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Unverkäufliche Leseprobe
Tintentodvon Cornelia Funke
ISBN: 9783791504766 © Dressler Verlag
Gedruckte Verlagsausgabe dieses Titels bestellen
Leseprobe
Laute Worte, leise Worte
Gehst du, schließt hinter dir Raum sich wie mit Wasser,
Schau nicht zurück: Um dich herum bist du allein,
Raum ist nur Zeit, die sich uns anders sichtbar macht,
Wir können Orte, die wir lieben, nie verlassen.
Ivan V. Lalic, Places We Love
Bitte, Mo! Frag ihn!« Zuerst dachte Meggie, sie hätte die Stimme ihrerMutter nur im Traum gehört, einem der finsteren Träume, die ihr manch-
mal die Vergangenheit schickte. Resa klang so verzweifelt. Doch als Meggie
die Augen aufschlug, hörte sie ihre Stimme immer noch. Und als sie aus dem
Zelt lugte, sah sie ihre Eltern zwischen den Bäumen stehen, nur ein paar
Schritte entfernt, kaum mehr als zwei Schatten in der Nacht. Die Eiche, an
deren Stamm Mo lehnte, war so groß, wie Meggie sie nur aus der Tintenwelt
kannte, und Resa hielt seinen Arm umklammert, als müsste sie ihn zwingen,
ihr zuzuhören.
»Haben wir es nicht immer so gemacht? Wenn einem von uns eine Ge-
schichte nicht mehr gefiel, haben wir das Buch zugeklappt! Mo, hast du ver-
gessen, wie viele Bücher es gibt? Lass uns ein anderes finden, das uns seine
Geschichte erzählt, eins, dessen Worte Worte bleiben und uns nicht zu
Fleisch von ihrem Fleisch machen!«
Meggie blickte hinüber zu den Räubern, die
nur wenige Meter entfernt unter den Bäu-
men lagen. Viele von ihnen schliefen unter
freiem Himmel, obwohl die Nächte schon
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sehr kalt waren, aber die verzweifelte Stimme ihrer Mutter schien keinen
von ihnen geweckt zu haben.
»Wenn ich mich richtig erinnere, war ich es, der dieses Buch schon vor
langer Zeit zuschlagen wollte.« Mos Stimme war so kühl wie die Luft, die
durch die zerschlissenen Stoffbahnen zu Meggie hereindrang. »Aber Meggie
und du, ihr wolltet von nichts anderem hören.«
»Woher sollte ich wissen, was diese Geschichte aus dir machen würde?«
Resas Stimme klang, als wüsste sie kaum, wie sie die Tränen zurückhalten
sollte.
Leg dich wieder schlafen!, dachte Meggie. Lass die
zwei allein. Doch sie blieb sitzen, frierend in der kalten
Nachtluft. »Was redest du da? Was soll sie aus mir ge-
macht haben?«
Mo sprach so leise, als wollte er die nächtliche Stille nicht stören, aber
Resa schien vergessen zu haben, wo sie war.
»Was sie aus dir gemacht hat?« Sie sprach lauter mit jedem Wort. »Du
trägst ein Schwert am Gürtel! Du schläfst kaum und bist nächtelang fort.
Glaubst du, ich kann den Schrei eines echten Eichelhähers nicht von dem
eines Menschen unterscheiden? Ich weiß, wie oft Baptista oder der Starke
Mann dich geholt haben, als wir noch auf dem Hof waren ... Und was das
Schlimmste ist, ich weiß, wie gern du mit
ihnen gehst. Du hast Geschmack an der
Gefahr gefunden! Du bist nach Ombra ge-
ritten, obwohl der Prinz dich davor gewarnt
hat. Und du kommst zurück, nachdem sie
dich fast gefangen hätten, und tust, als wäre
das alles ein Spiel!«
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»Was ist es sonst?« Mo sprach
immer noch so leise, dass Meggie
ihn kaum verstand. »Hast du ver-
gessen, woraus diese Welt besteht?«
»Es ist mir egal, woraus sie be-
steht. Du kannst sterben in ihr,
Mo. Das weißt du besser als ich.
Oder hast du die Weißen Frauen
vergessen? Nein. Du sprichst sogar im Schlaf von ihnen. Manchmal denke
ich fast, du vermisst sie …«
Mo schwieg, aber Meggie wusste, dass Resa recht hatte. Mo hatte ihr nur
ein einziges Mal von den Weißen Frauen erzählt. »Sie sind aus nichts als
Sehnsucht gemacht, Meggie«, hatte er gesagt. »Sie füllen dir das Herz bis an
den Rand damit, bis du nur noch mit ihnen gehen willst, wo immer sie dich
auch hinführen.«
»Bitte, Mo!« Resas Stimme zitterte. »Bitte Fenoglio, uns zurückzuschrei-
ben! Für dich wird er es versuchen. Er ist es dir schuldig!«
Einer der Räuber hustete im Schlaf, ein anderer rückte
näher ans Feuer – und Mo schwieg. Als er schließlich ant-
wortete, klang es, als spräche er mit einem Kind.
Nicht einmal mit Meggie sprach er noch so.
»Fenoglio schreibt nicht mehr, Resa. Ich
bin nicht einmal sicher, ob er es noch
kann!«
»Dann geh zu Orpheus! Du hast
gehört, was Farid erzählt. Er hat
bunte Feen hergeschrieben,
Einhörner …«
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»Und? Orpheus kann zu Fenoglios Geschichte vielleicht hier und da
etwas hinzudichten. Aber um uns zu Elinor zurückzubringen, müsste er
etwas Eigenes schreiben. Ich bezweifle, dass er das kann. Und selbst wenn!
Nach dem, was Farid erzählt, ist er nur daran interessiert, sich zum reichs-
ten Mann von Ombra zu machen. Hast du Geld, um ihn für seine Worte
zu bezahlen?«
Diesmal schwieg Resa – so lange, als
wäre sie wieder stumm, wie da-
mals, als sie ihre Stimme in die-
ser Welt zurückgelassen hatte.
Mo war es, der schließlich das
Schweigen brach. »Resa!«, sagte er. »Wenn wir jetzt zurückge-
hen, werde ich in Elinors Haus sitzen und tagaus, tagein an nichts anderes
denken als daran, wie diese Geschichte weitergeht. Aber kein Buch der Welt
wird es mir erzählen können!«
»Du willst nicht nur wissen, wie es weitergeht.« Nun war es Resas
Stimme, die kühl klang. »Du willst bestimmen, was passiert. Du willst mit-
spielen! Aber wer sagt dir, dass du jemals wieder aus den Buchstaben her-
ausfindest, wenn du dich noch mehr in ihnen verfängst?«
»Noch mehr? Wie das? Ich habe hier den Tod gesehen, Resa – und ein
neues Leben bekommen.«
»Wenn du es nicht für mich tun willst –« Meggie hörte, wie schwer es
ihrer Mutter fiel weiterzusprechen, »– dann geh zurück für Meggie – und
für unser zweites Kind. Ich will, dass es einen Vater hat! Ich will, dass er lebt,
wenn es geboren wird – und dass er noch derselbe Mann ist, der seine
Schwester großgezogen hat.«
Resa musste erneut lange auf Mos Antwort warten. Ein Käuzchen
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schrie. Die Krähen des Geckos krächzten
schläfrig in dem Baum, in dem sie nachts
hockten. Fenoglios Welt schien so friedlich.
Und Mo strich dem Baum, an dem er
lehnte, so zärtlich über die Rinde, wie er
es sonst mit dem Rücken eines Buches tat.
»Woher willst du wissen, dass Meggie nicht blei-
ben will? Sie ist fast erwachsen. Und sie ist verliebt. Glaubst du, sie will
zurück, während Farid hierbleibt? Und er wird bleiben.«
Verliebt. Meggies Gesicht begann zu brennen. Sie wollte nicht, dass Mo
aussprach, was sie selbst nie in Worte gefasst hatte. Verliebt – es klang wie
eine Krankheit, für die es keine Heilung gab. Und fühlte es sich nichtmanchmal auch genauso an? Ja, Farid würde bleiben. Wie oft hatte sie selbstsich das schon gesagt, wenn sie den Wunsch verspürt hatte zurückzukehren:
Farid wird bleiben, auch wenn Staubfinger bei den Toten bleibt. Er wird
weiter nach ihm suchen und sich nach ihm sehnen, so viel mehr als nach
dir, Meggie. Aber wie würde es sich anfühlen, ihn nie wiederzusehen? Wür-
de sie ihr Herz hierlassen und künftig mit einem Loch in der Brust herum-
laufen? Würde sie allein bleiben – so wie Elinor – und nur noch in Büchern
vom Verliebtsein lesen?
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»Sie wird darüber hinweg-
kommen!«, hörte sie Resa
sagen. »Sie wird sich in einen
anderen verlieben.«
Was redete ihre Mutter da?
Sie kennt mich nicht!, dachte
Meggie. Sie hat mich nie ge-
kannt. Wie auch? Sie war ja nie da.
»Was ist mit deinem zweiten Kind?«, fuhr Resa fort. »Willst du, dass es
in diese Welt geboren wird?«
Mo blickte sich um, und Meggie spürte erneut, was sie schon lange wus-
ste: dass ihr Vater diese Welt inzwischen ebenso sehr liebte, wie sie und Resa
es einst getan hatten. Vielleicht liebte er sie sogar noch mehr.
»Warum nicht?«, fragte er zurück. »Willst du, dass es in eine Welt gebo-
ren wird, in der es das, wonach es sich sehnt, nur in Büchern findet?«
Resas Stimme bebte, als sie antwortete, doch nun war es Zorn, der her-
ausklang. »Wie kannst du so etwas sagen? Alles, was du hier findest, wurde
in unserer Welt geboren. Wo sonst soll Fenoglio es herhaben?«
»Was weiß ich? Glaubst du tatsächlich immer noch,
dass es nur eine wirkliche Welt gibt
und die anderen nichts als blasse
Ableger sind?«
Irgendwo heulte ein Wolf,
und zwei andere antworteten.
Eine der Wachen kam zwischen
den Bäumen hervor und warf Holz
auf das sterbende Feuer. Streuner nannte er sich. Keiner der Räuber trug
den Namen, unter dem er geboren worden war. Mit einem neugierigen
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Blick auf Mo und Resa ver-
schwand er wieder zwischen
den Bäumen.
»Ich will nicht zurück,
Resa. Nicht jetzt!« Mos Stim-
me klang entschieden, doch
zugleich warb sie um ihre
Mutter, als hoffte er, sie doch
noch davon überzeugen zu
können, dass sie am richtigen Ort waren. »Es
werden noch viele Monate vergehen, bevor die-
ses Kind geboren wird, und vielleicht werden wir bis dahin alle wieder inElinors Haus sitzen. Aber jetzt ist dies der Ort, an dem ich sein will.«
Er küsste Resa auf die Stirn. Dann ging er fort, hinüber zu den Wachen,
die am anderen Ende des Lagers zwischen den Bäumen standen. Und Resa
ließ sich dort, wo sie stand, ins Gras sinken und vergrub das Gesicht in den
Händen. Meggie wollte zu ihr gehen und sie trösten, doch was sollte sie
sagen? Ich will bei Farid bleiben, Resa. Ich will keinen anderen finden.
Nein, das hätte ihre Mutter wohl kaum getröstet. Und Mo kam auch nicht
zurück.
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Landkarte
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D ieBurg im See
Stau bfingersTotenlager
RoxanesHof
Die Hö hle der Kinder
Galgenhügel
Der einsameHof vonMo und Resa
DerBaum mit denNestern
Friedhof derSpielleute
Ombra
Die Tintenwelt
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Wer ist wer in der Tintenwelt?EIN KLEINES PERSONENREGISTER
BAPTISTA – Schauspieler, Maskenmacher, entstellt von Pockennarben. Lebt im Lager der Spielleute.
ELINOR LOREDAN – Resas Tante, Meggies Großtante; Büchersammlerin –auch Bücherfresserin genannt. Sehnt sich nach der Tintenwelt und nachMeggie, Mo und Resa.
FARID – Der arabische Junge wurde von Mo versehentlich aus 1001NACHT herausgelesen. Farid liebt Meggie und verehrt Staubfinger, dessengelehriger Schüler er wurde.
FENOGLIO – Dichter, Geschichtenerzähler; er hat das Buch geschrieben,um das sich alles dreht – TINTENHERZ – und hat auch die dazugehörigeTintenwelt erfunden.
HÄNFLING – Schwager des Natternkopfes und grausamer neuerStatthalter von Ombra.
MEGGIE – Tochter von Mo und Resa; kann ebenso wie ihr Vater beimVorlesen Figuren aus Büchern lebendig werden lassen, sie »herauslesen«.Meggie möchte schreiben können wie Fenoglio, damit sie weiterhinFiguren aus Büchern herauslesen, sie mit den richtigen Worten aber auchwieder zurückschicken kann.
MORTIMER FOLCHART, GENANNT MO ODER ZAUBERZUNGE ODER
EICHELHÄHER – Buchbinder, »Bücherarzt«, wie seine Tochter ihn nennt.Er kann, wie Meggie sagt, »Bilder in der Luft malen nur mit seinerStimme«. Mo wird von den Bewohnern der Tintenwelt für den Eichel-häher, den legendären Räuber und Kämpfer für Gerechtigkeit gehalten.
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ORPHEUS – Dichter und Vorleser; von Farid auch Käsekopf genannt.
PFEIFER, AUCH SILBERNASE GENANNT – ehemals Capricorns Spielmann,der seine finsteren Lieder jetzt für den Natternkopf singt.
RESA – Mos Frau, Meggies Mutter und die Lieblingsnichte von Elinor.Verbrachte vor vielen Jahren schon einmal längere Zeit in der Tintenweltund ist freiwillig zurückgekehrt, gemeinsam mit Mo.
DER SCHWARZE PRINZ – Messerwerfer, Bärenfreund, König der Spiel-leute, Staubfingers bester Freund, Vertrauter von Mo.
DER STARKE MANN – Spielmann, der Eisen biegen und mehrere Männerauf einmal hochheben kann.
STAUBFINGER, AUCH FEUERTÄNZER GENANNT – lebte jahrelang bei denMenschen, bis er endlich wieder in die Tintenwelt zurückkehren konnte.Farids Lehrer; ließ sich von den Weißen Frauen holen, um Farids Lebenzu retten.
VIOLANTE, AUCH VIOLANTE DIE HÄSSLICHE GENANNT – Tochter desNatternkopfes, Witwe von Cosimo dem Schönen und Bücherliebhaberin.Lebt am Hofe von Ombra.
DIE WEISSEN FRAUEN – Dienerinnen des Todes.
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ls ich begann, TINTENHERZ
zu schreiben, ahnte ich nicht, dass
diese Geschichte in meinem Kopf
wachsen würde, bis sie mehr als
ein Buch füllt. Ich wollte schon
lange eine Geschichte schreiben, in der Gestalten aus Büchern lebendig
werden, denn welcher Büchersüchtige kennt das Gefühl nicht: dass einem
Figuren aus einem Buch echter vorkommen und näher sind als Menschen,
die man aus dem echten Leben kennt? Die Erklärung ist einfach. Welcher
echte Mensch erlaubt es einem schon, so tief in sein Herz zu blicken, wie
ein Geschichtenerzähler es uns bei seinen Figuren erlaubt? Bis in die tiefste
Seele dürfen wir spitzeln, alle Angst, alle Liebe, alle Träume sehen.
Es gab aber noch etwas, was mich TINTENHERZ schreiben ließ – ein Bild,
das ich immer wieder vor mir sah: von einem Mädchen, das nachts auf seinem Bett kniet, vor einem regennassen Fenster, und draußen steht je-mand … Ich sah es ganz deutlich, fast wie ein Filmbild, und ich musste nur
noch herausfinden, welche Geschichte hinter diesem Bild steckt. Natürlich
las ich auch viele, viele Bücher über Büchersammler, Bücherdiebe, Bücher-
mörder … Büchersüchtige, Buchbinder (wie Mo) … und fand viele, viele
Dinge und Ideen, mit denen ich meine Geschichte füttern konnte.
Noch nie ist mir das Schreiben so leicht gefallen wie bei TINTENHERZ,
noch nie hat sich eine Geschichte so aufs Papier gedrängt – vielleicht weil
es eine Geschichte über meine eigene Leidenschaft ist, die Leidenschaft für
Bücher, aber auch fürs Vorlesen.
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Geboren 1958 in Dorsten,
Westfalen, hat nach einer
Ausbildung zur Diplom-Pä-
dagogin und anschließen-
dem Grafikstudium ange-
fangen zu schreiben. Heute ist sie die bekannteste deutsche Kinder- und
Jugendbuchautorin. Zu großen internationalen Erfolgen wurden v. a. HERR
DER DIEBE, DRACHENREITER sowie die ersten beiden Bände der TINTEN-
WELT-TRILOGIE. Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen zeigen ihre
Bedeutung im In- und Ausland, darunter der »Evangelische Buchpreis«, der
Internationale Buchpreis »Corine«, der »Zürcher
Kinderbuchpreis« und der »Mildred L. Batchelder
Award« der American Library Association. Das
»Time Magazine« wählte Cornelia Funke, die
mittlerweile mit ihrer Familie in Los
Angeles/Kalifornien lebt, 2005 unter die
100 einflussreichsten Personen des Jahres.
Cornelia Funke ist Schirmherrin der Hilfsorganisationen »exilio. Hilfe
für Flüchtlinge und Folteropfer e.V.« und »Häusliche Krankenpflege
Hamburg«.
Weitere Informationen unter: www.corneliafunke.de
Foto
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Cornelia Funke