsererKultur entspricht? Ich glaube, wir haben nichts verändert.“

DerCoach lässt keineDiskussion zu: „DankeHannah, die Frage ist sehr gut. Ichmöchte,dass ihr euch Klebezettel nehmt und alle Elemente aufschreibt, die der alten Kultur wider-sprechen oder neue Kulturelemente darstellen. Noch ein Tipp: Immer dann, wenn eucheine Aufgabe sehr schwer gefallen ist oder Konflikte ausgelöst hat, lohnt es sich näher hin-zuschauen. Dort sind häufig Kulturveränderungen versteckt.“

Alle machen sich an die Aufgabe. Wegen der ungewöhnlichen Aufgabenstellung läuftdie Arbeit zunächst schleppend an. Nach fünfMinuten wird eine Zwischenbilanz gezogen.Heraus kommt eine interessante Liste:

• Statussymbole wurden abgeschafft/Raumsituation wurde verändert• Es ist okay, Fehler zu machen und daraus zu lernen• Große Offenheit für neue Ideen• Volle Transparenz aller Aktivitäten

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160 14 Die Scrum-Einführung

• Direkte Einbeziehung der Mitarbeiter• Viel Führung und wenig Management durch die Führungskräfte• Die Entwickler dürfen selbst Entscheidungen treffen• Pünktlichkeit ist ein hohes Gut• Hohe Mitarbeiterorientierung• Gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten, anstatt gegeneinander zu agieren• Arbeit darf und soll Spaß machen• Fokussierung auf Qualität• Hohe Kundenorientierung• Einzelne Helden sind weniger wichtig als gut funktionierende Teams

„Das sind doch schon eine ganzeMenge Punkte“, stellt Steffen fest. „Ich bin sicher, dasswir noch mehr finden, wenn wir lange genug danach suchen.“

„Stimmt“, meint der Coach. „Unser Job als Führungskoalition ist es, alle Punkte zu iden-tifizieren. Dannmüssen wir die alten und neuen Zustände transparent machen sowie ganzklar aufzeigen, wie es dazu gekommen ist. Insbesondere ist wichtig, was zum alten Kultur-element geführt hat und welche Vorteile der neue Ansatz bringt.“

Ein Stöhnen geht durch die Gruppe: „Oh Mann, ich wusste doch, dass uns das wiedereinen Haufen Arbeit einbringt. Mist!“

Der Coach grinst und fügt der Liste einen weiteren Punkt hinzu:

• Wir freuen uns über mehr Arbeit, wenn dadurch die übergeordneten Ziele erreicht wer-den

Das Stöhnen klingt jetzt gequälter. Der Coach führt weiter aus: „Wenn wir das trans-parent gemacht haben, kann sich jeder Mitarbeiter mit dem Für und Wider der Ansätzebewusst auseinandersetzen. Alles, was wir davor getan haben, war eine Voraussetzung da-für.“

„Heißt das, wir haben das nur für die Kultur gemacht?“, platzt es aus Peter heraus.„Natürlich nicht“, besänftigt Steffen. „Ich glaube, der Coach will uns nur sagen, dass die

erzielten Erfolge die neuenAnsätze erst glaubwürdigmachen.Hätten wir diese Dinge nichtgetan, würde uns niemand zuhören. Stimmt’s?“

„Stimmt“, gibt der Coach zu. „Jetzt wo wir bewiesen haben, dass die neuen Ansätzebesser funktionieren als die alten, müssen wir auch dafür sorgen, dass alle Mitarbeitersie mittragen. Das kann unangenehm werden, denn wir müssen Einstellungen und Be-förderungen an den neuen Werten ausrichten. Nur wer diese aktiv vertritt, darf befördertwerden. Das kann bedeuten, dass fachlich sehr gute und langjährigeMitarbeiter keine Auf-stiegschancenmehr haben. Das ist aber notwendig und darf nicht verwässertwerden, dennsonst zeigt ihr allen, dass eureWerte genausowie eure Entscheidungen interpretierbar sind.Bleibt standhaft, auch wenn es schwerfällt.“

Steffen blickt nachdenklich in die Runde: „Das ist hart. Verdammt hart. Mir fallen aufAnhieb zwei Kollegen ein, denen schon eine Beförderung in Aussicht gestellt wurde, die

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14.10 Über diese Fallstudie hinaus 161

aber bislang noch überhaupt nicht aktiv in dieVeränderungsbemühungen einbezogenwur-den. Die dürfen jetzt wohl nicht mehr aufsteigen.“

Er seufzt tief. Anne hilft ihm: „So schlimm ist es auch nicht. Wenn ihnen klar wird, dasssie die neuen Werte mittragen müssen, werden sie mitmachen, denke ich. Die wenigstenwerden sich sperren.“

„Richtig“, übernimmt der Coach wieder die Gesprächsführung. „Solange jedem Einzel-nen klar ist, was von ihm erwartet wird, ist es seine freie Entscheidung, wie er sich verhält.Helft den Leuten trotzdem dabei, denn es kann vorkommen, dass die veränderten Unter-nehmenswerte mit den persönlichen Wertesystemen kollidieren. Im Übrigen gilt auch fürNachfolgeregelungen, dass die Kandidaten für die neuen Werte Feuer und Flamme seinmüssen.“

Die Mitglieder der Führungskoalition diskutieren noch ein wenig über die Bedeutungdieser neuen Informationen. Am Ende beschließt der Coach den Workshop: „Ich habeeuch jetzt alles beigebracht, was ihr wissen müsst, um gemeinsam das Unternehmen zuretten. Es gibt keine Überraschungen mehr von meiner Seite für euch. Ihr müsst jetzt nurnoch so lange neue Wandelprojekte anstoßen, bis die neuen Werte und Ideen schließlichin der Firmenkultur verankert sind. Ist das nachhaltig geschehen, seid ihr fertig. Das kannallerdings durchaus mehrere Jahre dauern. Ich helfe euch natürlich dabei, wenn ihr dasmöchtet. Eigentlich denke ich aber, dass ihr mich nicht mehr braucht. Viel Erfolg!“

14.10 Über diese Fallstudie hinaus

Blicken wir auf unser Musterunternehmen:Es sind zwei Jahre vergangen. Das Unternehmen floriert. Die roten Zahlen sind ver-

gessen, die Kunden sind sehr zufrieden. Für alle sichtbar hängen in der Kantine ein paarKennzahlen aus, die auch direkt in Bezug zu den Werten der Krise gesetzt sind. Dabeizeigt die aktuelle Kundenzufriedenheitsstatistik, dass es aktuell nur 30 Kündigungen proMonat gibt, statt der früheren 250. Die Mitarbeiterfluktuation liegt bei 5%, was nicht nurim Vergleich zu den vormaligen 15% einen guten Wert darstellt. Mit dazu beigetragen hat,dass auch während der Krise keine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochenwurde. DieReaktionszeit auf Kundenwünsche beträgt imSchnitt zweiMonate, wobei besonders dring-liche Fälle auch innerhalb von vier Wochen entwickelt werden können. Zwei Jahre zuvorbetrug dieser Wert noch neun Monate. Umfangreichere Aufträge dauern natürlich etwaslänger. Prominent über allen anderen Kennzahlen steht in dicken roten Lettern: Veloci-ty. Daneben steht eine Zahl. Erst durch den Vergleich der nebenstehenden Zahl wird klar,dass das Unternehmen seine Produktivität im Vergleich zu der Zeit vor der Krise fast ver-fünffacht hat. Steffen klopft dem Coach herzhaft auf die Schulter: „Wir haben zwar nocheiniges zu tun, aber die Firma ist gerettet. Wir stellen allerdings immer wieder fest, dassdie neuen Werte noch nicht von allen verstanden und gelebt werden. Es wartet noch vielArbeit auf das Notfall Power Team. Wäre ja auch schade, wenn wir das auflösen müssten.

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162 14 Die Scrum-Einführung

Mittlerweile sind wir schließlich fast wie eine Familie. Soviel Spaß hat mir meine Arbeitnoch nie gemacht. Danke dafür!“

Ein sehr gutes Ergebnis. Schnell noch dazu. Sogar die Produktivität wurde verfünffacht.Schade, dass es sich hier nur um eine hypothetische Fallstudie handelt. Das Vorgehen unddie Ergebnisse sind aber durchaus repräsentativ für andere Projekte. Selbstverständlichunterscheiden sich alle Wandelinitiativen voneinander, jedoch ist das hier beschriebeneVorgehen grundsätzlich immer gleich. Der größte Unterschied zur Praxis ist der weit-gehend fehlende Widerstand und das Ausbleiben von Problemen. Außer Larry rebelliertniemand, die Mitglieder der Führungskoalition ziehen alle an einem Strang, alles was die-ses Team anpackt, gelingt. Rechnen Sie hier mit ein paar Hürden mehr in Ihrem eigenenKontext. Auch sind die Charaktere teilweise überzeichnet: Steffen ist ein fast weiser An-führer, der seine Ritter in schimmernder Rüstung zum Sieg führt. Fehlerlos, furchtlos,immer mit einer Lösung für jedes Problem zur Hand. Auch der Coach macht keine Fehler,durchschaut jede Situation, bleibt souverän und löst jeden Konflikt. Der fehlende Namemacht ihn dabei noch ein wenig geheimnisvoll, fast als käme er von dem fernen Planeten„Scrum“ auf die Erde, um diese Firma zu retten. Larry ist im Gegensatz dazu so uneinsich-tig, wie man es in der realenWelt (hoffentlich) nirgends antrifft. Seine Borniertheit ermög-licht eine eindeutige Schwarz-Weiß-Sicht auf die Situation, wodurch die Lösung eindeutigwird.

Rechnen Sie in Ihrem Alltag bitte nicht damit, solche Helden vorzufinden. Es ist vielwahrscheinlicher, dass IhnenMenschen begegnen, die Fehler machen und Schwächen ha-ben. Das ist auch gut so, denn das fördert die Kreativität und bringt bessere Lösungen her-vor, als es kritiklose Harmonie könnte. Passen Sie Ihre Erwartungshaltungen entsprechendan und freuen Sie sich auf das spannendste Projekt Ihrer Karriere: die Organisationsverän-derung.

14.11 Die Personen der Fallstudie im Überblick

Beim Schreiben dieses Buches hat es mir sehr geholfen, ständig eine Übersicht über al-le Personen der Fallstudie zur Verfügung zu haben. Immerhin sind das elf verschiedeneCharaktere. Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, finden Sie an dieser Stelle alle Personen inKürze erläutert.

Mitglieder des Notfall Power Teams:Peter ist der Entwicklungsleiter des Unternehmens. Er hat die Schieflage der Firma als

erster bemerkt und transparent gemacht. Von ihm kam auch die Idee, Scrum einzuführen.Steffen ist der Geschäftsführer (CEO) des Unternehmens und Entscheider mit einer

das-packen-wir-Haltung. Er hat schon viel Erfahrung und handelt schnell, aber besonnen.Anne hat als Chefin der Personalabteilung ein besonderes Gespür für die Bedürfnisse

der Mitarbeiter. Ihre Empathie und Analysefähigkeiten helfen der Gruppe oft weiter.Marc Bohnental ist einer der Softwareentwickler des Unternehmens. Er hat schon ein

wenig Erfahrung mit Scrum und möchte sich zum ScrumMaster weiterentwickeln.

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14.11 Die Personen der Fallstudie im Überblick 163

Sarah steht der Controllingabteilung vor. Nüchterne Zahlen und ein kritischer Blicksind Ihre Welt, was der Gruppe durchaus auch öfter weiterhilft.

Claudia ist Produktmanagerin. Sie kennt ihr Produkt in- und auswendig. Außerdemhat sie den Draht zu den Kunden.

Thomas ist Chef des Qualitätsmanagements. Sein Naturell ist eher kritisch, außerdembegrüßt er Neues nicht unbedingt aus vollemHerzen. Seine Loyalität und Erfahrung helfendem Unternehmen sehr.

Christina ist eine Mitarbeiterin von Thomas und für Prozessentwicklung zuständig.Sie kennt daher alle Abläufe der Firma ganz genau. Auch verfügt sie über einen scharfenanalytischen Verstand.

Hannah ist die Leiterin des IT-Betriebs. Sie sorgt dafür, dass alle Computer und anderenIT-Systeme tadellos funktionieren. Daher ist ein ungestörter Arbeitsablauf ihr primäresZiel. Ihre ausgleichende Persönlichkeit hilft ihr dabei.

Der Coach hat keinen Namen, was ihm eine geheimnisvolle Aura verschafft. Er ist Ex-perte in Scrum undOrganisationsentwicklung. Er lehrt die Führungskoalition, wie sie denWandel angehen muss.

Weitere Personen, die nicht Mitglied der Führungskoalition sind:Frederick ist der Chef der Rechtsabteilung. Er hilft demNotfall Power Teamnach Kräf-

ten, sieht sich selbst aber nicht als Mitglied, da er viel mit trockenen Gesetzen und wenigmit Produktentwicklung zu tun hat.

Larry ist ein Softwarearchitekt und damit Peter unterstellt. Er ist ein Einzelgänger, dersich selbst für unersetzbar hält. Leider bleiben alle Versuche, ihn zu gewinnen, erfolglos.Die Situation eskaliert und er verlässt das Unternehmen.