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FOTO xxx FOTO xxx Detroit erneuert sich selbst. In der ehemaligen Automobil-Metropole erarbeiten sich die Menschen neue Lebensgrundlagen und basteln an einer Wirtschaft, in der es um mehr geht als Profit für Einzelne TEXT UND FOTOS Lu Yen Rolo Von Motor City zu Social Valley Das neue Stadtbild Detroits: Zwischen heruntergekommenen Industriegebäuden wachsen frisches Obst und Gemüse Seite 66 Reportage FOTO Florian Büttner/VISUM

Seite 66 Reportage Von Motor City zu Social Valley · R und 50 Personen und Projekte aus den Bereichen Bildung, Soziales, Essen, Design, Community O r-ganizing, Arbeit und Finanzierung

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Detroit erneuert sich selbst. In der ehemaligen Automobil-Metropole erarbeiten sich die Menschen neue Lebensgrundlagen und basteln an

einer Wirtschaft, in der es um mehr geht als Profit für Einzelne

TEXT UND FOTOS Lu Yen Rolo!

Von Motor City zu Social Valley

Das neue Stadtbild Detroits: Zwischen heruntergekommenen Industriegebäuden wachsen frisches Obst und Gemüse

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USA

Detroit

seit der letzten Finanzkrise 2008 zum Symbol für das postindustrielle, krisenge-schüttelte Amerika. Menschen wie John George geben deswegen auch den Lands-leuten Hoffnung, wenn sie nun urameri-kanische Werte aktivieren, um aus der Kri-se zu kommen: große Visionen gepaart mit

hemdsärmeligem Do it yourself-Geist und Gemeinschaftssinn. John George läuft jetzt mit strammem Schritt vorbei an der Kreu-zung, wo vor wenigen Jahren junge Män-ner Crack und Kokain vor verrammelten Geschäften dealten. Neben einem Süßkar-toffelbäcker funkeln auch die Auslagen ei-

STADTPROFIL

DETROIT

Ketten und Peoplepower. So nehmen wir die hier auseinander. Wir entfer-nen die negative Energie und verwan-deln sie in etwas Positives – einen schö-nen Gemeinschaftsgarten für die Nachbarn. Rise, Farmcity!“

Der geplante Gemeinschaftsgarten ist das aktuellste einer Reihe handfes-ter Projekte, mit denen sich die Motor City Blight Busters dem Verfall De- troits entgegenstemmen. Seit 25 Jah-ren organisieren sie Hundertschaften von Freiwilligen, die in Hauruckaktio-nen Grundstücke entrümpeln, leerste-hende Häuser abreißen und versiegeln

oder in Zusammenarbeit mit Nachbarn und Geschäftsleuten renovieren. Über 120 000 Freiwillige aus dem ganzen Land haben so in Detroit 4000 Grundstücke be-reinigt und 1500 Häuser verschönert.

Besonders sichtbar ist ihre Arbeit in John Georges Heimatstadtteil Brightmoor, ei-ner von einstöckigen Holzhäusern gepräg-ten Arbeitersiedlung im Nordwesten De-troits. Blightmoor nennen sie den Stadtteil heute zynisch. Blight bedeutet Fäulnis, ge-meint ist der Verfall, der auf den Leerstand folgt. Die Siedlung entstand vor rund 100 Jahren, kurz nachdem einige Kilometer von hier Henry Ford die Fließbandarbeit erfand, die Autoproduktion revolutionier-te und Detroits „Big Three“ – Ford, Gene-ral Motors und Chrysler – Arbeitsplätze

D er einfachste Weg, ein Holz-haus abzureißen: eine schwe-re Kette an die Stoßfänger ei-nes 350 PS starken Dodge Ram 2500 hängen, am Haus-

dach einhaken, Musik laut aufdrehen – Gas geben. Dreimal, viermal, zehnmal. Zu-erst wackelt das Dach, dann kippeln die Stützbalken, bis schließlich mit einem Ruck und lautem Getöse alles in sich zu-sammensinkt. John George, Gründer und Kopf der Non-Profit-Organisation „Motor City Blight Busters“, hat das schon zigmal gemacht: abreißen für den Neuanfang. Jetzt steht der kompakte Mittfünfziger breitbeinig vor einem frischen Schutthau-fen und verkündet mit Blick auf sechs wei-tere leerstehende Häuser: „Hämmer, Äxte,

Bundesstaat: Michigan/USAFläche: 218,5 km2 Bevölkerung: 921 000 EinwohnerMetropolregion: 4,3 Mio. EinwohnerBürgermeister: Dave Bing (Demokrat)BIP pro Haushalt/Jahr: 26 000 US-Dollar (2010)Arbeitslosenrate: 15,8 % (2012)Familien unter der Armutsgrenze: 32,3% (2011)

Wirtschaft: Detroit gehört zu den Städten des Rustbelts, der vom Niedergang gebeutelten Industrieregion im Norden der USA. Die stärkste Industrie ist nach wie vor die Automobilindustrie – die größten US-Amerikanischen Autofirmen Chrysler, Ford und General Motors haben hier ihre Weltzentralen. Starke Branchen im Umland (Detroit Metro) sind Immobilien, Informations- und Biotechnologie, Gesundheitswesen und Tourismus. Rassenunruhen in den 1960er Jahren begünstigten den „White Flight“ – den Umzug vieler Weißer in den Speckgürtel der Stadt. Unternehmen folgten, woraufhin die Steuereinnahmen sanken. Heute ist Detroit eine der ärmsten Städte der USA.

Politik: Anfang des Jahres wurde Detroits öffentlicher Haushalt wegen akuter Finanzprobleme einem Notfallmanager aus dem Bundesstaat unterstellt. Der Insolvenzanwalt Kevyn Orr, der vor Jahren bereits den Chrysler-Konzern durch die Krise gebracht hat, darf nun Behörden schließen, Tarifvereinbarungen ändern, Vermögenswerte verkaufen und Gesetze erlassen – alles ohne Zustimmung der gewählten Vertreter Detroits. Detroits Schulden belaufen sich auf etwa 100 Millionen Dollar – und langfristige Verbindlichkeiten in Höhe von 14 Milliarden Dollar. Kultur: Detroits Populärkultur ist von den Afroamerikanern geprägt, die in der boomenden Autoindustrie von einst Jobs fanden. Insbesondere die Musik der Stadt machte Detroit bekannt. In den 60er Jahren dominierte der Motown-Soul, ab den 80ern wurde der Niedergang der Stadt von der aufkeimenden Techno-Szene begleitet. Auch heute ist Detroit eine Musikstadt – Heimat von Bands wie den White Stripes oder Eminem.

und Eigenheime für hunderttausende Un-gelernte schufen. Das war vor den Rezes-sionen, der Konkurrenz durch japanische Autos, der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Über 200 000 Arbeiter aus der Autoindustrie verloren allein zwischen 1980 und 1990 ihren Job. Und in den letz-ten zehn Jahren verließen 12 000 seiner 36 000 Einwohner Brightmoor.

Wer sich heute in den abgelegenen Sei-tenstraßen des Viertels verliert, erschrickt

über die Verwahrlosung: Ganze Straßen-züge sind kniehoch mit Gras überwuchert, zugerümpelt mit ausrangierten Möbeln und Autoreifen. Manche der leerstehen-den Häuser sind zu Ruinen ausgebrannt, andere haben eingeschlagene Scheiben und mit Sperrholz verrammelte Türen. Ein Milieu für Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution. Allein im Stadtteil wurden in den letzten sieben Jahren 15 Menschen ermordet. Nirgendwo sonst im Rustbelt, Amerikas schwerindustrieller Region an der Grenze zu Kanada, scheiterte der ame-rikanische Traum so drastisch wie in De-troit. Auch deshalb wurden seine Ruinen

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„Aufräumen, stabilisieren, verschönern und die Leute ins Boot holen“

John George, Gründer der Blight Busters

Die Frustration ist hoch in Detroit, aber die Menschen lassen sich davon nicht entmutigen

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fit-Firma obdachlose Mütter zu Näherin-nen aus und stellt sie nach drei Monaten zum Stundenlohn von zehn Dollar an. Die Firma hilft den ehemaligen Heimbewoh-nern auch, eigene Häuser zu mieten und organisiert mit Hilfe von befreundeten NGOs die komplette Einrichtung. Schon nach dem ersten Jahr lebten die ersten drei Frauen wieder mit ihren Familien zusam-men. Die 150 Mäntel, die die Frauen im Monat produzieren, verschenkt Scott an Obdachlosenorganisationen. Noch finan-ziert sich das Unternehmen durch Geld- und Sachspenden – unter anderem stammt das Futtermaterial aus recycelten Abfällen der Autoproduktion von General Motors.

Doch bald sollen nach einem „Buy one, give one“-Modell hippe Großstädter ihre Wintermäntel kaufen und damit je einen Obdachlosenmantel mitfinanzieren.

Scott profitiert wie viele andere Sozial-unternehmer von den günstigen Räumen in Detroit. Ein bezugsfähiges Haus gibt es hier schon für 5000 US-Dollar zu kaufen, erzählt sie. Während Absolventen in Me-tropolen wie New York oder San Francis-co unter horrenden Mieten leiden, kön-nen es sich junge Detroiter leisten, mit sozialen Geschäftsmodellen zu experimen-tieren: „Wir sind der wilde Westen der Kreativität. Wir nehmen uns die verfalle-nen Gebäude und das vernachlässigte Land und machen es zu dem, was wir wollen. Das Einzigartige: Woanders gründen Uni-absolventen Tech-Startups – wir in Det-roit gründen Nonprofits und soziale Un-ternehmen. Es gibt Hunderte, die das so machen.“ Mit Statements wie diesen

schaffte es Scott als Gesicht einer neuen Gründerbewegung im sozialen Sektor De-troits bereits ins Programm von CNN, ins Forbes-Magazin und in die New York Times. Die Medien interessieren sich da-für, wie die jungen Detroiter – das abschre-ckende Beispiel der maroden Autokonzer-ne vor Augen – nach einem Gegenentwurf zum Big Capitalism suchen. Die ersten handeln Detroit bereits als Modellstadt, in der die alternative Wirtschaft für das 21. Jahrhundert entworfen wird. „Eine an-dere Welt ist möglich – ein anderes Ame-rika ist notwendig – ein anderes Detroit passiert“ lautete auch der Slogan des US Social Forums im Jahr 2010, für das 15 000 Aktivisten aus dem ganzen Land in die Mo-tor-City kamen, um neue amerikanische Werte zu diskutieren.

„Wer heute in Detroit ein Unternehmen gründet, will mehr als nur Geld verdie-nen“, sagt Phil Cooley. Früher arbeitete er als Model in Paris, London und New York. Mit dem Geld seiner wohlhabenden Fami-lie kaufte der 36-Jährige nach der Finanz-krise 2008 für nur 100 000 Dollar ein leer-stehendes Industriegebäude und verwandelte es mit Hilfe von vielen Frei-willigen in den sozialen Inkubator Pony-ride. „Ich kenne kaum einen Gründer, der keine soziale Komponente oder die Förde-rung der Community in sein Geschäftsmo-dell integriert hat. Für viele Leute hier ist die Triple Bottom Line, also die soziale, ökologische und ökonomische Nachhal-tigkeit, bereits selbstverständlich. Und während Städte wie New York vertikal sind und alle auf der Karriereleiter nach oben steigen, ist Detroit eher eine horizontale Stadt, in der jeder jeden kennt. Hier dreht sich alles um Kollaboration. Das will ich mit Ponyride fördern.“

Weniger als ein Dollar pro Quadratme-ter, ein Fünftel des üblichen Marktpreises, kostet die Miete im Ponyride. Veronica Scott gehört genauso zu den insgesamt 50 Mietern wie eine Möbelfirma, die nur sol-ches Holz verarbeitet, das ehemalige Sträf-linge aus abgerissenen Häusern ausgebaut haben; eine Fechtschule, die kostenlose Kurse für unterprivilegierte Jugendliche

anbietet und diese über Firmenworkshops querfinanziert; und etliche Künstler und Kreative, die an Community- und Stadt-entwicklungsprojekten arbeiten. Als Ge-genleistung für die niedrigen Mieten muss jeder Mieter mindestens einmal im Mo-nat Nachbarn und Jugendliche unterrich-ten – so regt Phil Cooley mit seinem In-vestment auch die Nachbarschaftshilfe an. „Es ist wichtig, dass wir uns alle gegensei-tig helfen und voneinander lernen“, sagt er. „Detroit ist voll von Hoffnung und In-novation. Jetzt beginnen wir uns auszu-tauschen und die besten Ideen in anderen Nachbarschaften auszuprobieren.“

Ein wichtiges Forum dafür ist auch die von der Knight Foundation geförderte Webseite „Urban Innovation Exchange“. In Kooperation mit der Online-Zeitung Huffington Post und lokalen Medien stellt die Foundation, die viele Community-Pro-jekte in den Bereichen Medien, Kultur und Demokratie unterstützt, die Sozialunter-nehmer der Stadt vor. Rund 50 Personen und Projekte aus den Bereichen Bildung, Soziales, Essen, Design, Community Or-ganizing, Arbeit und Finanzierung wurden bereits porträtiert. Etwa die Detroit Bus Company, die erste private Buslinie der Stadt, die touristisch interessante Ziele rund um Downtown abfährt. Die Touris-

nes Radkappenhändlers. Das Angebot der Blight Busters, mit 150 Mann an einem Wochenende kostenlos Berge von Schrott aus dem Gebäude zu holen, bedeutete für seinen Besitzer eine Ersparnis von 50 000 Dollar – die er in das Geschäft und damit die Aufwertung des Stadtteils steckte. Vier-zehn neue Geschäfte haben in den letzten Jahren in Brightmoor eröffnet.

In Zusammenarbeit mit einem stadtbe-kannten Künstler renovierten die Blight Busters auch das gut besuchte Nachbar-schafts-Café auf der anderen Straßensei-te. In den angeschlossenen Veranstaltungs-räumen verbauten sie recycelte Materialien aus den Abrisshäusern der Nachbarschaft. Heute treffen sich hier die Nachbarn zu Mal- und Schachkursen, Poetry Slams und Jazzabenden. Dabei entstehen neue, un-komplizierte Kollaborationen zwischen Unternehmern, den Non-Profit-Organisa-tionen des Stadtteils, freiwilligen Helfern, Spendern und Nachbarn. „Aufräumen, sta-bilisieren, verschönern und die Leute ins Boot holen. Das ist der einzige uns bekann-te Weg, wie man eine Stadt neu erfinden kann“, fasst John George zusammen.

Nur nebenbei erzählt George noch vom Besuch von Präsident Obama im neuen, mit 1,25 Millionen Dollar Spendengeldern renovierten Community Centre. Bei sei-nem letzten Detroitbesuch wollte Obama

mit eigenen Augen sehen, wie die Blight Busters ihren Beitrag zum Wiederaufbau der Stadt leisten. „Ich denke, dass wir eine kritische Masse erreicht haben“, sagt John George. „Wir sind jetzt in einer einzigar-tigen Situation, die viele Chancen auf ei-nen Neuanfang bieten: Wir haben den günstigsten Wohnraum des Landes und viele Möglichkeiten für Menschen mit we-nig Geld und viel Zeit, die in ihrer Nach-barschaft zu Stakeholdern werden und Reichtum schaffen.“

Reichtum – dieser Begriff wird in Det-roit dieser Tage neu definiert. Wer das gro-ße Geld verdienen will, hat die Stadt längst verlassen und ist in den Speckgürtel gezo-gen. Von den 700 000 Menschen in der Stadt Detroit – 85 Prozent von ihnen Af-roamerikaner – leben ein Drittel der Er-wachsenen und über die Hälfte der Kinder an der Armutsgrenze, abhängig von staat-lichen Lebensmittelmarken. Noch mehr sind arbeitslos, in einigen Blocks sind es bis zu 70 Prozent, viele haben Probleme mit Alkohol und Drogen. Durch den Ver-lust von Steuern hatte die Stadt 2011 ein Haushaltsdefizit von 196 Millionen Dol-lar, musste Schulen und Polizeistationen schließen, Buslinien kappen und Obdach-

losenheime schließen. „Es gibt so viele Pro-bleme und wir sind sehr frustriert. Aber diese Frustration inspiriert gleichzeitig vie-le Menschen, selbst aktiv zu werden und soziale Unternehmen zu gründen“, sagt Veronica Scott, Gründerin der Firma Em-powerment Plan. Die studierte Designe-rin läuft mit baumelndem Pferdeschwanz durch den ersten Stock eines 3000 Quad-ratmeter großen Industriegebäudes im Stadtteil Corktown, etwa eine halbe Stun-de Autofahrt von Brightmoor entfernt. Acht Afroamerikanerinnen sitzen hinter-einander an Nähmaschinen und lassen die Nadeln über weißrote Stoffteile rattern.

Scott bleibt bei Annis Maxwell stehen und begutachtet deren Arbeit. „Nobody should freeze to death in America“ steht auf dem T-Shirt ihrer Angestellten. Das passt: Maxwell, 60 Jahre alt, näht gerade Klettverschlüsse an einen Wintermantel, den Scott entworfen hat. Der wasserab-weisende, wärmeisolierende Mantel kann zu einem Schlafsack umfunktioniert wer-den. Ein Produkt für die 20 000 Obdach-losen, die durch Detroit streifen.

Maxwell war bis vor einem Jahr eine von ihnen. Jetzt schneidet sie bedächtig den Faden durch, legt das fertige Kleidungs-stück auf einen Stapel und sagt: „Dieser Mantel soll Leben retten. Meins hat er schon gerettet.“

Veronica Scott bildet in ihrer Non-Pro-

„Wir sind der wilde Westen der Kreativität. Wir nehmen uns die verfallenen Gebäude und das vernachlässigte Land und machen es zu dem, was wir wollen“

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Früher Model, jetzt Vermieter: Philip Cooley, 36, fördert die Kollaboration in seinem sozialen Inkubator

Veronica Scott, 23, Gründerin von „Empowerment Plan“, lässt Mäntel

für Obdachlose herstellen

Mit Freude bei der Arbeit: Die Blight Busters erschaffen aus Abrisshäusern neue Lebensräume

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ten finanzieren mit ihrem 5-Dollar-Ticket den kostenlosen Transport für Arme mit. Oder das Restaurant Colors, das ehemali-ge Sträflinge zu Unternehmern ausbildet und alle Mitarbeiter vom Tellerwäscher bis zum Chefkoch genossenschaftlich be-teiligt. Das Gemüse stammt von den urba-nen Gärtnern der Stadt, die auf dem ge-meinnützigen Eastern Market ihre auf Brachen angebauten Salatköpfe verkaufen.

„Die Stadt quillt über vor kreativen Ma-chern, die ihre Community stärken wol-len. Ich kenne keinen anderen Ort mit so-viel geballtem Potenzial“, sagt Rishi Jaitly. Der Ex-Leiter der Knight Foundation steht im kuppelüberwölbten Saal einer Biblio-thek. Etwa 50 Detroiter, darunter viele af-roamerikanische Schüler, sitzen an run-

den Tischen zusammen und diskutieren. Mehrere Wochen lang konnten Bürger auf der interaktiven Community-Plattform 24/7 ihre Ideen für eine bessere, lebens-wertere Stadt einbringen. Nun wird aus-gewertet. Dass die Stadtentwicklungsbe-hörde mit Unterstützung der Stiftung mit

neuen Formen der Bürgerbeteiligung ex-perimentiert, ist ein Paradigmenwechsel. „Detroit hat zu lange auf große Lösungen gesetzt“, sagt Jaitly. Daran erinnern Groß-projekte wie das Renaissance Centre mit der Weltzentrale von General Motors; die als Konkurrenz zur New Yorker Fifth Ave-nue angelegte Prachtstraße Washington Boulevard, die mit Leerstand zu kämpfen hat; oder die drei Kasinos, die neue Steu-ergelder nach Detroit bringen sollten – in denen stattdessen spielsüchtige Detroiter ihre letzten Dollar verzocken. „Wir reagie-ren jetzt auf das Momentum an der Basis, greifen die Energie aus der Community auf“, beschreibt Jaitly die Strategie der Stif-tung. „In Detroit gibt es eine wachsende Sozialunternehmer-Szene. Wir wollen,

dass sie weiter wächst. Deswegen schaffen wir Brücken zwischen den Menschen, da-mit sie sich selbst als Bewegung verstehen, aber auch damit sie von Unternehmen und Politik in der Region als ernsthafte Part-ner wahrgenommen werden.“

Noch hat die Stadt Detroit selbst keine

offiziellen Förderprogramme für Sozial-unternehmer entwickelt. Zwar unterstützt die Verwaltung Entrepreneurs über die Non-Profit-Agentur Detroit Economic Growth Corporation, die auch Sozialun-ternehmer fördert. Doch es fehlt weiter-hin an Zugang zu Finanzierungsmöglich-keiten. Deswegen betätigt sich der ehemalige Google-Angestellte und Prince-ton-Absolvent Jaitly mittlerweile auch selbst als Sozialunternehmer.

Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass Detroit als erste amerikanische Stadt eine regionale Plattform des Mikrokredit-Portals Kiva besitzt. Die Gelder aus der Crowd, ursprünglich nur für Entwick-lungsländer gedacht, förderten in Detroit bereits die Gründung einer Obdachlosen-zeitung und mehrere Dienstleistungsun-ternehmen. Und sie trugen zu einem Boom weiterer lokaler Crowdfunding-Plattfor-men bei, mit der andere Detroiter die hei-mische Wirtschaft ankurbeln wollen. „Es gibt hier eine tiefe Begeisterung für alles, was klein und lokal ist“, sagt Jaitly. „Es gibt den Leuten ein Gefühl der Macht, die Din-ge selbst beeinflussen zu können. Und

schaut man sich die wirklich erfolgreichen Geschichten gesellschaftlichen Wandels an, dann beginnen sie immer mit dem En-gagement Einzelner. So hat Silicon Valley auch angefangen: mit Menschen, die durch glückliche Zufälle aufeinandergestoßen sind, um etwas zu bauen, was heute un-ausweichlich erscheint.“

Dass aus der Initiative Einzelner eine ganze Bewegung werden kann, zeigt sich am deutlichsten in der Urban-Gardening-Bewegung der Stadt: Überall in Detroit haben Privatpersonen, Kirchen, Schulen und Organisationen wie die Blight Busters Brachland in kleine Gemüsebeete und Ge-meinschaftsgärten verwandelt. Mit ge-schätzten 1500 Anbauflächen und 185 Or-ganisationen in diesem Bereich ist die

Stadt nationaler Vorreiter. Gegen eine ein-malige Gebühr von 200 Dollar kann jeder auf der Brache neben seinem Haus Gemü-se anpflanzen. So macht es inzwischen auch Dinah Brandage. Gerade steht die 46-Jährige breitbeinig über ein zwei Qua-dratmeter kleines Beet am Rande eines Parkplatzes gebeugt. „Urban Gardening ist eine echte Bewegung in Detroit“, sagt sie und lockert die Erde rund um ihre Toma-tensetzlinge an. „Sie breitet sich aus und beeinflusst die Lebensqualität der Men-schen. Aus toten Räumen werden leben-dige. Wir bauen etwas an, das nützlich ist und die Gärten sehen schön aus. Und Ur-ban Gardening demonstriert allen, dass man selbst etwas tun kann.“

Brandage hat die heilende Wirkung des Gärtnerns am eigenen Leib erfahren. Wie viele hier im Osten der Stadt lebte auch sie von Lebensmittelmarken und kam als Drogenabhängige in die Suppenküche der Kapuzinermönche. Die von den Mönchen finanzierte Non-Profit-Organisation Earth Works ist eine der größten urbanen Far-men Detroits. In der ganzen Nachbarschaft betreibt die Organisation Gewächshäuser, Beete und Bienenstöcke. Inzwischen stammt das komplette Gemüse für die täg-lich 2000 ausgeteilten Mahlzeiten der Sup-penküche aus eigenem Anbau. Die Mön-che halfen Brandage clean zu werden. „Das Gärtnern hilft mir es zu bleiben“, sagt sie. Seit zwei Jahren gärtnert sie jeden Tag an der frischen Luft, ernährt sich von ihrem selbst angebauten Gemüse und arbeitet als

Stipendiatin des Urban Farming Trainee-programms von Earth Works an ihrer Zu-kunft. Wie die anderen elf Stipendiaten lernte Brandage zunächst, welche Setzlin-ge zu welcher Saison rausmüssen, wie man kompostiert, düngt, mit Restaurantbesit-zern verhandelt und einen landwirtschaft-lichen Betrieb mitten in Detroit gründet. Jetzt entwickelt sie ihr eigenes Geschäfts-konzept. „Alles was ich lerne, will ich an meine Community weitergeben“, sagt sie und lächelt. „Ich will meine eigene Farm haben, mein Gemüse verkaufen. Und was am Abend überbleibt, will ich an die alten Leute in der Nachbarschaft verschenken.“

Schon jetzt schließen die Gärten eine wichtige Versorgungslücke in der Stadt. Weil zahlungskräftige Kunden fehlten, hat-te 2006 die letzte große Supermarktkette die Stadt verlassen. 500 000 Menschen gel-ten seitdem als Bewohner einer sogenann-ten Food Desert, haben kaum Zugang zu frischem Obst und Gemüse und sind deswegen auf das Fertignahrungsange-bot in den Liquor Stores angewiesen. In diese Lücke stoßen jetzt die rund 50 Marktgärten, die ihr Gemüse auf Detroits Frischemärkten unter dem Label „Grown in Detroit“ verkaufen. Insgesamt 170 Ton-nen Lebensmittel produzieren sie im Jahr – mit einem Wert von einer hal-ben Million Dollar. Laut einer Studie der Michigan State Uni-versity könnte die Stadt im Bestfall drei Viertel des städti-

schen Bedarfs an Gemüse und 40 Prozent an Früchten decken. Die Stadt will nun gemeinsam mit der Universität das wirt-schaftliche Potenzial der ungenutzten Bra-chen und Gebäude für Farmen untersu-chen. Bürgermeister Dave Bing gab den Plan mit den Worten bekannt, die Stadt wolle „demonstrieren, dass die Innovati-on der städtischen Nahrungsmittelproduk-tion neue Jobs und Unternehmen hervor-bringen könne“ und beschwor die Zukunft „einer nachhaltigeren und wirtschaftlich lebendigeren Stadt“.

Das ist auch die Vision der Green Gara-ge. Das flache Backsteingebäude am Cass Corridor im Stadtteil Midtown war in den 1920er Jahren ein Showroom für den Ford Model T, das erste Auto vom Fließband. Ein symbolischer Ort also, um einen Treff-punkt für die boomende Nachhaltigkeits-szene Detroits einzurichten. Die Besitzer, der ehemalige Unternehmensberater Tom

„Detroit hat zu lange auf große Lösungen gesetzt“

Auf dem Eastern Market, einer von rund 50 Märkten in der Stadt, verkaufen die urbanen Gärtner ihr Obst und Gemüse. Große Supermarktketten gibt es in Detroit nicht mehr

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Dinah Brandage, 46, schaffte den Sprung von den Drogen

zum Gemüseanbau

Bevor Rishi Jaitly, 29, die „Knight Foundation“ leitete, arbeitete der Princeton-Absolvent bei Google

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Brennan und seine Frau Peggy, wollen ein Exempel statuieren und ein postindustri-elles Wirtschaftsmodell für das 21. Jahr-hundert entwickeln. Dafür braucht es neue Metaphern. „Wenn die Leute sagen, eine Firma laufe wie eine gut geölte Maschine, dann meinen sie das als Kompliment“, sagt Tom Brennan, grauhaarig und mit wäss-rigblauen Augen, zur Begrüßung. „Bei uns steht diese Metapher für Zerstörung. Denn das industrielle Modell behandelt Men-schen und Umwelt, als seien sie Teil einer Maschine. Wir müssen aber lebendige Sys-teme schaffen.“

Tom Brennan führt in die Green Gara-ge hinein. Der hohe Raum ist mit Holz ausgekleidet, rechts befinden sich durch niedrige Stellwände separierte Arbeitsplät-ze. Davor stehen locker gruppierte Tische. Eine kleine Bibliothek lädt Besucher zum Verweilen ein. Unter dem Oberthema „Ur-bane Nachhaltigkeit“ stehen darin Titel wie Eco-Economy, Fair Food oder Reco-vering America. Das erste Exempel hat Peggy Brennan mit dem Umbau statuiert. Der gesamte Prozess hat nur eine Mulde Schutt produziert, die Einrichtung ist kom-plett recycelt. Der Strom stammt aus So-larpanels, Tageslicht dringt durch Solar-

tubes von oben herein, das Gebäude wird natürlich gekühlt. Das zweite Exempel will Tom Brennan mit seiner Beratung für an-gehende Unternehmer aufstellen. Die Green Garage vergibt Arbeitsplatz-Stipen-dien an momentan 23 Startups, die ge-meinsam einen ungewöhnlichen Weg zur Marktreife gehen. Wer im Coworking-Bü-ro der Green Garage einen Platz bekommt, muss die Triple Bottom Line anstreben. Und sich mit Brennans organischer Wachs-tumsphilosophie auseinandersetzen.

Normale Startup-Programme führen Gründer in einem festen Zeitrahmen von der Geschäftsidee über den Businessplan zur Kreditaufnahme und Markteinfüh-rung. Dagegen vergleichen sie in der Green Garage Firmen und Organisationen mit Pflanzen, die natürlich wachsen müssen. Und dies gelinge nur, wenn sich die neu-en Unternehmen in ein bestehendes Öko-system einfügten. Brennan nennt als Bei-spiel ein Unternehmen, das mit der Idee startete, abgeladene Autoreifen von Pri-vatgrundstücken einzusammeln und zu recyceln. In regelmäßigen Gruppensessi-ons mit anderen Unternehmern entwickel-te die Gründerin dann ein systemisches Geschäftsmodell, das zusätzlich betroffe-

ne Nachbarn, Transportunternehmen, die Politik, die CSR-Abteilung von Ford und lokale Designer ins Boot holte, um am Ende mit Hilfe von freiwilligen Helfern die Reifen einzusammeln und für Ford De-signprodukte aus recycelten Autoreifen herzustellen. Eine für Detroit typische Mi-schung aus Startup und Community-Or-ganizing. „Wenn alle Seiten von der Exis-tenz eines Unternehmens profitieren, dann hat auch jeder ein eigenes Interesse daran, das Unternehmen wachsen zu las-sen“, erklärt Brennan mit ruhiger Stimme. „Also werden sie das Unternehmen för-dern, die Idee weitererzählen, mit ihm ko-operieren. Das ist Erfolg.“

Tom Brennan zeigt auf die Wand, die das Treppenhaus stützt. Der Designer, selbst Mieter in der Green Garage, hat sie aus den Fundstücken bei der Renovierung zusammengebaut, aus weißen, grau gestri-chenen und schwarz verkohlten Holzlat-ten. Für den 59-Jährigen ist diese Wand ein Gleichnis für das Ökosystem, das ihm für Detroits Wirtschaft der Zukunft vor-schwebt: „Jeder Baustein dieser Wand ist einzigartig. Aber alle schauen darauf und sagen: Oh, was für eine tolle Wand! Ich glaube, dass Detroit als Stadt so werden wird. Wir machen kleine Dinge sehr gut, warum können wir nicht tausende dieser kleinen Dinge sehr gut machen? Zusam-men werden sie dennoch ein Ganzes er-geben.“ /

Tom Brennan setzt auf natürliches Wachstum und Kollaborationen

In der Green Garage ist fast alles aus recycelten Materialien. Beim Umbau entstand kaum Bauschutt

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