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8. Ausgabe März 2007 Total extrem - Zur Totalitarismus und Extremismusdoktrin Seite 2 Zur Begriffsgeschichte der Totalitarismustheorie Seite 11 Das Totalitarismusmodell Hannah Arendts Seite 4 Ab durch die Mitte Seite 9 Total totalitär

Seite 2 Zur Begriffsgeschichte der Total totalitär Das ... · Präsidialdiktaturen zum »totalen Staat« auf Grundlage der Weimarer Verfassung nachzudenken2. Diese Tendenzen flossen

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8. AusgabeMärz 2007

Total extrem - Zur Totalitarismus und Extremismusdoktrin

Seite 2Zur Begriffsgeschichte der

Totalitarismustheorie

Seite 11 Das Totalitarismusmodell

Hannah Arendts

Seite 4 Ab durch die Mitte

Seite 9Total totalitär

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Dieser Artikel zur Begriffsgeschichte der Totalitarismustheoriemöchte diese in ihren politisch-historischen Kontext einordnenund so wichtige Hinweise auf ihre erkenntnistheoretischenDefizite geben. Es wird sich zeigen, dass sie sich in den letzten80 Jahren ihres Bestehens als außerordentlich konjunkturabhän-gig erwiesen hat. Die Totalitarismustheorie ist zuallererst eineWahrheitsdoktrin und will im Rahmen des öffentlichenDiskurses festlegen und definieren, was als wahr und falsch zugelten hat.

Entstanden ist der Totalitarismusbegriff in Italien1. Nach demMachtantritt der italienischen Faschisten warnten Kritikerdavor, dass sie ihre Gewalttätigkeit im politischen Herr-schaftsapparat verankern würden, indem sie die staatlicheGewaltenteilung »totalitär« beseitigten. Später eigneten sichdiese neue Begrifflichkeit die Faschisten an und besetzten siepositiv. Zugleich bemühte sich Giovanni Gentile, dieMachtansprüche der faschistischen Massenbasis in den statototalitario einzubauen und diese selbst langfristig zu integrie-ren.

Zur ersten praktisch-politischen Anwendung dieser neuartigenBegrifflichkeit kam es in Deutschland. Nach der Weltwirt-

schaftskrise wurde es erst von unterschiedlichen politischenLagern genutzt. Sozialdemokratie und Gewerkschaften antwor-teten auf die Sozialfaschismus-These mit dem Vorwurf dieKommunisten seien »rotlackierte Faschisten«, hinter denen»totalitäre Tendenzen« lauern. Bei den Jungkonservativen umErnst Jünger kam es zur Gleichsetzung von »totalitär« und»total«, zur Propaganda für eine »totale Mobilmachung«zugunsten eines Revisionskrieges. Außerdem begannen rechts-konservative Theoretiker über einen Ausbau derPräsidialdiktaturen zum »totalen Staat« auf Grundlage derWeimarer Verfassung nachzudenken2. Diese Tendenzen flossenin der NS-Bewegung zusammen. Über die »totaleMobilmachung« führt der Weg direkt zum »totalen Krieg«.

In der angelsächsischen Totalitarismusdebatte der 1920er Jahre,die im Wesentlichen auf das konservative akademische Lagerbegrenzt war, wurde der Begriff dagegen negativ besetzt3. Esgalten alle Regime als »totalitär«, die die parlamentarischeDemokratie bekämpften. Die verschiedenen Varianten desFaschismus und der heraufziehende Stalinismus wurden dabeimeist gleichgesetzt.

Doch der Totalitarismus wurde auch zum identitätsstiftenden

Zur Begriffsgeschichte der Totalitarismustheorie

Editorial

Die Zeit des Wartens ist vorbei! Hiermit haltet ihr die erste Ausgabe 2007 der und…?! in Händen und wenn der Redaktionnicht der Himmel auf den Kopf fällt, wird dies auch nicht die letzte sein, sondern es werden in Zukunft in unregelmäßigenAbständen weitere Pamphlete dieser Art kostenlos verteilt werden. Warum nun aber solch eine Zeitung, werdet ihr vielleichtfragen, obwohl die richtige Frage lautet: warum erst jetzt? Denn wie wohl Jede und Jeder weiß, kann die Weltrevolution nichtmehr warten. Und genau darum geht es hier. Während einige ihre Zeit vielleicht mit so nutzlosen Tätigkeiten wie abhängigerLohnarbeit oder Rasenmähen verbringen müssen, hat sich nämlich ein Häuflein Unerschrockener hingesetzt und sich dieKöpfe darüber zerbrochen, was zu tun sei, begleitet nur vom ständigen Surren des treuen Rechners statt vom lieblichenGezwitscher noch viel lieblicherer Vögel. Dies ist das Ergebnis: Von heute an gedenken wir euch, wie für Staatsfeinde üblich,durch als wissenschaftliche Beiträge getarnte Propaganda zu manipulieren und auf dogmatische Art und Weise gefügig zumachen – nix wirklich Neues also.

Die Zeitung ist das Ergebnis von Diskussionen, die die Notwendigkeit eines solchen Projektes immer wieder aufzeigten. DieMitglieder der Redaktion, allesamt aus dem linken Spektrum und sich dabei längst nicht immer grün, eint jedoch die Über-zeugung, dass bestimmte politische Themen in der Region bislang zu wenig diskutiert wurden und dass dieser Zustand derWeltrevolution abträglich ist. Ziel ist es deshalb, sich in unregelmäßigen Abständen einem bestimmten Thema mit verschiede-nen Artikeln ausführlicher zu widmen. Idealerweise wird es zu jedem Themenblock auch eine größere Veranstaltunggeben, und, wenn daran Interesse besteht, Vorbereitungsveranstaltungen mit den AutorInnen der Beiträge in diesemHeftchen. Wir hoffen, mit unseren Artikeln die eine oder andere Diskussion lostreten zu können. Und wer die Zeitung trotz-dem nur für das abendliche Lagerfeuer nutzen will, sei`s drum. Aber beschwere man sich nachher nicht, wenn man nach der Revolution immer noch Tellerwäscher ist!

Noch was: Die AutorInnen verstehen ihre Beiträge explizit nicht als der Weisheit letzten Schluss, sondern als Anregung, sichmit dem jeweiligen Thema näher zu beschäftigen. Eure Einwände, Fragen, Kritiken etc. sind also ausdrücklich erwünscht.Wendet euch dazu an: [email protected]

1 Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus zischen politischer Polemik und historischer Analyse2 Vgl. Carl Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat3 Vgl. Guy Stanton Ford, Dictatorship in the Modern World

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Symbol für die internationale faschistische Szene der 30erJahre. Mit ihrem Vorgehen gegen die Arbeiterklasse und derAuflösung parlamentarischer Errungenschaften beanspruchtendie Faschisten die Rolle eines logischen Bündnispartners dertraditionellen Eliten für sich. Aufgrund dessen beschäftigtensich die Theoretiker der sozialistischen Emigration schon frühintensiv mit dem politischen Drohpotential des»Totalitarismus«. So prognostizierte Beispielsweise FilippoTurati schon Anfang der 1920er Jahre, dass die herrschendeKlasse, die die »totalitären« Herrschaftsformen etabliert hatte,dafür einen hohen Preis zahlen wird . Auch Frank L. Neumannsteckte die Dimensionen eines »totalitär« gewordenenMonokapitalismus ab: Er habe der Kleinbourgeoisie die politi-sche Macht übertragen, um sich jenseits der verschlissenen par-lamentarisch-demokratischen Legitimationsbasis eine neuePlattform für seine ökonomische Diktatur zu schaffen5.

Doch am Ende der1930er Jahre kam es zueiner Trendwende.Immer mehr Intellek-tuelle des Westensübernahmen »Totali-tarismus« als negativeKategorie. Sie schlos-sen sich jenen konser-vativen Politologen an,die schon zuvor alleklassenanalytische Zu-gänge der sozialisti-schen Emigranten zumTotalitarismusbegriffeliminiert und ihn zurGleichsetzung vonKommunismus undFaschismus operatio-

nalisiert hatten6. Die sozialistischen Kritiker und ihr antifaschi-stisch-»antiautoritärer« Konsens wurde zunehmend von Äuße-rungen einer neuen Emigrantengruppe überlagert die in ihrerAuseinandersetzung mit der Stalin-Ära mit allen Variantensozialistischer Utopie brach7. Viele von ihnen brachen mit ihrenbisherigen Biographien und schlossen zu den konservativenTotalitarismuskritikern auf. In den Jahren der Neuaufteilungdes europäischen Kontinents zwischen Stalinismus undNazismus durch die faschistischen Blitzkriege, gestalteten sieden Totalitarismusbegriff neu. Der Ex-Kommunist FranzBrokenau setzte in einem wortgewaltigen Manifest den »brau-nen Bolschewismus« mit dem »roten Faschismus« gleich8. ImNovember 1939 fand in New York ein internationalesSymposium unter dem Motto »The Totalitarian State« statt, dassich auf Faschismus und Stalinismus gleichermaßen bezog9.Nur zwei Jahre später, nach dem Angriff auf die Sowjetunion,reihte sich der Stalinismus in das Lager der Antihitlerkoalitionein und die Totalitarismustheorie galt als überholt. Dennoch

blieben starke »antitotalitäre« Grundströmungen vorhanden,die für die Kontinuität der Begriffsgeschichte entscheidendsind.

Der Übergang zum Kalten Krieg bedeutete auch dieWiedergeburt der negativen Totalitarismusdoktrin. DieAmerican Academy of Arts and Sciences veranstaltete 1953erneut einen internationale Totalitarismustagung, auf der dieTeilnehmer endgültig die Totalitarismuskonzeption als norma-tive Typologie, die den pluralistischen-demokratischenVerfassungsstaat zum Ausgangsbild nahm.10 Es wurde aucheine Gruppe von Merkmalzuschreibungen verabschiedet um»totalitäre Diktaturen« empirisch und analytisch greifbar zumachen.

Diese Merkmalgruppen

››››› Ideologie mit Ausschließlichkeitsanspruch››››› monolithischer Machtapparat››››› Massenmobilisierung durch eine Einheitspartei››››› Propaganda- und Kommunikationsmonopol››››› politischer Terror››››› Zentralverwaltungswirtschaft

wurden zum Kernstück der Totalitarismustheorie des KaltenKrieges und waren fast ausschließlich auf die Sowjetuniongemünzt.Im Verlauf der nächsten Jahre wurden von der Grundlage die-ser Merkmalgruppen ausgehend die unterschiedlichstenVarianten entworfen11. Indem die Totalitarismuskonzeptiondie Grundnormen des »demokratischen Pluralismus« alsMaßstab verabsolutierte und gerade dadurch aus der empi-

5 Vgl. Leopold Franz, Die Gewerkschaften im faschistischen Deutschland6 Vgl. Karl Heinz Roth, Geschichtsrevisionismus7 Vgl. Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Reneganten8 Vgl. Franz Brokenau, The Totalitarian Enemy9 Vgl. Symposium on the Totalitarian State. From the Standpoints of the History10 Vgl. Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy11 Vgl. dazu Bruno Seidel/Siegfried Jenker, Wege der Totalitarismus-Forschung

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risch-vergleichenden Analyse ausgrenzte, half sie, einLegitimationsmodell zu formieren, das in der Praxis des KaltenKrieges eben diese Prinzipien im »Freien Westen« zunehmendaußer Kraft setzte.

Augrund eines Skandals kam es Mitte der 1960er Jahre zueinem überraschendem Konjunktureinbruch derTotalitarismuskonzeption. Diesmal waren die Auslöser, imGegensatz zu 1941, jedoch nicht in Europa angesiedelt. Die US-amerikanische New Left entdeckte 1964/65 die CIA alsOrganisationszentrum des »antitotalitären« Diskurses einerZeitschriften- und Verbandslandschaft, in der mit wenig intel-lektueller Anstrengung viel Geld und Ansehen erworben wer-den konnte12. Durch diesen Nachweis ihrer eigenen »totalitä-ren« Praktiken war die Totalitarismusdoktrin gründlich diskre-ditiert. Viele anerkannte Vertreter der Totalitarismustheorie, sobeispielsweise Hannah Arendt, distanzierten sich eilends, undmäßigten die bislang auf die poststalinistischen Regime über-tragenen Verdikte. Die Bloßstellung der Totalitarismusdoktrinwar somit in erster Linie eine Leistung der neuen amerikani-schen Linken. Die Abkehr von der Totalitarismustheorie vollzog sich in

Westeuropa aus unterschiedlichen Anlässen. Einer der Gründewar die internationale Entspannungspolitik, die sich seit derBerlin- und Kubakrise langsam abzeichnete. Ein weitererGrund, vor allem in der BRD, war die nun einsetzendedeutsch-deutsche Politik des »Wandels durch Annäherung«.Auch außerhalb der etablierten Politik zeichnete sich derParadigmenwechsel ab. Die kritische Theorie gewann einenprägenden Einfluss auf die westdeutsche Studentenbewegung.Insbesondere die Gedankengänge Adornos, Horkheimers undMarcuses über die Wechselbeziehung zwischen autoritärenCharakter, autoritären Staat und der instrumentellen Vernunftinnerhalb einer spätkapitalistischen Manipulationsgesellschaftließen fast keinen Systemunterschied mehr ausmachen13.Infolge dieser internationalen und deutsch-deutschenEntwicklung blieb den Propagandisten derTotalitarismustheorie nichts anderes übrig als ein geordneterRückzug, um auf neue Konstellationen zu warten, in denen siewieder benötigt werden. Nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus ist diese Zeit gekommen.

Ron Ado

13 Vgl. dazu Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik dr Aufklärung. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Max Horkheimer, Autoritärer Staat12 Vgl. Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe

Ab durch die Mitte –

Zur politischen Funktion der Totalitarismustheorie

Der KPD-Vorsitzende Max Reimann sagte am 23.5.1949: »Sie,meine Damen und Herren, haben diesem Grundgesetz (…)zugestimmt. Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tagkommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen dieverteidigen werden, die es angenommen haben.« Wie so oftsollten die KommunistInnen Recht behalten. Das Grundgesetzist seitdem mehr als 50-mal geändert worden. Meist gegen denWillen linker, emanzipatorischer Bewegungen. Und tatsächlichhatten die großen Themen der Linken in den letzten Jahrenimmer etwas damit zu tun, das Grundgesetz zu verteidigen.Nicht gegen Rechts, sondern gegen die Angriffe aus der»Mitte«. Dies zeigt bereits, wie falsch die Annahme ist, dieMitte müsste die Freiheit gegen Angriffe von Rechts und linksverteidigen. Trotzdem darf die Totalitarismustheorie bzw. derAntitotalitarismus durchaus als Staatsdoktrin angesehen wer-

den. Sie ist Grundlage für die Arbeit von Polizei undGeheimdiensten und wird nach den »Richtlinien für dieBehandlung des Totalitarismus im Unterricht« von 1962 in allenSchulen gelehrt. Die Lehrer haben die Anweisung ihrenSchülern die »verwerfliche Zielsetzung« und die »verbrecherischenMethoden« des »kommunistischen und des nationalsozialistischenTotalitarismus« zu verdeutlichen.1

Nach wie vor wird davon ausgegangen, dass es eine Art»Hufeisenmodell« gibt, indem die äußersten Ränder derGesellschaft, sprich »Linksextreme« und »Rechtsextreme« sichfast die Hände reichen, da sie ja beide »totalitäre« Ziele verfol-gen und sich nur durch ihre unterschiedlichen »Ideologien«gelinde unterscheiden. Zwischendrin steht eine fast naturgege-bene Mitte, die zum Idealzustand erklärt wird.

1 Wobei übrigens kein Wort über Auschwitz und Holocaust erwähnt wurde.

GERADE FÜR DAS NACHKRIEGS-DEUTSCHLAND WAR DIE TOTALITARISMUSTHEORIE, DA ANTIKOMMUNISTISCH UND SHOAHRELATIVISTISCH

ENORM WICHTIG. BIS IN DIE 1990ER JAHRE DOMINIERTE DIE ERSTE, DANACH DIE ZWEITE FACETTE DEN DISKURS.

DIFFAMIERUNG DES KOMMUNISMUS

Zur Zeit des Kalten Krieges hatte die Totalitarismustheorie imNachkriegs-Deutschland ihre erste Hochphase. Sie wurde zurDiffamierung des realexistierenden Sozialismus und alsBegründung für die KommnistInnenverfolgung gebraucht. Vor

allem die Regierung Adenauer war geprägt durch ihren massi-ven Antikommunismus. So wurde »Sowjet-Rußland mit seinen Trabanten- undSatellitenstaaten, seinen Fünften Kolonnen und den ihm blind gehor-chenden kommunistischen Parteien in den demokratischen Ländern,

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hochgerüstet, überall in der Welt das Feuer schürend, Religion undChristentum, europäische Sitten und Kultur, Freiheit und Würde derPerson vernichtend,«2 zu einer überdimensionalen Bedrohungstilisiert. Egal ob die Wiederbewaffnung der BRD oder unterKiesinger die Notstandsgesetze (beides setzte übrigensGrundgesetzänderungen voraus), alles wurde im Kampf gegenden inneren und äußeren kommunistischen Feind durchge-setzt. Denn »seit Jahr und Tag musste jeder, der die Dinge klar sieht,fürchten um unser Vaterland, um unsere Sicherheit; er musste fürch-ten, dass Deutschland eventuell Schauplatz kriegerischerAuseinandersetzungen werden konnte: er muss zittern davor, dass imFalle eines russischen Angriffs Millionen von Deutschen nachRussland getrieben, in russische Armeen gesteckt oder zuSklavenarbeit verdammt würden.«3

Natürlich hatten auch die Geheimdienste die im Kalten Kriegeine große Rolle spielten eine antikommunistischeAusrichtung. Angebliche Aufklärung gegen Rechts diente auchdamals schon nur der Rechtfertigung und hatte mit der Realitätnichts zu tun. Allein die Tatsache, dass die Geheimdienste sichin hohem Maße aus ehemaligen Nationalsozialisten rekrutier-ten,4 legt die Vermutung nahe, dass hierfür auch kein beson-ders großes Interesse bestand. Als dann 1956 die KPD verboten wurde, organisierten insbe-sondere die Ämter für Verfassungsschutz eine massive inner-staatliche KommunistInnenverfolgung, von der in den 50erJahren mehr als 100.000 Menschen betroffen waren. Währendalso im Namen der jungen Demokratie viele KZ-Überlebendewieder verfolgt und eingesperrt wurden – es einemKommunisten nicht einmal möglich war Lokomotivführer oderPostbote zu werden - bekleidete ein gewisser HubertSchrübbers den Posten des Präsidenten des Bundesamtes fürVerfassungsschutz. Der ehemalige NS-Staatsanwalt, der an denHochverratsprozessen mitwirkte, war mit Abstand der amlängsten amtierende Präsident des Verfassungsschutzes. Nach17(!) Jahren wurde er dann wegen seiner Vergangenheit in denvorzeitigen Ruhestand entlassen. Nicht entfernt wurden zahl-reiche SS-Offiziere, darunter der an der Judenvernichtung inNorwegen beteiligte Alfred Wurbs oder der langjährigeVizepräsident des Amtes, Alvert Radtke. Der Ex-Verbindungsoffizier zur Gestapo war am

Vernichtungsprogramm in der CSR beteiligt. Unter Schrübbersbesaßen 16 von 46 höheren Beamten in derVerfassungsschutzzentrale einen SS oder SD-Rang.Auf die Ämter für Verfassungsschutz wird in dieser Ausgabenoch genauer eingegangen. Festzuhalten bleibt aber, dass schonder Anspruch der Totalitarismustheorie – und die Arbeit desVerfassungsschutzes beruht darauf – gleichermaßen gegenRechts und Links vorzugehen, Humbug ist. UnzähligeBeispiele beweisen, dass rechte Gewalt verharmlost oder garverschwiegen wird, antifaschistische oder kommunistischeBestrebungen aber aufs Bitterste verfolgt werden.

RELATIVIERUNG DER SHOAH

Als mit dem Zusammenbrechen des realexistierendenSozialismus und der Niederschlagung aller emanzipatorischenBewegungen kommunistische Bestrebungen nur noch marginalwaren, setzte eine Renaissance der Totalitarismustheorie ein. Ihr vorrangiges Ziel war es, die Verbrechen der Deutschenwährend des ‚Dritten Reichs’ zu relativieren. Vor allem dieSingularität von Auschwitz war ein Dorn im Auge des wiedererstarkenden Deutschlands. Es ging darum, die deutscheBarbarei in eine Reihe mit anderen Verbrechen zu stellen – soerscheinen die eigenen als nicht mehr so schlimm. Dies wurde vor allem mittels der Gleichsetzung derSowjetunion mit dem Nationalsozialismus betrieben.

Doch so grausam die stalinistischen Verbrechen auch waren, siesind eben nicht mit denen der Deutschen zu vergleichen. DieVernichtung der Juden und anderen »unwerten Lebens« wurdemit industriellen Methoden betrieben. Vor allem inVernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau, Sobibor, Majdanek, Belzec, Chelmno oderTreblinka wurden die Menschen im Akkord in den Tod getrie-ben. Dieses Massentöten wurde von den Deutschen freiwilligund mit höchstem bürokratischem Aufwand betrieben. Geradedurch das Konzept »Vernichtung durch Arbeit« wird ja schonausgedrückt, worum es den Nazis ging: um Vernichtung.Arbeit war die Methode. Das war weder in der Sowjetunion,noch sonst wo der Fall. Auch der oft angeführte Vergleich mitden Internierungslagern aus der Zeit der Burenkriege oder dieUmsiedlung der indigenen Bevölkerung Amerikas ist aus die-sem Grund nicht haltbar. Ohne die grausame Realität in den sowjetischen Lagern zuleugnen, gab es dennoch einen Anspruch der »Erziehung« und»Besserung«, auch durch sog. Kulturarbeit in den Lagern.Darüber hinaus gab es die durchaus praktizierte Möglichkeitder Entlassung.Auch die Liquidierung z.B. so genannter »Kulaken« entsprichtnicht einem Projekt biologischer oder rassischer Säuberung.Das Ziel Stalins war nicht eine rassische Ordnung, sonderneine mit extrem autoritären und gewalttätigen Methoden insWerk gesetzte, gründliche Veränderung der russischenGesellschaft und die Bekämpfung der politischen GegnerInnen.Es hatte seine eigene, wenngleich brutale Rationalität. Dagegenwidersprach die Vernichtung der Juden jedem Kriterium öko-nomischer oder militärischer Rationalität. Hier waren vomKleinkind bis zum Greis, vom Arbeiter bis zum Firmeninhaberalle Juden schon aufgrund ihrer bloßen Existenz zur

2 Konrad Adenauer3 Konrad Adenauer4 So kam z.B. das Personal des BND aus der »Organisation Gehlen«

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Ermordung vorgesehen. Nichts, was sie selbst hätten tun oderunterlassen können, konnte ihr Leben retten, wenn sie in dieHände der Deutschen fielen.

Ein weiterer Unterschied ist die Rolle der beiden Staaten imzweiten Weltkrieg.Während Deutschland mit dem Überfall auf Polen den zweitenWeltkrieg, den größten und verlustreichsten Krieg derMenschheitsgeschichte, auslöste, ist es vor allem derSowjetunion zu verdanken, dass die Nazi-Barbarei beendetwurde.

Die Sowjets trugen dieHauptlast des Krieges,kein anderes Land hattederartige Verluste zubeklagen. Während desgesamten Kriegsverlaufskamen mindestens 13 600000 Rotarmisten umsLeben. Allein die Schlachtum Stalingrad kostete 1500 000 russischenSoldaten und Zivilistendas Leben. Anstelle Stalinmit Hitler zu vergleichen,wäre es eher angebracht,sich bei ihm und seinerArmee für die Befreiungzu bedanken.

Noch dreister ist der Vergleich mit der DDR. »Ich wollte die Bewohner der Ost-Zonen-Republik könnten einmaloffen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leute würdenhören, dass der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo,durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hatmüßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht. Ichwollte, unsere Leute könnten einmal aus dem Munde der unterdrück-ten Polen, Tschechen und Ungarn hören, in welch grausamer Weisereligiöse Betätigung verfolgt und unterdrückt wird … « so argu-mentierte Konrad Adenauer bereits 1950.

Richtig in Schwung geriet die Geschichtsrelativierung dennocherst 1986 mit dem sog. Historikerstreit.Hauptakteur war hier Ernst Nolte5, der am 06.06.1986 in derFAZ eine Rede veröffentlichte, in der er die unter sowjetischerVerantwortung begangenen Massenmorde und die Vernichtungder europäischen Juden durch die Nationalsozialisten durcheinen »kausalen Nexus« miteinander verknüpft. SeineKernthesen formulierte er in suggestiven Fragen: »Vollbrachtendie Nationalsozialisten (… ) eine ‚asiatische’6 Tat vielleicht nur des-halb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirklicheOpfer einer ‚asiatischen’ Tat betrachteten? War nicht der ‚ArchipelGulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord’der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘der Nationalsozialisten?«Dieser Interpretation zufolge stellen die unter bolschewisti-scher Herrschaft begangenen Verbrechen nicht nur einen histo-rischen Vorgriff auf die nationalsozialistische

Vernichtungspolitik dar. Der Holocaust erscheint vielmehr alsvermeintlicher Notwehrakt des NS-Regimes, das, nach NoltesAuffassung durchaus zu Recht, eine existentielle Bedrohungdurch den Bolschewismus fürchtete. Nolte verlieh Auschwitzeine scheinbare Plausibilität, indem er den Versuch unternahm,den Handlungsmotiven der Nationalsozialisten einen rationa-len Kern zuzuschreiben. »Auschwitz resultiert nicht in erster Linieaus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht einbloßer Völkermord, sondern es handelte sich vor allem um die ausAngst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge derRussischen Revolution.«Nolte vertrat seine Thesen später im »Journal of HistoricalReview«, einem Magazin für internationale Auschwitzleugner.Einige Jahre später erhielt er von der CDU-nahen Deutschland-Stiftung den Adenauerpreis und wurde erst kürzlich von der»Welt« als einer der »klügsten Geschichtsdenker des 20. Jahrhunderts«gefeiert.Die Thesen Noltes wirkten sich sehr stark auf denAntitotalitarismusdiskurs aus. In Bezugnahme auf denHistorikerstreit erklärte Hans-Helmut Knütter, der dieExtremismusdoktrin im Bundesinnenministerium (BMI) und inder politischen Bildung stark prägte, in einer BMI-Veröffentlichung: »Die Aufklärung kommunistischer Untaten legtes nahe, nationalsozialistische Taten zu relativieren, und eben nichtals einmalig und unvergleichbar erscheinen zu lassen.«

VERHARMLOSUNG VON NEONAZIS

Hans Helmut Knütter war von 1985 bis 1989 Mitglied desWissenschaftlichen Beirates der Bundeszentrale für politischeBildung (bpb). Als Referent trat Knütter bis 1995 für die bpb,bis 1994 parallel für das Bundesinnenministerium auf.Adressaten seiner Vorträge waren insbesondereMultiplikatoren wie HochschullehrerInnen, Jugend- undSozialarbeiterInnen sowie SchülerzeitungsredakteurInnen. DieThemenpalette umfasste dabei schwerpunktmäßig Referate zuRechtsextremismus und Nationalsozialismus. Dass dieBundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AbgeordnetenUlla Jelpke (PDS) bezüglich Knütters Schaffen für bpb und BMIfeststellte, dass sich Knütter durch »seine wissenschaftlicheQualifikation« und durch seine »Sachkenntnis, insbesonderezum Antitotalitarismus« ausgewiesen habe, erscheint bei demFundus, aus dem er schöpfen kann, als durchaus konsequent.Seine Sachkenntnis zum »Antitotalitarismus« durfte Knütterebenso in der von der bpb herausgegebenen Wochenzeitung»Das Parlament« zum Besten geben, wie auch in derBroschürenreihe »Texte zur Inneren Sicherheit« des BMI.Am Beispiel des bis heute an der Uni Bonn im FachbereichPolitische Wissenschaft beschäftigten Hans Helmut Knütterlässt sich sehr gut zeigen, was Antitotalitarismus tatsächlichbedeutet. Recherchiert man diesem Namen etwas hinterher,stößt man schon nach kurzer Zeit auf ziemlich grausigeSachen: Der Autor des Buches »Die Faschismuskeule - Das LetzteAufgebot der Linken« und ständige Mitarbeiter der JungenFreiheit ist dem Extremismus, genauer dem Rechtsextremismusnämlich gar nicht so abgeneigt:An der Universität fungierte Knütter lange Zeit als Mentor undVertrauensdozent des studentischen Ost-West-Arbeitskreises,

5 Neben Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand, Michael Stürmer auf der einen und Jürgen Habermas und Rudolf Augstein auf der anderen Seite6 Den Begriff der »asiatischen Tat« bezog Nolte auf den Völkermord an den Armeniern

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der sich im Rahmen des Studiums neonazistische Referentenwie den Auschwitz-Leugner David Irving eingeladen hatte.Auch ein Liederabend des »nationalen Barden« FrankRennicke, ehemaliger Aktivist der inzwischen verbotenenWiking Jugend, durfte im Angebot des Ost-West-Arbeitskreisesnicht fehlen.Auch eine der ersten Anti-Antifa-Seiten »Links-enttarnt!«wurde von ihm betrieben.Die Liste an Aussagen, Broschüren oder Büchern, die Knütterals Rechtsextremen auszeichnen, ist ebenso schier endlos wiedie der Vereine und Organisationen, in denen er aktiv ist.Mittlerweile wird der CDUler selbst vom Verfassungsschutzbeobachtet. Dieser sollte sich seiner Meinung nach aber eherum die SPD-Jugendorganisation, einzelne Gewerkschaften desDGB und »linksextrem ausgerichtete Teile der evangelischenKirche« kümmern.Nun darf aber nicht der Eindruck entstehen, Leute wie Knütterwären »Ausrutscher« oder »Betriebsunfälle« der zuständigenBehörden. Ganz im Gegenteil. Diese brauchen nämlichDenkerInnen, die Rechtsextremismus verharmlosen undAntifaschistInnen als den Hauptfeind der Demokratie enttar-nen. Nur deshalb ist es möglich, dass er in einer vomBundesinnenministerium herausgegeben Broschüre «HatRechtsextremismus ein Chance?«Neonazis als Hirngespinst der Linken darstellen kann: DieBedeutung des Rechtsextremismus »scheint nur in denVorstellungen seiner Gegner zu liegen, die sich des rechtsextremenSchreckbildes oft nur zur Ablenkung bedienen.«

Zu den bis dahin massivsten ausländerfeindlichenAusschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte kam esim August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Eine Woche langgriffen mehrere hundert junge Rechtsradikale dieFlüchtlingsunterkunft und ein von vietnamesischenVertragsarbeiterInnen bewohntes Haus an. Während derAusschreitungen konnten sich gewalttätige Rechtsextremistenimmer wieder in eine Menge von zeitweise bis zu 3.000Rostockern zurückziehen, die den Neonazis applaudierten undihnen Unterstützung boten. Die Rolle der Polizei, die erst dienötigen Einsatzkräfte zur Verfügung hatte, als es darum ging,die aus dem gesamten Bundesgebiet anreisenden Antifa-schisten zu drangsalieren, ist bis heute nicht geklärt. Erst zehnJahre später wurden gegen einige wenige der Angreifer sehrgeringe Strafen verhängt.

In der Zeit nach diesem Pogrom7, gab es eine Ausgabe der vomdeutschen Bundestag und der bpb herausgegebenen Zeitung»Das Parlament« in der einige Artikel - nicht etwa zu Neonazis- sondern zum Totalitarismusbegriff abgedruckt waren.Insgesamt wirkte diese Ausgabe wie eine rechte Kampfansagean den angeblich immer noch herrschenden linken Zeitgeist. Eswaren ausschließlich rechte Autoren - darunter selbst KarlheinzWeißmann - beteiligt. Diese Politologen und Publizisten hieltenes für geboten, den »antitotalitären Grundkonsens« einzufordern,

wobei gleichzeitig bedauernd festgestellt wurde, dass die»fremdenfeindlichen Gewalttaten« nur von diesem »antitotalitärenGrundkonsens« ablenken würden, ja »für die zusammengebroche-ne, desorientierte Linke (…) geradezu ein Geschenk des Himmelsgewesen«8 seien. Diese Aussagen waren nicht nur zynischgegenüber den Opfern des rassistischen Terrors, sondern auchin Hinsicht auf die Realität grundfalsch. Die Täter wareneigentlich klar zu identifizieren: Neonazis und normaleDeutsche. In »Das Parlament« sind es jedoch die Neonazisallein gewesen, die man nun »antitotalitär« bekämpfen müsse.Damit hatte man es geschafft, sie mit den Linken auf eine Stufezu stellen.

Dass die Gleichsetzung von Rechts und Links, wie sie auch derbayerische Innenminister Günther Beckstein fordert, wenn erbedauert, dass »die Antifa-Aktivitäten der Autonomen, die inder Öffentlichkeit, weil gegen Rechtsextremismus gerichtet, lei-der nicht auf die gleiche Ablehnung stoßen wie rechtsextremi-stische Gewalttaten« , auch praktisch völliger Quatsch ist, zeigtallein die Zahl der Tötungsdelikte. So fielen allein zwischen1990 und 2000 mindestens 136 Menschen rechter Gewalt zumOpfer. (Weit mehr als auf das Konto der von »Killerinstinktenbestimmten« und von »Sadismus« getriebenen »Terroristen«der RAF während ihrer gesamten Bestehenszeit gingen. Dieletzten inhaftierten RAF-Mitglieder sitzen übrigens nochimmer bzw. haben länger im Gefängnis gesessen als FriedrichFlick oder all die anderen Judenmörder.)

Die politische Mitte in Rostock-Lichtenhagen

7 Besondere Bedeutung erhält dieser Fall zusätzlich dadurch, dass er auch Vorwand für die faktische Abschaffung des Asylrechts (Grundgesetzänderung!) im Jahre 1993war.8 Knütter, Die Faschismus-Keule9 Bayrischer Verfassungsschutzbericht 200410 das BKA spricht lediglich von 22 Tötungsdelikten11 Hamburger Abendblatt12 Frankfurter Allgemeine13 Dieser saß gerade mal 3 Jahre, Christian Klar z.B. sitzt gerade sein 24igstes Jahr ab.

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KONSTRUKTION DER MITTE

Neben all den bereits erwähnten Funktionen derTotalitarismusdoktrin besteht eine weitere darin, die politischeMitte zu konstruieren und diese als ein nicht zu hinterfragen-des Ideal zu verewigen. Sie macht jeglichen Versuch, eineUtopie auch nur zu denken zunichte, da sie ihn sofort desMassenmords bezichtigt.14 Dies funktioniert sowohl auf einertheoretischen, politischen Ebene als auch konkret in denZusammenhängen in denen sich Linke bewegen: Jeder, der sich in solchen aufhält, kennt wahrscheinlich dieVorwürfe: man wäre genauso intolerant wie die Nazis, auch beiden Linken gäbe es Führer, meistens sind diese dann auch nochunglaublich arrogant, auch würde man die Meinung andererunterdrücken und ihnen die seine aufdrücken usw. Es soll aus-gesagt werden, dass man prinzipiell schon auf der Seite derLinken wäre, wären diese nicht so wie beschrieben. Doch dieseAnnahme ist grundsätzlich falsch. Der Grund, warum sie soargumentieren, ist ganz einfach: Es besteht kein Interesse anrevolutionärer Veränderung. Um wieder die Ebene der Jugendsubkulturen zu verlassen, andieser Stelle noch einmal der Rückgriff auf den KPD-Vorsitzenden Max Reimann. Egal ob es sich um die faktischeAbschaffung des Asylrechts, die Einführung des Lauschangriffsoder um den Angriffskrieg gegen Jugoslawien handelte –immer waren Grundgesetzänderungen nötig bzw. wurde ein-fach gegen das Grundgesetz verstoßen.Immer waren es Linke und KommunistInnen, die gezwungenwaren, zu protestieren und das Grundgesetz zu verteidigen.Und immer wurden diejenigen, die z.B. gegen den vonDeutschland geführten Krieg protestierten kriminalisiert:»Antimilitarismus - gegen Krieg, NATO, Bundeswehr undMilitäreinsätze bzw. die angebliche Großmachtpolitik Deutschlandgerichtete Agitation und Aktivitäten - war 1999 ein wesentlichesAktionsfeld im Bereich Linksextremismus.«15

Die Grenzen, wo Extremismus beginnt, werden von denHerrschenden immer nach deren momentanen Bedürfnissendefiniert. Vor allem nach Rechts wird die Grenze immer weiterverrückt und immer unklarer. Parolen und Forderung, die voreinigen Jahren sich nicht einmal die NPD hätte laut sagen trau-en, werden mittlerweile von den meisten demokratischenParteien ausgesprochen. Gleichzeitig findet von Seiten dieserständig der Versuch einer Abgrenzung vom braunen, mord den

Mob statt. Das ist die adäquate und notwendige Antwort einerGesellschaft, die den Faschismus nicht an sich selbst wahrneh-men, die ihr eigenes Unbewusstes, das »gewalttätige« und»totalitäre« Potential, nicht bei sich selbst finden, und die sichdaher ihrer eigenen Ausgeburt nur entledigen kann, indem siees als das »Andere« schlechthin, als das ihr völlig Äußere undZufällige abspaltet und abstößt. Faschismus erscheint so nichtals die zwingende Folge der bürgerlichen Gesellschaft – würdeer das, wäre das einzige wirksame Mittel gegen ihn vorzuge-hen, die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden – sondern alsetwas, was außerhalb ihrer Macht steht. Man ist blind gegen-über der Tatsache, dass die Ideologeme der extremen Rechtenihren Platz weit in der Mitte des gesellschaftlichen Raumshaben. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der denBegriff des »Extremismus der Mitte« prägte und die Jahrbücher»Deutsche Zustände« veröffentlicht, wurde allein wegen dieserAussage schon als Staatsfeind angesehen. »Wer vomExtremismus der Mitte spricht, entgrenzt den Extremismusbegriffund macht ihn unbrauchbar, delegitimiert gar den demokratischenVerfassungsstaat.« So einer der führendenTotalitarismustheoretiker, Eckard Jesse.

Die Totalitarismustheorie kann also auch als die wichtigsteTheorie derer verstanden werden, die den Zusammenhangzwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus noch nie verstanden haben oder ihn nicht wahrhaben wollen.

EGAL OB ES NUN DIE STAATLICHEN VERFOLGUNGSBEHÖRDEN ODER

DIE »ALTERNATIVEN« JUGENDLICHEN AUS DEM UMFELD LINKER

SZENEN SIND: DIE TOTALITARISMUSTHEORIE DIENT DENJENIGEN,DIE AM BESTEHENDEN FESTHALTEN WOLLEN. DENEN, DIE IHRE

UNWISSENHEIT ALS »IDEOLOGIEFREIHEIT« UND »NEUTRALITÄT«VERSTEHEN UND SELBST DA, WO SIE DEM FASCHISMUS OFFEN ENT-GEGENTRETEN, IN IHM NICHT DEN AUSWURF DER BÜRGERLICHEN

GESELLSCHAFT SELBST SEHEN KÖNNEN.

Mosa Pijade

14 So auch die »Freunde der offenen Gesellschaft«15 VS Bericht 1999

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Der Begriff Extremismus beschreibt die Politik bestimmterGruppen, ihre Ziele und Methoden, als fundamentaleAbweichung von den Werten der jeweils bestehendenGesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Er wird vomVerfassungsschutz, Politikern und manchen bürgerlichenMedien ständig verwendet, um zu betonen, dass Links- undRechtsextremismus grundsätzlich das Gleiche seien, verfas-sungsfeindlich nämlich und deswegen mit aller Härte zubekämpfen. Problematisch bei dieser Gleichsetzung ist, dassdie von Linken ausgehende Gefahr krass übertrieben wird, dievon Rechts wird verharmlost. So (unter-)schreibt GüntherBeckstein im Vorwort des bayerischen Verfassungs-schutzberichtes 2004: »Im Jahr 2004 war vor allem derRechtsextremismus ein weiterer Schwerpunkt derAufklärungsarbeit des Verfassungsschutzes in Bayern. DieWahlerfolge von NPD und DVU, vor allem bei denLandtagswahlen in Sachsen und Brandenburg und zuvor schonbei der Europawahl, sind ein Alarmsignal für alle Demokraten.Auch wenn ein Großteil der Wähler die extremistischenParteien nur aus Protest gegen die Regierungspolitik gewählthaben sollte, so bleibt doch die Erkenntnis, dass es den demo-kratischen Parteien wohl nicht gelungen ist, den Wählern zuvermitteln, dass die platten Theorien und plumpenLösungsvorschläge der extremistischen Parteien dieWirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme Deutschlands nur nochverstärken, nicht aber lösen.«1

Es stellt sich nun die Frage, warum der Begriff extremistisch,der ganz klar sowohl links- als auch rechtsextremistischumfasst, gleich zweimal für die rechtsradikalen Parteien DVUund NPD verwendet wird. Soll deutlich gemacht werden, dassdie linksradikalen Parteien, auch wenn dies im Moment nochnicht der Fall ist, möglicherweise irgendwann einmal den Platzvon NPD und DVU einnehmen könnten und man deswegenvor ihnen gleich mitwarnt? Also dass die Parteien vom linkenund vom rechten Rand die gleichen Methoden haben, die glei-che Wählerschaft und sie deswegen austauschbar sind?Auch rechte Gewalt wird relativiert. So bedauert HerrBeckstein, dass »linksextremistische Gewalttaten«, wie z. B. dieStörung der Münchner Sicherheitskonferenz und »die Antifa-Aktivität der Autonomen«, in der Öffentlichkeit »leider nichtauf die gleiche Ablehnung stoßen wie rechtsextremistischeGewalttaten.«2 Rechte Gewalt, die sich vor allem gegen Flüchtlinge, MigrantInnen, religiöse Minderheiten, Obdachlosesowie andere Randgruppen richtet und die seit derWidervereinigung mindestens 136 völlig unschuldigenMenschen das Leben gekostet hat, wird mit linker Gewalt, diesich fast ausschließlich gegen Dinge, Nazis oder aufDemonstrationen gegen die Polizei richtet gleichgesetzt. BeimVerfassungsschutz ist man mit Herrn Beckstein einer Meinungund kümmert sich besonders eifrig um Linksradikale:So beschäftigen sich im Amt neun Mitarbeiter mit fünfziggewaltbereiten Linken, während für 1.500 gewaltbereite Rechte

vierzehn Leute abkommandiert sind. ( »Stern« vom 4. Mai2000)Antifaschismus, der lange Zeit für Staat und breite Öffentlich-keit völlig uninteressant war und nur von linken Gruppenbetrieben wurde, ist seit dem Jahr 2000 unter dem Motto»Aufstand der Anständigen staatlich verordnet. Um jedoch denUnterschied zwischen dem friedlich-kreativen Protest derBürger und dem der Linken klar herauszustellen, betont derVerfassungsschutz, dass der »Antifaschistische Kampf« der»gewalttätigen Linksextremisten«/«fanatischen Autonomen«aus »brutalen Aktionen gegen tatsächliche oder vermeintlicheRechtsextremisten« besteht und deswegen zu verurteilen ist.»Die Rechtsextremisten reagieren darauf ebenfalls mitGewalt«3, d.h. sie handeln aus Notwehr, die Aggressionengehen angeblich von den Linken aus. Der VS kann zahlreicheSchauermärchen über Linksextremisten erzählen, die größten-teils einfach nur lächerlich sind. Zu befürchten bleibt jedoch,dass sie von einem Großteil der Bevölkerung nicht hinterfragtwerden – so steht in der Broschüre »VS gegenLinksextremismus«: »Das Recht auf Leben (...) gilt ihr (derextremistischen Linken) im Zweifel wenig oder nichts.«4

Diese These, die nicht begründet wird, diffamiert alleLinksextremisten als potentielle Mörder. Eine Behauptung, dievöllig aus der Luft gegriffen ist. Seit dem Fall des GSG-9-Beamten Michael Newrzella, der am 27. Juni 1993 in BadKleinen von dem RAF-Mitglied Wolfgang Grams erschossenwurde, begingen Linksextremisten in Deutschland keinenMord mehr.Doch nicht nur die angeblich von ihr ausgehende Gewalt istein Grund für die Dämonisierung der Linken.Der Kampf gegen den Linksextremismus wird auch historischbegründet. Denn der Verfassungsschutz weiß: schon »die ersteDemokratie auf deutschem Boden – die Weimarer Republikwurde von linken und rechten Verfassungsfeinden zerrieben.Sie endete in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«5 Eswird also den Linken eine bedeutende Mitschuld an derMachtergreifung der Nazis, und damit in letzter Konsequenzsowohl am 2. Weltkrieg, als auch am Holocaust unterstellt. DieTatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen zudieser Zeit antidemokratisch gesinnt war, sich nach einemautoritären System (zurück-)sehnte und sich für denNationalsozialismus begeisterte, wird nicht erwähnt. Dass dieArbeiterbewegung, als eine der wenigen und der entschieden-sten Gegnerinnen des Nationalsozialismus, entscheidend zudessen Erfolg beigetragen haben soll, ist schlichtweg falsch.Das Einzige was den Arbeitern vorzuwerfen ist, ist, dass sie dieNazis unterschätzten und zu viel Energie darauf verwendetendie Sozialdemokraten bzw. die Kommunisten zu bekämpfen,statt sich gegen die Faschisten zu verbünden, was aber dieUnterstellung des VS keineswegs rechtfertigt oder belegt.Außerdem habe die »kommunistische Diktatur« in der DDRund der Sowjetunion gezeigt, dass »Linksextremismus in sei-

Total totalitär – Der Umgang des Verfassungsschutzes mit

politischem Extremismus

1 bayerischer VS-Bericht 20042 ebenda3 Verfassungsschutz Bayern, Faltblatt »Terror und Gewalt«4 BfV, Broschüre »Verfassungsschutz gegen Linksextremismus«5 Verfassungsschutz Bayern, Faltblatt »Verfassungsschutz«

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ner Praxis und in seiner Konsequenz totalitär, diktatorisch« sei,sowie »die Freiheit jedes einzelnen«6 gefährde. Dass die über-wiegende Mehrheit der Menschen, die sich heute alsKommunistInnen bezeichnen, auf keinen Fall dieWiederauferstehung des Stalinismus/ Realsozialismus anstre-ben und durchaus eine Weiterentwicklung stattgefunden hat,wird schlichtweg geleugnet, Kommunismus mit Stalinismusgleichgesetzt. »Die noch aktiven linksextremen Organisationenhaben sich inzwischen auf die veränderte Situation (nachZusammenbruch des Realsozialismus) eingestellt. Ihre verfas-sungsfeindlichen Ziele haben sie allerdings nicht aufgegeben:Revolution, Klassenkampf und »Diktatur des Proletariats«.«7

Insgesamt wird ein Bild gezeichnet, dass die radikalen Linkenals fanatische Gewalttäter darstellt, denen alle Mittel recht sind– auch Mord – um den Kommunismus à la Stalin wiederaufer-stehen zulassen und alle Errungenschaften der Aufklärung, wiez.B. die Freiheits- und Menschenrechte, sowie die politischeMitbestimmung abzuschaffen.

Im Gegensatz dazu scheint es, als ob sich derVerfassungsschutz, in Zusammenarbeit mit Regierung undJustiz, sehr darum bemüht die von den Rechten ausgehendeGefahr zu verharmlosen. Das zeigt sich vor allem im Umgangmit Statistiken rechter Gewalttaten. So konstatierte Ulla Jelpke(MdB für die PDS, Journalistin für u.a. die Junge Welt), dieregelmäßig parlamentarische Anfragen über »ausländerfeindli-che und rechtsextremistische Ausschreitungen« / »antisemiti-stische Ausschreitungen« und kleine Anfragen zu rechtsextremmotivierten Tötungsdelikten an die Bundesregierung stellt,»dass die Zahlen, mit denen das Bundesministerium desInnern, die Parlamentarier und die Öffentlichkeit über dasAusmaß rechtsextremistischer Straftaten und Gewalttateninformiert, nur mangelhaft und unvollständig sind. Auch dieBereitschaft, überhaupt Auskunft über derartige Vorfälle zugeben, ist nicht sonderlich augeprägt.«8

Die Anlaufstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt in Cottbusschätzt etwa, dass »weniger als ein Zehntel aller rechtsextremoder rassistisch motivierten Gewalttaten als solche an dieÖffentlichkeit« gelangen. Der Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums, Julius Schoeps, geht davon aus, dassjüdische Friedhöfe in Deutschland zwei bis dreimal so häufiggeschändet werden, als von den Verfassungsschützern angege-ben.D.h. die Statistiken sind schlichtweg falsch.Das liegt daran, dass die Landeskriminalämter viele eigentlichoffensichtlich rechtsextreme Straftaten nicht als solche anerken-nen, um die Fallzahlen möglichst niedrig zu halten und denRuf der Regionen nicht zu schädigen. Selbst bei Mordenbesteht eine große Diskrepanz zwischen offiziellen Angabender Regierung und unabhängigen Statistiken. Am 14.September 2000 hatten die Tageszeitungen »FrankfurterRundschau« und »Der Tagesspiegel« eine Übersicht von 93Fällen veröffentlicht, bei denen seit 1990 Menschen unter-schiedlichster Herkunft und Staatsangehörigkeit aus rechtsex-

tremen, rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven getötetworden waren. Bis dato hatte die rot-grüne Bundesregierunglediglich 24 Tote als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Im Mai2001 wurde eine Reform des KriminalpolizeilichenMeldediensts »Politisch motivierte Kriminalität«(KMPD-PMK)durchgeführt. Ab jetzt wurden auch Gewalttaten gegenFlüchtlinge, Homosexuelle, Behinderte, MigrantInnen, alterna-tive Jugendliche und Obdachlose als politisch rechts motiviertangesehen, was vorher größtenteils nicht der Fall war. Dochselbst nach einer erneuten Überprüfung der Fälle durch dieLandeskriminalämter ging das Innenministerium von der reali-tätsfernen Zahl von 36 Opfern aus.9 Die Abweichungen sindauch nach der Reform noch erheblich. Wurden vomLandeskriminalamt (LKA) im Jahr 2004 107 rechtsmotivierteGewalttaten registriert, so spricht eine unabhängige Statistik(Opferperspektive) im selben Zeitraum von 134 Angriffen.Zwei mögliche Gründe für diese Diskrepanz sind, dass dieTatmotive vor Gericht nicht ausreichend geklärt werden oderder politische Hintergrund von der Polizei »übersehen« wird.Ein Beispiel: am 20. Juni 2005 meldete die FürstenwalderPolizei: »In der Nacht zum Sonntag wurde der Polizei gegenMitternacht eine Schlägerei im Fürstenwalder Stadtpark gemel-det. Nach ersten Informationen handelte es sich dabei um eineAuseinandersetzung zwischen zwei Jugendgruppen mit meh-reren Personen.« Kein Wort davon, dass die Täter rechtsorien-tierte Jugendliche und die Opfer Punks und Alternative waren,kein Wort von den Beschimpfungen wie »Zecken, wir töteneuch« und »ihr roten Schweine«, kein Wort davon, dass es eineinseitiger Angriff von Rechten auf Punks war. Stattdessenwird der Angriff zu einer »Auseinandersetzung zwischen zweiJugendgruppen« entpolitisiert, für die beide Seiten gleicherma-ßen verantwortlich erscheinen. Dieses Interpretationsmuster istdurchaus typisch, wie alternative Jugendliche oft erfahren müs-sen. Auch wenn die Fürstenwalder Polizei diese falscheErsteinstufung im weiteren Verlauf der Ermittlungen korrigier-te, so ist nicht davon auszugehen, dass dies bei falschenEinstufungen generell geschieht.10

Doch selbst die viel höheren Zahlen der unabhängigenChroniken rechter Gewalt, die solche Fälle aufnehmen, sindnicht vollständig. Schätzungen über das Dunkelfeld nicht ange-zeigter rechter Gewalttaten sind kaum möglich, Studien zu die-ser Frage noch nicht erschienen. Die Angabe des DresdnerProjekts »Anstiftung« aus dem Jahr 2000, dass »rundDreiviertel aller Übergriffe von Rechtsradikalen gegenAusländer in den neuen Ländern […] nicht zur Anzeige [kom-men]«, beruhte auf groben Schätzungen von Experten undersetzt keine Dunkelfeldanalyse.11 Anzunehmen ist, dass insbe-sondere Angriffe, die für manche Opfer fast alltäglich sind, wieBedrohungen oder Nötigungen, oft nicht zur Anzeige gelan-gen.Auch wird häufig die Anzahl rechtsextremerPropagandadelikte (überwiegend Hakenkreuzschmierereien)verringert, indem man sie zu nicht politisch motiviertenPropagandadelikten zählt, mit der Begründung, dass im

6 BfV, Broschüre »Verfassungsschutz gegen Linksextremismus«7 Verfassungsschutz Bayern, Faltblatt »Kommunismus«8 http://lobbi-mv.de9 ebenda10 www.opferperspektive.de11 ebenda

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Regelfall keine Hinweise auf den Täter und dessen Motivationvorlägen. Daher meldete das Land Berlin im »Bericht über dieKriminalitätsentwicklung in Berlin 2001« zwar insgesamt 1397Straftaten nach §§86,86a StGB (Verbreiten/Verwendung vonPropagandamitteln verfassungswidriger Organisationen).Davon werden jedoch lediglich 238 als »politisch motiviert –rechts« eingeordnet und in die entsprechende Gesamtfallzahlmit aufgenommen.12

Außerdem kann man sagen, dass Neonazis eher als meist jungeOpfer der Gesellschaft, als Verlierer die sich ausgegrenzt fühlenund deswegen den Parolen der Rechten verfallen, als als mün-dige Menschen, die für ihr Handel und ihre Meinung selbstverantwortlich sind, charakterisiert werden. Der oft etwas zaghafte Umgang des Verfassungsschutzes mitden Nazis zeigt sich insbesondere darin, dass er sich die mei-sten Informationen, die er über rechte Strukturen hat, von sogenannten V-Leuten geben lässt. Der Verfassungsschutz arbei-tet also bei ihrer Bekämpfung mit den Rechten zusammen. DieV-Leute sind Nazis, die vom VS angeworben werden undgegen Geld oder Strafmilderung wahre oder erlogeneInformationen preisgeben. Die Geschichte der Arbeit mitSpitzeln belegt, dass dieses Mittel zur Bekämpfung derRechtsextremen seinen Zweck oft verfehlte und dadurch dieStrukturen gefördert und geschützt wurden. Es wurde finan-

zielle und strukturelle Aufbauhilfe geleistet. Oft entstandenneonazistische Gruppen erst durch die V-Leute.13

Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass die sogenannte »Grauzone«, also jene Organisationen die zwischenRechtsextremen und einem breitem konservativen Spektrumagieren, nicht erwähnt werden. So wird kaum oder gar nichtauf Studentenverbindungen wie die »deutscheBurschenschaft« oder die »deutsche Gildenschaft« eingegan-gen. Auch Vertriebenenverbände und ihr Drumherum wie die»Junge Landsmannschaft Ostpreußen« oder die Zeitung »DerSchlesier« bleiben unerwähnt.

So erleichtert der Verfassungsschutz das Leben derRechtsextremen in vielerlei Hinsicht, er relativiert bzw. ver-schweigt ihre Gewalttaten, diffamiert die Linken, als ihre ent-schiedensten Gegner, verlässt sich bei seinen Recherchen aufdie Aussagen überzeugter Nazis und lenkt von der Gefahr ab,die v.a. von ihrem Einzug in die Parlamente ausgeht, indem erdie Linken bei jeder Gelegenheit als gewalttätigeFanatikerInnen dämonisiert und in den Mittelpunkt seinerArbeit stellt.

Franny Berry

12 ebenda13 AIB, Nr.51, 02.2000

Das Totalitarismusmodell Hannah Arendts

Nach dem zweiten Weltkrieg war es zuerst Hannah Arendt, diemit ihrem »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (inAmerika 1950, in Deutschland 1955 veröffentlicht) ein Modellder Totalitarismustheorie hervorbrachte. Damit war eines derbedeutendsten Werke der Totalitarismusforschung geschrieben– und zwar genau zur richtigen Zeit: der Kalte Krieg war invollem Gange und jede Unterstützung im Kampf gegen denFeind im Osten wurde gerne angenommen. Mit dem Konzeptdes Totalitarismus konnte man nun jede in Bezug auf dieSowjetunion getroffene Maßnahme begründen. Immerhinwurde der neue, der kommunistische Feind jetzt als genausogefährlich erkannt, wie es vor kurzem noch Nazi-Deutschlandwar. Und dies sogar mit einer (scheinbaren) wissenschaftlichenBegründung. So übernahm man dankend diese Theorie, und esdauerte nicht mehr lange, bis sie zur offiziellen Staatsdoktrinvieler westlicher Staaten erhoben wurde. Für denSchulunterricht als verbindlich erklärt, zog sie z.B. in die Köpfeder amerikanischen SchülerInnen ein. Aber auch in der BRD verabschiedete man ohne größereKontroversen 1962 die ‚Richtlinien für die Behandlung desTotalitarismus im Unterricht’. Damit hatte man dieTotalitarismustheorie nun endgültig als richtig und erwiesenerklärt und sie fest in der gesellschaftlichen Meinungsbildungverankern können. Denn besonders interessant war dieseTheorie von den Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten NS-Deutschlands mit der kommunistischen Sowjetunion vor allemfür die Bundesrepublik. Immerhin eignete sie sich bestens, denFokus auf Taten anderer zu lenken, von den eigenen nicht

mehr reden zu müssen und somit auch um herauszustellen,dass die Schuld Deutschlands vielleicht doch nicht so einzigar-tig sei, wie bislang – von einigen – angenommen. Endlich standman nicht mehr alleine am Pranger und durfte sogar selbst mitdem Finger auf andere zeigen. Im Folgenden soll nun Hannah Arendts Konzept des totalenStaates vorgestellt und diskutiert werden.

DIE ELEMENTE UND URSPRÜNGE

Ihr Buch beginnt Hannah Arendt mit einem langen Kapitel, indem sie eine Analyse der Entwicklung des Antisemitismus im19. Jahrhundert und dessen Bedeutung für das Entstehen einertotalen Herrschaft vornimmt. Während der bereits seitJahrhunderten bestehende Antijudaismus vorwiegend religiösmotiviert war – in den Jüdinnen/Juden sah man in erster Liniedie Christusmörder – kam im 19. Jahrhundert der rassistischund völkisch argumentierende Antisemitismus auf, der voneiner biologistischen Klassifizierung in Rassen und Völker aus-geht und ein »jüdisches Wesen« unabhängig von der Religionkonstruiert. Denn erst zu dieser Zeit, als die Jüdinnen/Judenteilweise in Europa emanzipiert waren, hatten sie auch dasBedürfnis ein Teil der (nichtjüdischen) Gesellschaft zu werden.Hier beginnt der »Antisemitismus eine Rolle für dieKonservierung des Volkes zu spielen« und wird als eine irratio-nale Ideologie an den Nationalismus gebunden. Gerade bei denDeutschen ist, nach Arendt, das Bedürfnis sich gegen dieAssimilation der Jüdinnen/Juden zu wehren, besonders ausge-prägt. Da es in Deutschland nie zu einer nationalen

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Emanzipation, wie in Frankreich mit der Revolution von 1789,kam, sei gerade hier die »völkische Verbundenheit (…) Ersatzfür nationale Emanzipation« gewesen: »Das völkische Elementist für den deutschen Rassebegriff lange entscheidend geblie-ben und (...) niemals ganz aus ihm verschwunden. DieBedingungen und politischen Zwecke, die Abwehr derFremdherrschaft und die Einigung des Volkes, haben zuminde-stens bis zur Reichsgründung in der Entwicklung desRassebegriffs mitgewirkt, so daß sich hier in der Tat echterNationalismus und typische Rassevorstellungen vielfach mit-einander mischen und eben jenes völkische Denken erzeugen,das es nur im deutschsprachigen Bezirk gibt.«

Eine besondere Bedeutung für die Entwicklung dieser national-völkischen Ideologie macht Arendt nun im Imperialismus aus,den sie als weiteren Ursprung einer totalen Herrschaft siehtund im zweiten großen Kapitel ihres Buches untersucht. Für Hannah Arendt steht fest, dass die Idee des Nationalstaatsgescheitert ist. Immer gibt es Minderheiten oder unterschiedli-che Dialekte innerhalb eines Nationalstaats. Dieser hat sichaber eine Gemeinschaft mit einheitlicher Kultur, Sprache etc.zum Ziel gemacht. Um diese nun zu erreichen bleiben nur zweiMöglichkeiten: Assimilation oder Vernichtung der Minorität.Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass bisher der Weg derVernichtung bzw. Vertreibung gewählt wurde. Zerstört wurde der Nationalstaat aber vor allem durch dieEntstehung der neuen Herrschaftsform des Imperialismus.Durch die Zwänge der Funktionsweise der kapitalistischenProduktion war es nur eine Frage der Zeit, bis er die Bühnebetrat. Das Wirtschaftswachstum in den europäischen Staatenstieß irgendwann an seine Grenzen – der Markt war erschöpft.Überschüssiges Kapital kann aber nur weiterhin investiert wer-den, wenn auch neue ArbeiterInnen und neue KundenInnenvorhanden sind, und somit war der Startschuss zurKolonisation gegeben. Diese Expansion folgte demnach reinwirtschaftlichen Interessen: »Und so kam es, dass zum erstenMal die politischen Machtmittel des Staates den Weg gingen,der ihnen vom Kapital vorgewiesen war.« Dieser wirtschaftli-che Bereich steht bei Arendt allerdings im krassen Gegensatzzum politischen, dessen Unabhängigkeit sie also hier in Gefahrsieht. In den Kolonien wurde die Bevölkerung nicht regiert,sondern verwaltet. Ihr wurden keine Bürgerrechte eingeräumt,und sie war somit der Willkür der Kolonialherren ausgeliefert,welche nicht nach Gesetzen, sondern mittels Verordnungenherrschten. Wenn aber diese zum alleinigen Machtinstrumentwerden, ist für Hannah Arendt der Rechtsstaat passé.Stattdessen entsteht eine anonyme bürokratische Herrschaft.Die Zerstörung des Politischen durch den Imperialismus –Arendt stellt die These auf, dass das Politische in dem Maßezerstört wird, wie dem Imperialismus keine Grenzen gesetztwerden – bildet in mehrfacher Hinsicht eine Grundlage für dietotale Herrschaft.Der Imperialismus, also das Ende des Nationalstaates, bringteine Unmenge an Staatenlosen hervor. Wie bereits beschrieben,werden den nicht zum ‚Volk’ gehörenden Menschen ihreRechte genommen, sie werden vertrieben oder vernichtet. Mannimmt ihnen jegliche rechtliche und damit auch moralische

Position, schickt sie als Bedürftige über die Grenzen, macht siesomit auch in den Nachbarländern zu ungern gesehenen, dahilfebedürftigen Gästen, verstärkt dieses Bild noch durch ent-sprechende systematische Meinungsbildung und schafft es so,sie zu Menschen zu machen, denen jede Möglichkeit eines poli-tischen Engagements genommen ist. Wie wichtig derZusammenhang von Propaganda, Antisemitismus, einer Politikder Entrechtung der Flüchtlinge und der Gebundenheit vonRechten an eine Staatlichkeit für die Entstehung eines totalitä-ren Staates ist, wird deutlich wenn Arendt derenAuswirkungen auf die anderen Staaten beschreibt: «Denn nichtnur gelang es auf diese Weise, die Juden wirklich zumAbschaum der Menschheit zu machen, es gelang auch, was imGroßen gesehen ungleich wichtiger für totalitäre Herrschaftwar, praktisch, am Modell einer unerhörten Not für unschuldi-ge Menschen, darzulegen, daß solche Dinge wie unveräußerba-re Menschenrechte bloßes Geschwätz und daß die Proteste derDemokratien nur Heuchelei seien. Das bloße Wort‚Menschenrechte’ wurde überall und für jedermann, in totalitä-ren und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolger undBetrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischenoder schwachsinnigen Idealismus.«

Durch den Imperialismus kommt es aber noch zu einer ande-ren Veränderung, die als Vorstufe des totalitären Staatesbezeichnet werden muss. Im Zuge der Entfaltung desKapitalismus und der Expansion der Nationalstaaten entstehteine soziale Schicht, die Arendt abwertend als den ‚Mob’bezeichnet. Dieser ging, ihrer Meinung nach, ein Bündnis mitdem Kapital ein. Er folgte diesem bei seiner Ausbreitung,unterwarf sich ihm und den Interessen der bürgerlichenHerrschaft und gab alle seine Prinzipien auf. Der Mob als einProdukt der Gesellschaft, als ein Abfallprodukt der kapitalisti-schen Gesellschaft, setzt sich aus dem Müll aller Klassen undSchichten zusammen und erscheint somit als klassenloseGemeinschaft – oder später, im Jargon der Nazis, alsVolksgemeinschaft1. Gerade aus dieser sieht Arendt nun dieerste Führungsschicht des totalitären Staates kommen, der Mobwird den eigentlichen Kern des Faschismus bilden, aus ihmkann ein Umschlagen der Demokratie in Despotie hervorge-hen.Zum ersten Mal kam es Hannah Arendt zufolge zu einemBündnis zwischen Kapital und Mob, zu einem Staat mit demGrundprinzip des Rassengedankens und zur Entstehung einernicht nach Rentabilität funktionierenden Wirtschaft imBurenstaat. In Südafrika sei die »moderne Mobmentalität mitdem ihr so gemäßen Rassenwahn« ausgebildet und die »Ideedes ‚Verwaltungsmassenmordes’, mit der die Nazis dieJudenfrage lösten und mit der sie hofften, alle noch verbliebe-nen demographischen Probleme der Welt zu lösen« entwickeltund angewandt worden. Da man hier das »aus der GeschichteDeutschlands so bekannte Phänomen einer weder sozialisti-schen noch am Profit orientierten Wirtschaft« wieder findet, hätte Südafrika alles nötige für ein totalitäresRegime bereitgestellt.2

1 Arendts Ansicht der Mob wäre im Jargon der Nazis die Volksgemeinschaft ist äußerst fraglich. Denn das würde ja heißen, dass die von den Nazis propagierteVolksgemeinschaft nur den Abfall der kapitalistischen Gesellschaft umfassen würde, also nicht alle Deutschen.2 An dieser Stelle ist die Frage, ob denn im nationalsozialistischen Deutschland tatsächlich das »Phänomen einer weder sozialistischen noch am Profit orientiertenWirtschaft« zu finden ist, durchaus berechtigt.

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Alle erwähnten Voraussetzungen treffen jedoch nur – teilweise– für den Nationalsozialismus zu, nicht für die Sowjetunion,welche Arendt neben Hitler-Deutschland als den zweiten tota-litären Staat ansieht. Die ersten zwei Kapitel ihres Buches‚Antisemitismus’ und ‚Imperialismus’ wirken auch eher wieeine Geschichte des ‚Dritten Reichs’, welches man auch ohneZweifel als ein totalitäres Regime auf der Basis einerRassendoktrin bezeichnen kann. Im dritten Kapitel mit dem Titel ‚Totale Herrschaft’ verlässtArendt allerdings ihre Zielsetzung, einen »Frontalangriff aufdes europäische neunzehnte Jahrhundert« durchzuführen undbeginnt mit dem Versuch, die totalitären Elemente derSowjetunion herauszuarbeiten.

Bei beiden Regimes handelt es sich ihrer Analyse nach um die-selbe Staatsform. Damit diese entstehen konnte, brauchte eseinen Untergang der Klassengesellschaft und die nachfolgendeAtomisierung der orientierungslos gewordenen Massen. In die-ser gibt es dann keine Form von Gruppensolidarität mehr, undalle bisherigen sozialen Bindungen verschwinden. JederZusammenhalt mit ehemals Gleichgesinnten oderGleichgestellten ist zerbrochen, jedeR Einzelne ist verlassen.Eine auf den Führer ausgerichtete, anonyme Gesellschaft ent-steht. Gegenüber dem totalitären Machthaber treten alle ande-ren Beziehungen in den Hintergrund, die/der Einzelne geht inder Bewegung unter. Es gelten keine moralischen Prinzipienmehr, Denunziation steht auf der Tagesordnung. Solche totalitären Bewegungen sind überall dort möglich, wodie oben beschriebenen Massen existieren. Diese werden nichtvon gemeinsamen Interessen zusammengehalten – ihnen fehltjegliches spezifische Klassenbewusstsein – sondern sind ein-fach nur eine Gruppe, die durch ihre Größe oder ihreGleichgültigkeit für öffentliche Angelegenheiten sich in keinerOrganisation strukturieren lässt. Potential für solche Massengibt es jederzeit in bevölkerungsstarken Staaten. Solange es kei-nen totalitären Staat gibt, bilden sie die große Gruppe der poli-tisch Nichtinteressierten. Für eine solche Massengesellschaftsind Vereinzelung und Verlassenheit kennzeichnend und somitist für sie eine totale Herrschaft die adäquate politische Form.

Eine totalitäre Organisationsform der Gesellschaft und derenPropaganda sah Arendt als wichtige Mechanismen an, dieMenschen eines totalen Staates ruhig zu stellen, sie daran zuhindern, politisch aktiv zu werden.Noch wesentlicher und mächtiger sind allerdings die totaleIdeologie und der Terror.Unter Ideologie versteht Hannah Arendt eine Theorie, die ver-sucht, »nicht das, was ist, sondern (...) das, was wird, was ent-steht und vergeht« zu erklären. Für sie ist es das Wesen einerIdeologie, aus einer Idee eine Prämisse, »aus einer Einsicht indas, was ist, eine Voraussetzung für das, was sich zwangsmä-ßig einsichtig ereignen soll« zu machen. Ein weiteres Wesen der totalitären Herrschaft ist der Terror, dersich vor allem in den Konzentrationslagern zeige: »Die Lagerdienen nicht nur der Ausrottung von Menschen und der

Erniedrigung von Individuen, sondern auch dem ungeheuerli-chen Experiment, unter wissenschaftlich exakten BedingungenSpontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffenund Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichenBedingungen sich immer gleich verhalten wird, also etwas, wasselbst Tiere nicht sind.« Die Konzentrationslager3 waren dasModell und das Ideal der totalitären Herrschaft, hier wurdeden Menschen das genommen, was sie überhaupt erst zuMenschen gemacht hatte: ihre Möglichkeit nach eigenen Über-legungen zu handeln und neu zu beginnen. Angst undSchrecken werden durch eben diese Lager, aber auch durchDenunziation der vereinzelten Menschen in der Masse verbrei-tet. Unter solchen Bedingungen wird Handeln unmöglich, wirddie menschliche Spontaneität zerstört. Gerade aber darin ver-mutet Arendt die Fähigkeit, »eine Reihe von vorne anfangen zukönnen.« Sie meinte damit allerdings nicht die Idee des bürger-lichen Individualismus, sondern wollte die Möglichkeit, Fehlerzu machen, verteidigen. Wichtig sei, dass man nach einembegangenen Fehler von vorne beginnen, etwas Neues entwik-keln könne. Mit der Spontaneität ist in den totalitären Staatenjedoch nicht nur die Grundlage jeder Freiheit verschwunden,sondern auch die Möglichkeit, die Gesellschaft von innen her-aus zu verändern. Denn jedes Handeln, alles Politische wirddurch eben diese Spontaneität hervorgebracht, beruht auf ihr.Gibt es sie nun nicht mehr, gibt es auch keine politischeArtikulation, keine Opposition mehr, die eine andere Meinunganbietet und damit auch keine Aussicht auf eine Rettung,Befreiung von einem totalen Regime aus dem entsprechendenLand heraus.

In »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« schlägt sichHannah Arendt also lange damit herum, die totale Herrschaftals aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehende zubeschreiben. Sie betont deutlich das Moment der Kontinuitätder beiden Staatsformen, deren Entwicklung sie vor allem inBezug auf den Zwang des Kapitals zur Expansion darstellt4.Die Ordnung des totalen Staates ist aus der bürgerlichenGesellschaft erwachsen5 – doch was kommt nach einer totalitä-ren Herrschaft? Kann überhaupt noch etwas kommen? Dennimmerhin wird dort jede Möglichkeit der Befreiung zerstört.Für Hannah Arendt wird die Spontaneität aber mit jederGeburt eines Menschen aufs Neue wieder hergestellt und esergibt sich die Möglichkeit von vorne anzufangen, den Laufder Geschichte zu verändern. Darauf beruht Hannah Arendtsantitotalitäre Hoffnung.

KRITIK AN ARENDTS TOTALITARISMUSKONZEPTION

Nachdem jetzt beschrieben wurde, welche Merkmale Arendteiner totalitären Herrschaft zuschreibt, soll im Folgenden dar-auf eingegangen werden, wie sie diese im Nationalsozialismusund im Stalinismus wiederfindet. Diese beiden Staaten, das»Dritte Reich« und die Sowjetunion unter Stalin stellen fürHannah Arendt die einzigen totalen Regime dar. Alle anderenStaaten, auch die Satellitenstaaten der Sowjetunion, die DDR,die Volksrepublik China und auch die UdSSR nach dem Tod

3 Definition Konzentrationslager: »Gefängnisähnliches Massenlager, in dem politische Gegner oder aus anderen Gründen missliebige Personen, meist ohne Prozess,gefangen gehalten werden« (Imanuel Geiss: Geschichte griffbereit. Bd. 4: Begriffe, München Gütersloh 2002, S. 844) Später wird noch darauf eingegangen, welcherFehler Arendt unterläuft, wenn sie die Lager der BolschewistInnen mit denen der NationalsozialistInnen auf eine Stufe stellt.4 Wobei die Frage durchaus gerechtfertigt ist, wie Arendt diese Analyse auf den Kommunismus anwendet.5 Auch hier steht die Frage im Raum, wie Arendt das auf die kommunistische Sowjetunion anwendet, da dort vor der Revolution ein zaristisches Regime an der Machtwar.

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Stalins 1951 sind nach ihrer Auffassung keine totalen Staaten,sondern Einparteiendiktaturen. Tatsächlich sprach sie sichsogar für eine sparsame Verwendung des Begriffs desTotalitären aus. Gleichzeitig wehrte sie sich gegen eineInstrumentalisierung ihres Buches zur Verharmlosung derdeutschen Taten während des Nationalsozialismus. Allerdingsbetrieb sie selbst eine verharmlosende Praxis, in dem sie oft,scheinbar unüberlegt und sich der Ausmaße nicht bewusst, dieTaten, die Struktur sowie die grundlegenden Theorien derNationalsozialistInnen mit denen der BolschewistInnen ver-gleicht und auf eine Ebene stellt.Für sie handelt es sich um »Variationen des gleichen Modells«,das in den, sich auf Ideologien stützendenMassenbewegungen, dem Rassismus und dem Marxismussichtbar werde. Die Realitätswahrnehmung der Gesellschaft seiin beiden Ländern durch die vom jeweiligen Regime propa-gierte politische Anschauung verändert worden. In beidenStaaten sei dies eine Theorie gewesen, die zur Erklärung desZukünftigen bestimmte Gesetze aufstelle und etwas proklamie-re, was sich ‚zwangsmäßig’ ereignen soll. Dies trifft zweifelsoh-ne auf die Rassenideologie der Nazis zu, deren‚Bevölkerungspolitik’ darauf abzielte, »die ‚lebensuntauglichenund minderwertigen Rassen und Individuen’ (...) zu vernich-ten.« Für Arendt gilt dies nun auch für die stalinistischeSowjetunion: sie setzt die ‚rassehygienischen’ Ziele derNationalsozialistInnen mit den klassenkämpferischen derBolschewistInnen weitgehend gleich.

Ihres Erachtens sind die Berufung der Nazis auf den Rassismusund die Gesetze der Natur von Darwin mit dem Bekenntnisder BolschewistInnen zur marxistischen Lehre von derGesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung zu vergleichenund größtenteils gleichzusetzen: »Dem Glauben der Nazis anRassegesetze lag die Darwinsche Vorstellung vom Menschenals einem zufälligen Resultat einer Naturentwicklung zugrun-de, die nicht notwendig mit dem Menschen an ihr Endegekommen zu sein braucht. Dem Glauben derBolschewistInnen an Geschichtsgesetze liegt Marx’ Vorstellungvon der menschlichen Gesellschaft als dem Resultat einesgigantischen Geschichtsprozesses zugrunde, der mit immervergrößerter Geschwindigkeit seinem Ende entgegenrast undsich selbst als Geschichte aus der Welt schafft.« Diese weitge-hende Gleichstellung kann allerdings nur als falsch bezeichnetwerden, betrachtet man, dass es Unterschiede zwischen dem‚Recht der Natur’ und dem ‚Gesetz der Geschichte’, bzw. zwi-schen der marxistischen ‚Lehre vom Kampf der Klassen’ undder von den Nazis übernommenen und missbrauchten darwi-nistischen ‚Lehre vom Recht des Stärkeren’ gibt. Eine sehrbedeutsame Differenz benennt Marx selbst: »[In] derGeschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mitBewusstsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft han-delnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichtsgeschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel. Aberdieser Unterschied [zur Entwicklungsgeschichte der Natur], sowichtig er für die geschichtliche Untersuchung namentlich ein-zelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern ander Tatsache, dass der Lauf der Geschichte durch innere allge-meine Gesetze beherrscht wird.« Folglich ist es nicht zulässig,die Klassenfeinde der Sowjetunion mit den, imNationalsozialismus nicht einmal mehr als Menschen verstan-denen Jüdinnen/Juden zu vergleichen.

Falsch liegt Arendt auch, wenn sie meint, dass die»Konzentrations- und Vernichtungslager […] dem totalenHerrschaftsapparat als Laboratorien« gedient hätten, »in denenexperimentiert« wurde, »ob der fundamentale Anspruch dertotalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind,zutreffend ist.« Auschwitz war kein ‚Laboratorium’. DieseMetapher ist unangebracht. Auschwitz war eine Todesfabrik. Inden nationalsozialistischen Vernichtungslagern ging es nichtum die ‚Beherrschbarkeit von Menschen’ generell, sondern umdie Vernichtung von Angehörigen einer genau bestimmten‚Rasse’.Auch ist es unzulässig, von ‚Sozialismus oder Rassendoktrin’als gleichgestellte Ideologien zu sprechen, war doch der Feindder Nazis ‚der Jude’. Also ein vollkommen irrational herbei-konstruierter Feind, der diese Position bereits von Geburt aninne hat und sie auch sein Leben lang nicht los wird. ‚Der Jude’wurde zum ‚Blutsfeind’ auserkoren, der die deutsche Rassegefährde und somit vernichtet werden müsse. In derSowjetunion waren die Feinde dagegen diejenigen, die diekommunistische Weltanschauung nicht teilten, sich gegen denSozialismus aussprachen und damit Klassenfeinde. Sie wurdenbekämpft, weil sie das System bedrohten (Im Gegensatz zu denJüdinnen/Juden. Diese galten zwar als die vermeintlichenWeltverschwörerInnen, hatten aber selber – natürlich – nie sol-che Bestrebungen. In der Weise, wie sie tatsächlich Kritik gegendie NationalsozialistInnen formulierten, wurden sie dagegennie wahrgenommen.), also sich selbst zu GegnerInnen gemachthaben. Sie haben eine bewusste Entscheidung getroffen undwaren nicht von Geburt an einer ‚minderwertigen Rasse’ zuge-hörig und deshalb zur Vernichtung freigegeben. DieGegnerInnen der KommunistInnen hatten immer die Wahl, dadas Ziel des bolschewistischen Staates das (frei)willigeBekenntnis zu seinem System war, die Verfolgung also mit die-sem aufhörte, während die Jüdinnen/Juden niemals die Wahlhatten und selbst als vorbildlichste, nationalistischste undregimetreueste Deutsche nicht vor der Vernichtung gefeitwaren. So klingt es auch äußerst zynisch, wenn Arendt davon

Die jüdische Philosophin Hannah Arendt

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schreibt, »daß die Nazis die Welt erobern, ‚artfremde’ Völkeraussiedeln und ‚erbbiologisch Minderwertige ausmerzen’, warso wenig ein Geheimnis wie die Weltrevolution und -erobe-rungspläne des russischen Bolschewismus.« Auch muss man sich die Frage stellen, wer laut Arendt in dieLager der Sowjetunion gebracht wurde, da sie schreibt, dass beiden Kriminellen und aus politischen Gründen Internierten dieVernichtung der juristischen Person nicht vollständig gelingenkann, weil diese wissen warum sie dort sind. Nach ArendtsMeinung sind die meisten Insassen völlig unschuldig, denngerade die Unschuldigen seien die, die in den Gaskammernliquidiert werden, während die RegimegegnerInnen häufigschon im Vorfeld getötet werden. Dies mag vielleicht noch fürden Nationalsozialismus zutreffen, jedoch ist diese Feststellungin keiner Weise auf die Sowjetunion anzuwenden, da man hiererstens keine Gaskammern hatte und zweitens die/derInhaftierte immer(!) der politische Feind war.Etwas verwunderlich erscheint es auch, wenn sie schreibt, dassdie »Nazis sich niemals gescheut« hätten, »ihre Bewunderungund Sympathie für die bolschewistischen Gegner öffentlichkundzugeben.«6 Dass im nationalsozialistischen Deutschlandallzu gerne die bolschewistischen Führer mit den Juden identi-fiziert wurden, da die komplette nationalsozialistischeIdeologie auf Antisemitismus und Antikommunismus aufge-baut war, scheint Arendt nicht weiter zu interessieren.Darüber hinaus sieht sie im Denken von Marx – und damit imkommunistisch-bolschewistischen Denken – eine totalitäreGefahr. Vor allem in Marx’ Geschichtsverständnis, da er voneinem unabwendbaren, von Notwendigkeit undDeterminismus gekennzeichneten Geschichtsprozess spreche.Die Vorstellung eines solchen, also einer Totalität derGeschichte, lehnt Arendt genauso entschieden ab, wie seineVorstellung, dass der festgeschriebene Ablauf der Geschichtevon den Produktionsverhältnissen, von den ökonomischenUmständen her zu erklären sei. Marx aber ist dieser Meinung:»Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherigeGeschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und dazeigte sich, daß alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme derUrzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, daßdiese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesMal Erzeugnisse sind der Produktions- undVerkehrsverhältnisse, mit einem Wort, der ökonomischenVerhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomi-sche Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, ausder der gesamte Überbau der rechtlichen und politischenEinrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und son-stigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichenZeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind.«7 Für Marxbesteht demnach ein Zusammenhang zwischen der, für denMenschen notwendigen Arbeit und dessen Handeln, dessenpolitischen Aktivitäten und der daraus hervorgehendenGesellschaft. Genau hier setzt Arendt mit ihrer Kritik an undwirft Marx vor, dass er »der Abdankung der Freiheit vor demDiktat der Notwendigkeit« den Weg bereite. Das Handeln, dieSpontaneität, die Individualität, das Politische sind für sie inkeiner Weise mit der Notwendigkeit zur Arbeit verbunden,

unterliegen also keinem festgeschriebenen Prozess. Stattdessensind sie mit der Freiheit verknüpft und in keiner Weise vorher-sagbar; sie sind, ebenso wie das politische Handeln, von derPluralität der Menschen abhängig. Demnach ist das Politische,die Gesellschaft durch das Handeln und Sprechen vielerMenschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beein-flusst und deshalb unvorhersagbar. Geht man nun aber voneinem Zusammenhang aus, sieht man das Ganze als voneinan-der abhängig an – wie Marx es macht – entdeckt Arendt darintotalitäre Tendenzen, sieht die Spontaneität der Menschenbedroht und somit auch einen Grundstock des Totalitarismusgegeben. Bei einer genaueren Betrachtung der Geschichte unddes Nationalsozialismus lässt sich aber eine Kontinuität derHistorie ausmachen. Der Geschichtsprozess entpuppte sich imNationalsozialismus endgültig als der ‚Gang der Verhältnisse’.Die Katastrophe besteht nicht in der Diskontinuität derGeschichte, sondern in der Kontinuität, nicht darin, dass esnicht mehr weiter geht, sondern darin, dass es so weitergeht.»Solange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht«, sagtHorkheimer, »erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.«8

Der logische Gang der Weltgeschichte ist nun der Gang desVerhängnisses, welcher sich mit Auschwitz offenbarte. Danachist die Vorstellung einer Totalität des historischen Prozessesunabwendbar. Denn die Existenz einer bürgerlichenGesellschaft ist zwar keine hinreichende, wohl aber eine not-wendige Bedingung für die Entwicklung desNationalsozialismus, womit sein Entstehen kaum zufällig seindürfte. Auch wenn Hannah Arendt offensichtlich keine Freundin desSozialismus und der Sowjetunion war, war sie wenigstens auchkeine der Deutschen. Bereits 1950 kritisierte sie in einem Essay,dass sich die Deutschen der Verantwortung entziehen,Tatsachen wie die Vernichtungslager als bloße Meinung behan-deln und zudem einen Mangel an politischem Urteilsvermögenund eine Unfähigkeit zu Empathie zeigen und bezeichnet diesals das »Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen undgelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlichGeschehenen zu stellen und es zu begreifen.« So zeigt sichDeutschland für sie nach wie vor weit von der Zivilisation ent-fernt, nachdem »das, was man gemeinhin unter Gewissen ver-steht, in Deutschland so gut wie untergegangen«9 war. Von Anfang sah es Arendt als eine große Gefahr an, die Shoahzu relativieren. In ihrem Buch ‚Eichmann in Jerusalem’ kriti-siert sie die Formulierung der ‚Verbrechen gegen dieMenschlichkeit’: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde lie-gende Londoner Statut hat, wie bereits erwähnt, die»Verbrechen gegen die Menschheit« als »unmenschlicheHandlungen« definiert, woraus dann in der deutschen Überset-zung die bekannten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an»Menschlichkeit« fehlen lassen, als sie Millionen in dieGaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement desJahrhunderts.«10

6 Vgl. Gerhard Scheit: Totalität und Krise des Kapitals - Zur Kritik des Totalitarismus-Begriffs, in: Streifzüge 4/20007 MEW 19, S. 2088 Max Horkheimer, Autoritärer Staat, S. 789 Vgl. Interview mit Lars Rensmann in: Neues Deutschland, 13.10.200010 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 399

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KÜHNL, REINHARD: Faschismustheorien. Ein Leitfaden,Distel Verlag 2005

MECKLENBURG, JENS / WIPPERMANN, WOLFGANG (HRSG): »Roter Holocaust«?. Kritik des Schwarzbuchs desKommunismus,Konkret Literatur Verlag 1998

KLOTZ, JOHANNES:Schlimmer als die Nazis? Das „Schwarzbuch desKommunismus“ und die neue Totalitarismusdebatte,Papyrossa 1999

RIEGER, ANNE / SANDER, ULRICH (HRSG):Schwarz Braun Buch. Ein alternativer Verfassungs-schutzbericht,Pahl-Rugenstein 1996

SCHUBERT, GUNNAR:Die kollektive Unschuld. Wie der Dresden-Schwindelzum nationalen Opermythos wurde,Konkret Literatur Verlag 2006

WIPPERMANN, WOLFGANG:Die Totalitarismustheorie. Die Entwicklung derDiskussion von den Anfängen bis heute,Primus 1997

ROTH, KARL-HEINZ:Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt derTotalitarismustheorie,Konkret Literatur Verlag 1999

WILD, THOMAS;Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung,Suhrkamp 2006

Abschließend bleibt zu sagen, dass Arendts Analyse der totalenHerrschaft sich, solange sie sich auf den Nationalsozialismusbeschränkt, in manchen Punkten brauchbare Thesen aufstellt,sie diese jedoch fälschlicherweise auf die Sowjetunion über-trägt. Damit verkennt sie die bestehenden gravierendenUnterschiede dieser beiden Staatsformen, setzt sie oft gleichund verharmlost somit – auf vielleicht ungewollte Weise – dieVerbrechen der Deutschen. Nicht wirklich verwunderlich istalso ihre Beliebtheit bei TotalitarismustheoretikerInnen undGeschichtsrevisionistInnen. Auch das in Dresden ansässigeInstitut für Totalitarismusforschung hat sich Arendt zurNamensgeberin erkoren und verdreht in ihrem Namen fleißig

die deutsche Geschichte. Die dort betriebene Arbeit wider-spricht jedoch eindeutig ihrem Anliegen – eine Verharmlosungder deutschen Verbrechen war nicht in ihrem Interesse, eher imGegenteil – auch wenn sie in ihrem Werk die Ansätze dazu bie-tet.

Alle nicht gekennzeichneten Zitate aus: Hannah Arendt, Elementeund Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/Main, Piper, 3.Auflage,1993

Käthe Niederkirchner

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PHASE2 – ZEITSCHRIFT GEGEN DIE REALITÄT

www.phase2.org

VEREINIGUNG DER VERFOLGTEN DES NAZIREGIMES –BUND DER ANTIFASCHISTINNEN UND ANTIFASCHISTEN E. V.

www.vvn-bda.de

JUNGLE WORLD – DIE LINKE WOCHENZEITUNG

www.jungle-world.com

ANTIFASCHISTISCHES PRESSEARCHIV UND BILDUNGSZENTRUM

BERLIN E. V.

www.apabiz.de

weiterführende Literatur

V.i.S.d.P.:

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