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Seite 1 Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen KNUT SCHERPE Diplomarbeit

Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Selbstorganisation in

sozioökonomischen

Systemen

KNUT SCHERPE

Diplomarbeit

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Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung........................................................................................................................................1

2 Ökonomische Weltbilder...............................................................................................................2

2.1 Das mechanistische Weltbild ......................................................................................................2

2.2 Die traditionelle Ökonomie ..........................................................................................................3

3 Zum Paradigma der Selbstorganisation......................................................................................5

3.1 Synergetik....................................................................................................................................6

3.2 Dissipative Strukturen..................................................................................................................9

3.3 Deterministisches Chaos...........................................................................................................11

3.4 Nichtlineare Modellbildung ........................................................................................................14

4 Die Übertragung auf sozioökonomische Systeme...................................................................16

4.1 Warum Übertragung?................................................................................................................16

4.1.1 Analogie sozialer Systeme zu autopoietischen Strukturen? ............................................17 4.1.2 Analogie sozialer Systeme zu dissipativen Strukturen?...................................................19

4.2 Das Modell einer Party ..............................................................................................................23

4.2.1 Normen und Institutionen als gesellschaftliche Ordner ....................................................27

4.3 Die Darstellung sozioökonomischer Systeme mit der Master-Gleichung .................................32

4.3.1 4.4.1.Migrationsmodelle....................................................................................................37 4.3.2 Wahlmodelle .....................................................................................................................40 4.3.3 Siedlungsstrukturmodelle .................................................................................................43

5 Ökonomie und Selbstorganisation ............................................................................................47

5.1 Normen und Märkte...................................................................................................................47

5.1.1 Ökonomische Selbstorganisation auf verschiedenen Zeitskalen .....................................................47 5.1.2 Selbstorganisation und Prozessinnovationen...................................................................52

5.2 Diffusion von Innovationen ........................................................................................................55

5.2.1 Die Modellierung von Diffusionsprozessen mit der Master-Gleichung.............................62 5.2.2 Selbstorganisation in sozialen Netzwerken durch kritische Massen und Schwellenwerte 69

5.3 Individualismus, Holismus und Synergetik ................................................................................79

6 Spontane Ordnung in sozioökonomischen Systemen = Selbstorganisation = Evolution? .....81

7 Schlussbemerkung.....................................................................Fehler! Textmarke nicht definiert.

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Abb. 1: Das Feigenbaum -Diagram m .....................................................................................12

Abb.2: Anfangswertsensitivitat des Chaosprozesses, k=2.8..................................................12

Abb. 3: Die Entstehung eines Strange Attraktors...................................................................13

Abb.4: G renzzyklus-Verhalten des Brusselators'...................................................................14

Abb. 5: Eine zufällige Schwankung führt zu verschiedenen Endzuständen...........................15

Abb. 6: Schem a der Verknüpfung sozialer System e..............................................................18

Abb. 7: Die Party' und die Übergänge zwischen den "Räum en'.............................................23

Abb. 8: Verknüpfung von M ikro- und M akroebene durch die M astergleichung......................32

Abb. 9: W ahrscheinlichkeitsverteilung bei niedriger Interdependenz & Präferenz.................36

Abb. 10: W ahrscheinlichkeitsverteilung bei hoher Interdependenz........................................36

Abb. 11: Sym m etrische W echselwirkungen (Fixpunktattraktor).............................................38

Abb. 12: Sym m etrische W echselwirkungen (m ultiple Attraktoren).........................................38

Abb. 13: Asym m etrische W eckselwirkungen (Fixpunktattraktor)...........................................38

Abb. 14: Asym m etrische W echselwirkungen (Grenzzyklus)..................................................39

Abb. 15 :Sim ulationsergebnisse für in zweidim ensionales M odell.........................................40

Abb. 16: Höhenliniendarstellungen der W ahrscheinlichkeitsdichtefunktionen .......................41

Abb. 17: Interaktionsm uster städtischer Dynam ik.................................................................44

Abb. 18: Unterschiedliche Konsum entengewichtungen des Preises eines Gutes.................48

Abb. 19: Die daraus resultierende Existenz von drei Produkten im M arkt.............................48

Abb. 20: Drei m ögliche Ergebnisse einer Preissenkung........................................................49

Abb. 21: Verschiedene m ögliche M arktgleichgewichte..........................................................49

Abb. 22: Lock-In dargestellt anhand einer Potentialfunktion..................................................59

Abb. 23: Lock-In dargestellt anhand einer Potentialfunktion..................................................59

Abb. 24: Vier Realisierungen des Standard-Polya-Prozesses...............................................63

Abb. 25: Zwei Realisierungen eines nichtlinearen Poly-Prozesses.......................................63

Abb. 26: Schwellenwertdichteverteilung erzeugt kum ulatives Diffusionsm uster....................71

Abb. 27: Rechtsschiefe Schwellenwertdichteverteilung und ihr Diffusionsm uster.................72

Abb. 28: Der evolutionäre Anpassungsprozeß ......................................................................86

Abb. 29: Konvergenz auf sich dynam isch verändernde Attraktoren ......................................91

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1. Einleitung "..If orthodox economics is at fault, the error is to be found not in the superstructure,

which has been erected with great care for logical consistency, but in lack of clearness and of generality in the premises"

J.M.Keynes (1936)1

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Strukturbildungen in ökonomischen und

gesellschaftlichen Systemen, die -wohl ohne Vorbehalt- als komplexe Systeme

bezeichnet werden können, in denen sehr viele Einzelteile in komplexer Weise

zusammenwirken.

Komplexe Systeme lassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: So

kann man zum einen die Funktionsweise der einzelnen Teile untersuchen, indem

man wie in einem Spiel von Regeln ausgeht, welche die Einzelschritte der Teile

bestimmen und damit schließlich ein Muster ergeben2. Zum anderen kann man

den Blick mehr aufs Ganze richten und nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten

für den Strukturbildungsprozess fragen3. Letzteres wird sowohl in der Synergetik

als auch in der Theorie der dissipativen Strukturen getan.

Beide beschäftigen sich damit, wie Strukturen von allein entstehen, wie sie sich

selbst organisieren.

Wäre die Bildung jeder einzelnen der unendlichen Vielfalt von Strukturen einem

speziellen Gesetz unterworfen, könnte man sie nie in ihrer Gesamtheit verstehen.

Um ein Kaleidoskop von Phänomenen aus einer einheitlichen Wurzel heraus zu

verstehen und somit ein einheitliches Weltbild zu erlangen, sucht man nach Fun-

damentalgesetzen4.

Solche Fundamentalgesetze stellen die von Newton (1642-1727) entdeckten Be-

wegungsgesetze und das Gesetz der Schwerkraft dar. Sie bilden die Grundlage

für ein mechanistisches Weltbild, welches bis in die heutige Zeit die wissenschaft-

liche Methodik und den denktheoretischen Ansatz der modernen Wissenschaft

entscheidend bestimmte5.

1 Zitiert in Zhang (1991, S.V) 2 Hierauf gehen Eigen/ Winkler (1975) in Das Spiel' ausführlich ein. 3 Haken (1984, S.10) zieht hier den Vergleich zum Schachspiel, bei dem man entweder die Bewegungen der einzelnen Figuren in

immer neuen Spielen betrachten kann, oder aber nur Aussagen über den Endzustand jedes einzelnen Spiels trifft (Weiß oder Schwarz gewinnt bzw. Remi).

4 Vgl. Haken (1984, S.15) 5 Laut Prigogine (1988, S.39) begann die moderne Wissenschaft erst mit der Formulierung der Dynamik durch Galilei und New-

ton.

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2. Ökonomische Weltbilder

2.1 Das mechanistische Weltbild

Die Mechanik untersucht, wie sich einzelne Körper aufgrund der zwischen ihnen

herrschenden Kräfte bewegen. Die klassische oder Newtonsche Dynamik6 macht

ihre Aussagen in Begriffen der Mechanik wie Position und Geschwindigkeit von

Teilchen. Die Welt wird auf Raum-Zeitlinien (Trajektorien) einzelner materieller

Punkte reduziert, wobei die Bewegung des Teilchens von A nach B völlig um-

kehrbar ist. Man macht einen grundlegenden Unterschied zwischen den (beliebi-

gen) Anfangsbedingungen und den Bewegungsgleichungen, aus denen sich der

dynamische Zustand des Systems ergibt. Die Zeit tritt ohne ausgezeichnete Rich-

tung auf (Zeitreversibilität), der Impuls der Bewegung kommt von außen, die Teil-

chen treten in keinerlei Beziehung zueinander. Damit wird die klassische Dynamik

in einer Wirklichkeit, die aus Zusammenstößen, Begegnungen, Zwängen und

Austauschwirkungen besteht, zu einem reinen Denkmodell7. Das auf diesem ba-

sierende Wissenschaftsparadigma des 18ten und 19ten Jahrhunderts bestimmt

immer noch die dominante Richtung der Nationalökonomie. Laut Lorenz8 kann es

auch als deterministisches Weltbild beschrieben werden. Für ihn sind zwei Eigen-

schaften wesentlich:

Die Welt unterliegt deterministischen Gesetzen. Jedes Teilchen wie auch je-des Lebewesen verhält sich entsprechend eines eindeutig beschreibbaren Bewegungsgesetzes. Zufallskomponenten existieren nicht; stochastische Elemente weisen nur auf eine Nichtberücksichtigung von irrelevant erschei-nenden Einflussgrößen hin. Würde man alle (sich gegenseitig beeinflussen-den) Elemente eines Gesamtsystems erfassen können und die einzelnen Entwicklungsgesetze kennen, so wäre die zeitliche Entwicklung aller Kompo-nenten präzise zu bestimmen9.

Ein Gesamtsystem setzt sich aus Subsystemen zusammen, die isoliert von-einander untersucht werden können. Die Interaktion zwischen den Subsyste-men ist durch eine Überlagerung von Einzelprozessen und deren lineare, in der Regel additive Zusammenhängigkeit gekennzeichnet (superposition prin-ciple). Das Gesamtsystem verhält sich wie die Summe seiner Teile.10

In den Wissenschaften und dem ihnen zugrunde liegenden Rationalismus11 spielt

6 Sie stellt kein abgeschlossenes Gebiet dar. Über die Zeit haben Wissenschaftler wie Lagrange, Hamilton, Poincaré entscheiden-

de Beiträge geleistet, und bis in die heutige Zeit kommen immer neue Erkenntnisse dazu. Siehe dazu Prigogine(1988, S.39ff) 7 Vgl. Jantsch(1984, S.56f) 8 Vgl. Lorenz (1990) 9 Formal-mathematisch äußert sich eine deterministische Theorie in der Verwendung von deterministischen (also kein stochasti-

sches Element aufweisenden) Bewegungsgleichungen. Wenn die Startwerte im mathematischen Sinne genau bestimmt werden können, so können auch die zukünftigen Variablenwerte eindeutig bestimmt werden. In der klassischen Mechanik sind die Begriffe des deterministischen Weltbildes, der deterministischen Theorie und des deterministischen mathematischen Systems Synonyme.; Vgl. Lorenz (1990, S.182)

10 Vgl. Lorenz ( 1990, S.182f) 11 So wird in Frankreich auch von 'rationaler' Mechanik gesprochen, womit die Übereinstimmung der Gesetze der klassischen

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hierdurch eine reduktionistische Vorgehensweise eine große Rolle: Ein Gegens-

tand oder ein Prozess wird in klar erfassbare, voneinander getrennte Elemente

zerlegt; es werden Gesetze für die Kombination und die Veränderung derselben

eingeführt, und der Prozess wird aus diesen Bestandteilen aufgebaut12.

2.2 Die traditionelle Ökonomie "Jedermann weiß, dass Leben ein Vorgang ist, ein Prozess.

Aber nicht jedermann bedenkt, dass ein Prozess aufhört, ein Prozess zu sein, wenn er in ein statisches Gleichgewicht gerät."

M. Feldenkrais13

Von diesem deterministischen Weltbild wurden die Klassik und die Neoklassik

entscheidend beeinflusst. Fast das gesamte Theoriengebäude basiert auf dem

homo oeconomicus14, der durch folgende Eigenschaften beschrieben werden

kann: Er ist von seiner Umwelt isoliert und betrachtet lediglich ökonomische Moti-

ve. Um eine analytische Lösung des Entscheidungsprozesses zu ermöglichen,

wird volle Rationalität, vollständige Information15 und eine individuelle Präferenz-

ordnung16 unterstellt. Das Postulat der Nutzenmaximierung erlaubt dann eine ein-

deutige Bestimmung des Konsumplans17. Durch den Preismechanismus werden

Nachfrager und Anbieter miteinander verknüpft, und es ergibt sich für alle Güter

ein markträumender Gleichgewichtspreis, und zwar in dem Sinne, dass auf allen

Märkten das Angebot der Nachfrage entspricht (totales Gleichgewicht). Wenn

freie Potentiale, also Ungleichgewichte, in den Märkten auftreten (Angebot un-

gleich Nachfrage), so verschwinden diese durch "the mechanics of utility and self-

interest"18, und ein neues Gleichgewicht entsteht.19 Bisher galt die Konzentration

allein den Gleichgewichtszuständen und ihren Eigenschaften. Anstatt sich damit

Mechanik mit denen der Vernunft gemeint ist. Vgl. Prigogine (1988, S.39)

12 Vgl. Feyerabend in Jantsch (1984, S.14) 13 Zitiert in Lehmann (1992, S.93) 14 Da die Volkswirtschaft sich mit menschlichen Entscheidungsprozessen und Interaktionen beschäftigt, kann sie auch im weiteren

Sinne als Sozialwissenschaft verstanden werden. Weil wirtschaftliche Aktivitäten komplexe Rückkopplungsprozesse zwischen Individuum, Gesellschaft und Umwelt auslösen, als auch erratischen Mustern folgen können, ist es fast unmöglich diese Akti-vitäten durch formal-mathematische Gesetze zu beschreiben. Dadurch war die volkswirtschaftliche Theorie gezwungen, das real existierende Individuum durch das Artefakt des homo oeconomicus' zu ersetzen. Vgl. Lorenz ( 1990, S.184)

15 Da die, den Entscheidungsprozessen zugrunde liegende, Information nicht immer vollständig sind , und auch die Existenz ech-ter (objektiver) Unsicherheiten schlichtweg eine Tatsache ist, wurden in der neoklassischen Volkswirtschaftslehre zwei Mög-lichkeiten der analytischen Behandlung in die Modelle miteinbezogen: 1. Man geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeits-verteilungen stochastischer Größen bekannt sind, und die Verteilungen eine Form aufweisen, die bei einer Maximierung der Erwartungswerte dazu führt, dass eindeutige Werte für die Aktivitäten erzeugt werden können. 2. Exogene Schocks werden als stochastische Terme, die den deterministischen Gleichungen hinzugefügt werden, simuliert. (Lorenz, 1990, S.185)

16 Erst die Existenz einer individuellen Präferenzenordnung eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Güterkombinationen logisch konsistent miteinander zu vergleichen. (Lorenz 1990, S.184)

17 Zum daraus folgenden Determinismus vermerkte Farmer (1991, S.105): "Rather they are 'atoms' who are assumed to act in predictable ways to given Stimuli. Their preferences, reflected in a Utility function the Contents of which are deemed outside the scope of economic explanation, or even, according to one now quite widely accepted if extreme version, given and immu-table..., determine their actions in a mechanical way. And whilst real actors may differ from each other in their preferences, the use of the concept of the 'representative actor' provides a convenient route to the development of economic modes which can generate predictions analogously to those of classical mechanics."

18 Witt (1985, S.573) 19 Dieser Prozess ist mit einer Waage zu vergleichen, bei der auf der einen Seite ein Gewicht hinzugefügt wird. Sofort startet ein

Anpassungsprozess, in dem das freie Potential (im Sinne nicht erfüllter, individueller Pläne, welche durch eine korrespondie-rende Überschussnachfrage reflektiert werden) verschwindet und ein neues Gleichgewicht erreicht wird. Vgl. Witt (1985, S.573)

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zu befassen, wie die freien Potentiale eliminiert werden, also statt der komplizier-

ten Dynamik der Marktinteraktion, welche (wenn überhaupt) die Koordination der

Wirtschafteinheiten erbringt, wird nur der behauptete Endzustand mit Hilfe einer

statischen Analyse betrachtet. Hinzu kommt, dass das Entstehen von freien Po-

tentialen ausschließlich durch exogene Schocks20 erklärt wird. Individuelle Anpas-

sungsprozesse finden so statt, dass ein neues Gleichgewicht mit perfekter Koor-

dination entsteht, genau wie dies analog in der klassischen Mechanik stattfindet21.

Diese Analogie macht in der Ökonomie nur dann Sinn, wenn das individuelle Ver-

halten sich rein reaktiv exogen verursachten Ereignissen anpasst.22

Die klassische Mechanik und der mit ihr aufgekommene Reduktionismus zeichne-

ten sich durch den Glauben an die Einfachheit indem Mikroskopischen und eine

statische Betrachtungsweise aus, die vor allem an räumlichen Strukturen interes-

siert war. Dies spiegelte sich, wie oben ausgeführt, in den Wirtschaftswissen-

schaften wider. Die Struktur einer Gesellschaft wurde als statisch ruhend, sich im

Gleichgewicht befindend angesehen23. Makroskopische Eigenschaften sind auf

die Eigenschaften der Komponenten und ihrer Konfiguration zurückführbar. In

einem echten System ergeben sich die Komponenteneigenschaften jedoch oft

nicht aus statischen Strukturen, sondern aus dynamischen Wechselwirkungen,

die innerhalb des Systems, ebenso wie zwischen System und Umwelt stattfin-

den24.

20 Hierdurch wird natürlich auch die Annahme einer in der Zeit invarianten Präferenzstruktur impliziert. Eine Änderung dersel-

ben entspräche ja einem endogenen Erklärungsansatz. 21 Somit beschreiben Prozesse in der Neoklassik die Zerstörung eines alten und die Etablierung eines neuen Gleichgewichtszu-

standes, wobei die das Gleichgewicht zerstörenden Kräfte von außen kommen, und die auf ein Gleichgewicht hinführenden Kräfte als systemimmanent angenommen werden. Z.B. kann eine relative Ressourcenverknappung der Auslöser für einen sol-chen sein. Die Neoklassik erklärt vor allem Prozesse auf ein Gleichgewicht hin, Prozesse von einem Gleichgewicht weg finden kaum theoretische Betrachtung. Außerdem findet bei ihr eine Systembeschreibung in erster Linie als Systemzustandsbeschrei-bung statt; die Prozesse, die auf ein Gleichgewicht hin (oder von ihm weg) führen sind von sekundärer Bedeutung. Es handelt sich also vor allem um eine komparativ-statische Betrachtungsweise. Bei der Beschreibung von evolutorischen Prozessen, die eine Aussage über Erklärungsvariablen machen muss, die sonst konstant gehalten werden (technologischer Fortschritt, struk-turelle Aspekte, Bevölkerung, usw.) stößt sie an ihre Grenzen. Solche Prozesse haben in der neoklassischen Wachstumstheorie und in der Kapitaltheorie folgende Charakteristika: 1. Der Prozess ist als relative Bewegungsänderung zwischen Ressourcen definiert. 2. Die Ursachen für die Änderungen in den Ressourcenbewegungen sind exogen. 3. Die Anfangsbedingungen sind beliebig. 4. Die ökonomische Dynamik ist durch ein deterministisches Trajektorgesetz definiert. 5. Die dynamischen Prozesse sind (per Annahme) gleichgewichtig, bzw. die durch die exogenen Störungen herbeigeführten Ungleichgewichte konvergieren über die Zeit auf einen Gleichgewichtszustand hin. Vgl. Dopfer (1990, S.26ff)

22 Der Tatsache, dass Ärger oder Unzufriedenheit nach all den Anpassungsprozessen zurückbleibt und das Individuum dazu bringt, nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten, dass es also zu einer endogenen Störung des Gleichgewichts kommt, wenn das Individuum nur innovativ genug ist, wird in der neoklassischen Theorie nicht Rechnung getragen. Bei einer reinen Maximierung der Zielfunktion unter gegebenen Zwängen gibt es keinen Platz für Ärger oder Unzufriedenheit als Motivations-quelle. Vgl. Witt (1985, S.574)

23 Vgl. Haken(1984, S.24) 24 Vgl. Jantsch(1984, S.55)

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3. Zum Paradigma der Selbstorganisation

Die Allgemeingültigkeit des gerade ausgeführten Paradigmas der klassischen

Mechanik wurde in dem gleichen Wissenschaftszweig, in dem es entstanden war,

nämlich der Physik, durch neue nicht mit ihm zu vereinbarende Entdeckungen in

Frage gestellt. Durch die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation - die Erkennt-

nis der Unmöglichkeit, sowohl Ort wie Geschwindigkeit eines beobachteten Teil-

chens gleichzeitig mit hoher Präzision zu bestimmen- kamen die ersten Zweifel

über die absolute Determiniertheit aller Prozesse25,26.

Im 19.Jahrhundert entstand mit der Thermodynamik eine makroskopische Be-

trachtungsweise, die sich mit ganzen Populationen von Teilchen beschäftigte. Die

dynamischen Aussagen wurden in Mittelwerten (Druck, Temperatur) von Bewe-

gungen einer großen Anzahl von Molekülen zusammengefasst. Die Ordnung des

Wandels (bzw. die Evolution des Systems) wird im 2ten Hauptsatz der Thermo-

dynamik (1850)beschrieben27: Die Entropie eines isolierten Systems kann nur

zunehmen, bis das System sein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht. Ent-

ropie kann man dabei als Maß für die Qualität der im System befindlichen Ener-

gie bezeichnen bzw. als jenen Teil der Gesamtenergie, der nicht frei verfügbar ist

und nicht in einen gerichteten Energiefluss umzusetzen ist28,29. In einem isolierten

System nimmt die Entropie immer mehr zu (bzw. nimmt nicht ab), wobei eine Um-

kehrung dieser Zustandsänderung nicht möglich ist. Alle irreversiblen Prozesse

erzeugen Entropie30; ein isoliertes System bewegt sich auf einen Zustand maxi-

maler Unordnung hin31. Der Gewinn dieser Entdeckung war, dass mit der Er-

kenntnis der Irreversibilität von Prozessen die Begriffe Prozess und Geschichte

auftraten. Die Zeit erhält eine Richtung (die Zeitsymmetrie wird gebrochen), wobei

25 Die makroskopische Betrachtung der Dynamik kohärenter Systeme (Systeme deren Struktur nicht starr bleibt, sondern sich in

zusammenhängender Weise entwickeln) gewann für die Sozialwissenschaften immer mehr an Bedeutung. Dem stand die re-duktionistische Ausrichtung der Physik entgegen, die alle Phänomene auf eine Erklärungsebene reduzieren wollte und sie im Mikroskopischen, in der Grundstruktur der Materie zu finden hoffte. Wie Jantsch vermerkte, ist es "nicht ohne Ironie, dass die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation zuerst im subatomaren mikroskopischen Bereich formuliert wurde"; Jantsch (1984, S.54)

26 Eine ausführlichere Darstellung derselben findet sich in Prigogine (1988; S.69f, S.90f) 27 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik sagt aus, dass in einem abgeschlossenen System, in dem alle möglichen physikochemi-

kalischen Umwandlungen ablaufen können, die Gesamtenergie erhalten bleibt. (Haken, 1986, S.38) 28 Haken veranschaulicht den Begriff der Entropie anhand von zwei miteinander verbundenen Kästen und vier Molekülen: Es gibt

nur eine Möglichkeit, diese vier verschiedenfarbigen Moleküle in einen bestimmten Kasten zu tun; dagegen gibt es sechs Mög-lichkeiten, sie in unterschiedlicher Zusammensetzung gleichmäßig auf beide Kästen zu verteilen. Das Boltzmannsche Prinzip sagt nun aus, dass die Natur den Zustand anstrebt, bei dem die Zahl der Möglichkeiten, die Entropie, am größten ist. Wenn die Moleküle in Bewegung sind, so werden sie den Zustand der Gleichverteilung anstreben. Die Wahrscheinlichkeiten, ein be-stimmtes Molekül in einem der beiden Kästen anzutreffen, sind identisch; die Unsicherheit in diesem Zustand maximaler Un-ordnung' ein bestimmtes Molekül in einem der beiden Kästen anzutreffen ist maximal, nämlich gleichwahrscheinlich; insofern ist die Entropie ein Maß der Ordnung. Ein anderes Beispiel ist die Abbremsung eines Autos, bei der die vorher gerichtete Be-wegungsenergie in Wärme umgewandelt wird; die Energie eines Freiheitsgrades wird auf sehr viele Freiheitsgrade verteilt. Dieser Vorgang ist nicht umkehrbar. Die erzeugte niederwertige Energie kann nicht wieder völlig in höherwertige Energie umgewandelt werden, mit der Folge, dass die Entropie im Gesamtsystem zunimmt. Vgl. Haken (1984, S.27ff).

29 Für eine ausführlichere Darstellung des Entropiebegriffs siehe Prigogine (1988; S.29ff, S.91ff, S.212ff) 30 Zur Fragestellung inwiefern ökonomische Systeme als Entropieerzeugende Systeme angesehen werden können siehe Spreng

(1984) sowie Swaney (1985) 31 Diese Erkenntnis der Entropiezunahme ließ die Vision vom unentrinnbaren Wärmetod' der Erde entstehen;

Vgl. Jantsch(1984, S.57)

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der Prozess als eine Abfolge von ganzheitlichen Systemzuständen durch die Ver-

änderung eines einzigen mikroskopischen Systemparameters, der Entropie, dar-

gestellt werden kann. Jedoch handelt es sich, genau wie in der klassischen Me-

chanik, um ein Gleichgewichtssystem. Ein System ohne Umwelt wird eine beson-

dere Art der Selbstorganisation haben: Es evolviert auf seinen Gleichgewichtszu-

stand hin32. In der Thermodynamik führt die Irreversibilität zur Zerstörung von

Strukturen.

Die zweite Grundklasse physikalischer Systeme stellt ein relativ neues Erkennt-

nisobjekt der Naturwissenschaften dar: Es handelt sich um Ungleichgewichtssys-

teme einer bestimmten Art, nämlich um offene Systeme, die Energie und Materie

mit der Umwelt austauschen, und in denen sich spontan Strukturen bilden. Mit

solchen befasst sich die Theorie der selbstorganisierenden Strukturen, ein neuer

Forschungszweig, der seine dominantesten Ausprägungen in der Synergetik und

in der Theorie der dissipativen Strukturen hat.

3.1 Synergetik

Die Synergetik33 -ein von Haken formuliertes Kunstwort- befasst sich hauptsäch-

lich mit den Ablaufmechanismen in selbstorganisierenden Systemen.

Das Paradebeispiel der Synergetik ist der Laser34. Anschaulich lässt sich das

Phänomen des Laserlichts folgendermaßen erklären35: Zwei Spiegel, von denen

der eine teilweise lichtdurchlässig ist, schließen eine Neonröhre, die mit Edelgas-

atomen gefüllt ist, ab. Es handelt sich beim Laser um ein offenes System, da ein

ständiger Stromfluss aufrechterhalten wird36. Der elektrische Strom wird von frei

herumschwirrenden Elektronen getragen, die mit den Gasatomen zusammensto-

ßen. Dabei kann das 'Leuchtelektron' eines Gasatoms auf eine energiereichere

Bahn hinauf gestoßen werden. Von dieser kann es spontan, das heißt plötzlich,

ohne vorhersehbaren Zeitpunkt auf seine ursprüngliche Bahn zurückspringen. Die

dabei frei werdende Energie gibt es als Lichtwelle ab. Dies passiert bei unzähli-

gen Atomen gleichzeitig, es entsteht ein Knäuel von Wellenzügen. Bei Erhöhen

der Energiezufuhr, so müsste man annehmen, würde das Knäuel immer dichter37.

Durch die Spiegel jedoch werden die Lichtwellen dazu gezwungen, relativ lange

im Laser zu verbleiben. Eine schon vorhandene Lichtwelle kann andere angereg-

32 Während ein Pendel oder eine Waage, die von außen angestoßen bzw. beschwert werden, gute Beispiele für mechanische An-

passungsvorgänge ans Gleichgewicht sind, ist ein solches für die Thermodynamik ein mit Gas gefülltes Gefäß, welches durch eine Trennwand mit einem leeren Gefäß verbunden ist. Zieht man die Trennwand heraus, so verteilt sich das Gas gleichmäßig auf beide Gefäße. Vgl. Haken (1984, S.28f)

33 In Hakenscher Übersetzung : Die Lehre vom Zusammenwirken' 34 Die Lasertheorie gab auch den eigentlichen Anstoß zur Begründung der Synergetik, da es für ihn keine befriedigende theoreti-

sche Erklärung zu geben schien; Vgl. Haken (1986, S.35) 35 Vgl. Haken ( 1984, S.63ff) 36 Die zugeführte Energie besitzt hierbei keine besondere Struktur oder Qualität, so dass dem System kein geordneter Zustand

aufoktroyiert wird (inkohärente Energiezufuhr); Vgl. Haken ( 1986, S.44) 37 Ohne die Spiegel, also z.B. bei einer Neonröhre, würden alle Atome unregelmäßig und unabhängig voneinander Lichtblitze

emittieren, die sofort aus der Röhre austräten. Hierdurch entsteht auch der Eindruck des diffusen Lichts.

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te Leuchtelektronen dazu zwingen, in ihrem Takt mitzuschwingen. Sie (ihr Wel-

lenberg) wird dadurch verstärkt. Die verstärkte Welle wiederum kann mehr und

mehr Leuchtelektronen in ihren Bann ziehen und diese zwingen, die Wellenberge

höher und höher schlagen zu lassen; es findet eine positive Rückkopplung statt:

Die Wirkung koppelt auf die Ursache zurück. Hier tauchen nun die Begriffe des

Ordners und der Versklavung auf, durch welche in der Synergetik die Gesetzmä-

ßigkeit beschrieben wird, die sich wie ein roter Faden durch alle Phänomen der

Selbstorganisation zieht.

Der entstehende Ordner in Form einer bestimmten Lichtwelle, die immer mehr

verstärkt wird, übt mehr und mehr Anziehungskraft auf noch in einem anderen

'Takt' schwingende Lichtwellen aus und versklavt38 sie dazu, im gleichen 'Takt'

mitzuschwingen. Umgekehrt aber bringen die Elektronen durch ihr gleichmäßiges

Schwingen erst die Lichtwelle, d.h. den Ordner hervor.

Am Anfang jeder Laserausstrahlung jedoch gibt es verschiedene Wellen, die mit-

einander in Konkurrenz treten, von den angeregten Elektronen Verstärkung zu

erhalten. Die Wellen erhalten diese nicht gleichmäßig, sondern es wird diejenige

Welle bevorzugt, die dem inneren Rhythmus der Elektronen am nächsten kommt.

Diese wird durch eine minimale Bevorzugung lawinenartig verstärkt und zieht

mehr und mehr auch die konkurrierenden Wellen in ihren Bann; dieser Prozess

endet damit, dass die gesamte Energie der Leuchtelektronen nur noch in eine

völlig gleichmäßig schwingende Welle geht: das Laserlicht.

Aus anfänglich spontan und zufällig erzeugten Wellen wird eine im Wettbewerb

selektiert39. Die Amplitude dieser Schwingung wird als Ordnungsparameter des

Systems bezeichnet, der die laseraktiven Atome versklavt, gemäß seinen Vorga-

ben zu schwingen. Sie genügt im Falle des Lasers einer nichtlinearen Differential-

gleichung40.

Der Übergang von anfänglich zufällig, ohne Bevorzugung für eine bestimmte Wel-

le, ausstrahlenden Elektronen (mit vielen Freiheitsgraden) zur Bevorzugung einer

bestimmten Welle (ein Freiheitsgrad) wird auch als Phasenübergang bezeichnet.

Dieser ist in zweifacher Hinsicht symmetriebrechend: Einmal, da die Symmetrie

aller Wellen (bezüglich der Bevorzugung durch die angeregten Elektronen) zu-

gunsten einer bestimmten Welle gebrochen wird. Zum anderen gibt es mindes-

tens zwei gleichberechtigte optimale Wellen, die dem inneren Rhythmus der

Elektronen entsprechen. Welche von diesen sich schlussendlich durchsetzt hängt

von den anfänglichen Fluktuationen ab, davon, welche optimale Welle zuerst ver-

38 Versklavung soll hier als bestimmte Folgebeziehung und nicht als Versklavung im ethischen Sinne verstanden werden; Vgl.

Haken ( 1984, S.20) 39 Hierin wird das für die Synergetik typische Wechselspiel von Zufall (zufällige anfängliche Wellen) und Notwendigkeit (Selektion

aus diesen) deutlich. 40 Hier ist es so, dass ein Ordnungsparameter überlebt. Sie können aber auch kooperieren und immer komplexere Strukturen

bilden; Vgl. Haken (1986, S.60)

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stärkt wird und dann die Oberhand gewinnt.

Bei bestimmten Lasertypen kann bei weiterer Erhöhung der Energiezufuhr der geordnete

Zustand der normalen Lasertätigkeit ebenfalls instabil werden. Den dann entste-

henden Zustand kann man als eine noch höher geordnete Form der Atome be-

trachten: Der Laser sendet in regelmäßiger Folge gleichartige Lichtpulse aus. Es

findet kein Phasenübergang von Unordnung zu Ordnung statt, sondern von Ord-

nung zu Ordnung. Diese Phasenübergänge sind durch charakteristische Ände-

rungen in den Ordnungsparametern oder durch die Wechselwirkung mehrerer

Ordnungsparameter beschreibbar. Die oben erwähnte Einfachheit im Mikroskopi-

schen wird durch eine Einfachheit im Makroskopischen ersetzt.

Der synergetische Prozess ist hierbei zum einen von einer quantitativen Größe

abhängig: Erst wenn der Stromzufluss eine kritische Stromstärke überschritten

hat, setzt schlagartig der Phasenübergang von ungeordnetem Licht zu Laserlicht

ein. Außerdem spielt eine systemabhängige qualitative Größe eine Rolle: Erst

wenn die Anzahl der Laseratome im System eine bestimmte kritische Anzahl

überschreiten, ist die Möglichkeit gegeben, den selbstorganisatorischen Prozess

der Laserbildung in Gang zu setzen.

Ebenso hat die Umwelt des Systems einen entscheidenden Einfluss: Zwischen

die beiden Spiegel passen nur bestimmte Wellen. Wenn die Vorzugswelle der

Atome nicht passt, so wird eine gewählt, die dieser am nächsten kommt. Verän-

dert man den Abstand allmählich, so beginnen einige Elektronen spontan -in einer

Art Fluktuation- auf der nun möglichen Lieblingswelle ihre Energie zu entsenden.

Diese neue Welle erhält nun lawinenartig Verstärkung, die alte wird vollständig

fallengelassen41.

Für synergetische Prozesse in der Art des gerade dargestellten lassen sich zahl-

reiche Beispiele42 finden. Allgemein lässt sich die Synergetik als "die Wissen-

schaft mikroskopischer Raum-Zeit-Strukturen von Vielkomponentensystemen, die

sich aus miteinander Wechselwirkenden Einheiten zusammensetzen"43 bezeich-

nen. Die interdisziplinäre Universalität der Synergetik hat ihren Ursprung in den

vereinheitlichenden Konzepten der Modellbildung und Analyse dieser Phänome-

ne. Häufig wird das makroskopische Raum-Zeit-Verhalten durch die Dynamik we-

niger Ordnungsparameter beschrieben, worauf im späteren eingegangen wird.

Die generelle Ursache dieser Selbstorganisation liegt in dem Versklavungseffekt.

41 Bezüglich des Paradebeispiels' Laser vgl. Haken (1984, S.61ff;1986, S.35fi) 42 An solchen reich ist Hakens populärwissenschaftliche Darstellung synergetischer Phänomene (Haken, 1984). Dort werden

zahlreiche Phänomene in Biologie, Chemie, Physik, Gesellschaft und Wirtschaft aufgeführt, die analog zu den gerade darge-stellten Ablaufmechanismen erklärt werden. Haken unterstreicht damit den interdisziplinären Anspruch der Synergetik.

43 Weidlich(1991, S.483)

Page 12: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 9

3.2 Dissipative Strukturen

Der Laser stellt ein System dar, dem ein Energiedurchsatz von außen aufge-

zwungen wird. Interessanter sind physikalisch-chemische Reaktionssysteme, die

den Energie- und Massedurchsatz im Austausch mit ihrer Umgebung ständig

selbst in Gang halten und global stabile Strukturen bilden. Dies sind die dissipati-

ven Strukturen im engeren Sinne des Wortes44.

Das Paradebeispiel für eine dissipative Struktur ist die Belousov-Zhabotinsky-

Reaktion45. Über viele Stunden lassen sich bei diesen so genannten chemischen

Uhren - die bei einer bestimmten Zusammensetzung eines chemischen Gemi-

sches entstehen- konzentrische oder spiralförmige Wellen beobachten, die äu-

ßerst regelmäßig auftreten. Die nötigen Bedingungen für eine solche spontane

Bildung von Strukturen sind: Offenheit gegenüber dem Austausch von Energie

und Materie mit der Umgebung, ein Zustand fern vom Gleichgewicht und auto-

bzw. krosskatalytische Prozesse. Letztere sind für positive Rückkopplungen und

damit für ein Verhalten verantwortlich, welches man in der Mathematik nichtlinear

nennt46. Freie Energie und Reaktionsteilnehmer werden importiert, während Re-

aktionsprodukte und Entropie exportiert werden47: Es liegt ein Stoffwechsel eines

Systems in einfachster Form vor; das System scheint nur an seiner Selbsterneue-

rung und an seiner eigenen Integrität interessiert. Indem es sein inneres Un-

gleichgewicht mit Hilfe eines Energie- Materieaustausches mit der Umwelt auf-

rechterhält (äußeres Ungleichgewicht), erneuert es sich ständig selber und hält so

ein spezifisches dynamisches Regime -eine global stabile Raum-Zeit-Struktur-

aufrecht.

Es ist bezüglich seiner Umweltbeziehungen48 offen, aber operational geschlos-

sen. Letzteres bedeutet, dass das System eine geschlossene Prozessorganisati-

on aufweist49'50. Dadurch gewinnt es eine gewisse Autonomie gegenüber der

44 Man spricht bei solchen Systemen von dissipativer Selbstorganisation, im Gegensatz zu konservativer Selbstorganisation, bei

der nur die anziehenden und abstoßenden Kräfte im System selbst eine Rolle spielen; Vgl. Jantsch (1984, S.61); siehe auch Zhang (1991, S.31ff)

45 Vgl. Jantsch( 1984, S.61ff), Haken(1984, S.70ff; 1986, S.38ff) 46 Die Bevölkerungsexplosion in der Welt ist ein Beispiel für eine solche autokatalytische Nichtlinearität; Vgl. Jantsch (1984,

S.62) 47 Die Entropieänderung dS des Systems kann in eine innere Komponente djS (Entropieproduktion infolge irreversibler Prozesse)

und in eine äußere Komponente deS (Entropiefluss infolge Austausches mit der Umwelt) aufgespulten werden, mit dS= djS+deS. Während d^S immer größer oder gleich null ist, kann deS beide Vorzeichen annehmen, womit die Gesamtentropie im System auch abnehmen oder gleich bleiben kann; Vgl. Jantsch (1984, S.58)

48 Hierbei bezieht sich die Offenheit nicht nur auf den Austausch von Energie und Materie, sondern auch auf den Austausch von Information und die Offenheit gegenüber Neuem. Dieser Austausch kann nur bei der Existenz eines inneren Ungleichgewichts aufrechterhalten werden; im Gleichgewicht kommen die Prozesse zum Stillstand; Vgl. Jantsch (1984, S.64)

49 Im Gegensatz zur "klassischen' Beschreibung, bei der das System als komplexe Reaktionsmaschine für Umweltreize konzipiert wurde, spielen in der neuen Systemtheorie rekursive Funktionen eine entscheidende Rolle: die Reaktion wird zum neuen Reiz, die Wirkung zur Ursache"; Krohn( 1990, S.446f )

50 Viele dissipative Systeme weisen eine zyklische (kreisförmig geschlossene) Prozessorganisation, die durch den von Eigen so benannten Hyperzyklus' dargestellt werden kann. So lässt sich auch die beispielhaft dargestellte Belousov-Zhabotinsky-Reaktion als Hyperzyklus darstellen. "Ein Hyperzyklus ist ein geschlossener Kreis von Umwandlungs- oder katalytischen Pro-zessen, in dem ein oder mehrere Teilnehmer zusätzlich autokatalytisch (selbstvermehrend) wirken....Der 'innere' Prozesskreis erneuert sich ständig selbst und wirkt als Ganzes wie ein Katalysator, der Anfangs- in Endprodukte verwandelt ";Jantsch

Page 13: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Umwelt (es erhält seine ihm eigene Form und Größe unabhängig von der nähren-

den Umwelt)51. Die Reaktionen im System werden nicht mehr durch Informationen

aus der Umwelt hervorgerufen, sondern es sind beliebige Störungen, die zu ei-

nem Eigenverhalten des Systems führen. Das System erzeugt sein Verhalten

selbst52. Für diese Art selbstreferentiellen Systemverhaltens hat Maturana die Be-

zeichnung Autopoiese eingeführt53. Die gleichen Charakteristika, die die von Ma-

turana betrachteten Systeme aufwiesen, können in den dissipativen Strukturen

erkannt werden54. Ein autopoietisches System ist selbstorganisierend, selbster-

haltend und selbstreferentiell55.

(1984, S.64) wo auf den Hyperzyklus ausführlicher eingegangen wird.

51 Vgl. Jantsch (1990, S.164f) 52 Vgl. Krohn(1990, S.447) 53 "Maturana betrachtete biologische Zellen, also lebende Systeme, die sich ständig im Wechselspiel von anabolischen (aufbauen-

den) und katabolischen (abbauenden) Reaktionsketten erneuern und nicht über längere Zeit aus den gleichen Molekülen be-stehen (Vgl. Jantsch, 1984, S.66). Ein autopoietisches System ist nach dieser 'Theorie der Autopoiese' ein System“, das zirku-lär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält. "(Roth, 1990, S.258) Es ist autonom gegenüber seiner Umwelt, d.h., obwohl energetisch und materiell offen, de-terminiert es selbst seine Zustandsfolgen aufgrund seiner spezifischen internen Struktur. Solche 'strukturdeterminierten' Sys-teme können zwar von außen angeregt, 'perturbiert', werden, durch diese Einwirkungen werden aber nicht die Zustandsfolgen im System determiniert. Strukturdeterminiertheit und damit operationale Geschlossenheit kennzeichnen autopoietische Syste-me und nach der Theorie Maturana’s völlig analog dazu auch die funktionale Organisation des Nervensystems. Dieses bzw. das Gehirn sind sein zentrales Untersuchungsobjekt und Grundlage einer Kognitionstheorie, des "Radikalen Konstruktivis-mus' [Schmidt (1990); siehe dort insbesondere: von Foerster (1990)].Das Gehirn kann über die Rezeptorenoberfläche der Sinnesorgane nur 'erregt' werden, die Folgen dieser Erregung erfährt es nur als eine sich selbst organisierende relative Ver-änderung neuronaler Zustände, denen es 'selbstreferentiell' verschiedene Bedeutungen zu schreibt. Vgl. Roth (1990, S.257ff; 1987, S.25ff), Maturana, (1990a), und Varela (1990) Letzterer geht ausführlich auf das Problem der organisationellen Ge-schlossenheit ein.

54 Vgl. Jantsch (1990, S.164) 55 Zum abschließenden Verständnis die Definitionen nach Hejl (1990, S.306f): Selbstorganisierend sind Systeme, die aufgrund

bestimmter Anfangs- und Randbedingungen spontan als spezifische Zustände oder Folgen von Zuständen entstehen. Solche Zustände oder Folge von Zuständen (Grenzzyklen) können in der formalen Theorie als Attraktoren verstanden werden. Es muss nicht gleichzeitig selbsterhaltend sein, da seine Komponenten während des Prozesses zerfallen und nicht wieder neu ge-bildet werden können. Selbsterhaltende Systeme sind Systeme, die sich gegenseitig und damit den ganzen Zyklus aufrechter-halten. Sie erzeugen sich selbst in operational geschlossener Weise(A>B>C>A). Sie sind nicht an die Lebensdauer einzelner Komponenten gebunden, und damit auch in dieser Hinsicht mehr als die Summe ihrer Teile. Selbstreferentielle Systeme sind Systeme, welche die Zustände ihrer Komponenten in operational geschlossener Weise verändern. Hieraus folgert Heijl dass selbsterhaltende Systeme notwendigerweise selbstreferentiell sind, der Umkehrschluss aber nicht gilt (z.B. das Gehirn).

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3.3 Deterministisches Chaos "Irreversibility and unpredictability are not plausibly explained-only described. To the extent that a non-linear model

gives a better depiction of the actual surface of economic phenomena, it is indeed a superior description- but not a supe-rior explanation, since it is no explanation at all."

Kurt Dopfer56

Nichtlinearitäten spielen bei selbstorganisierenden Systemen eine entscheidende

Rolle. Bei der Implementierung derselben in nichtlinearen Gleichungssystemen

zeigte sich, dass schon relativ einfache Gleichungssysteme ein sehr komplexes

und oft unvorhersehbares Verhalten hervorrufen können. Letzteres wurde auch

als Deterministisches Chaos bezeichnet und begründete ein neues Paradigma,

dass "dabei ist, den Charakter einer fächerübergreifenden Wissenschaft zu erlan-

gen"57,58 Die einfachste Chaosform kann durch eine Differenzenglaichung, die so

genannte Logistische Gleichung dargestellt werden.

Sie hat die Form: Xt+1 = Xt +k *(1-Xt)59. Bei kleinen k (k<2) wird jeder Anfangswert

auf einen von k abhängigen, eindeutigen Fixpunkt konvergieren. Dieser kann als

Gleichgewichtszustand60 bzw. in der formalen Theorie als Attraktor des Systems

verstanden werden61. Überschreitet der Parameter jedoch einen kritischen

Wert(k=2), so konvergiert das System von beliebigen Anfangswerten aus plötzlich

auf eine Oszillation zwischen zwei sich in Unendliche wiederholende Werte zu.

Diese Zweiteilung des ursprünglichen Fixpunktes wird Bifurkation genannt und

stellt die einfachste Form eines Grenzzyklus dar. Bei weiter steigendem k wird

auch dieser instabil und eine erneute Zweiteilung (Periodenverdopplung) tritt auf.

Der Bifurkationsprozess setzt sich fort -ader Attraktor wird immer komplexer- bis

schließlich der Übergang zum Chaos eintritt (k=2.57). Diese Zusammenhänge

lassen sich in einer spezifischen Grafik, dem Feigenbaum-Diagram darstellen 62.

56 Dopfer(1991, S.49) 57 Vgl. Schnabl (1991, S.559 58 Eine ausführliche Beschreibung des Deterministischen Chaos' findet sich in Gleick (1987), und Stewart (1989) 59 Die logistische Gleichung im engeren Sinne enthält nur den Veränderungsterm: X*k*(l-X).Sie ist hier leicht abgewandelt und

stellt die so genannte 'Verhulst-Gleichung' dar. Durch sie werden Wachstumsvorgänge, die an Kapazitätsgrenzen stoßen, all-gemein beschrieben. Solche Vorgänge spielen auch in der Wirtschaft eine Rolle und sind explizit in den verschiedensten Be-reichen der ökonomischen Modellbildung zu finden, worauf später, insbesondere bezüglich Diffusionsprozessen, noch einge-gangen wird; Vgl. Schnabl (1991, S.561)

60 Typische Gleichgewichtsmodelle haben z.B. einen Fixpunktattraktor; Vgl. Schnabl (1991, S.560) 61 Es wird die für Wachstumsvorgänge typisch sigmoide Kurve simuliert; Vgl. Schnabl (1991, S.561) 62 Vgl.Gleick ( 1987, S.59ff) .Stewart ( 1989, S.155ff)

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Abb. 1: Das Feigenbaum-Diagramm

Chaos bedeutet hier, dass man (für k>2.57) in den Iterationsfolgen, die durch die logistische

Gleichung erzeugt werden, keine Regelmäßigkeiten -sprich: keine Struktur- mehr erkennen

kann. Der deterministische Prozess kann unendlich viele Punkte anspringen, es wird ständig

neue Information produziert.

Nur wenn man um den Anfangswert bis unendlich viele Stellen hinter dem Komma wüsste,

ließe sich die Zustandsfolge erfolgreich prognostizieren: Der Prozess ist hochgradig anfangs-

wertsensibel(Abb.2). .

Abb.2: Anfangswertsensitivitat des Chaosprozesses, k=2.8

Page 16: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Jedoch konnte auch für diese deterministisches Chaos produzierenden Gleichungen eine

komplexe Struktur nachgewiesen werden, ein so genannter „strange attractor"63

Abb. 3: Die Entstehung eines Strange Attraktors

Obwohl die Suche nach deterministischem Chaos mittlerweile fast einen eigenen For-

schungszweig in der Ökonomie herausgebildet hat, der sich hauptsächlich mit der Irregulari-

tät von empirischen Zeitreihen beschäftigt64, sei hier nur die Eigenschaft der Anfangswert-

sensibilität herausgestellt. Ähnliche Ursachen haben nicht ähnliche Wirkungen zur Folge, 63 Dieser stellt einen mehrdimensionalen Attraktionsbereich dar, den das 'scheinbar' chaotische System nicht verlässt. Bei Differentialgleichungen

muss er mindestens dreidimensional sein, da sich in dem Fall, dass ein identischer Zustand ein zweites Mal erreicht wird, eine Zeitschleife bilden würde: Das heißt, es wäre kein 'strange attractor', sondern ein Zyklus, der immer wieder durchlaufen würde. Man kann sich den 'strange attractor' wie ein Wollknäuel im dreidimensionalen Raum vorstellen, in welchem die Trajektorien unendlich nah beieinander liegen, aber nie eine identische Position im Raum einnehmen; Vgl. Stewart(]989;S.137fr, S.172ff), Gleick (1987, S.l 19ff> Ein solcher Attraktor kann z.B. durch das von Lorenz entwickelte Klimamodell erzeugt werden. Es besteht aus drei gekoppelten nichtlinearen Differentialgleichungen erster Ordnung: dX= -s (X-Y) ; dY= -Y-XZ+ rZ; dZ= -bZ+XY. Für bestimmte Parameterwerte entsteht der so genannte Lorenz-Attraktor, der die Form eines abstrahierten Schmetterlings aufweist; Vgl. Mitschke(1991, S.97f); Gleick (1987, S.28). Ein von Goodwin (1990) auf Basis ei-nes Räuber- Beute- Modells entwickeltes ökonomisches Wachstumsmodell fuhrt zum sog. Rösler- Attraktor; Vgl. ebenda, siehe auch Radzicki (1990, S.69fT).

64 "Da oftmals nur eindimensionale Zeitreihen vorliegen, kann man diese verdreifachen und zueinander versetzen. Mit dem Vektor(X t_2>X t.i, X t) kann so ein dreidimensionale Zeitserie betrachtet werden; Vgl. Stewart (1989, S.184ff). Die Frage nach der Relevanz des Chaosparadigmas richtet sich nach der Beweisbarkeit seiner Existenz, z.B. in ökonomischen Zeitreihen, wobei deren Irregularität sowohl als stochastisches als auch als chaotisches Phänomen interpretiert wird. Der Nachweis von echtem Chaos setzt einen Fraktalcharakter (gebrochene Dimension) des seltsamen Attraktors oder eine exponentielle Distanzentwicklung von Punkten des Attraktors voraus. Ersteres entspricht einem geknüllten Pa-pier, das den dreidimensionalen Raum nicht dicht füllen kann, aber offensichtlich eine dritte Dimension mit heranzieht. Letzteres läuft auf ein Verfahren zur Berechnung des Lyaponov-Exponenten hinaus[ Vgl. Schnabl (1991, S.564f). Insbesondere Aktienkursindexe, die in der Regel täglich vorliegen, bieten ein beliebtes Untersuchungsobjekt; siehe z.B. Drepper (1989). Aber auch in die ökonomische Modellbildung fand das 'deterministische Chaos' Einlass; Vgl. Kelsey (1988), Day(1982), Gabisch(1989); allgemeinen Betrachtungen zur ökonomischen Chaosfor-schung finden sich in Lorenz( 1990 und insbesondere 1992), zu einer Kritik des Ansatzes siehe Dopfer(1991).

Page 17: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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zwei nah aneinander liegende Anfangswerte können völlig unterschiedliche Entwicklungs-

pfade produzieren65. Diese Erkenntnis misst der späteren Betrachtung von Fluktuationen

bzw. des Nichtdurchschnittsverhaltens in komplexeren nichtlinearen Systemen eine neue

Bedeutung zu.

3.4 Nichtlineare Modellbildung

Die Untersuchung dieser neuen und vielfältigen Phänomene, die durch solche Systeme er-

zeugt werden, ist wegen der entscheidenden Rolle der Nichtlinearitäten nur in aufwendiger

Weise mit Computern möglich, da man erst sehr viele Fälle im Einzelnen durchrechnen

muss, bevor sich ein Gesamtbild des nichtlinearen Verhaltens zeigt. Der von der Brüsseler

Schule anhand einer krosskatalytischen chemischen Reaktion modellierte Brusselator stellt

"den einfachsten Fall dar, um zu kooperativem Verhalten im Sinne dissipativer Strukturen zu

gelangen"66. Hier sind A, B, D und E die Ausgangs- und Endprodukte, deren Konzentratio-

nen konstant gehalten werden, während sich die Konzentrationen der Zwischenverbindun-

gen X und Y zeitlich ändern können67 :

Abb.4: Grenzzyklus-Verhalten des Brusselators'

Dieselbe periodische Trajektorie wird für verschiedene Anfangsbedingen erhalten. (S bezeichnet einen instabilen stationären Zustand.)

65 Lorenz, der sich mit dem Wetter befasste und dies auch durch ein nichtlineares Gleichungssystem zu simulieren suchte nannte dies metapho-

risch den Butterfly-Effekt'; VgI. Gleick (1987,S.10ff). Er bezog sich damit auf die Vorstellung, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Mexiko einen Hurrikan in Japan auslösen kann Die Nichterfassung dieses Flügelschlags' (also einer unendlich kleinen Perturbation in dem Anfangswert eines Modells) führt zu langfristig völlig falschen Prognosen. Dies trifft nach Kelsey auch für die Betrachtung der ökonomischen Realität zu: Economics and weather forecasting have a lot in common...both are trying to predict the outcomes of very large Systems, the components of vvhich mutually interact in complex ways. The Output of both Systems has a seemingly random appearance, even though there are certain other regularities (e.g., weather is hotter in summer than Winter, also there is higher employment )"; Kelsey (1988, S.I). "Chaos und sensitive Abhängigkeit in ökonomischen Prozessen" war auch Thema eben des gleichnamigen Artikels von Stahlecker (1991)

66 Jantsch(1984, S.68) 67 Es ist hier übrigens die dritte Gleichung, welche die (autokatalytische) Nichtlinearität repräsentiert Vgl zum Folgenden Pngogine (1988,

S.l!2ff), Jantsch (1984, S.68IT). Zu Einzelheiten siehe Nicolis und Prigogine (1977).

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Das System kann einen homogenen stationären Zustand annehmen (mit A=X und Y=B/A).

Überschreitet jedoch z.B. B einen kritischen Wert (B>l+A^), so führt dieses zu einem Grenz-

zyklus, d.h. jeder beliebige Anfangspunkt im X-Y-Raum nähert sich derselben periodischen

Bahnkurve (Abb.4).

Wenn man nun zwei Behälter betrachtet und einen Austausch von Materie zwischen ihnen

zulässt (der durch zwei Diffusionskoeffizienten Dx und Dv bestimmt wird68) , so zeigt sich,

dass unter geeigneten Bedingungen der thermodynamische Zustand einer identischen Kon-

zentration von X und Y instabil wird, und eine Symmetriebrechende dissipative Struktur ent-

steht (Abb.5)69

Abb. 5: Eine zufällige Schwankung führt zu verschiedenen Endzuständen

Eine Störung der Konzentration von Y im Behälter 2 (Y2) «in den homogenen Zustand erhöht die Produktionsrate von X in demselben

Behälter (X2) entsprechend der Autokatalyse. Dieser Effekt verstärkt sich so lange, bis ein neuer Zustand erreicht wird, der die räumliche

Symmetrie (gleiche Konzentrationen Xj und X2, Yj und Y2) bricht.

Eine Fluktuation um den Gleichgewichtszustand löst diesen symmetriebrechenden Prozess

68 Man erhält dann vier Gleichungen: dX,/dt= A + X(2Y, - BX]-X,+DX (X2-X,) dY,/dt=BXI-X12Y1+Dy(Y2-Yi)dX2/dt=A+X22 Y2-BX2-X2+DX(X j

-X2)dY2/dt=BX2-X22Y2+Dy(Y1-Y2) 69 Wenn ein stationärer Zustand Xj>X2 möglich ist, so ist der symmetrische Zustand X2>Xj ebenfalls möglich; die makroskopischen Gleichungen

zeigen nicht an, welcher Zustand gewählt worden ist. Da beide Zustände gleichwahrscheinlich sind, spricht man von einer Bifurkation ' (Auf-gabelung) in (hier zwei) mögliche Entwicklungspfade; welcher der beiden eingenommen wird, wird durch die (hier per Definition) zufälligen Schwankungen um den Gleichgewichtszustand entschieden. Ähnlich dem 'Bifurkationsbaum' (Abb. 1) "the structures of dissipative Systems merely define the 'possibilities and limits' or the 'bundle of paths' that may be taken after a bifurcation, but not the particular paths that will be taken. The theory of self-organizing Systems, however, can also explain the way in which Systems become unstable and pass through bifurca-tion points"; (Radzicki, 1990, S.83f)

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aus, wobei die Systeme mit gebrochener Symmetrie, wenn sie erst einmal hergestellt sind,

gegenüber geringfügigen Schwankungen in ihren Konfigurationen stabil sind. Durch dieses

Beispiel wird zum einen das selbstorganisatorische Prinzip der Ordnung durch Fluktuation

(Schwankungen) verdeutlicht70 ,also die Interaktion von deterministischen und stochasti-

schen Elementen71; zum anderen wird die klassische Entsprechung von Fixpunkt, Stabilität

und Gleichgewicht in der Theorie der Selbstorganisation durch das formale Konzept des At-

traktors und Stabilitätskontrolle desselben durch Fluktuationen und Fließgleichgewichte er-

setzt.

4. Die Übertragung auf sozioökonomische Systeme "We felt it before in sense; but now we know it by science"

E. Misselden72

4.1 Warum Übertragung?

Die naturwissenschaftliche Theorie der Selbstorganisierenden Strukturen wurde hier deswe-

gen so ausführlich geschildert, weil die spontane Ordnung ja auch in den Wirtschafts- und

Sozialwissenschaften ein zentrales Thema ist. Wie entsteht ein geordnetes Ganzes - ohne

dass es in seiner spezifischen Form von irgendjemanden bewusst gewollt oder herbeigeführt

wurde- aus einer Vielzahl von individuellen Entscheidungsprozessen und welche spezifische

Form hat es73? Hieraus erwächst die Frage nach der Beziehung zwischen individuellem Ver-

halten und kollektiven Phänomenen, mit der sich von Smith's „invisible hand“74 über Menger,

Hayek75, Sudgen76 und Schelling77 die verschiedensten Autoren auseinandergesetzt haben.

Was jedoch fehlte, war einerseits ein modelltheoretisches Fundament78, andererseits die

70 Die Fluktuationen testen gewissermaßen die Stabilität eines stationären Ordnungszustandes (z.B. den Punkt S in Abb.2) und treiben (bei Insta-

bilität) das System in Richtung eines Neuen (von mehreren möglichen), diesen Fluktuationen gegenüber stabilen, Ordnungszustands ( Zu-standsfolge). Jedoch ist auch dieser nicht aus sich heraus stabil. Hier wurden nur Fluktuationen um X und Y betrachtet, also Schwankungen um die Durchschnittskonzentration X und Y. Es kann auch zu Fluktuationen in den Mechanismen kommen, die zu einer Modifikation des kine-tischen Verhaltens (Reaktions-, Diffusionsraten) fuhren. Diese können intern durch positive Rückkopplung herausgebildet werden oder das System von außen treffen, z. B. durch Beifügen eines neuen Reaktionsteilnehmers. Dies entspricht dann einer qualitativen Änderung in der dy-namischen Existenz des Systems; Vgl.Jantsch (1979, S.77ff)

71 According to the theory of self-organisation, most real-life open Systems fluctuate around their steady-states, because of the non average or random behaviour of some of their microscopic elements, or because they exist in nonhomogenous environments"; Radzicki (1990, S.82)

72 Zitiert in Grübler (1991, S.1) 73 Oder wie Hayek es ausdrückte:" the problems which they (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) try to answer arise in so far as the conscious

action of many men produce undesigned results, in so far as regularities are observed which are not the result of anybody's design. If social phenomena showed no order except in so far as they were consciously designed, there would be no room for theoretical sciences of society...It is only in so far as some sort of order arises as a result of individual action but without being designed by any individual that a problem is raised which demands theoretical explanation"; Hayek (1942, S.288)

74 Es ist die unsichtbare Hand, durch die' man is led to promote an end which was no part of his intention'; Smith zitiert in Hayek (1967b, S.99). Oder wie Witt es praktischer formulierte, ist ein " core problem in economics, the question of how, and to what extent, individual economic in-teractions in the markets are self-coordinating or -to use the classical metaphor- are guided by an 'invisible hand'. This old economic problem can ...be seen as an example of'self-organisation'" ;Witt ( 1985, S.570);Siehe auch Silverberg (1988, S.532):"Thus the theory of self-organisation also addresses the fundamental question raised by Adam Smith in economics: how do coherent market Solutions emerge from the uncoordinated pursuit of self-interest of individual agents?"

75 Vgl. Hayek(1967a,1967b, 1972) 76 Vgl. Sudgen (1989 77 Vgl. Schelling (1978) 78 "Eine ernsthafte Systemtheorie muss erklären können, wie ein System, das aus bestimmten Komponenten und aus bestimmten Eigenschaften

aufgebaut ist, als System Eigenschaften entwickeln kann, die sich von den Eigenschaften der Komponenten zum Teil grundsätzlich unterschei-

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Möglichkeit, komplexe, teilweise indeterminierte Strukturen, die aus unzähligen, sich gegen-

seitig beeinflussenden Prozessen entstanden, auch praktisch (und damit widerlegbar) in ein

solches einzubinden. Während ersteres nun durch Theorie der Selbstorganisierenden Struk-

turen entwickelt worden war, spielte für letzteres der Eintritt ins Computerzeitalter eine ent-

scheidende Rolle. Es stellt sich nur die Frage, ob bzw. inwieweit die in Physik (Synergetik),

Chemie (dissipative Strukturen) und Biologie (Autopoiese; lebende Systeme) gewonnenen

Erkenntnisse bezüglich Selbstorganisierender Strukturen auf soziale Systeme übertragbar

sind.

4.1.1 Analogie sozialer Systeme zu autopoietischen Strukturen?79

Die weitestgehende Analogie ist wohl die, soziale Systeme selbst als autopoietische Syste-

me anzusehen.80 Zur Verdeutlichung der Problematik gebe ich hier eine kritische Auseinan-

dersetzung Hejl's mit dem Übertragungsversuch autopoietischer auf soziale Systeme wie-

der81 (in den Fußnoten findet sich eine Kritik dieser Kritik durch Troitzsch).

Hejl's Ansatzpunkt ist die Frage, ob die Begriffe der Selbstorganisation, Selbsterhaltung und

Selbstreferentialität im gleichen Sinne, in dem durch sie Prozesse in lebenden Systemen

bezeichnet wurden82, auch soziale Systeme kennzeichnen:

1. Sind sie selbstorganisierend?

Selbst wenn man den riesigen Komplexitätsunterschied zwischen physikalisch-chemischen und sozialen Systemen nicht berücksichtigte, gäbe es bei ersteren nichts, was bei der spontanen Bildung neuer Sozialsysteme dem Rückgriff der Teilnehmer auf ihre jeweiligen Erfahrungswelten (auf die sozial definierten Realitäten) entspräche.

Außerdem seien die Menschen als Komponenten sozialer Systeme aufgrund ihrer Histo-rizität und Komplexität nicht so einheitlich wie die Komponenten physikalischer oder chemischer selbstorganisierender Systeme. Damit könnte die Entstehung eines spezifi-schen sozialen Systems nicht wiederholt werden.83

den"; Roth ( 1987, S.25)

79 Einleitend zu folgendem Kapitel siehe auch Maturana (1990b). Im Folgenden wird der begriffliche Unterschied zwischen autopoietischen Sys-temen und autopoietischen Strukturen vernachlässigt, obwohl ihm nach Laszlo (1987, S.128ff) insbesondere bei der Betrachtung der Evoluti-on der Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung bezüglich der Anwendbarkeit des Begriffs der Autopoiese auf die Gesellschaft zukommt. Dies wird im letzten Kapitel dieser Arbeit (Selbstorganisation=Evolution) noch einmal in einer Fußnote aufgegriffen.

80 In 'das' soziale System ist das Wirtschaftssystem natürlich eingebettet. Der Begriff des sozialen Systems ist hier und im folgenden ein Synonym für sozioökonomisches System. Luhmann hat die oben skizzierte Theorie autopoietischer Systeme auf soziale Systeme übertragen, wobei er das entscheidende Merkmal, nämlich dass sie ihre eigenen Elemente durch die selbstorganisierende Interaktion ihrer Elemente autonom produ-zieren und reproduzieren können, als gegeben ansieht. Für ihn ist das Grundelement Kommunikation, und demzufolge die Gesellschaft ein sich selbst produzierendes und zirkulär reproduzierendes Kommunikationssystem; Vgl. Luhmann (1984); Zu einer Kritik, siehe Buteweg (1988, S.38ff)

81 Vgl. Hejl (1990, S.321ff;1987, S.63ff ) 82 Zu den Definitionen siehe obige Fußnote. 83 Dem zweiten Argument entgegnet Troitzsch, dass auch in Physik und Chemie (außer bei streng kontrollierten Experimenten im Laboratorium)

unterscheidbare Individuen' der gleichen Art miteinander interagieren: So würde jedes Tiefdruckgebiet, wie auch verschiedene Laufe des gleichen Simulationsmodells, verschieden von seinem jeweiligen Vorgänger oder Nachbarn sein. Soziale Systeme und ihr Komponenten wür-den sich lediglich in einer größeren Anzahl von Merkmalen unterscheiden^ Vgl. Troitzsch,1991, S.524)

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2. Sind sie selbsterhaltend?

Soziale Systeme erzeugten nicht die lebenden Systeme, welche die sozialen Systeme konstituieren (jedenfalls nicht im physischen Sinne)84. Eine Fußballmannschaft z.B. er-zeuge nicht ihre Mitglieder85.

3. Sind sie selbstreferentiell?

Der Zustand eines Neurons oder eine Gruppe von Neuronen wird ausschließlich von dem selbstreferentiellen System Gehirn - dessen Teil es ist- beeinflusst, während Kom-ponenten eines sozialen Systems von anderen sozialen Systemen beeinflusst werden, deren Teile sie gleichzeitig sind. Der entscheidende Unterschied liege also darin, dass die Komponenten eines sozialen Systems gleichzeitig auch Komponenten anderer sozia-len Systeme sein könnten (Abb.6)86:

Abb. 6: Schema der Verknüpfung sozialer Systeme

Weil die menschliche Gesellschaft so komplex ist, erscheint es für Hejl sinnvoll, einen Unter-

schied zwischen Selbstreferentialität und Synreferentialität zu machen: Erstere findet man in

einer Welt von undifferenzierten Systemen, die keine Subsysteme gleicher Art wie sie selbst

haben, während die zweite eine Welt von Systemen repräsentiert, die aus vielen verschiede-

nen und einander überlappenden Subsystemen auf verschiedenen Ebenen besteht. Das

84 Dieser Schwierigkeit kann man auch dann nicht entgehen, wenn man Handlungen oder Kommunikation als Komponenten sozialer Systeme

wählt. Dieses tut z.B. Luhmann, demzufolge die Gesellschaft ein sich selbst produzierendes und zirkulär reproduzierendes Kommunikations-system ist; Vgl. Luhmann (1984). Doch selbst, wenn man von einer Systemkonzeption ausgeht, in der Handlungen Handlungen erzeugen, so ist doch zumindest ein kognitives System notwendig für das diese Handlung etwas bedeutet, und deshalb eine auf sie bezogene Handlung er-zeugt(Das gleiche gilt für Kommunikation); Vgl. HejI (1990,S324)

85 Dem setzt Troitzsch entgegen, dass auch lebende Systeme als Ganze nicht ihre Zellen erzeugen, dies geschieht vielmehr durch Zellteilung; Vgl. Troitzsch (1991, S.524f)

86 Vgl. Hejl(1990, S.325)

Page 22: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Merkmal, das ein soziales System am stärksten von anderen Systemen unterscheidet, ist die

notwendige Ausbildung von parallelisierten Zuständen in den interagierenden lebenden Sys-

temen, welche die Basis sozial erzeugter gemeinsamer Realität bilden. Diese parallelisierten

Zustände sind Resultate sozialer Interaktionen und die Bedingungen für weitere Interaktio-

nen der gleichen Art. Eine Entsprechung dieser Zustände ist weder durch eine Betrachtung

der isolierten Individuen (Individualismus) noch durch eine Nichtberücksichtigung derselben

(Holismus) zu rekonstruieren. Der zentralen Rolle dieser sozial ausgebildeten Zustände we-

gen schlägt Hejl vor, soziale Systeme als synreferentiell zu bezeichnen87.

Abschließend vermerkt er, dass die Phänomenologie sozialer Systeme nach der Schaffung

einer eigenen Modellklasse verlangt88. Seiner Sichtweise zufolge entstehen soziale Systeme

durch die Interaktion autopoietischer Systeme, sind selber aber nicht autopoietisch. Die Ge-

sellschaft selber kann als Netzwerk sozialer Systeme verstanden werden89.Da zum einen die

Konsequenzen eines solchen Verständnisses sozialer Systeme Hejl selbst nicht klar sind,

und zum anderen vor allem die Unterschiede zwischen sozialen und dissipativen, bzw. le-

benden Systemen durch diese Sichtweise betont werden, möchte ich im folgenden auf die

verschiedenen (trotz aller Schwierigkeiten) unternommenen Versuche eingehen, die in den

Naturwissenschaften entwickelten Konzepte auf wirtschafts- und sozialwissenschaftliche

Probleme zu übertragen:

4.1.2 Analogie sozialer Systeme zu dissipativen Strukturen?

In beiden Fällen besteht das Untersuchungsobjekt aus einer Vielzahl beteiligter individueller

Einheiten, die ihr Verhalten nicht völlig autonom und losgelöst nach eigenem Gutdünken

festlegen, sondern von anderen Einheiten dieses Systems beeinflusst sind und mit ihnen in

wechselseitigem Zusammenhang stehen. Ebenso sind beide als offene Systeme zu betrach-

ten, die in eine Umwelt eingebettet sind und von dort Einwirkungen erfahren, die ihre weitere

Entwicklung beeinflussen90; und last but not least geht es in beiden Fällen um sich ausbil-

dende Strukturmuster91.

Vieles scheint - wie im folgenden anhand von selbstorganisierenden, sozioökonomischen

Modellen gezeigt wird- darauf hinzudeuten, dass die fundamentalen naturwissenschaftlichen

Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation ihre Entsprechung in sozioökonomischen Syste-

87 Damit lässt sich der Unterschied nur zwischen 'Selbst-" und 'Syn-', und nicht zwischen 'referentiell' und 'nicht-referentiell' zu machen; Troitzsch

(1990, S.525) 88 In dieser müssten folgende Eigenschaften sozialer Systeme zusammengefasst bzw. berücksichtigt sein: 1. Die Komponenten, die selbst lebende

Systeme sind, sind frei an der Konstitution eines spezifischen Systems teilzunehmen. Tun sie es, so verlieren sie trotzdem nicht den Charakter als Individuen. Sie konstituieren stets eine Mehrzahl von sozialen Systemen zur gleichen Zeit. Dadurch organisieren im Unterschied zu selbst-referentiellen Systemen soziale Systeme nicht alle Zustände ihrer Komponenten und legen damit nicht die jeweilige systemrelative Realität fest, die den Komponenten zugänglich ist. Soziale Systeme erzeugen ihre Komponenten in physischer Hinsicht nicht selber. Im Gegensatz zu den Komponenten biologischer Systeme haben alle Komponenten sozialer Systeme direkt Zugang zur Umwelt des jeweiligen sozialen Systems; Vgl. Hejl (1990, S.326f)

89 Vgl. Buteweg (1988, S.40) 90 Wie Silverberg (1988, S.532) es ausdrückte: " the economic System in a biophysical sense is certainly open, dependent on inputs of energy and

information to maintain the processes of circular flow traditionally analysed by economic theory." 91 Vgl. Erdmann (1989, S.241f).

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men haben. Dieses setzt jedoch keine oberflächliche Analogie voraus, "asserting a one-to-

one correspondence between biological/physical phenomena and economic ones. Rather it

implicates similar causal patterns of, for example, competition, Cooperation, and the gene-

ration of variety operating in the 'deep structures' of both systems"92.

Während im vorangehenden Kapitel vor allem deutliche Unterschiede bezüglich der Charak-

teristika der Systeme in ihrer Gesamtheit (also aus holistischer Sicht) aufgezeigt worden

sind, tritt nun der aus individualistischer Sicht wesentliche Unterschied in den Vordergrund:

In physikalischen Systemen liegt ein detailliertes theoretisches Verständnis des Verhaltens

der elementaren Einheiten und der Art der Interaktion vor93. Außerdem werden homogene

Mengen betrachtet, d.h. die betrachteten Teilchen unterscheiden sich nicht voneinander94:

Dahingegen sind die individuellen Elemente sozialer Systeme ungleich komplexer und vor

allem heterogener95. Abgesehen davon, dass man sowohl über die präzisen Zustände96 die-

ser als auch über die Dynamik des individuellen Verhaltens und die Interaktionen selbiger

viel weniger weiß als über die der physikalischen oder chemischen Elemente, kommt ein

noch fundamentalerer Unterschied hinzu: Im Gegensatz zu den mikroskopischen Einheiten

in physikalisch/chemischen Systemen können die individuellen Einheiten in sozialen Syste-

men neben unbewussten auch bewusste zielorientierte strategische Entscheidungen tref-

fen97.

Dieser Unterschied ist aus systemtheoretischer Sicht jedoch dann nicht mehr relevant, wenn

unterstellt wird, dass auch das Individualverhalten sozioökonomischer Systeme wesentlich

auf übergeordneten Gesetzmäßigkeiten (Invarianten) beruht. Ohne eine solche paradigmati-

sche Unterstellung wäre eine systematische - also über die reine Deskription hinausgehen-

de- wissenschaftliche Erforschung kollektiver Phänomene kaum möglich, womit der Erkennt-

nisfortschritt recht beschränkt bliebe98.

92 Silverberg(1988, S.532). Vor einer oberflächlichen Analogiefindung warnt auch Witt, der sich mit Marktprozessen beschäftigte: "Trying to

transfer specific concepts and formalisms of the phenomena of self-organisation in the natural sciences to the problem of economic coordina-tion would therefore run the risk of stretching the analogy too far. ...economists should be sceptical with respect to such analogies. Many of the fictions and shortcomings in the present understanding of the market process seem to be the result of another analogy suggested by the neoclassical writers in economics...: the analogy between their equilibrium approach to the economic coordination problem and classical me-chanics; “Witt (1985, S.572). Diese Vorsicht sollte man natürlich nicht nur hinsichtlich des Problems der Marktkoordination walten lassen.

93 Zwar fehlt das präzise Wissen um den genauen Ort eines bestimmten Teilchens zu einem bestimmten Zeitpunkt (quantentheoretische Unbe-stimmtheit, s.o.), es können aber relativ genaue statistische Beschreibungen der Zustände angegeben werden (Wahrscheinlichkeit, ein be-stimmtes Teilchen an einem bestimmten Ort zu vorzufinden); Vgl. Witt (1985, S.571)

94 Das dies nur für sehr einfache physikalische oder chemische Komponenten selbstorganisierender Systeme zutrifft, ebenso wie die Annahme, dass Experimente unter exakt den gleichen Bedingungen wiederholbar sind, wurde schon oben vermerkt; Vgl. Troitzsch (1990, S.525). Ob des großen Komplexitäts- und Heterogenitätsunterschieds -der hier herausgestellt werden soll- kann die Annahme der Homogenität aber als Ver-einfachung aufrechterhalten werden.

95 Abgesehen von den vererbten Unterschieden zwischen Menschen kommt ja eine noch vielschichtigere Differenzierung durch die jeweiligen prägenden und spezifischen Erfahrungswelten hinzu.

96 Zustände sind hier im Sinne von gewählten Handlungen zu verstehen. 97 Ebenso können sie ihr Verhalten als eine Konsequenz von systematischem Lernen ändern als auch 'innovieren', d.h. neue Verhaltensmoden

kreieren; Vgl. Witt (1985, S.572). Während ersteres (wie später anhand von Diffusionsmodellen' gezeigt wird) als Informationszugewinn (Konvergenz auf vollständige Information) in selbstorganisatorischen Modellen antizipiert werden kann, stellt letzteres eine besondere Prob-lematik dar, da durch Innovationen' evolutorische Prozesse in Gang gesetzt werden.

98 Hierdurch werden die individuellen Verhaltensmuster für hinreichend stabil erklärt, um auf der Makroebene einer quantitativen bzw. qualitati-ven Analyse zugänglich zu werden; Vgl. Erdmann (1989, S.242)

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Die Betrachtung sozialer Interaktionsmuster, die in der neoklassischen Theorie zugunsten

des homo oeconomicus vernachlässigt worden war (s.o.), rückt nun in den Mittelpunkt der

Betrachtung. Für interdependentes Handeln gibt es viele Gründe. Hier seien stellvertretend

nur zwei genannt99: Zum einen ziehen soziale Interaktionen wechselseitige Handlungsrestriktio-

nen nach sich, bzw. bestimmen die Handlungsspielräume der jeweils anderen100. Zum anderen

scheinen nicht nur die Handlungsspielräume, sondern auch die subjektiven Präferenzen

durch den sozialen Kontext entscheidend beeinflusst zu werden, was anhand der Informati-

onsproblematik besonders deutlich wird: Die Informationsbeschaffung, die als Voraussetzung

rationaler Entscheidungen gilt, ist mit (oftmals hohen) Kosten verbunden. Daher wird sich die

Nachfrage nach Informationen nicht am Maximum des Möglichen, sondern am Optimum ori-

entieren: die Entscheidungen werden trotz Informationslücken getroffen101. In solchen Situa-

tionen besteht eine nachweisliche Präferenz dafür, die individuelle (durch die Informationsde-

fizite subjektive) Entscheidung auf Urteile solcher Menschen und Institutionen zu stützen, die

einerseits für kompetent angesehen werden, und bei denen man andererseits eine ähnliche

individuelle Präferenzstruktur vermutet wird102. Indem man sich an deren Ratschlägen und

Empfehlungen orientiert, bleibt es einem erspart, selbst die gesamte Informationsflut verar-

beiten zu müssen103;104.

Sozioökonomische Systeme werden demzufolge vor allem dann Analogien zu dissipativen

Strukturen aufweisen, wenn das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle bezüglich des in-

dividuellen Entscheidungsverhalten und damit auch des Systemverhaltens spielt. Dies gilt

99 Vgl. zum folgenden Erdmann (1989, S.242ff) 100 Dies lässt sich direkt aus dem Postulat der Knappheit ableiten, durch welches ja erst ein wie auch immer geartetes ökonomisches System not-

wendig wird, um die Allokation bzw. die Verteilung der knappen' Ressourcen zu regeln. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich einen Apfel kaufe und esse, so kann dieser von keinem anderen mehr gekauft und gegessen werden. Oder man stelle sich ein Aquarium mit begrenztem Raum und begrenztem Futterzustrom vor: Die Restriktionen des Systems werden direkt auf den Wachstum des Fischbestandes rückkoppeln (was wiederum durch eine einfache nichtlineare Gleichung, nämlich die 'logistische Gleichung beschrieben werden kann). Das durch technischen Fortschritt und Kapitalakkumulation ermöglichte Wachstum hat die Knappheit nicht durchgreifend verringern können, da sich durch das Hin-zutreten neuer Güter und Dienstleistungen auch die Bedürfnisse entsprechend vermehrt haben. Um so paradoxer erscheint es, dass derartige Restriktionen, die sich beim Menschen - aufgrund der nur begrenzten Gehirnkapazität und der begrenzten Anzahl von Erfahrungswelten' - in beschränkter Rationalität (bezüglich der internen Präferenzen) und beschränkter Information (bezüglich der extern vorgegebenen Hand-lungsmöglichkeiten) äußern müssten, lange zugunsten einer 'vollständigen' Informations- und Rationalitätsannahme negiert wurden.

101 Über Entscheidungen trotz Informationsdefizite sagt die traditionelle Theorie nichts aus, wohingegen in der Theorie der rationalen Erwartun-gen ein Optimierungskonzept für den Informationsaufwand entworfen wurde; (Vgl. Erdmann, 1987, S.243). Je weiter die Erwartungen in die Zukunft reichen und je präziser sie sein sollen, desto kostspieliger und zeitaufwendiger ist die Erwartungsbildung. Der abnehmende Grenznut-zen zunehmend präziser Erwartungen ist dann gegen die zunehmenden Grenzkosten einer aufwendigen Informationsverarbeitung abzuwägen; Vgl. Dichtl (1987,Bd.2, S.530)

102 Mit der Eingebettetheit' der individuellen (ökonomischen) Handlungen in die soziale Struktur beschäftigten sich eine Reihe von Sozialwissen-schaftlern; Vgl. Coleman (1984), Granovetter (1985), Opp (1985). So war auch die oben getroffene Aussage Ergebnis sozialwissenschaftli-cher Untersuchungen; Vgl. Raub (1982)

103 "Ganze Dienstleistungsbereiche leben von der Rationalität eines derartigen Verhaltens"; Erdmann (1989, S.243). 104 Sollte jeder den anderen für besser informiert halten, so kann sich ein von der Mehrheit weder erwartetes noch gewolltes Ergebnis herausbil-

den. Dies ist ein für selbstorganisatorische Prozesse charakteristisches Paradoxon, da durch es besonders krass die mögliche Diskrepanz zwi-schen individuellem Verhalten und kollektiven Phänomenen aufzeigt wird. Ein 'Schneeballeffekt', der durch interdependentes Verhalten ent-stehen kann, lässt sich auch in einem Fußballstadion, welches nur Sitzplätze hat (Italien), beobachten: Wenn anfangs alle sitzen, dann aber einer in den vorderen Reihen aufsteht, so werden alle hinteren Reihen, ob der versperrten Sicht, ihm gleichtun; wenn dann alle stehen, was gewiss ungemütlicher ist, als zu sitzen, lässt sich der Prozess nicht mehr umkehren, obwohl die Mehrheit schlächtergestellt ist als vorher. Die-ser Vergleich hinkt natürlich, da man hier gezwungen ist, sich an den anderen zu orientieren. Passender ist das Beispiel, dass bei einem Rad-rennen der erste Fahrer an einer Abzweigung den falschen Weg wählt und alle ihm folgen. Oder indirekter: Hält man als Aktionär den Markt für besser informiert als sich selber, so wird man eine Untergrenze angeben, ab der die Bank die Aktien verkaufen soll. So kann es passieren, dass durch eine 'zufällige' Schwankung im Markt die Untergrenze eines Aktionärs unterschritten wird, worauf die Bank seine Aktien verkauft: Hierdurch sinkt der Kurs, die Untergrenze des Nächsten wird unterschritten, usw.

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insbesondere für:

Marktprozesse, in denen Erwartungen eine wesentliche Rolle spielen (Kapitalmarkt, Bör-se, Rohstoffpreise, Konjunkturzyklen, Diffusion von Innovationen)

Situationen, in denen andere Gründe vorliegen, dass die individuellen Entscheidungen nicht losgelöst vom sozialen Umfeld fallen (Regionale Mobilität, Markt für Parteienpräfe-renzen, Technikakzeptanz)105

Schon die sehr schwammige Formulierung des letzteren weist darauf hin, dass die Trennli-

nie, ab der sich sowohl das individuelle Entscheidungsverhalten als auch das Systemverhal-

ten losgelöst vom sozialen Kontext herausbilden, nur sehr schwer - wenn überhaupt- zu zie-

hen ist106. Dies wird schon dadurch deutlich, dass das Konsumentenverhalten selbst bezüg-

lich relativ unbedeutender Produkte in starkem Maße von sozial erzeugten Faktoren, nämlich

Moden bzw. Marken abhängen kann107.

Wie schon oben vermerkt sind diese Erkenntnisse weder für Wirtschafts- noch für Sozialwis-

senschaftler grundlegend neu. Der originäre Beitrag, der mittels der Analogie zu dissipativen

Strukturen geleistet wird, ist der, dass das anhand dieser entwickelte mathematische Instru-

mentarium nunmehr auf sozioökonomische Systeme angewendet werden kann; die in der

mathematischen Theorie gewonnenen Erkenntnisse können für die Analyse derselben ge-

nutzt werden, wodurch sozioökonomische Tatbestände und Strukturen einer quantitativen

Modellierung zugänglich werden, welche die Formulierung stringenter und widerlegbarer Aus-

sagen erzwingt108.

Insbesondere die mathematische Formalisierung der Synergetik bietet eine fruchtbare An-

satzmöglichkeit, die in den Naturwissenschaften beobachteten Mechanismen interdependen-

ten Verhaltens und den durch sie gemachten Erkenntnisfortschritt auf wirtschaftliche und

soziale Phänomene zu übertragen. Um die obige Fragestellung, wie groß die gegenseitigen

Verflechtungen von individuellem ökonomischem Handeln und sozialem Kontext in einem

spezifischen sozioökonomischen System sind, fürs erste zu umgehen, soll an einem per De-

finition sozialem Modell gezeigt werden, dass zur Erklärung komplexer sozialer Strukturen

nicht notwendigerweise ein hochkomplexes Modell mit vielen Variablen und Variablenbezie-

hungen erforderlich ist:

105 Vgl. Erdmann (1989 S.243f) 106 "So kann - wie es im späteren in dieser Arbeit getan wird- ja sogar die Marktkoordination als interdependenter, Selbstorganisierender Prozess

gedeutet werden. 107 Diese Aussage wird durch den Beitrag, den die Werbung zur Schaffung von Moden und Marken geleistet hat, noch unterstrichen. Während

früher, wenn auch verzerrt, die Information über das Produkt im Vordergrund stand ("Wäscht 240m Wäsche."), hat in den letzten Jahren ein schlagartiger Wandel zur Erlebniswerbung' stattgefunden ("Hey Good Looking). Das heißt die Produkte üben erst durch die Einbettung in ei-nen sozialen Kontext eine starke Reizassoziation aus.

108 Mit quantitativen Modellbildungen beschäftige sich Weidlich/Haag (1983) ausführlich; zu den Problemen, die Modellbildungen aufwerfen, siehe Schnabl (1985)

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4.2 Das Modell einer Party109 "Description of man: Dependence, desire for independence, preferences."

B. Pascal110

Das Modell von Weise (1990) basiert auf zwei durch eine Tür miteinander verbundenen

Räumen, die auch zwei, sich gegenseitig ausschließende Handlungszustände repräsentie-

ren können (Zlf Z2). Zwischen diesen, für einen gewissen Zeitraum (z.B. sechs Stunden) von

der Außenwelt abgeschlossenen Räumen bewegen sich zwanzig Gäste (N=20), die einander

unbekannt sind:

Abb. 7: Die Party' und die Übergänge zwischen den "Räumen'

Durch die Einführung von Kräften, die zwischen den Personen und/oder zwischen Personen

und Räumen herrschen, lassen sich verschiedenste Raum-Zeit-Strukturen erzeugen, welche

man auf gewisse Eigenschaften hin untersuchen kann.

Befänden sich anfangs alle Personen in Z1 (Begrüßung des Gastgebers), würden danach

aber weder einen Raum bevorzugen noch ihr Verhalten in irgendeiner Weise an dem der

anderen ausrichten, so wäre die individuelle Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person in

einem bestimmten Raum vorzufinden, 1/2. Nach den sechs Stunden war jede Person auf die

Dauer und im Durchschnitt je die Hälfte der Zeit in Z1 und Z2 und war auf die Dauer und im

Durchschnitt die Hälfte der Personen in Z1 und Z2.

Der wahrscheinlichste Makrozustand, der von einem außenstehenden Betrachter zu beo-

bachten sein würde, ist hier die Gleichverteilung auf beide Zimmer (die Konfiguration

{10,10})111. Ausgehend von der Situation (20; 0) wird nach kurzer Zeit der Gleichgewichtszu-

109 Dieses Modell wurde von Weise (1990) entworfen, um die Art und Weise der Übertragung synergetischer Konzepte auf soziale Systeme zu

beschreiben, sowie um Begriffe wie Individualität, Kollektiv, Wechselwirkung, Selbstorganisation, Handeln in der Zeit, Phasenübergänge, Nichtlinearitäten u.a. in ein einheitliches Modell einzubinden und ihre sozialen Implikationen zu verdeutlichen.

110 Zitiert in Brandes (1990, S.173) 111 Bei 2N Möglichkeiten, wie sich die N Partygäste auf die 2 Zimmer verteilen können, gibt es insgesamt (N+1) verschiedene Zustände, wenn man

die Personen nur zahlenmäßig in den Zimmern berücksichtigt; da die Wahrscheinlichkeit annahmegemäß für alle Aufteilungsmöglichkeiten gleich ist, also p=l/2N ist, ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer bestimmten Konfiguration : p(Nl)=(N über Nl)*l/2^mitNl als der Anzahl der Personen in ZI. Hierbei vereint die Konfiguration (10;10) die meisten der 220 (ca. 1.000.000) Aufteilungs-möglichkeiten auf sich, nämlich ca. 185.000, was einer Wahrscheinlichkeit von ungefähr 17% entspricht. Die Wahrscheinlichkeit unter Tole-rierung einer kleinen Gleichgewichtsschwankung 8<N1<12 beträgt sogar ungefähr 75%.

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stand erreicht und mit kleinen Schwankungen beibehalten. Dieser stellt, da er der Zustand

der größten Unordnung112 ist, ein Referenzgleichgewicht für später betrachtete Zustände

dar, welches jedoch nicht mit einem Zustand der Bewegungslosigkeit zu verwechseln ist. Es

ist vielmehr so, dass sich nach einer Zeit die absoluten Übergänge von Z1 nach Z2 den abso-

luten Übergängen von Z2 nach Z± Z1 angleichen, und so ein makroskopisch stabiler Zustand

erreicht wird113: Man spricht auch von einem Fließgleichgewicht.

Dieses und damit die ganze Party kann durch ein einziges Konzept beschrieben werden:

Man misst die Häufigkeit mit der die Gäste die Zimmer wechseln (z.B. alle 15 Min.) und leitet

daraus eine Übergangsfrequenz (hier 1/15 pro Minute) ab, die, da alle Personen und Zimmer

per Annahme gleich sind, für jeden gilt. Sie entspricht hier der Übergangsrate, welche die

Anzahl der Übergänge pro Zeiteinheit von Z1 nach Z2 bzw. umgekehrt angibt (q12 bzw. q21).

Mit p1 als der Wahrscheinlichkeit, eine Person in Z1 anzutreffen, kann man dann die N unab-

hängigen Wanderungsprozesse und damit auch die Veränderung des Erwartungswertes

(Np1), eine Anzahl von Personen in Z1 vorzufinden, folgendermaßen beschreiben:

Im Gleichgewicht verändert sich der Erwartungswert nicht mehr, die Zugänge in ein Zimmer

sind gleich den Abgängen aus einem:

Durch die Übergänge (Fluktuationen) entwickelt sich das Partyverhalten von ungleichen Kon-

figurationen -da dNp^^O- zur Gleichgewichtskonfiguration (Attraktor), die mit kleinen

Schwankungen beibehalten wird114; letztere entstehen durch die statistische Unabhängigkeit

112 Im Zustand der Gleichverteilung, der hier ja der wahrscheinlichste ist, ist das Antreffen einer bestimmten Person in einem bestimmten Zimmer

a priori maximal unsicher, nämlich genauso groß, wie ihn im anderen Zimmer anzutreffen. Die Konfiguration (20,0) bzw. (0,20) stellt dahin-gegen den Zustand größter Ordnung dar, die Wahrscheinlichkeit ihn, mit einem a-priori Wissen um diese Konfiguration, direkt zu finden, liegt dann bei 1.

113 Das heißt auf die Dauer und im Durchschnitt war der Übergang von Zj nach Z2 genauso häufig wie der von Z2 nach Z] 114 Anschaulich: Im genannten Beispiel ist der Erwartungswert Npj für tj per Annahme gleich 20 ( alle begrüßen den Gastgeber in Zj); da die

Übergangsraten, die die absolute Anzahl der in einem der Zimmer befindlichen Personen in absolute Übergänge transformieren, jedoch

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der Individuen voneinander und können in obigen Gleichungen nicht formal erfasst wer-

den115.

Wenn nun in Z2 die Biertheke eröffnet wird, kann man den Personen eine gewisse Präferenz

für dieses Zimmer unterstellen, womit sich das Verhältnis der Übergangsraten zueinander

(z.B. auf <32l/(3l2=-'-/^) damit auch die Erwartungswerte ändern: Die Wahrscheinlichkeit eine Per-

son in Z^ zu treffen sinkt auf 1/4, und die nun wahrscheinlichste Konfiguration (5;15) wird zu

dem Attraktor, der das Partyverhalten anzieht. Dieser Zustand größerer Ordnung116 wird al-

lein durch die relative Bevorzugung eines Raumes erzeugt, wobei die Übergangsraten kon-

stant bleiben.

Interessant wird es, wenn man nun soziales Handeln, also eine Abhängigkeit des Verhaltens

des einzelnen vom Verhalten der anderen, berücksichtigt (der eigentliche Sinn einer Party ist

ja die Interaktion mit den anderen Gästen). Da die Homogenitätsannahme beibehalten wird,

lassen sie sich nur als Abhängigkeit der Übergangsraten von der Anzahl der Personen in

beiden Zimmern beschreiben (q12=f(N2); q2i=f(N1), wobei f eine monoton steigende Funktion

ist). Wenn die Übergangsraten proportional zu der Anzahl der Personen sind

(qi2=N2/N'<l21=Nl/N)> so werden alle Konfigurationen gleichwahrscheinlich117. Verändern sie

sich unterproportional, so wird die Gleichgewichtskonfiguration die wahrscheinlichste sein,

alle anderen Konfigurationen sind aber fast genauso wahrscheinlich. Die Kraft, die das Party-

Verhalten zum Attraktor (10; 10) treibt (Rückstell- bzw. Fluktuationskraft), ist schwächer als

bei Konstanz der Übergangsraten.

Verändern sich die Übergangsraten überproportional, so übersteigt die Konformitätskraft -

die zu einer positiven Korrelation der Übergangsraten (gi2 bzw. q2i) mit der Anzahl der Per-

sonen in einem Zimmer (N2 bzw. t^) führt- die Fluktuationskraft. Eine kleine Fluktuation um

die Gleichgewichtskonfiguration reicht aus, um Wanderungsprozesse in eines der beiden

Zimmer in Gang zu setzen: Die Konfigurationen (20,0) bzw. (0,20) werden zum Attraktor,

ohne dass vorausgesagt werden kann, welche von ihnen erreicht wird, da die Fluktuationen

um das instabile Gleichgewicht (10,10) stochastischen Ursprungs sind.

Führt man zusätzlich eine Antikonformitätskraft ein, um Randgleichgewichte zu vermei-

gleich groß, positiv und konstant sind, wird jedes Ungleichgewicht zugunsten eines Zimmers (hier Zj mit N>10) allmählich gemäß der ersten Gleichung dadurch abgetragen, dass die Abgänge aus diesem Zimmer die Zugänge aus dem anderen übertreffen (dNpj/dt=— 20*1/2*1/15+0*1/2*1/15< 0) : Der Erwartungswert konvergiert auf die Gleichgewichtskonfiguration (10;10) zu. Bei Erreichen derselben verändert er sich nicht mehr, da die erwarteten Zugänge ( 10*(1-1/2)*1/15) pro Zeiteinheit den erwarteten Abgängen (10* (1/2)*1/15) ent-sprechen.

115 Anschaulich unter Annahme einer Gleichgewichtskonfiguration: Es ist so, als würden jeder Gast in jeder Zeiteinheit würfeln und sagen: "Grö-ßer als 3 und ich Wechsel' das Zimmer!". Durch diese statistische Unabhängigkeit voneinander können Schwankungen in den absoluten Übergängen entstehen, die sich aber bei ausreichend vielen Übergängen immer einander angleichen (Der Erwartungswert ändert sich hier-durch nicht, da die konstanten Übergangsraten eine negative Rückkopplung in Richtung Gleichverteilung bewirken): Die Gleichgewichtskon-figuration ist stabil. Dies muss aber, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht immer so sein, und dann sind eben diese Schwankungen für den weiteren Verlauf der Systementwicklung entscheidend. Das heißt, sind die Personen nicht genau zu identifizieren und schwankt die Zeitdauer, die eine Person in einem Zimmer verbringt, müssten die Übergangsraten von einem externen Standpunkt aus entsprechend normiert und als Übergangswahrscheinlichkeiten interpretiert werden; Vgl. Weise (1990, S.18)

116 Er weicht stark von der Gleich Verteilung ab, die Sicherheit, eine bestimmte Person in Z2 zu finden, ist angestiegen. 117 Das heißt jede Konfiguration bildet sich selbst als Erwartungswert der nächsten Konfiguration heraus.

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den118, so kann man bei gleichzeitiger Wirkung von Fluktuations-, Konformitäts-, Antikonformitäts-

und Bevorzugungskraft119 und Variation der sie bestimmenden Parameter eine Vielfalt von

Verhaltenslandschaften erzeugen; des Weiteren lässt sich diese Vielfalt durch die Berück-

sichtigung von Inhomogenitäten120, z.B. durch eine Unterteilung in Subgruppen, noch erwei-

tern.

Das Zusammenspiel der Kräfte kann unter Beibehaltung der Annahme der Homogenität all-

gemein folgendermaßen formal antizipiert werden:

Das anhand des Lasers erläuterte synergetische Prinzip des Ordners und der versklavten

Einheiten wird hierdurch mathematisch formalisiert. Auf der einen Seite wird jedes Indivi-

duum durch eine gemeinsam erzeugte Größe - den Ordner-, der hier durch X repräsentiert

wird121, beeinflusst -versklavt. Auf der anderen Seite beeinflusst es selbst den Ordner durch

seine Reaktionen auf ihn, was hier durch die Veränderung von N^ durch einen individuellen

Übergang widergespiegelt wird.

Durch die wechselseitige Interaktion wird endogen und dynamisch ein ordnendes nichtlinea-

res Gesamtverhalten erzeugt, durch das die Individuen oder Gruppen einen Teil ihrer Auto-

nomie und damit ihrer Individualität verlieren122. Wenn der (die) Ordner und die wirkenden

Kräfte relativ komplex sind, kann man davon sprechen, dass das Individuum sich in einem

sozioökonomischen Beeinflussungsfeld befindet123, von dem es Verhaltensanreize erhält und

das es selbst mit den anderen Individuen erzeugt124: Es reagiert auf die Umwelt und ist

selbst Teil der Umwelt der anderen. Die Übertragung des synergetischen Ansatzes auf Sozi- 118 Hierdurch wird ein Gleichgewicht noch vor dem Randgleichgewicht zum Attraktor, bis zu dem die Konformität logistisch anwächst; bei Über-

schreitung dieser 'optimalen' Größe wandern mehr Personen ab als hinzukommen; Vgl. Weise (1990.S.24) 119 Die stochastische Formulierung durch Übergangsraten wird der Tatsache gerecht, dass eine gewählte Handlung mit der Zeit unattraktiver

wird und eine lang nicht gewählte Handlung mit der Zeit attraktiver wird (Camel vs. Marlboro). Außerdem können durch sie, wie später an-hand von Diffusionsmodellen gezeigt wird, Entscheidungen unter unvollständiger Information durch Wahlwahrscheinlichkeiten simuliert wer-den. Die Bevorzugungskraft meint einfach die relative Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen (Bier, Wasser), was sich in ungleichen, aber konstanten Übergangsraten äußert. Die Konformitätskraft entsteht als, und ist Folge von Normierungen wie technischen Normierungen und Verhaltensnormierungen durch Normen, Rechte, Mode, Femsehen. Sie fuhrt zu und ist Folge von einer Vereinheitlichung von Handlun-gen. Eine zu große Vereinheitlichung wiederum kann Widerstände hervorrufen, die sich in der Antikonformitätskraft ausdrücken; Vgl. Weise (1990, S.44). Zusammengefasst: "Description of man: Dependence, desire for independence, preferences";(Pascal zitiert in Brandes,1990, S.173)

120 Auf die Heterogenität der Individuen sozialer Systeme ist oben schon hingewiesen worden; sie könnte im Party-Modell' in Geschlecht, Trinkfes-tigkeit, Charme usw. begründet sein; Vgl. Weise(1990,.S.24). Einige dieser Inhomogenitäten können entscheidend für das Systemverhalten sein, während andere (wie z.B. die Haarfarbe) keinen entscheidenden Einfluss haben. Erstere erfolgreich durch die Schaffung homogener Subgruppen zu identifizieren, ohne sich in letzteren zu verzetteln stellt den Modellbauer', abgesehen von der soundso diffizilen Spezifizierung der Interaktionsmechanismen, vor ein weiteres Problem. Durch die Subgraphenbildung steigt die Anzahl der möglichen Symmetrien noch wei-ter an, wie in späteren komplexeren Modellen gezeigt wird.

121 Diese Größe ist hier als das einfache Verhalten der Mehrheit (Asymmetrie in der Verteilung) definiert. Es kann sich bei ihr aber auch um eine Norm, eine Sprache, eine Mode oder ähnliches handeln; Vgl. Weise 990, S.27)

122 Im Referenzzustand sind alle Handlungen gleichwahrscheinlich, das Verhalten ist jeder Handlungsalternative gegenüber voll-symmetrisch. Durch die angenommenen Kräfte wird diese Symmetrie zugunsten einer Alternative gebrochen, wobei die Präferenzkraft einer autonomen, von den anderen nicht beeinflussbaren, Bevorzugung (Symmetriebrechung) Ausdruck verleiht, die jedoch von, diese überlagernden , interakti-ven Kräften verstärkt oder konterkariert werden kann. Das Verhalten der Individuen wird von einem Ordnungszustand 'versklavt', der nicht nur aus der 'freien Wahl' der Individuen heraus entstanden ist; Vgl. Weise (1990, S.27)

123 Die Sicht entspricht der von de Greene (1978, S.l)schon früher formulierten "Force fields and emergent phenomena in sociotechnical macro systems"; Vgl. de Greene (1978)

124 Hierbei wird eine Modellstruktur unterstellt, welche die Freiheitsgrade innerhalb des Modells durch die Annahme der Homogenität und durch die stochastische Beschreibung maximal hält (jeder Tcann' überall sein!). Sie wird durch eine minimale Anzahl von Kräften bestimmt, die sich als Konsequenzen der Handlungen der 'Einzelnen' endogen zu einem Beeinflussungsfeld verdichten, wobei der einzelne selber nicht streng lo-kalisiert werden kann; Vgl. Weise (1990, S.26ff)

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al- und Wirtschaftswissenschaften scheint also dann möglich, wenn man sich auf ein allge-

meines Prinzip der Synergetik beschränkt, nämlich: "Ordnungsstrukturen entstehen und

werden aufrechterhalten, indem sie rückkoppelnd die Ursachen stabilisieren, aus denen sie

entstehen und aufrechterhalten werden"125.

Der synergetische Ansatz sieht den Grund für die Selbstorganisation in den Wechselwirkun-

gen, wobei hinreichend starke Wechselwirkungen durch die Erzeugung von Ordnern zu

Handlungspräferenzen der Individuen führen, die sie ohne diese Wechselwirkungen nicht

gehabt hätten. Hierbei ist die Art und Weise der Interaktionen, welche die Wechselwirkungen

erzeugen, bedeutsam: Während in der traditionellen Wirtschaftstheorie der Ordner Preis als

reines Koordinationsinstrument gesehen wird, durch das die Kompatibilität einer bestimmten

Art der Interaktion, nämlich des Tausches, gewährleistet wird, ist vielfältiger sozialer Druck

ein Sammelnahme für eine Mannigfaltigkeit anderer Arten der Interaktionen und gewährleis-

tet die Kompatibilität derselben durch die Vereinheitlichung der individuellen Verhaltenswei-

sen126. Die Gründe für und die Manifestationen dieser Vereinheitlichungen werden im Fol-

genden beschrieben:

4.3 Normen und Institutionen als gesellschaftliche Ordner127

Eine Norm hat aus Sicht des Einzelnen drei Seiten: Sie ist Handlungsbeschränkung, bietet

Schutz und gibt ihm Sicherheit, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten soll. Auf ei-

nem höheren Abstraktionsniveau wird eine Norm eingehalten, d.h. eine normierte Handlung

gewählt, um die Kosten der Abweichung zu vermeiden128. Dabei kann es sich sowohl um

psychische129 als auch um physische Kosten130 handeln. Der Vorteil dieser auferlegten Kos-

ten liegt darin, dass man aufgrund der Normenkenntnis um die wahrscheinlichen Handlun-

gen der anderen weiß und so bei konstant erwarteten Verhaltensweisen der anderen planen

und sich vor bestimmten anderen Verhaltensweisen sicher fühlen kann. Außerdem werden

Entscheidungskosten dadurch gesenkt, dass bei Interaktionen normierte Handlungsabfolgen

125 Die Synergetik kann demgemäß als die Wissenschaft vom geordneten, selbstorganisierenden, kollektiven Verhalten, welches allgemeinen Ge-

setzmäßigkeiten unterliegt, verstanden werden; ihre Aufgabe ist es, die Gesetzmäßigkeiten dieser Selbstorganisation herauszufinden; Vgl. Weise (1990, S.31)

126 Das gleichartige Güter von vielen Menschen nachgefragt werden, weist daraufhin, dass die Menschen homogener und in ihrem Verhalten stärker voneinander abhängig sind, als dies die Konstruktion des homo oeconomicus' glauben machen will. Menschen werden im Autofahren, Biertrinken, Fernsehen usw. zu konformen Verhalten gebracht und unterscheiden sich lediglich teilweise, z.B. als Mercedes- oder BMW-Fahrer, als Bier- oder Pilstrinker, als Camel- oder Marlbororaucher. Steigende Skalenerträge in der Produktion, der Information und der Organisation sowie psychologische Momente sind hierfür die Ursache; Vgl. Weise (1990, S.41)

127 "While markets coordinate human behaviour in that individuals compensate one another for effort but otherwise choose their behaviour freely, institutions coordinate human Cooperation in that certain actions are made obligatory and freedom of choice is limited. In both cases a cer-tain degree of security of order and orientation is achieved: in market coordination, nothing is done against the will of any individual; in co-ordination through institutions, certain actions are much more probable than others. Therefore, mutual compensation among individuals is decisive in market coordination; compulsion toward certain actions is decisive in coordination via institutions"; Brandes Ü990.S.173)

128 Vgl. Eger (1990, S.66ff) 129 Diese können extern als informelle Ächtung oder intern als Scham, schlechtes Gewissen und ähnliches auftreten. 130 Diese können z.B. dadurch entstehen, dass die Kosten für die Informationsbeschaffung über eine nur selten gewählte Handlung in Geld- und

Zeiteinheiten ungleich größer sind als die über eine von der Mehrheit gewählten Handlung. Außerdem sind z.B. von der Mehrheit nachgefrag-te wertäquivalente Güter weitaus billiger, da sie in Massen hergestellt werden können. Auch "15 Jahre ohne Bewährung" für die nicht so häu-fig gewählte Handlung' Mord können als physische Kosten verstanden werden.

Page 31: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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vorgegeben werden131. "Durch Normen werden die Verhaltensweisen der Menschen paramet-

risiert; durch Kenntnis der Normen werden die Verhaltensweisen koordiniert."132

Für den externen Betrachter machen sich diese Normen als nach außen hin wahrnehmbare

Verhaltensregelmäßigkeiten, die statistisch gemessen werden können, bemerkbar. Solche

können auch als Institutionen bzw. als institutionelle Handlungen verstanden werden133 und

sind Untersuchungsobjekt eines mit Beginn des 20.Jh. an Bedeutung gewinnenden For-

schungszweiges der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft134.

Die Gleichförmigkeit, durch die diese Verhaltensregelmäßigkeiten entstehen, kann hierbei

zum einen in angeborenen Verhaltensmechanismen135 begründet sein, oder darin, dass sich

bestimmte Verhaltensweisen durch individuelles Lernen als für viele (bzw. alle), unabhängig

vom Verhalten der anderen, vorteilhaft erwiesen hat136. Zum anderen (und das ist der hier

interessierende Fall) wird durch die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander

ein Konformitätsdruck erzeugt, der für die Verhaltensregelmäßigkeiten verantwortlich ist137.

32

131 Wie begrüßt man sich?',' Was zieht man bei einem bestimmten Anlass an?', Wie kauft man ein?', usw. Während früher die meisten sozialen

Handlungen stark reglementiert und damit die Entscheidungssicherheit sehr hoch und die Entscheidungskosten sehr niedrig waren, muß man sich heute über viele dieser Dinge den Kopfzerbrechen; Vgl, Eger(1990, S.68)

132 Vgl. Eger (1990, S.68); Ebenda beschreibt er dies anschaulicher, indem es sagt: "Normen schaffen somit Ordnungssicherheit, und zwar zum einen Orientierungssicherheit: jede Person weiß, was sie tun darf und was die anderen dürfen; und zum anderen Realisierungssicherheit: jede Person weiß, was es sie kostet und was es die anderen kostet, die Norm zu übertreten."

133 Gemäß dem Oxford English Dictionary wird eine Institution definiert als "established law, custom, usage, practice, Organization, or other dement in the political or social life of a people; a regulative principle of Convention subservient to the needs of an organized Community a well-established or familiar practice or object" oder nach Brandes (1990, S.174): "Institutions are establishments which structure human ac-tivities with relative permanence An ordering or structuring is externally perceptible as a regularity in the network of behaviour."

134 Die Institutionenökonomie argumentiert, dass die ökonomische Wirklichkeit unter dem Aspekt historischen Wandels interpretiert werden müs-se. Sie müsse daher durch eine exakte (statistische) Beschreibung existierender sozialökonomischer Institutionen erfasst und auf Grundlage ihrer zahlreichen Wechselwirkungen interpretiert werden: Ökonomisches Verhalten wird wesentlich durch die institutionelle Umwelt geformt, in der sich ökonomisches Handeln in all seinen Manifestationen vollzieht und selbst wiederum die institutionelle Umwelt beeinflusst. Der Pro-zess wechselseitiger Interaktion ist evolutionär. Die Umwelt wandelt sich, und mit ihr verändern sich die Determinanten 'ökonomischen' Ver-haltens; Vgl. Dichtl (1987,Bd.2, S.891)

135 Man kann nur dann von Institutionen sprechen, wenn Verhaltensweisen statistisch regulär sind, es aber nicht sein müssen. Quasi-natürliche angeborene Verhaltensweisen (z.B. Reflexe) sind zwar regulär, aber in dem Sinne, das eine Regel von ihnen abgeleitet werden kann, nicht das sie einer Regel folgen; Vgl. Brandes (1990, S.174)

136 Dann sind Präferenzen bezüglich eines bestimmten Verhaltens für die Verhaltensregularitäten verantwortlich. Wenn bestimmte Alternativen quasi-natürlich anderen vorgezogen werden, handelt es sich wieder um den Fall einer reinen Regel, nicht um eine statistische Regularität (Vgl. Brandes(1990, S.175)) und dies gibt, da einfaches regelhaftes Verhalten, das aus den unabhängigen Entscheidungen einer Vielzahl von Individuen resultiert, keiner spezifischen sozialwissenschaftlichen Erklärung bedarf (Vgl. Eger (1990, S.69)), keinen Anlass zur weiteren Be-trachtung.

137 Der Konformitätsdruck ist mit Sicherheit die bestimmende Kraft, aber auch andere Kräfte, wie die Antikonformitätskraft können eine Rolle spielen, so dass man allgemeiner sagen kann:" Origins of these behavioral regularities can be forces, brought about through man's network of interdependence"; Vgl. Brandes (1990.S.175)

Page 32: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Er wird dadurch gekennzeichnet sein, dass eine Abweichung vom Mehrheits- oder Durch-

schnittsverhalten mit Kosten belegt wird, wobei die Frage entsteht, welches die typischen Fäl-

le sind138:

Man orientiert sich an dem, was die Mehrheit tut, weil man...

...einen direkten Nutzen aus der Interaktion zieht139. ...sich aus Unsicherheit an der Mehrheit oder an kompetenten Personen orientiert (Imita-

tion)140. ...ein Abweichen von der Mehrheit mit Unlustgefühlen verbindet (Angst vor informeller

Ächtung)141. ...andernfalls einen unmittelbaren Nachteil hätte142. ...sein Verhalten an einer Größe ausrichtet, die durch das Mehrheitsverhalten erzeugt

wird143.

Somit werden soziale Normen durch einen äußeren Konformitätsdruck aufrechterhalten und

stabilisiert, der sich darin äußert, dass abweichendes Verhalten mit Kosten verbunden ist,

die durch die Handlungen der Öffentlichkeit erzeugt werden. Sie können aber auch in mehr

oder weniger starker Masse internalisiert sein, wobei dann nicht die Konsequenzen einer

Normabweichung, sondern Scham, schlechtes Gewissen und Schuldgefühle die Individuen

von Normverletzungen abhalten144. Hierbei werden die äußeren Fremdzwänge, die durch

das gesellschaftliche Miteinander entstehen, internalisiert und so zu Selbst zwängen145.

Mit zunehmender Größe, Anonymität und Funktionsdifferenzierung entwickelten sich aus

einer Übereinstimmung von inneren und äußeren Zwängen Recht, Sitte und Moral als spezi-

fische Ordnungserscheinungen, die sich teils auf dieselben, teils auf unterschiedliche Hand-

138 In der Realität wird eine Mixtur verschiedener Kostenarten vorherrschen: Entscheidungsfindungs-, Informations-, Koordinations- und Sankti-

onskosten; Vgl. hierzu und zum folgenden Brandes (1990, S.70ff) 139 Z.B. Kneipe, Stadien, Parties usw.. Das Mehrheitsverhalten dient dem Einzelnen in diesen Fällen als Maß der Kommunikationsmöglichkeiten. 140 Z.B. Touristen orientieren sich in einer fremden Stadt an anderen, Kinder an ihren Eltern; Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass Indi-

viduen, die unter großer Unsicherheit zunächst isoliert Urteile abgeben, in Gruppensituationen dazu tendieren ihre Urteile einander anzuglei-chen; Vgl. Opp (1983, S.176ff)

141 Das Mehrheitsverhalten dient hier als Maß für angemessenes Verhalten. Ein von Asch durchgeführtes Experiment zeigte, dass Mitglieder einer Gruppe auch in recht belanglosen Situationen die Bewahrung einer antikonformistischen Haltung schwer fällt; Vgl. Eger(1990, S.70).

142 Z.B. ist es ratsam auf der rechten Straßenseite zu fahren: "Radiodurchsage: Ein Falschfahrer auf der A5!; Oma zu Opa: Was heißt hier einer?. Tausende!" Das Mehrheitsverhalten dient hier als Maß der Koordination.

143 Z.B. an dem Preis eines Gutes, dass durch Massenherstellung billiger bzw. erst erschwinglich wird, oder bei steigenden Skalenerträgen, und/oder abhängigen Sekundärmärkten, die erst bei einer gewissen Verbreitung des Gutes entstehen(Service oder Softwaremärkte). Siehe hierzu das spätere Kapitel über die Diffusion von Innovationen.

144 Vgl. Eger(1990, S.74) 145 Solche Selbstzwänge äußern sich in einer Selbstkontrolle des gesamten Gefühls- und Trieblebens. Diese kann bewusst erfolgen, indem man die

Konsequenzen seines Handelns bedenkt und sich selbst Handlungsbeschränkungen unterwirft: Man entwickelt eine Ethik, die sich z.B. darin äußert, dass man keine phosphathaltigen Waschmittel kauft, seine Wohnung an ein kinderreiches Ehepaar vermietet, usw.; Vgl. Eger(1990, S.76ff). Sie kann aber auch automatisch arbeiten, indem, durch die Kräfte des sozioökonomischen Beeinflussungsfeldes bewirkte, externe Handlungsbeschränkungen zu internen Handlungsbeschränkungen werden, ohne dass die Konsequenzen der individuellen Handlungen be-dacht werden (z.B. in Form der Kosten, die sie verursacht). Die gewählte Handlung ist dann gleich der gewünschten Handlung. (Vgl. hierzu auch Radzicki (1990), der in dem Wechselspiel von 'desired state' und 'actual State’ die Basis einer evolutionären Institutionenökonomie sieht.). Wie Brandes (1990, S.175) es ausdrückte: Die externen Kräfte und die durch sie verursachten Handlungsbeschränkungen "are the re-sult of the active Cooperation of man and at the same time provide for the regularity of this Cooperation. A portion of these forces- in total equilibrium: all of them- express themselves as internal behavioral constraints within individuals and stabilize the external forces: 'Con-science is social angst'". So durchdrangen sich in den Urgesellschaften externe Zwänge (Sitten und Bräuche), die immer an gewisse magisch-religiöse Vorstellungen geknüpft waren, und innere Zwänge (Ehrfurcht) bis zu völliger Einheit.

Page 33: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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lungen bezogen und die sich nicht notwendig deckten146. Sanktionshandlungen zum Schutz

wichtiger Güter werden in großen Gesellschaften zumeist institutionalisiert und monopoli-

siert, womit die soziale Norm zum Recht wird ,und der Anreiz, verhaltenskoordinierende

Normen zu verinnerlichen; nimmt ab 147.

So oder so werden vorhersehbare (im Sinne von wahrscheinlich) Verhaltensmuster -

Institutionen148- geschaffen, die dadurch, dass die Individuen in ihrer Doppelrolle als Norm-

adressat und Öffentlichkeit an ihnen haften149, stabilisiert werden. Diese wechselseitige Sta-

bilisierung der Ordner deutet darauf hin, dass auch die Erzeugung von Institutionen ein

wechselseitiger, rückkoppelnder Prozess zwischen den Handlungen der Einzelnen und ei-

nem durch diese kollektiv erzeugtem Gesamtverhalten, also selbstorganisatorisch ist und

somit als Ordnungsstruktur, die "entsteht und aufrechterhalten wird, indem sie rückkoppelnd

die Ursachen stabilisiert, aus denen sie entstand" (s.o.), auch synergetisch beschreibbar ist.

Genau dieses ist im Prinzip mit dem oben beschriebenen Party-Modell möglich150: Mit ihm

lässt sich anhand von 2 Handlungszuständen151 das Wechselspiel der Handlungen der Indi-

viduen, die durch Übergangswahrscheinlichkeiten definiert sind, und einem kollektiven Be-

einflussungsfeld - der Öffentlichkeit - darstellen152. Dieses wird über einen Satz von Kräften

definiert, die anhand des Party-Modells beschrieben und anhand der Normen erläutert wor-

den sind. Wenn, einmal abgesehen von Präferenzkräften, Konformitätsdruck in irgendeiner

Weise herrscht, bzw. eine soziale Abhängigkeit der Handlungen untereinander, und dies wird

bei vielen Handlungen der Fall sein, so wird jede Symmetrie (Gleichwahrscheinlichkeit), die

anfangs zwei Handlungsalternativen gegenüber besteht, zugunsten einer gebrochen wer-

den153; wie oben gezeigt wurde können hierbei Fluktuationen zu kritischen Zeitpunkten dar-

über entscheiden, welcher von mehreren möglichen Zuständen letztendlich erreicht wird.

Da hier eine sequentielle Selbstorganisation betrachtet wird, d.h. da Handeln als Handeln in

146 Zwar gibt es auch innerhalb großer Gesellschaften soziale Gruppen aller Art, die durch Gruppenprozesse informelle Normen erzeugen und

aufrechterhalten, diese sind aber nur für spezifische Teilmengen der Gesellschaftsmitglieder verbindlich; Vgl. Eger (1990, S.75f) 147 Die Institutionalisierung ist hier als die Schaffung konkreter "gesellschaftlicher Gruppen, Assoziationen, Organisationen, in denen sich diese

[regulativen ] Prinzipien repräsentieren. "(DTV,1989,Bd.8, S.304) zu verstehen. Rechtsnormen unterscheiden sich von sozialen Normen durch einen hohen Grad der Institutionalisierung, der hier durch eine Monopolisierung der Reaktionstätigkeit auf unerwünschtes Verhalten durch eine Zentralmacht und durch die Handhabung derselben durch eine richterliche Instanz gekennzeichnet ist. Vgl. Eger ( 1990, S.75)

148 "A set of forces, and their resulting lasting behavioural configuration, is what we label an institution "; Vgl. Brandes (1990.S.176) 149 "Humans orientate their behaviour towards the behaviour of others, thereby creating sanctionable behavioural expectations"; Brandes (1990,

S.176") 150 Vgl Brandes (1990), Eger (1990) 151 Diese, oben als zwei Räume dargestellt, lassen sich beliebig ausfüllen, müssen sich aber gegenseitig ausschließen, wie. z.B. : Töten vs. Töten;

Jeans tragen vs. Lederhose tragen; Drogen nehmen vs. keine Drogen nehmen, usw. 152 "In reality, custom, morals, norms and taboo could fit this example, if one adequately interprets the two actions. However most an institution

are in reality considerably more complex; yet, if one treats them as combinations of individual norms they could be analyzed in the same way. One could also deal with a set of norms or rights using this approach if the respective forces are assigned to specific individuals or other in-stitutions. By the same measure, one could think of the homogeneous as divided into subpopulations and have the forces within as well as be-tween the subpopulations."; Brandes (1990, S.186).Dieser Forderung wird die im nächsten Absatz beschriebene 'Mastergleichung' zumindest mathematisch gerecht. " The core of the synergetic approach remains the same: Man finds himself dependent upon others, feels a desire for independence, and has preferences regarding actions "ebenda (S.186).

153 Insbesondere bei sehr starken Normen ist der Konformitätsdruck sehr stark und so werden Randgleichgewichte bzw. Fast-Randgleichgewichte sehr wahrscheinlich den Endzustand eines solchen Prozesses darstellen: Die Wahrscheinlichkeit, dass z.B. die Handlung Töten' sehr wenig gewählt wird, ist in unserer Gesellschaft relativ hoch.

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der Zeit begriffen wird und jede getätigte Handlung mittelbar über die Verhaltenskonfigurati-

on auf den dynamischen Systemverlauf rückkoppelt, wird jeder Systemverlauf seine eigene

Geschichte haben. Dies bedeutet, da die Fluktuationen in Modellen nur als stochastische

(also zufällige, keiner Regel folgenden) Schwankungen implementiert werden können, dass,

insbesondere bei komplexeren Modellen, jeder Simulationsablauf anders sein kann.

Die Vielfalt kann durch Variationen in den Anfangsbedingungen (siehe deterministisches

Chaos) und/oder den Parametern noch erhöht werden. Dies ist nicht weiter tragisch, wenn

es nur einen Attraktor gibt, auf den das System relativ unabhängig von den Anfangsbedin-

gungen zuläuft. Gibt es aber mehrere stabile Attraktoren, auf die das System zulaufen kann

und bei denen es trotz der Fluktuationen verharrt, so bliebe der Aussagewert eines einzelnen

Simulationsablaufes begrenzt.

Aus diesem Dilemma führte eine Gleichung, auf deren Basis es möglich ist, ein Modell zu

konstruieren, welches das Bündel von möglichen Entwicklungspfaden einheitlich formalisiert,

indem es aus den möglichen Entwicklungen der individuellen Übergangswahrscheinlichkei-

ten die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltenskonfigurationen zu einem bestimmten

Zeitpunkt t ableitet:

Page 35: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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4.4 Die Darstellung sozioökonomischer Systeme mit der Master-Gleichung154

"Economics is all about how people make choices; sociology is all about why they don't have any choice to make." J. Duesenberry 155

Abb. 8: Verknüpfung von Mikro- und Makroebene durch die Mastergleichung

Die Master Gleichung bietet die Möglichkeit, auf Basis des gleichen Konzeptes, das auch

dem Party-Modell zugrunde liegt, komplexere Zusammenhänge und damit eine komplexere

Dynamik selbstorganisatorischer Prozesse darzustellen156.

So wird dem Individuum ein Verhaltensvektor zugeschrieben, der als ein Punkt in einem A-

dimensionalen Raum A repräsentiert werden kann, wobei die verschiedenen Dimensionen

a=l, 2,...A jeweils andere Aspekte der individuellen Entscheidungen erfassen157. Die ver- 154 Vgl. zum folgenden: Weidlich (1983,1991 ;1992), Haag (1990), Woekener (1992a) 155 Zitiert in Farmer (1991, S.104) 156 Der Mastergleichung-Ansatz geht dabei von folgenden Annahmen aus: die Gesellschaft wird von einigen wenigen politischen, ökonomischen,

kulturellen, religiösen und sozialen Ordnungsparametern 'regiert'. Entscheidungen und Aktivitäten Einzelner sind 'versklavt', d.h. gerichtet und weitgehend vorbestimmt durch die sozioökonomische Situation, die sich aus den Ordnungsparametern ergibt. Somit kann die globale Entwicklung einer Gesellschaft primär als geschlossene Dynamik endogener Ordnungsparameter gesehen werden, die jedoch von äußeren Einflüssen wie Umwelt, Ressourcen, ökonomischen Einschränkungen usw. kontrolliert wird. Dies impliziert, dass die innere Struktur einer Gesellschaft nur teilweise von äußeren Einflüssen vorherbestimmt ist und sich auf eine selbstorganisierende Art entwickelt, wobei das Ergeb-nis jedoch nicht fest steht, sondern sich unter denselben Bedingungen unterschiedliche Modifikationen des sozioökonomischen Systems erge-ben können (Ergebnisoffenheit). In kritischen Situationen kann die Entwicklung des betrachteten Systems sich destabilisieren, so dass Phasen-übergänge (z.B: Revolution) in einen neuen Zustand und andersartige Verhaltensweisen im System 'Gesellschaft' auftreten können. An eine quantitative Theorie, wie sie durch den Mastergleichungsansatz begründet wird, muss demzufolge folgenden Anforderungen entsprechen: Der Zusammenhang zwischen der Mikroebene, auf der sich die Entscheidungen und Aktivitäten der Individuen abspielen, und der Makroebene der Bewegungsgleichungen der kollektiven Ordnungsparameter der Gesellschaft muss hergestellt werden. Die globale Struktur der Dynamik quantitativer Modellsysteme muss die möglichen stationären Zustände, Entwicklungen und Revolutionen einer Gesellschaft widerspiegeln. Unter ausreichend wohldefinierten Bedingungen sollte das Modell den Vergleich mit konkreten empirisch erfassbaren Systemen durch Reggressionsanalyse und Prognose ermöglichen; Weidlich (1991, S.483fT)

157 Solche Aspekte können das Faktorangebot, die Konsumgüternachfrage, politische Stimmabgabe, Standort, Wohnsitzentscheidungen, usw. sein; Vgl. Weidlich (1992, S.42)

Page 36: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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schiedenen Verhaltensweisen i bezüglich jedes Aspekts werden durch den Index im durch-

numeriert: i=(ilfi2, ,ia, '*-&)• Der Zustand der Gesellschaft auf der Mikroebene wird also

durch den Punkteschwarm ihrer Mitglieder in A beschrieben, der jedoch eine viel zu differen-

zierte Beschreibung darstellt. Über die Definierung von, bezogen auf ihr Entscheidungsver-

halten, homogenen Subpopulationen poc =1/2...P158 wird nun eine Makrovariable, die Sozio-

konfiguration n, eingeführt, die die Verteilung der Verhaltensweisen unter den Mitgliedern der

Subpopulationen Pa (bezogen auf die Wahlmöglichkeiten a=l,2,...A) folgendermaßen be-

schreibt:

mit n^ als der Anzahl der Mitglieder der Subpopulation Pa mit der Haltung i. Der Übergang

eines Individuums e Pa von der Verhaltensweise i zur Verhaltensweise j äußert sich in einer

Änderung in der Soziokonfiguration, gemäß:

Er wird wie im Party-Modell nicht deterministisch modelliert, sondern wahrscheinlichkeitsthe-

oretisch, indem man eine individuelle Übergangswahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit p?. ein-

führt. Diese wird jedoch nicht direkt, wie im oben beschriebenen Modell, sondern über den

zusätzlichen (bzw. den verminderten) subjektiven Nutzen, den eine Verhaltensänderung von

i nach j für das Individuum erbringt, teilweise von der Makroebene (der Soziokonfiguration)

abhängig gemacht. Dies geschieht dadurch, dass der Nutzen u zum einen durch einen

Trendparameter K , der sich im Zeitablauf ändern kann, zum anderen aber -und hierin liegt

das synergetische Moment - durch die Soziokonfiguration n definiert wird, was in folgendem

Ansatz mündet159:

158 Jedes Individuum kann hierbei eindeutig einer Subpopulation zugeordnet werden. Die Homogenität bezieht sich auf eine wahrscheinlichkeits-

theoretisch erfasste Homogenität des Entscheidungsverhaltens, wie dies auch im Party-Modell der Fall war. 159 u beschreibt den subjektiven Nutzen, v ist als ein Flexibilitätsparameter' [Vgl. Haag (1990, S.139), Woekener (1992,418)] zu begreifen, der ein

Maß der Häufigkeit des Entscheidungswechsels darstellt; zu den Vorteilen einer exponentialen Formulierung siehe Weidlich(1992, S.43f) und Haag (1990, S.140).Hier sei darauf hingewiesen, dass durch sie einerseits die Positivität der Übergangsraten gesichert ist, und andererseits ein nichtlinearer Zusammenhang zwischen dem Individualverhalten und den exogenen und endogenen Variablen aus rein 'technischen' Grün-den etabliert wird; Vgl. Woekener (1992a, S.419). Eine solche Übergangsraten ist natürlich nicht aus sich selbst heraus richtig, sondern muss entweder verhaltenstheoretisch fundiert oder empirisch nachgewiesen werden (siehe das Kapitel Wahlmodelle).Nichtlinearität der individuel-len

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Resultierend aus der Homogenitätsannahme bezüglich der Subpopulationen folgt hieraus

eine konfigurale, totale Übergangsrate mit:

Die Master-Gleichung ermöglicht es nun, auf einer stochastischen Beschreibungsebene die

Entwicklung der Wahrscheinlichkeit P(n;t), zum Zeitpunkt t die Soziokonfiguration n vorzufin-

den, zu beschreiben160:

Sie kann, wenn die Soziokonfiguration eindimensional ist und eindeutig identifiziert werden

kann161, auch geschrieben werden als162:

und beschreibt nichts anderes als - bei bekannten Übergangsraten - die Wahrscheinlich-

keitszuflüsse aus allen anderen möglichen Konfigurationen n+k in die betrachtete Konfigura-

tion n abzüglich der Wahrscheinlichkeitsabflüsse aus der Konfiguration n in alle anderen

Konfigurationen n+k, wobei selbige durch die Wahrscheinlichkeiten der Konfigurationen in t

bedingt sind. Die Master-Gleichung macht also Aussagen darüber, um wie viel wahrscheinli-

cher bzw. unwahrscheinlicher eine bestimmte Konfiguration im Zeitverlauf wird, indem sie

Wahrscheinlichkeitszuflüsse und Wahrscheinlichkeitsabflüsse in den jeweiligen Folgezeitpunkten

miteinander verrechnet. Dies läuft oftmals auf stationäre Verteilungen hinaus, bei denen die

Wahrscheinlichkeitszuflüsse gleich den Wahrscheinlichkeitsabflüssen sind. Damit wird nicht

nur die mittlere Entwicklung der Gesellschaft im Konfigurationsraum, sondern zugleich die 160 Vgl. Weidlich ( 1992, S.44) 161 So wie im obigen Modell dem Wert x eindeutig eine Soziokonfiguration zugeordnet werden kann. 162 Vgl. Haag ( 1990, S.137).Die Wahrscheinlichkeitsverteilung P(n,t) muss natürlich zu allen Zeiten die

Normierungsbedingung S P(n,t)=l erfüllen.

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Entwicklung der Wahrscheinlichkeit der Abweichungen vom mittleren Verhalten (Fluktuatio-

nen bzw. Varianzen) berücksichtigt.

Eine solche Beschreibung ist in der mathematischen Berechnung sehr schwierig, jedenfalls

in dem Moment, in dem das Modell bezogen auf die Differenzierung in Subpopulatlonen und

deren Inter- und Intragruppenwechselwirkungen eine gewisse Komplexität erreicht. Dies wird

schon in der obigen allgemeinen mathematischen Formulierung deutlich, wenn man sich vor

Augen hält, dass die Nutzenfunktionen der jeweiligen Subpopulationen -und damit die Über-

gangswahrscheinlichkeiten- in Abhängigkeit von dem Verhalten der eigenen Subpopulation

und dem der anderen Subpopulationen (also in Abhängigkeit von der Soziokonfiguration) ,

jeweilig spezifischen Gesetzmäßigkeiten folgen und somit für jede definierte Handlungsalter-

native und jede definierte Subpopulation zu jedem Folgezeitpunkt neu berechnet werden

müssen163. Deswegen beschränkt man sich bei der Modellierung meistens auf wenige Hand-

lungsalternativen und Subpopulationen.

Trotzdem bleibt durch die wahrscheinlichkeitstheoretische Beschreibung die Problematik,

dass es von jeder Konfiguration eine gewisse endliche Wahrscheinlichkeit gibt, in eine belie-

bige andere Konfiguration zu gelangen und vice versa, wodurch unzählige Wahrscheinlich-

keitsübergänge miteinander verrechnet werden müssen. Dieser weicht man oft durch die

Annahme eines Einschritt-Prozesses aus, durch die von n aus nur ein Wechsel in die Nach-

barzustände n-1 und n+1 möglich ist, alle anderen Übergangsraten aber verschwinden164

In einfacheren Modellen lässt sich dann die Entfaltung einer Systemdynamik, ausgehend von

einer Anfangskonfiguration mit P(n0,t0)=l, graphisch in drei Dimensionen165 darstellen:

163 Von mehrdimensionalen Verhaltensvektoren ganz zu schweigen. 164 Vgl. Woekener (1992a, .413), wo er auch auf die Problematik der Ränder (Randkonfigurationen) eingeht. Wenn es sich um absorbierende

Ränder handelt, dann gibt es nur Wahrscheinlichkeitsflüsse in den Randzustand, aber keine heraus, und so wird er über kurz oder lang eine Wahrscheinlichkeit von eins erlangen. Deswegen werden oftmals reflektierende Ränder unterstellt.

165 Zeit, Wahrscheinlichkeit und ein Konfigurationsparameter, der eine Soziokonfiguration eindeutig identifiziert

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Abb. 9: Wahrscheinlichkeitsverteilung bei niedriger Interdependenz & Präferenz

Abb. 10: Wahrscheinlichkeitsverteilung bei hoher Interdependenz

(N=50), 2 Handlungsaltemativen (analog dem Party-Modell) für

eine gewisse Fluktuationskraft (a=0.25) fehlende Präferenzkräfte

(b=0) und fehlende Konformitatskräfte (c=0).; sie endet in einer

stationären unimodalen Verteilung

Desgleichen für eine hohe Konformitätskraft (a=0.25, b=0, c=2.5);

sie endet in einer bimodalen Verteilung

Abbildung 10 zeigt, wie eine (hier durch Mitläufereffekte und eine Anfangskonfiguration nahe

der Gleichverteilung erzeugte) Bifurkation des Bündels der möglichen Entwicklungspfade

durch die spezielle Kombination von deterministischer Nichtlinearität (in den Übergangsra-

ten), hinter der die Verknüpfung von Mikro- und Makroebene steht, und dem Einfluss des wie

auch immer gedeuteten Zufalls mittels der Mastergleichung darstellbar wird: Der Masterglei-

chungsansatz scheint für die Modellierung ergebnisoffener sozioökonomischer Prozesse

geeignet zu sein.

Die Mastergleichungs-Modelle, die grundsätzlich vor allem zur Beschreibung von Multikom-

ponenten-Systemen konzipiert wurden, lassen sich auch für Prognosezwecke verwenden.

Ihnen kommt dabei zugute, dass sie auch die relative Häufigkeit von Zuständen, die von der

wahrscheinlichsten Konfiguration abweichen, bestimmen und so Risikoabschätzungen zu-

lassen166. Für die meisten Anwendungsfälle enthalten sie jedoch zuviel Information, um sie

mit rein empirischen Daten zu vergleichen. Dann empfiehlt es sich, nur die Entwicklung des

wahrscheinlichsten Wertes zu betrachten und sie in quasideterministischen Bewegungsglei-

chungen des Mittelwertes zu beschreiben167

Die praktischen Anwendungsbereiche des Modellierungskonzepts, dessen konzeptioneller

Rahmen im Anhang dargestellt ist, umfassen: 166 Vgl. Woekener (1992a, S.421) 167 Diese können für den Fall, dass die Entwicklungspfade bifurkieren und die stationäre Verteilung bimodal ist, wie in Abb. 10, auch den un-

wahrscheinlichsten Verlauf wiedergeben, nach dem Motto:" Ein Jäger schoss auf einen Hasen: einen Schuss rechts vorbei, einen links vorbei: statistisch gesehen ist der Hase tot!" Meistens jedoch werden unimodale Wahrscheinlichkeitsverteilungsentwicklungen betrachtet und eine Formulierung in Mittelwerten ist dann gerechtfertigt.

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Demographie (Migrationsmodelle) Soziologie (Wahlmodelle) Regionalwissenschaft (Stadtentwicklungs- und Siedlungsstruktur-Modelle) Ökonomie (Konjunkturzyklen, Marktinstabilitäten, Diffusionsmodelle)168.

4.4.1 Migrationsmodelle

Insbesondere Migrationsmodelle stellen ein dankbares Anwendungsgebiet dar: Zum einen

wegen des Vorliegens umfassenden Datenmaterials, welches es ermöglicht, Theorie und

Empirie miteinander zu vergleichen169; zum anderen wegen der guten Interpretierbarkeit der

erzeugten dynamischen Phänomene.

So lassen sich schon bei der Betrachtung von zwei wechselwirkenden Subpopulationen in

zwei Regionen durch dieselben Modellgleichungen je nach Wahl der Verhaltens- bzw.

Trendparameter K mindestens drei qualitativ verschiedene Situationen und die möglichen

Phasenübergänge zwischen ihnen beschreiben:

Die Herausbildung einer stabilen Bevölkerungsmischung (Fixpunktattraktor) Die Herausbildung eines stabilen Gettos (multiple Gleichgewichte bzw. multiple Attrakto-

ren) Die Herausbildung eines rastlosen Wanderungsprozesses (Grenzzyklus)

Abb. 11/12: Die Fälle a,b)symmetrische Wechselwirkungen; Beschreibungsarten: a) das Flusslinienbild der Mittelwertgleichungen170; ß) die stationäre Lösung der Mastergleichung171

Abb.l3/14;:Die Fälle c,d) asymmetrische Wechselwirkungen. Beschreibungsarten: a)das Flusslinienbild der Mittelwertgleichungen172; ß)die stationäre Lösung der Mastergleichung173;y)die Verteilung der stationären Wahrscheinlichkeitsflüsse

168 Z.B. Kraft (1986; 1987), Haag (1987), Koblo (1991) zur Erklärung endogener persistenter Konjunkturzyklen; zur Modellierung von Oligopol-

märkten [Landes (1985)] oder der Nachfrage nach einem inhomogenen Konsumgut auf einem unvollkommenen Markt [Landes (1985), Woe-kener (1992a)]; zur Diffusion von Innovationen siehe Woekener (1992b), Montano (1980).

169 Vgl. Weidlich (1992, S.46f) 170 Jede XY-Kombination identifiziert eindeutig die Soziokonfiguration n^npii^n^iu}, da X und Y die Abweichungen von den jeweiligen Gleichver-

teilungen angeben; Vgl. Weidlich (1992, S.48ff) 171 In der Höhe sind die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten abgetragen. 172 Jede XY-Kombination identifiziert eindeutig die Soziokonfiguration n={nf. .n-in. ,n2}, da X und Y die Abweichungen der jeweiligen Gleichver-

teilungen angeben; Vgl. Weidlich (1992, S.48ff) 173 In der Höhe sind die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten abgetragen.

Page 41: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 38

Abb. 11: Symmetrische Wechselwirkungen (Fixpunktattraktor)

Schwacher Agglomerationstrend innerhalb jeder Population und schwacher Segregationstrend zwischen den Populationen a) Alle Flussli-

nien münden im stabilen Gleichgewichtspunkt (x y) = (0,0), der die homogene Durchmischung der Populationen via und Pv beschreibt. B)

Unimodale stationäre Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Maximum am Ursprung

Abb. 12: Symmetrische Wechselwirkungen (multiple Attraktoren)

Schwacher Agglomerationstrend innerhalb jeder Population und starker Segregationstrend zwischen den Populationen. a) Alle Fluss-

linien münden in zwei stationären Fixpunkten im zweit. bzw. vierten Quadrant, welche die Segregation der Populationen 7 und P» in

getrennten Cellos beschreiben. ß) Bimodale egregra stationäre Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Maxima ; den stationären Punkten.

Abb. 13: Asymmetrische Wechselwirkungen (Fixpunktattraktor)

Mäßiger Agglomerationstrend innerhalb jeder Population und starke asymmetrische Wechselwirkung zwischen den Populationen er)

Page 42: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Alle Flusslinien münden spiralenartig In den stabilen Fokus (x,y) = (0,0), der homogenen Mischung der Bevölkerung. ß) Unimodale

stationäre Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Maximtim am Ursprung.

Abb. 14: Asymmetrische Wechselwirkungen (Grenzzyklus)

Starker Agglomerationstrend innerhalb jeder Population und starke asymmetrische Wechselwirkung zwischen den Populationen. or) Der

Ursprung (x,y) = (0,0) ist unstabil. Alle Flusslinien münden in einen Grenzzyklus. ß) Die stationäre Wahrscheinlichkeitsverteilung besitzt

vier Maxima mit verbindenden Höhenzügen längs des Grenzzvklus

Die Trendparameter können in einer 2x2 Matrix dargestellt werden und bestimmen, je nach

Vorzeichen, die Agglomerations- bzw. Seggregationstrends innerhalb und zwischen den Po-

pulationen. Die in den Abbildungen 11/12/13/14 gezeigten Phänomene werden hauptsäch-

lich durch Symmetrien bzw. Asymmetrien der Intergruppenwechselwirkungen erzeugt174.

Auch deterministisches Chaos ist als Sonderfall einer Migration von drei Subpopulationen in

drei Gebieten darstellbar175.

Die Fähigkeit eines mit Hilfe des Mastergleichungsansatzes konzipierten Modells zur Be-

schreibung migratorischer Prozesse wurde von Weidlich und Haag anhand eines Verglei-

ches des theoretischen Modells mit der empirischen interregionalen Migration zwischen den

alten Bundesländern im Zeitraum 1957 bis 1985 gezeigt176. Hierbei wird von einer homoge-

nen Population mit 11 möglichen Handlungszuständen (Regionen) ausgegangen. Die Nut-

zenfunktionen der dynamischen mittleren Übergangsraten wurden zum einen optimal kalib-

riert, ohne dass ein makroökonomisches Gleichgewicht angenommen werden musste, und

zum anderen als abhängige Variable geeigneter sozioökonomischer Faktoren dargestellt177.

Dass die Umwelt, in die ein Selbstorganisierendes System eingebettet ist, durch wenige

exogene sozioökonomische Schlüsselfaktoren identifiziert und ihre indirekten Wirkungen auf

174 Präferenzen der Subpopulationen für eine bestimmte Region werden vernachlässigt. 175 Dieses kann im obigen Fall gar nicht auftreten, da es nur zwei dynamische Variable, nämlich x(t) und y(t) gibt; Vgl. Weidlich (1992, S.55) 176 Vgl. Haag (1990), Weidlich (1988;1991;1992)

177 Die konfigurellen Übergangsraten entsprechen: w« =Vjj(t)nj(t) exp[u;(t)-Uj(t)] mit Vj;(t)=v0 (t)e _Dij als Mobilitätsfaktor, der von einer zeit-abhängigen, globalen Mobilität und dem Abstand zwischen den Regionen bestimmt wird. Nutzenfunktionen und Mobilitäten werden durch ei-ne Regressionsanalyse (Methode der kleinsten Quadrate) so bestimmt, dass sich eine optimale Übereinstimmung zwischen w- und den empiri-schen w-- ergibt. Dann wurden die regionalen Nutzen gemäß Uj(t)=Kni(t)-oTij2(t)+8j bestimmt, wobei die Größe einer Region derart berück-sichtigt wird, dass die Konformitätskraft' K den Agglomerationseffekt wiedergibt, dem ab einer bestimmten Einwohnerzahl der 'Sättigungsef-fekt' (die Antikonformitätskraft) entgegenwirkt. Als größenunabhängiges Maß der Attraktivität der Region wird die Präferenzkraft' 5 in Ab-hängigkeit von geeignet gewählten sozioökonomischen Schlüsselgrößen Q definiert. Diese Abhängigkeit von exogenen Größen ermöglicht es, indirekte Ursache-Wirkungs-Beziehungen in selbstorganisierenden Systemen zu finden; Vgl. Weidlich (1991, S.502ff) Für eine ausführliche Darstellung der empirischen Auswertungen siehe Weidlich(1988)

Page 43: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 40

das System simuliert werden können, bleibt jedoch für viele Systeme eine Fiktion; dies wird

insbesondere für die Modellierung von Systemen gelten, bei denen das individuelle Ent-

scheidungsverhalten sofort auf äußere Störungen reagieren kann, ohne dass daraus folgen-

de Verhaltensänderungen direkt mit Kosten verbunden sind, also z.B. für:

4.4.2 Wahlmodelle

So konnte Troitzsch178 die Nichtlinearität von Einstellungsänderungen empirisch untermauern

und auf Grundlage dessen ein selbstorganisierendes Wahlmodell konstruieren, welches obi-

gem Modell sehr ähnlich ist. Hierbei werden die Einstellungen der Wähler in einem zweidi-

mensionalen Einstellungsraum179 zu Wahrscheinlichkeitsdichten einer bestimmten Einstel-

lung aggregiert, welche wiederum als Ordner die nicht-stochastischen Bewegungen dersel-

ben bestimmen. Die Orientierung an den lokalen Dichtegradienten führt dazu, dass eine an-

fangs normalverteilte Population schnell ihre Unimodalität verliert, die Wahrscheinlichkeits-

funktion wird nach kurzer Zeit multimodal:

Abb. 15 :Simulationsergebnisse für in zweidimensionales Modell

178 Vgl. Troitzsch (1991) 179 Diese zwei Dimensionen sind die Hauptkomponenten, die aus Wahlpanels mit neun Skalometerfragen abgeleitet wurden, und in etwa die 'links-

rechts' Dimension (horizontal) und die politische Zufriedenheit (vertikal) wiedergeben; Vgl. Troitzsch (1990;S.507, 528ff)

Page 44: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 41

Der Vergleich mit den empirisch gemessenen Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen zeigt je-

doch die begrenzte Aussagefähigkeit einer solchen Simulation:

Abb. 16: Höhenliniendarstellungen der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen

Höhenliniendarstellungen der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen für die Hauptkomponenten von SkalometerMessungen, Januar 1985 bis

Februar 1988

Page 45: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 42

Das Interessante am Modell ist nach Troitzsch, dass es zum einen das Entstehen multimoda-

ler Verteilungen im Einstellungsraum erklärt180. Zum anderen weise es Ähnlichkeiten zu

Abb.15 insofern auf, dass sich für Gruppen von aufeinander folgenden Monaten die empiri-

schen Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen -ähnlich der Simulation- ebenfalls einem vorüber-

gehend stationären Zustand zuzustreben scheinen, der aber durch benennbare äußere Er-

eignisse geändert wird181. Dabei sind die äußeren Einflüsse viel unspezifischer als die im Mo-

dell durch ein stochastisches Gaußsches Rauschen erzeugten182, womit das System dem

Begriff der Selbstorganisation jedoch wohl eher noch gerechter wird183.

Abschließend lässt sich vermerken, dass der nichtlineare stochastische Modellierungsansatz

trotz aller Unwägbarkeiten die realen Zusammenhänge wenigstens grobkörnig widerzuspie-

geln scheint und so- mit (trotz der entscheidenden Rolle der involvierten Nichtlinearitäten bzw.

gerade wegen dieser) auch ein potentielles Instrument für prognostische Aussagen sein soll-

te. Dies wurde durch eine von Erdmann auf Basis der Mastergleichung sechs Monate vor der

Niedersachsenwahl 1985 gemachte Prognose bestätigt184.

In den bisher angesprochenen, zum größten Teil auf Basis der Mastergleichung konstruierten

Modellen selbstorganisierender Systeme waren ökonomische Beeinflussungsfaktoren entwe-

der gar nicht vorhanden (bzw. sie wurden negiert) oder wurden explizit oder Implizit in die

Randbedingungen, sprich: in die Umwelt des Systems abgeschoben185: Für die Entwicklung

derselben wurden keine Erklärungskonzepte geliefert, da durch eine endogene Erklärung

180 Troitzsch(1990, S.535) 181 z.B.: November 1985 bis März 1986->SPD gewinnt die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein-*...Oktober bis Dezember 1986-

»Bundestagswahl-»...März bis Oktober 1987->BarscheIafräre->.. Vgl. Troitzsch,)990, S.529Tt 182 Dieses dient nur dazu, die Teilchen kontinuierlich in Bewegung zu halten, kann also ähnlich der Varianz von mittleren Obergangsraten inter-

pretiert werden, während die realen diskreten Schocks -und wahrscheinlich nicht nur sie- vorübergehende endogene Änderungen des (der) At-traktors zu bewirken scheinen. Dieser empirisch zu beobachtende Tatsache, dass sich das System immer wieder auf einen Gleichgewichtzu-stand hin zu bewegen scheint, wobei es während dieses Anpassungsprozesses zu einer Veränderung des Attraktors kommt, die wiederum neue Anpassungsprozesse auslöst, kommt im letzten Kapitel dieser Arbeit (Selbstorganisation = Evolution?) aus theoretischer Sicht eine besondere Bedeutung zu.

183 Ein System kann man im Sinne der Synergetik als selbstorganisierend bezeichnen, "if it acquires a spatial, temporal or functional structure without specific interference from the outside. By 'specific' we mean that the structure or functioning is not impressed on the system, but that the system is acted upon from the outside in a non-specific fashion. "; IIaken (1988 , S.11)

184 Vgl. Erdmann(1989). Bei weitem feinkörniger in der Betrachtung als das Modell von Troitzsch ging man von 2 Subpopulationen aus, die eine P-Gruppe (P=“Poor“) und eine R-Gruppe (R=“Rich“) repräsentieren. Sie können sich für eine von drei Parteien (bzw. Verhaltensszuständen) entscheiden. Stammwähler, deren Anteil übrigens zunehmend kleiner wird, werden nicht in das Modell miteinbezogen, sondern die besondere Aufmerksamkeit gilt dem volatilen Teil der Wählerschaft, den Wechselwählern sowie den Mobilisierungsaktivitäten der Parteien. Das Wähler-wanderungsverhalten und damit die Dynamik des Wahlprozesses wird fast völlig analog zum Migrationsmodell (s.o.) durch nur vier 'Ord-nungsparameter' beschrieben, die die jeweiligen Intragruppenwirkungen' durch einen Grad der Kohäsion cP bzw. cr und die jeweiligen Inter-gruppenwirkungen' durch einen Grad der gegenseitigen Sympathie oder Antipathie sP bzw. sr bestimmen. Diese werden im Vergleich mit dem empirisch beobachteten Wählerwanderungsverhalten (Umfragen) mittels der Methode der kleinsten Quadrate ökonometrisch bestimmt [zum traditionellen Kleinste-Quadrate-Schätzverfahren und seiner Anwendung auf stochastische Modellierungen siehe Haag(1984)]. Die dem Mo-dell analoge Gruppenbildung in der empirisch gewonnenen Realität stellt eine zusätzliche Problematik dar, der man beizukommen versuchte, indem man sie und die darauf basierenden Berechnungen nach 11 verschiedenen Kriterien vornahm, "in der Hoffnung, durch Mittelung der Ergebnisse die Fehlerquelle so weit wie möglich eliminieren zu können"; Erdmann (1989, S.259). Die Abweichungen der, mit dem so zuge-schnittenen Modell ein halbes Jahr vorher gemachten Prognosen vom wahren Wahlausgang lagen zwischen 0.1% und 1%: Die Prognose war relativ genau. Erdmann verweist darauf, dass der Mensch immer dazu neigt einen Trend linear in die Zukunft fortzusetzen, auch wenn dies vie-len Sachverhalten -wie dem gezeigten- nicht angemessen ist; Ebenda (S.259ff)

185 1. Gar nicht: So war das Party-Modell ein per Definition soziales Modell.

2. Explizit: In den Migrationsmodellen wurden sozioökonomische Beeinflussungsfaktoren zwar erkannt, ihre Entwicklungen konnten aber nicht antizipiert werden, sondern wurden als exogene Funktionen definiert, die als Randbedingungen die Präferenzkräfte bestimmten.

3. Implizit: In den Wahlmodellen ist die Frage nach der Einschätzung der eigenen Wirtschaftslage in hohem Maße mit dem Maß der politischen Zufriedenheit korreliert.; Vgl. Erdmann(1989, S.258), Troitzsch(1990)

Page 46: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 43

ökonomischer Tatbestände sowohl die Fragestellung als auch das Modell selber hätten aus-

geweitet werden müssen. Diese Ausklammerung ist jedoch bei der abstrakten Modellierung

von Stadt- und Siedlungsstrukturentwicklungsmodellen nicht mehr möglich, da sie langfristi-

gen Wachstum dynamisch beschreiben, der ja durch ständige Rückkopplungen und Wech-

selwirkungen zwischen ökonomischen und sozialen Tatbeständen gekennzeichnet ist.

4.4.3 Siedlungsstrukturmodelle

Insbesondere P.M. Allen hat sich mit der Modellierung derartiger Systeme beschäftigt, wobei

er jedoch nicht versuchte, alle möglichen Vergabelungen (Bifurkationen), welche die System-

entwicklungen durchlaufen können, einheitlich zu erfassen, sondern seine Aufmerksamkeit

auf einzelne historische Entwicklungspfade konzentrierte. So konnte er (um den Preis der

Spezifität) sowohl die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der diese Entwicklungspfade

bestimmenden Variablen viel differenzierter beschreiben als auch deren Anzahl erhöhen186:

Die Komplexität einer sich spezifisch herausbildenden Struktur und die Ähnlichkeit ihres ent-

sprechenden Musters mit anderen möglichen steht gegenüber der Komplexität der möglichen

unterschiedlichen raumzeitlichen Entwicklungspfade im Vordergrund:

Eines seiner Modelle stellt ein Zentrales-Orte-System187 dar und beschreibt das Entstehen

von Zentren -in Form von Städten- aus einer anfangs rein ländlichen Umgebung ohne we-

sentliche wirtschaftliche Interaktionen zwischen den Orten. Die Grundvariablen des Modells

sind die Anzahl der Bewohner und die Anzahl der Arbeitsplätze in jedem Ort; die Akteure des

Systems sind Individuen und Arbeitgeber.

Der einfache Mechanismus des Modells ist ungefähr folgender: Individuen neigen unter dem

Druck der räumlichen Verteilung der Arbeit zur Wanderung, und in Abhängigkeit von einem

vorhandenen Markt, sowie unter Berücksichtigung der Konkurrenz mit anderen Zentren um

den Verkauf einer bestimmten Ware oder Dienstleistung, bieten die Arbeitgeber Arbeitsplätze

an oder reduzieren sie. Mit der Konzentration von Arbeitsplätzen können sich -zusätzlich zu

einer positiven Rückkoppelung zwischen örtlicher Bevölkerung und potentieller Beschäfti-

gungskapazität durch einen Stadtmultiplikator- z.B. aufgrund der gemeinsamen Infrastruktur

Außenwirkungen und Größenvorteile ergeben, die wiederum eine positive Rückkoppelung

bewirken, während durch den Wettbewerb um Raumansprüche eine negative Rückkoppelung

hervorgerufen wird (Abb.17)188:

186 So wurden für das ,im folgenden Abschnitt kurz erläuterte, 'dynamische Wachstumsmodell in einem Zentralen-Orte-System' nicht weniger als 29

Parameterwerte spezifiziert. Vgl. Allen ( 1985a, S.10) 187 Zum Zentralen-Orte-System siehe auch Kuby(1988) 188 Vgl. Allen(1985a, S.4) Die Entwicklung einer Stadthierachie entsteht demgemäß aus der wechselseitigen Interaktion zwischen der Verteilung

von wirtschaftlichen Aktivitäten und der Bevölkerung. Ebenso wie sich die räumliche Verteilung der Beschäftigung an die räumliche Verteilung der Bevölkerung (den Markt) anpasst, verursacht das Muster der Beschäftigungsmöglichkeiten die Änderung der Bevölkerungsverteilung, was wiederum auf die räumliche Beschäftigungsverteilung rückkoppelt, indem Marktschwellen erreicht werden und die örtlichen Dichten in Be-schäftigungszentren zunehmen. Vgl. Allen (1985b, S.3ff)

Page 47: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Abb. 17: Interaktionsmuster städtischer Dynamik

Die Vorzeichen geben an, ob eine bestimmte Verknüpfung eine positive oder eine negative Rückkopplung repräsentiert.

Stochastische Elemente (Nichtdurchschnittsverhalten, Fluktuationen bzw. historische Zufäl-

le),die über die Entwicklung des durch deterministische Gleichungen bestimmten Systems an

Gabelungspunkten entscheiden, sind in dem Modell nicht explizit enthalten, sondern werden

von außen aufgezwungen189.

In einer praktischen Simulation wird das Zusammenspiel von deterministischen und sto-

chastischen Elementen deutlich190: Ausgehend von der stabilen Situation einer auf alle Punk-

te (Orte) gleichverteilten Bevölkerung (N=66 Bevölkerungseinheiten), wobei alle Orte durch

die Zuweisung einer kurzreichweitigen Wirtschaftsfunktion k=l bezüglich der Basisbeschäfti- 189 Vgl. Allen (1985a, S.3) 190 Vgl. Allen (1985a, S.9ff)

Page 48: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 45

gung und der Bevölkerung symmetrisch waren, wurden Fluktuationen in einer bestimmten

Größenordnung (5%) zugelassen. Wenn ein Ort eine gewisse Bevölkerungsanzahl über-

schreitet, erhält er eine längerreichweitige Funktion k=2 und beginnt zu wachsen, wenn ein

ausreichender Markt vorhanden ist. Dieser Prozess setzt sich mit immer längerreichweitigen

Funktionen (hier kmax=4) fort, wobei die Erhaltung derselben immer höhere Marktschwellen

erfordert. Dies führt aber nicht zu einem explosionsartigen endlosen Anwachsen einzelner

Städte, da es durch die negativen Rückkoppelungen einen Maximalwert der zentralen Kern-

dichte gibt. Bei wachsender Kerndichte kommt es zu einer Ausbreitung der Wohnstätten, die

eine Dezentralisierung von Wirtschaftsfunktionen niederer Ordnung nach sich ziehen191. Zu-

sätzlich spielen bei diesen Prozessen die Konkurrenz zwischen den Städten und ihre geogra-

phische Lage eine Rolle.

Die spezifische Entwicklungsgeschichte, über die durch immer neue historische Zufälle ent-

schieden wird, weist in dem beobachteten Zeitintervall verschiedenartige Phänomene auf, wie

singuläres und konkurrierendes Wachstum einzelner Zentren und deren Ausbreitung auf die

Vororte oder auch Dezentralisierung oder sogar vollständigen Zerfall einzelner Zentren.

Dieselben Gleichungen und Parameter ergeben für jeden Computerlauf ziemlich unterschied-

liche Strukturen, da die besonderen, in jedem Lauf stattfindenden, Fluktuationen anderer Art

sind. Obwohl eine gewisse Regelmäßigkeit in Anzahl und Umfang der großen Zentren -eine

Durchschnittsstruktur, die von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird- beobachtbar

ist, ist die jeweilig sich bildende Struktur nicht nur in der geographischen Lage der Städte ver-

schieden192. Die Durchschnittsstruktur ist Ausdruck eines Darwinismus für Stadtzentren, der

das Zufallsverhalten der Individuen zwar zähmt, aber keine einheitliche Ordnung hervorbringt,

die eine Optimierung von jedem Ding im Einzelnen beinhaltet. Er stellt lediglich ein Art Hülle

für mögliche Entwicklungsgeschichten dar, unter denen das System auswählen kann193: Nir-

gendwo ist ein Globaloptimierer in Sicht, der die Verteilung der Aktivitäten im Einzelnen re-

gelt194'195.

191 Lokale wirtschaftliche Funktionen finden dann einen ausreichenden Markt in den Vororten und ziehen so Kunden vom zentralen Kern ab , was

dort sowohl einen Verlust an Arbeitsplätzen als auch an Bevölkerung bedeutet. Hierdurch wird der Maximalwert der zentralen Kerndichte wie-der verlassen; Vgl. Allen (1985a, S.14)

192 Somit ist jede sich herausbildende räumliche Organisation eines Systems nicht ausschließlich und notwendigerweise das Ergebnis in den Glei-chungen enthaltender wirtschaftlicher und sozialer Gesetze, sondern stellt ebenso einen Speicher von bestimmten Abweichungen von diesem durchschnittlichen Verhalten dar Vgl Allen (1985a, S.3)

193 Vgl. Allen(1985b, S.19ff) Es geht hier im wesentlichen nicht um die Erklärung oder Prognose von Einzelereignissen, diese sind meist weniger interessant und auch mangels der notwendigen detaillierten Informationen über die genauen Bedingungen, aus denen sie resultieren, nicht sinnvoll prognostizierbar, sondern vielmehr um generelle Regelmäßigkeiten, um Muster, die die Einzelereignisse in ihrer Gesamtheit bilden. So schreibt Hayek (1972, S.29):"Der Sachverhalt ist der, dass bei der Erforschung komplexer Phänomene die allgemeinen Muster alles sind, was für solche dauerhaften Ganzheiten charakteristisch ist, die den Hauptgegenstand unseres Interesses bilden, denn es gibt eine Anzahl beständi-ger Strukturen, die lediglich das allgemeine Muster gemeinsam haben und sonst nichts."

194 Allen folgert hieraus, dass der Eingriff eines Planers in das System gemäß den von ihm gewählten besonderen Kriterien nützlich sein könnte. (Allen,1985b, S.26) Demgegenüber war man aus der traditionellen Sicht davon ausgegangen, dass eine räumliche Selbstorganisation derart stattfindet, dass durch den Wettbewerb die Produktion verschiedener Produkte räumlich so verteilt wird, dass die gesamten Produktionskosten minimiert werden. [Stellvertretend hierfür ist Thünen's Standorttheorie; Vgl. Schlicht (1986, S.221f)]

195 Das Gleiche gilt für die Entwicklung innerstädtischer Strukturen, die ebenso von Allen (1984) simuliert wurden. Es basiert (ebenso wie das Modell eines Zentralen-Orte-System's) auf einem System interagierender Akteure, die sehr einfache Präferenzen haben und über wenige Krite-rien definiert werden. Die dynamischen Handlungen resultieren in einem Verhalten, das nicht nur die Präferenzen (den Nutzen) der Akteure, sondern auch ihre begrenzten Mittel und die Subjektivität ihrer Wahrnehmung ausdrückt. Es werden 7 Handlungstypen definiert (2 Typen von Einwohnern, 5 Beschäftigungsarten) und die dynamische Interaktion findet zwischen Variablen statt, welche die jeweilige Dichte eines Hand-lungstyps in einer bestimmten Location beschreiben. Eine homogene Anfangsverteilung in einer homogenen Umwelt -eine theoretisch mögliche

Page 49: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Wie im bisherigen gezeigt wurde, scheinen aus der synergetischen Sicht eine Vielzahl der

inneren wie äußeren -psychischen wie materiellen- Strukturen in der sozio-ökonomischen

Umwelt durch die Interdependenz allen Handelns selbstorganisatorisch entwickelt, aufrecht-

erhalten und verändert zu werden, ohne dass sie im engeren Sinne einer Optimierungsbedin-

gung genügten.

Vielmehr wurden sowohl die objektiven Wahlmöglichkeiten als auch die subjektiven Wahr-

nehmungen derselben in starkem Maße vom kollektiven Umfeld beeinflusst und im Wechsel-

spiel von Individuum und Umwelt stabilisiert oder verändert. Durch die wahrscheinlichkeits-

theoretische Formulierung kann auch dem Vorhandensein unvollständiger Information bzw.

der Instabilität von Präferenzen Rechnung getragen, und die Annahme einer Nutzenmaximie-

rung bei invarianten Präferenzen sowie vollständiger Information ex-ante untergraben wer-

den.

Somit stellt sich die Frage, inwiefern, bzw. ob auch im Wesentlichen ökonomische Prozesse

selbstorganisatorisch ablaufen oder von selbstorganisatorisch erzeugten Phänomenen beein-

flusst werden:

'Nicht-Stadt'- würde mit einer instabilen Lösung korrespondieren, die durch kleinste Fluktuationen in eine Serie von positiven und negativen Rückkoppelungen übergeht, welche in einem makroskopisch stabileren, von weiteren Fluktuationen bestimmten, Zustand höherer Ordnung en-det. Durch solche Modelle können bei genügender Ausdifferenzierung die möglichen oder, anhand von Mittelwertgleichungen, die wahrschein-lichsten Auswirkungen z.B. einer Implementierung eines Shopping-Centers oder einer U-Bahn abgeschätzt werden; statt der Optimalität eines Eingriffs (politischen Handlung) könnten die relativen Vorzüge derselben gegenüber vergleichbaren diskutiert werden, und es könnten anhand des Modells Preisstrategien entworfen werden, damit eine eingeführte Handlung, Institution o.ä. einen Schwellenwert überschreitet und sich selbst verstärkt; Vgl. Allen (1984, S.162ff); die Rolle von Schwellenwerten erfährt im Kapitel der Diffusion von Innovationen' eine ausführliche Betrachtung; allgemein zu synergetischer Stadtgeographie siehe Kilchenmann (1985)

Page 50: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 47

5. Ökonomie und Selbstorganisation "Knowledge is truly the mother of all other resources"

E.Zimmermann196

5.1 Normen und Märkte

Die Marktkoordination z.B. stellt eine spezifisch ökonomische Fragestellung dar: Während

Normen Handlungen koordinieren, indem sie bestimmte Handlungen vorschreiben oder ver-

bieten, koordinieren Märkte individuelle Handlungen, indem jede Handlung an die Bedingung

geknüpft wird, dass die von der Handlung negativ Betroffenen zustimmen197, d.h. durch einen

bestimmten von ihnen verlangten Preis entschädigt werden. Aber auch dies setzt ein Mini-

mum von Normen voraus, nämlich die Definierung von property rights198 bezüglich knapper

Ressourcen, welche durch angedrohte Sanktionen gesichert werden. Außerdem wird durch

eine Vielzahl von Normen eine gewaltige Reduzierung von Transaktions- und/oder Informati-

onskosten erreicht199: Ohne eine gewisse zeitliche und örtliche Normierung der Tauschaktivi-

täten sind selbst einfache Marktbeziehungen nicht denkbar; Informationskosten werden ge-

senkt, Qualitätsvergleiche werden erleichtert200.

In diesem Fall verhalten sich Normen und Märkte komplementär zueinander; durch sie kann

aber auch die beliebige Substitution von Gütern aus verteilungspolitischen Gründen ver-

zerrt201 oder aus ethischen Gründen verboten werden202. Somit sind zum einen funktionsfähi-

ge Märkte ohne zahlreiche komplementäre Normen, die sich auf Ort und Zeit des Geschäfts,

auf Qualität und Quantität der gehandelten Güter sowie auf sonstige Vertragskonstitutionen

beziehen, gar nicht denkbar. Zum anderen werden Marktbeziehungen häufig durch Normen

substituiert, um Verteilungsziele oder Allokationseffizienz bei Marktversagen zu erreichen203.

5.1.1 Ökonomische Selbstorganisation auf verschiedenen Zeitskalen

Auch auf einer weniger längerfristigen Zeitskala kann eine synergetische Entstehung ökono-

mischer Strukturen gezeigt werden. So zeigte Schlicht (1986) anhand eines einfachen Me- 196 Zitiert in Swaney (1985, S.853) 197 Vgl. hierzu und zum folgenden Eger (1990, S.98ff) 198 Die selbstorganisatorische Entstehung unter anderem der 'property rights' wurde, ohne dass der Ausdruck Selbstorganisation fällt, von Sudgen

(1989) beschrieben. 199 "Gewohnheiten, Konventionen, Handelsusancen u.a., die sich entweder im Laufe der Zeit entwickelt haben und zum Teil als Rechtsnormen in

die Rechtsprechung und Gesetzgebung aufgenommen wurden, oder Normen, die gerade gegen die herrschende Verkehrssitte durch Rechtspre-chung und Gesetzgebung durchgesetzt werden. So entstanden Marktplätze durch regelmäßige zeitlich und örtlich abgestimmte Zusammenkünfte von Häuptlingen, an festen Grenzpunkten, die sich mit der Zeit zu Märkten ausweiteten. Eine Normierung von Ort und Zeit erleichtert den Aus-tausch von Gütern und Dienstleistungen, wobei z.B. zeitliche Normierungen wie die Ladenschlusszeit sich spontan als handelsübliche Konven-tion herausbilden kann oder aber auch mehr oder weniger durch das Ladenschlussgesetz beeinflusst wird; Vgl. Eger (1990,S99)

200 Beispiele: Entwicklung von Geld, Kreditkarten, bargeldloser Zahlungsverkehr, einheitliche Maße und Gewichte, Preisauszeichnungen, DIN,VDI,VDE, Musterverträge. Letztere werden in der idealisierten Welt der neoklassischen Ökonomik durch die Annahme vollständig spezifi-zierter Verträge, vollständig informierter Vertragsparteien und einer großen Anzahl von Marktteilnehmern als Konfliktelement gegenstandslos. Der Marktpreis enthält alle relevanten Informationen und ist für jeden einzelnen Marktteilnehmer gegeben, ein Verhandlungsspielraum besteht nicht mehr; Vgl. Eger (1990, S.103)

201 Beispiele: Weniger Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel, Subventionen von Medikamenten oder direkt von Produktionsstätten. 202 Beispiele: Drogen-, Waffen-, Kinderhandel oder das weitgehende Verbot der Gentechnik. 203 Zur selbstorganisatorischen Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Normen siehe oben.

Page 51: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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chanismus, wie unter bestimmten Annahmen bezüglich des Sparverhaltens aus einer anfäng-

lichen homogenen Vermögensverteilung auf n Gruppen kleine Störungen in der Vermögens-

verteilung zugunsten einer Gruppe selbstverstärkende Prozesse auslösen, die sich in einer

heterogenen Vermögensverteilung stabilisieren, wobei in dieser das Einkommen aller höher

ist als in einer Einklassenverteilung204.

Auf einer noch kurzfristigeren Zeitskala kann anhand einer solchen heterogenen Vermögens-

verteilung gezeigt werden, wie ein klassisches Marktgleichgewicht von Angebot und Nachfrage

instabil werden kann, und sich in Abhängigkeit von der Dynamik der Konsumentenwahl und

der unternehmerischen Strategien eins von mehreren möglichen neuen Gleichgewichten her-

ausbildet205:

Wenn man von davon ausgeht, dass das Vermögen in der Bevölkerung normalverteilt ist, so

kann man schlussfolgern, dass die ärmere Schicht dem Preis eine relativ höhere Gewichtung

einräumt als der Qualität eines Produkts, während es sich bei der reichen Schicht gerade

umgekehrt verhält206 (Abb.18).

Abb. 18: Unterschiedliche Konsumentenge-wichtungen des Preises eines Gutes

Abb. 19: Die daraus resultierende Existenz von drei Produkten im Markt.

Gäbe es keine Marktschwellen, Skalenerträge, Multiplikatoreffekte oder Moden, so könnte

204 Hierbei geht Schlicht davon aus, dass die Vermögensbildung und Kapitalakkumulation durch die Bildung von Ersparnissen bestimmt ist und

deren Anteil wiederum vom Verhältnis des eigenen Einkommens zum Durchschnittseinkommen bestimmt wird. Der Zusammenhang ist für alle Gruppen gleich: Mit zunehmenden Einkommen wird proportional mehr gespart, die durchschnittliche Sparquote steigt demgemäß, wenn die Vermögensverteilung ungleicher wird. Das Einkommen ergibt sich als Summe von Lohneinkommen und Kapitalverzinsung, wobei Lohnein-kommen und Verzinsung für alle Gruppen gleich ist, und sich Einkommensunterschiede allein aufgrund von Vermögensungleichheiten heraus-bilden; Lohn- und Zinsbildung erfolgt gemäß der relativen Faktorknappheiten: Konsumiert nun eine der Gruppen 'zufällig' etwas weniger und spart etwas mehr, so erhält sie überdurchschnittliche Zinseinkünfte und damit ein überdurchschnittliches Einkommen, was wiederum zu einer überdurchschnittlichen Vermögensbildung führt usw. Dieser Vermögenskonzentrationsprozess geht einher mit einer zunehmender Ersparnis-bildung, die zu einer besseren Kapitalversorgung der Wirtschaft und damit zu steigenden Löhnen und fallenden Zinsen führt. Letztere bremsen den Prozess, da sie die Einkommensdifferenzen einebnen. Diese Einebnung resultiert aus der Annahme, dass die Wirtschaft aufgrund des Pro-duktivitätswachstums durch technischen Fortschritt ein gewisses 'natürliches Wachstum' aufweist. Geht man zusätzlich davon aus, dass die Er-sparnis der vermögendsten Gruppe mit ihren gesamten Kapitaleinkünften identisch ist, so wird in dem Fall, dass das natürliche Wachstum den Zinssatz übersteigt (gleich dem Zinssatz ist) ihr Anteil am Volkseinkommen abnehmen (stagnieren) und der Vermögenskonzentrationsprozess wird in einer heterogenen Vermögensverteilung stabilisiert.; Vgl. Schlicht (1986, S.223ff)

205 Vgl. Allen (1984, S.154S). Eine ausführlichere Beschreibung findet sich in Allen (1982, S.97ff) 206 Hier wird der Einfachheit halber angenommen, dass jeder den gleichen Wert auf Qualität legt, aber verschiedene Individuen dem Preis, den sie

zu zahlen bereit sind, unterschiedliche Bedeutung zumessen; Vgl. Allen (1984, S.154)

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eine unendliche Anzahl von konkurrierenden Produkten existieren, im Extremfall eins für je-

den Konsumenten. Da alle diese Faktoren jedoch in der Realität existieren, können verschie-

dene Marktstrukturen in Abhängigkeit von der Systemgeschichte, den lancierten Produkten,

den Profitstrategien und/oder der Marktgröße entstehen, so dass dieselben, die Dynamik der

Interaktion beschreibenden, Gleichungen sowohl Monopole, Duopole oder Oligopole, wie

auch verschiedene Realisierungen derselben entstehen lassen können. Mit einem Modell Al-

lens, das die Interaktion von bis zu drei gegenseitig substitutiven Produkten (Abb.19) in einem

Markt beschreibt, können z.B. die verschiedenen Auswirkungen der Entscheidung einer Fir-

ma, die Profite zum Zwecke der Erringung eines höheren Marktanteils um die Hälfte zu sen-

ken, gezeigt werden(Abb.20). Die wichtigste Aussage, die durch diese einfache Simulation

getroffen wird ist die, dass "for the same population, having the same 'value System', for the

same technology and the same potential products, the flows of goods observed in a market

can be radically different as a result of the 'history' of the System. Thus the fundamental dia-

gram of 'supply' and 'demand' is misleading because it can only be constructed in retrospect.

It refers to a particular outcome, and the intersection could have been elsewhere"(Abb.21)207 .

Abb. 20: Drei mögliche Ergebnis-se einer Preissenkung

Abb. 21: Verschiedene mögliche Marktgleichgewichte

Das Problem des Unternehmers ist es, Geschwindigkeit ebenso wie die Art der Reaktion auf

seine Maßnahme abzuschätzen, was der zukünftigen Entwicklung des Markts eine irgendwie

probalistische Dimension gibt208. Implizit wird schon in diesen Modellen die neoklassische

Annahme unabhängiger invarianter Präferenzstrukturen und vor allem die Annahme vollstän-

diger Konkurrenz, die zu einem Verschwinden der Gewinne führt, untergraben. Selbst wenn

man erstere (wenigstens für gewisse Zeitintervalle) beibehalten würde, so muss man für letz-

tere doch vermerken, dass das neoklassische Paradigma von (bezüglich der Tauschzeiten, -

207 Allen (1984, S.157) 208 209Auch hier besteht die grundlegende Aussage darin, dass durch die gleichen 'einfachen' Gleichungen für dieselbe Population, dieselbe Tech-

nologie und dieselben Produkte als Resultat der spezifischen Geschichte des Systems völlig unterschiedliche Güterflüsse im Markt, d.h. völlig unterschiedliche Marktgleichgewichte beobachtet werden können. "Thus the fundamental diagram of 'supply and 'demand' is misleading be-cause it can only be constructed in retrospect. It refers to a particular outcome, and the intersection could have been elsewhere." (Allen, 1984, S.157)

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platze und -regeln) hochorganisierten Märkten ausgingen, in denen Gleichgewichtspreise in-

stantan erreicht wurden und leicht beobachtbar waren. Die institutionelle Umgebung der öko-

nomischen Tauschaktivitäten hat sich seitdem aber grundlegend geändert und dezentralisier-

te, hochgradig differenzierte Märkte prägen die Ökonomie209. Diese Entwicklung induzierte

eine zunehmende Abwesenheit von zentralisierter Information, womit Informationsdefizite auf

beiden Seiten des Marktes zu elementaren Fakten wurden

Hieran und an die obige Vorstellung von verschiedenen Preis-Qualitäts-Kombinationen im

Markt anknüpfend entwarf Witt(1985) ein abstraktes Modell, welches einen fortlaufenden Ko-

ordinationsprozess beschreibt, der durch die individuellen Anstrengungen, bessere Tausch-

verhältnisse zu finden, selbstorganisierend erzeugt wird, ohne dass unter Umständen ein Zu-

stand der perfekten Koordination jemals erreicht wird210:

S(upply)-Agenten und D(emand)-Agenten tauschen Güter, wobei jede Tauschhandlung durch

Preis, Qualität und Quantität des getauschten Gutes gekennzeichnet ist und somit als Punkt

in einem dreidimensionalen pqq-Raum beschrieben werden kann. Wenn man nun die Zeit als

zusätzliche Dimension t einführt kann unter der Annahme, dass im beobachteten Zeitraum

keine neuen qualitativ unterschiedlichen Güter auftreten, die Sequenz der Tauschhandlungen

jedes individuellen Agenten als Trajektorie im pqq-t-Raum repräsentiert werden. Da keine

generellen a-priori Tendenzen wie Konvergenz auf einen optimalen Gleichgewichtszustand

angenommen werden, sondern vielmehr simultanes Lernen, Informationssammeln, Experi-

mente, Verhandlungen u.a. komplexe Einflüsse auf die Zeitpfade haben, scheinen die ver-

schiedenen Trajektorien, obwohl subjektiv begründet, für einen außen stehenden Betrachter

mehr oder weniger erratischen Bewegungen zu ähneln.

Gemäß der Idee der Selbstorganisation jedoch legen sich die Agenten unbeabsichtigt gegen-

seitig Zwänge und Sanktionen auf, die sich darin äußern, dass die D-Agenten zu einem be-

stimmten Zeitpunkt t' nicht alle Angebote akzeptieren, von denen sie wissen, sondern nur die,

die sie bezüglich der vorhandenen, unter allen D-Agenten heterogen verteilten Information als

zufrieden stellend bzw. als nutzenmaximierend empfinden211; somit gibt es bei völlig elasti-

schem Angebot eine Obergrenze für den Preis, den ein S-Agent für eine gegebene Qualität

eines Gutes verlangen kann. Ebenso gibt es aber auch eine Untergrenze für den Preis bezüg-

lich einer gegebenen Qualität, die kein S-Agent unterschreiten kann, da dann die Kosten nicht

mehr gedeckt würden212.

209 21 "Vgl. Witt (1985, S.575ff). "Thus the heuristic basis of the neoclassical to the coordination problem has lost relevance simply through the

changes, that have occurred in the natural market. It's dominant concern, the demonstration of perfect coordination in equilibrium-the fruit of several fictious assumptions- is except in a partial sense in organized markets, itself a fiction and, apparently, it is not possible to restate it more realistically " Ebenda (S.576)

210 Wie Witt (1985, S.576f) anmerkte: "...a problem shift must be made...towards not only a dynamic instead of static analysis but also towards a theory of ongoing change instead of convergence to equilibrium. A way must be found to characterize less than perfect coordination and to show how it is sustained to varying degree by the self-organisation taking place in markets."

211 "..acceptance as well as quantity demanded will systematically vary with price and quality observed in the sense of some probalistic version of the law of demand....this simple property is already sufficient to impose coordinating constraints on the efforts of the s-agents."(\Vitt,1985, S.578)

212 213Diese kann für jeden S-Agenten unterschiedlich sein, da es verschiedene Produktions-, Verkaufs- und Organisationsmethoden gibt.

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Diese Grenzen schließen einen Korridor ein, in dem sich jeder Agent aufhalten muß, um zu

überleben. Da auch unter den S-Agenten die Information heterogen verteilt ist, und da sich

unter zufälligen Einflüssen oder durch systematische Änderungen im Verhalten der anderen

Agenten die Grenzen andauernd verändern können, wird es für den einzelnen Agenten

schwierig, ein für ihn zufrieden stellendes oder sogar das am meisten gewünschte pqq-

Verhalten zu identifizieren. Daher wird zwar viel experimentiert werden, die meisten werden

sich aber wahrscheinlich schon früh für eine mögliche, sie zufrieden stellende pqq-

Kombination entscheiden, statt nach einem -für sie unter unvollständiger Information in einer

sich ändernden Verhaltensumwelt schwer abschätzbaren- Optimum zu suchen. Wenn ein S-

Agent aber plötzlich durch sich ändernde Grenzen aus dem Korridor geworfen wird, droht ihm

der Bankrott, da pqq-Pfade außerhalb des Korridors zum einen durch interne Selektion (die

Suche nach und die Substitution durch überlegenere Strategien), zum anderen durch externe

Selektion (Sanktionen durch die Geldgeber) verhindert werden. Hierdurch wird garantiert,

dass sich selbstorganisierend ein gewisses Maß an Koordination im Markt entwickelt213.

Die Annäherung an bzw. die Überschreitung der Obergrenze durch einen S-Agenten kann bei

ihm zum einen zu Suchaktivitäten führen, die es ihm unter Umständen ermöglichen, im Rah-

men der bekannten (objektiven) Möglichkeiten einen subjektiv neuen überlebensfähigen pqq-

Pfad zu finden.

Zum anderen hat der Mensch die außergewöhnliche Fähigkeit, vorher nicht bekannte Mög-

lichkeiten zum Handeln zu entdecken und möglicherweise in Form von Innovationen zu reali-

sieren: Hierbei muss zwischen Prozessinnovation und Produktinnovation unterschieden wer-

den. Erstere wird durch den Markt diffundieren und so den Korridor verändern, was einen

zeitweise dekoordinierenden Effekt zur Folge hat. Sowohl die koordinierenden, als auch die

dekoordinierenden Kräfte wirken zur gleichen Zeit, womit für das Modell214 gilt:

213 Die neoklassische Idee der perfekten Koordination stellt somit den in diesem Ansatz sehr unwahrscheinlichen Fall dar, dass keine Lernprozesse

mehr stattfinden, sondern die Agenten auf beiden Seiten über vollständige Information (D-Agenten) bzw. ein gemeinsames Wissen über die 'op-timalen' Produktions-, Organisations- und Vertriebstechniken (S-Agenten) verfügen und derart obere und untere Grenze zusammenfallen; Vgl. Witt (1985, S.581) Das jedoch auch dieses nicht ausreicht, um eine eindeutige optimale Preis-Qualitäts-Kombination zu bestimmen, wird oben deutlich, wo durch Vermögens- bzw. Einkommensunterschiede dem Preis bzw. der Qualität je nach individuellem Vermögen bzw. Einkommen eine unterschiedliche Gewichtung zugemessen wird. Von durch innerhalb des betrachteten Zeitraums stattfindende Einkommens- bzw. Vermö-gensumverteilungen induzierte Veränderungen oder von Präferenzenänderungen durch andere Abhängigkeiten ganz zu schweigen.

214 Interessant an Witt's Modell ist die mathematische Formulierung, da zum einen gezeigt wird, dass nichtlineare Beziehungen auch aus einer ökonomischen Sicht bei der Betrachtung von ökonomischen Anpassungs- und Entwicklungsprozessen in der Zeit nicht negiert werden können, womit eine abstraktere verhaltenstheoretische Untermauerung z.B. bei der Untersuchung von ökonomischen Zeitreihen (deterministisches Chaos?) geleistet wird; zum anderen wird aber auch die Begrenztheit solcher (mathematisch) 'einfachen' Modelle deutlich: Man nimmt an, dass es in dem betrachteten Zeitraum eine konstante Anzahl Finnen gibt, da der vollständige Rückzug von Firmen aus dem Markt durch den ständigen Eintritt neuer Firmen kompensiert wird. Die relative Häufigkeit der Firmen, außerhalb des Korridors zu sein sei xt, die innerhalb zu sein nt=l-xt. Der Koordinationseffekt beschreibt die Sucherfolge, die auf beiden Seiten des Marktes auftreten und sich einerseits in einem Ab-sinken der von den Nachfragern akzeptierten Obergrenze äußert. Hierdurch werden mit einer gewissen relativen Häufigkeit ß Firmen, die sich innerhalb des Korridors befanden aus diesem gedrängt. Andererseits werden mit einer relativen Häufigkeit a die Sucherfolge der sich außer-halb des Korridors befindlichen Firmen belohnt, indem sie einen, für sie 'möglichen', subjektiv neuen, pqq-Pfad finden, der sich innerhalb des neuen Korridors befindet. Somit gilt: xt+i =x»-ctxt+(l-X()ß <=>xt+|=(l-a-ß)xt+ß. Unter der fiktiven Annahme ß=0 (er kann auch als ein exoge-ner politischer Faktor interpretiert werden, der die Profitmargen sinken lässt) werden alle Firmen neoklassisch zu einer - dann allen bekann-ten- optimalen Produktions-, Organisations- und Vertriebsmethode übergehen und alle Nachfrager das so produzierte optimale Preis-Qualität-Verhältnis wählen. Wird der Dekoordinierungseffekt miteinbezogen, innovieren alle Finnen mit einer gewissen relativen Häufigkeit p, so dass unterschieden werden kann in Firmen (i) außerhalb des Korridors, die innovieren, pn bzw (ii) nicht innovieren, (l-p)x ; (iii) innerhalb des Kor-ridors die innovieren, pn bzw. (iv) nicht innovieren, (l-p)n. Per Annahme sind (i) erfolgreich, stellen aber einen erhöhten Wettbewerb für (iv) dar, wobei dieser Austritte letzterer aus dem Korridor mit der relativen Häufigkeit px nach sich zieht. Gleiches gilt für (iii), wobei Austritte von (iv) mit der relativen Häufigkeit pn die Folge sind. Das Zusammenwirken beider Effekte kann also durch die additive Verknüpfung beider mit xt+1=(l-a-ß)xt+ß -pn+pxt(l-p)nt+pnt(l-p)nt beschrieben werden. Nimmt man nun an, dass p= xt eine gute Näherung darstellt, da so die relative

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"The full effect of the self-organizing forces established unintentionally by the interacting ac-

tivities of the agents in the market is composed of two simultaneous but opposed tendencies:

a coordinating one, forcing the s-agents to keep to their shifting corridor...; and a de-

coordinating tendency causing the bounds of the corridors to shift due to innovative activities

which in turn seem to be motivated Chiefly by the s-agents' attempt to cope with present or

possible future shifts of the bounds of profitable action"215.

5.1.2 Selbstorganisation und Prozessinnovationen

Die Modellierung der Entwicklung eines betrachteten Marktes durch Prozessinnovationen und

somit des selbstorganisatorische Wechselspiels zwischen Neuerung und Anpassung wurde in

so genannten Vintage-Modellen versucht, wobei den Selektionsmechanismen im System und

damit der Produzentenseite das hauptsächliche Augenmerk gilt. Die Analogie zur Biologie

liegt nahe, da sie die Evolution eines Systems als offenen, endlosen Prozess sieht, der durch

die Kreation von Vielfalt getrieben wird, wobei letztere ihren Ursprung hauptsächlich in sto-

chastischen Mechanismen hat216. Die Richtung der Evolution äußert sich in einem gewissen

Sinne in der Selektion der überlegenen Typen aus heterogenen Populationen217.

Die grundlegende mathematische Struktur der meisten ökonomischen Selektionsmodelle wird

von einer Gleichung beschrieben, die als Replikator-Dynamik bezeichnet wurde:

x^ ist der Anteil einer Spezies i in der betrachteten Population, Ej_ ist auf die Reproduktions-

fähigkeit bezogen, und <E> gibt die durchschnittliche Reproduktionsfähigkeit wieder. Die Häu-

figkeit bestimmter Spezies wächst unterschiedlich, je nachdem ob sie über oder unter der

durchschnittlichen Reproduktionsfähigkeit liegt. Betrachtet man konstante E^, so wird eindeu-

tig die Spezies mit der größten Reproduktionsfähigkeit selektiert. Die interaktive Komplexität

kann einen Schritt weiter in die dynamische Betrachtung miteinbezogen werden, indem man

zusätzliche dynamische Variablen y einführt und zeitverzögerte Werte derselben annimmt, mit

Häufigkeit von Innovationen mit der Anzahl von Firmen außerhalb des Korridors steigt, so erhält man xt+1=(2-a-ß )xt-3xt

2 +xt3- ß und schon

hat man eine nichtlineare Gleichung anhand derer je nach Wahl der Parameter verschiedenartige Phänomene aufzeigen kann (siehe determi-nistisches Chaos);Vgl. Witt (1985, S.585ff)

215 Witt (1985, S.5839 Das Auftreten von Prozessinnovationen und ihre dekoordinierenden Wirkungen stützen die Behauptung, dass eine simultane Konvergenz zum Gleichgewicht extrem unwahrscheinlich ist. Der neoklassische Zustand perfekter Koordination wird aus dieser Sichtweise nur erreicht, wenn einerseits die Differenzierung der Güter und die Vielfalt der Märkte klein genug ist, damit die Agenten simultan einen Zustand der perfekten Koordination erreichen und andererseits innovative Aktivitäten gar nicht vorhanden sind; Vgl. Witt (1985.S.585) Siehe zu diesen Fragestellungen auch Alchian (1951).

216 Trotzdem ist die "Analogie nicht ohne weiteres zu ziehen. Siehe hierzu Faber (1990, S.43ff), Schnabl (1990), Matthews(1984) 217 Vgl. hierzu und zum folgendem Silverberg ( 1988, S.534ff)

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Diese Art von System ist notwendig, um den zahlreichen Time-Lags gerecht zu werden, die

im allgemeinen bei ökonomischen Anpassungsprozessen auftreten. Bei dem hier vorgestell-

ten Modellierungsansatz ökonomischer Entwicklung in einem Markt, der sich in den 'Jahr-

gangsmodellen' niederschlägt, werden zum einen die Jahrgangsstruktur des Kapitals und zum

anderen (vor allem in weiterentwickelten Modellen) die zeitverbrauchende Diffusion der In-

formationen über die best-practice (für die Produktion des auf dem Markt nachgefragten Gu-

tes) als Hauptverursacher dieser Time-Lags gesehen. Die Jahrgangsperspektive gibt wieder,

dass alle getätigten Investitionen meistens 'sunk-costs' darstellen218, d.h. dass keine Firma,

die -gewissen zu modellierenden Suchstrategien folgend oder auch rein zufällig- Informatio-

nen über eine bessere als die angewandte practice erhält, ihren gesamten Kapitalstock in-

stantan auf diese übertragen kann219. Die Annahme, dass die Information über die best-

practice nur langsam diffundiert, führt dazu, dass die Firmen sich ihr nur Schritt für Schritt auf

einem irgendwie zufälligen Pfad nähern (können)220, wobei der Anpassungsprozess an die

best-practice von der Ebene der Information über die Ebene der Investition bis zur Ebene des

Kapitalstocks immer weiter verzögert wird. Nun ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die

best-practice-"frontier does not stand still and wait for average practice to catch up, but is

rather the carrot dangling in front of the donkey (the stick presumably being bankruptcy)"221.

Sie ist vielmehr Gegenstand kontinuierlichen bzw. diskontinuierlichen Wandels.

Da die Diffusion der Information über neue Prozessinnovationen zeit braucht, werden die Fir-

men nie unter vollständiger Information entscheiden können und ,vor allem wenn die Entwick-

lung der Technologie-Trajektorien (Produktivitäten) nicht eindeutig vorhersehbar ist, auch kei-

ne optimalen Firmenstrategien bezüglich der Suche nach besseren Technologien, Forschung

& Entwicklung, Investition, Preis usw. entwerfen können. Vielmehr werden sich die mehr oder

weniger stochastischen Suchvorgänge hauptsächlich am, mit den anderen erzeugten, Durch-

schnittsverhalten orientieren und zwar in Form einer Größe, die als durchschnittliche Wettbe-

218 Rigider drückte dies Johansen (1987, S.11) aus: "Once an investment in a new vintage has been made it represents sunk costs." 219 Diese Vorstellung des 'körperlosen' Wandels, also der kostenlosen Transformation des Kapitalstocks von der 'alten' zur 'neuen' Technologie, lag

z.B. den Modellen von Nelson (1976) zugrunde. 220 Diese Schlussfolgerung entspricht der in Witt's Modell gemachten ad-hoc-Annahme. Zum Versuch einer Formalisierung des Zusammenhangs

zwischen "Rational Choice and Erratic Behaviour" siehe Benhabib (1981) in leichnamigen Artikel 221 Silverberg (1988, S.543)

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werbsfähigkeit beschrieben werden kann. Die Satisfying-Hypothese wird hier gegenüber der

Optimizing-Hypothese eine verhaltenstheoretisch stabilere Basis liefern. Die subjektiven Er-

wartungen, bezüglich der weiteren Entwicklung des Marktes bzw. der Firma im Markt sowie

bezüglich der Sucherfolgswahrscheinlichkeiten, sind ein weiterer entscheidender Faktor.

Alles in allem führt das Wechselspiel von makroskopischer und mikroskopischer Ebene, von

stochastischen und deterministischen Elementen zur selbstorganisatorischen Entwicklung

und Veränderung des Zustands der Ordnung (der Struktur)222.

Die Modellierung der komplexen, von positiven und negativen Rückkopplungen bestimmten

Dynamik des aufgezeigten Systems wurde von verschiedenen Autoren in Angriff genommen.

Hierbei standen entweder die Selektionsmechanismen im Technologien-Raum oder die Struk-

turierungsprozesse auf der Firmenebene im Vordergrund. Ein von Nelson223 entworfenes Mo-

dell ist im Firmenraum angesiedelt, womit auch die explizite Behandlung verschiedener Fir-

menstrategien ermöglicht wird; es weist die Grundstruktur eines Markov-Prozesses auf. Dass

jede Simulation durch diese Formulierung eine von vielen möglichen Geschichten aufzeigt,

schließt jedoch eine analytische Behandlung nicht aus. So wurde dieses Modell von Monta-

no224 in den Technologien-Raum übertragen und auf Basis der Mastergleichung wurde die

Entwicklung der Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Verteilung von Technologien zu einem

bestimmten Zeitpunkt vorzufinden, formuliert. Auch Iwai225 kombinierte ein Selektionsmodell

mit einer kontinuierlich fortschreitenden best-practice.

Durch die in den letzten Jahren aufgekommenen Jahrgangsmodellen schließlich wurde der

evolutionäre Prozess auf der Marktebene (Entwicklung der Marktanteile) von dem auf der

Firmenebene (Entwicklung der Jahrgangsstruktur des Kapitalstocks) getrennt. Beispielhaft

hierfür ist ein Modell von Silverberg226. Sehr detailliert wird eine dynamische Struktur aufge-

baut, die die Preise und Quantitäten in einer vom Wettbewerb angetriebenen Industrie be-

stimmt und über sie den eingebetteten und ständig fortlaufenden technischen Wandel be-

schreibt.

Firmenmarktanteile sind Objekte eines Selektionsmechanismus, der auf Ungleichheiten in der

Wettbewerbsfähigkeit beruht, wie sie auf der Marktebene in Termen der Preise und der Lie-

ferverzögerungen wahrgenommen werden227. Kosten-, Produktions-, Preis-, Kapazitäts- und

Lieferverzögerungsvariablen der individuellen Firmen ändern sich in der Zeit in Reaktion auf

222 "The theory of self-organization is concerned with the coupled dynamics of Subsystems which interact to produce a 'field' at the macro level,

and in turn are themselves influenced by this very field"; Silverberg(1988, S.117). 223 Vgl. Nelson (1976) 224 Vgl. Montano (1980) 225 Vgl. Iwai (1984a; 1884b) 226 Vgl. Silverberg(1987) 227 "In essence this is a dynamical description of 'imperfect' competition“; Silverberg (1988, S.548). Die Evolution der Marktanteile wird über ein

System von Differentialgleichungen beschrieben, wobei die Veränderung des Marktanteils in der Zeit abhängig ist von dem Verhältnis (der Dif-ferenz) der individuellen Wettbewerbsfähigkeit einer Firma und der durchschnittlichen Wettbewerbsfähigkeit in der Industrie, dem vorherigen Marktanteil und einem Koeffizienten, der die Reaktionsgeschwindigkeit der Industriestruktur auf Ungleichheiten in der Wettbewerbsfähigkeit einfangt. Im perfekten Wettbewerb würde er einen unendlichen Wert haben; Vgl. Silverberg (1987). Zum Finnenverhalten in imperfekten Märk-ten siehe auch Witt (1986)

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ihre Investitionsstrategien, das routinemäßige Entscheidungsverhalten228 und ihren Erfolg im

Markt.

Der eingebettete technische Fortschritt wird durch die Jahrgangsstruktur des Kapitalstocks

jeder Firma repräsentiert. Zu jedem Zeitpunkt muss die Firma entscheiden, wie viel sie in

neue Produktionsanlagen investiert (Bruttoinvestition) und wie viel sie von ihren alten Produk-

tionsanlagen abstößt. Die Stückkosten ergeben sich aus dem Durchschnitt über alle Jahrgän-

ge.

Legt man nun exogen einen Zeitpfad für den Wandel der best-practice an, können verschie-

dene Investitionsstrategien getestet werden.

Jedoch muss sich auch dieses Modell trotz seiner Komplexität auf reine Prozessinnovationen

beschränken und kann Qualitätswettbewerb nicht wiedergeben, "since it is not obvious which

economic decisions determine the quality level...In addition after a certain point is reached,

quality differences transform themselves into the emergence of a new market and should per-

haps better be regarded as a form of product innovation or differentiation"229

Produktinnovationen widersprechen z.B. der oben in Witt's Modell gemachten Annahme einer

gegebenen Anzahl von qualitativ unterschiedlichen Gütern und werden den Charakter des

Marktes selber verändern. So ist Witt's Modell nur bis zu einem fiktiven Zeitpunkt T gültig, zu

dem eine solche auftritt. Weder kann vorhergesagt werden, wann genau dies sein wird, noch

welcher Art diese Innovation sein wird, da es unglücklicherweise der Charakter von Neuheiten

ist, dass sie ihre Natur nicht offenbaren, bevor sie auftauchen und erprobt werden230. Genau

mit diesen und ihrer Verbreitung in der Gesellschaft, die oftmals zur Entstehung eigener

Märkte führt, befassten sich in jüngerer Zeit eine Vielzahl von Autoren. Der Kern der ver-

schiedenen Herangehensweisen liegt wohl in der Betrachtung des Phänomens der sich

selbstorganisierenden:

62

5.2 Diffusion von Innovationen231

Bedeutende Produktinnovationen und auf diese zurückführbare Prozessinnovationen haben

oft Systemcharakter, bestehen also aus einem Bündel komplementärer Güter- und Dienstleis-

tungen und treten zumindest in der Anfangsphase meist in konkurrierenden Varianten auf232.

228 Diese werden gemäß gegenwärtiger Geschäftspraktiken modelliert: Firmen passen ihre Produktion an, um eine erwünschte Lieferverzögerung

aufrechtzuerhalten. Hierbei spielen ihre Erwartungen bezüglich der zukünftigen Entwicklung eine große Rolle. Die Preise werden den Kosten via mark-up angepasst, wobei in Relation zum Industriedurchschnitt Konzessionen gemacht werden müssen.

229 Silverberg(1987, S.121) 230 Trotzdem sind die von Witt geäußerten Grundaussagen bezüglich des selbstorganisierenden Marktprozesses hierdurch nicht ungültig: Es gibt in

den Märkten im Vergleich zur perfekten Koordination Enttäuschungen, Reibungen und Effizienz Verluste. Im Großen und Ganzen arbeitet die-ser Prozess aber gut, allgemeine Gewinne durch den Handel und die Arbeitsteilung steigern die Wohlfahrt und in einem weiteren Sinne werden die Verluste, die durch imperfekte Koordination entstehen durch die sozialen Gewinne, die aus Innovationen gezogen werden, überkompen-siert; Vgl. Witt (1985, S.585)

231 Insbesondere Arthur (1987,1988a, 1988b, 1989) machte sich um die Herausbildung der Diffusionsforschung verdient, indem er eine Vielzahl der, im Zusammenhang mit Diffusionsprozessen auftretenden Phänomene einheitlich klassifizierte und -als einer der ersten- einfache aber ein-leuchtende mathematische Analogien in Form von Markov-Prozessen formulierte.

232 Beispiele hierfür sind die anfängliche Konkurrenz zwischen VHS und Betamax (in Deutschland kam sogar noch das 'Video2000-System dazu),

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Der Markterfolg hängt letztlich weniger von den Eigenschaften des zentralen Produktes (der

Hardware-Komponente des Systems), als vielmehr von der sachlichen, räumlichen und zeitli-

chen Verfügbarkeit komplementärer Güter- und/oder Dienstleistungen (der Software-

Komponente des Systems) ab233. Obwohl dieses Hardware-Software-Paradigma insbesonde-

re bei Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien prägend ist, kommt es wohl

im Prinzip bei allen Investitions- und dauerhaften Konsumgütern zum Tragen."234 Der Innova-

tionserfolg hängt bei ihnen oftmals nachhaltig davon ab, wie schnell es den Anbietern gelingt,

einen hinreichend großen Käuferkreis zu finden, da sich selbst verstärkende Mechanismen

(also positive Rückkoppelungen) beim Diffusionsprozess eine entscheidende Rolle spielen.

Solche Mechanismen können verschiedene Ursachen haben, die man als direkte und indirek-

te Anwenderexternalitäten bezeichnen kann235:

Indirekte Anwenderexternalitäten entstehen, wenn

statische Skalenerträge (hoher Fixkostenaufwand für F&E, konstante oder variable Stück-kosten in der Produktion)236 und/oder

dynamische Skalenerträge (Lerneffekte: bei Vorherrschen einer Innovation wird selbige vermehrt Objekt des Lernens und der Verbesserung) in Form von Preissenkungen, bzw. Qualitätssteigerungen bei konstantem Preis an die Verbraucher weitergegeben werden.

Direkte Anwenderexternalitäten, die auch als Koordinationseffekte (Vorteile dadurch, dass die

anderen Agenten das gleiche Produkt kaufen) bezeichnet werden, resultieren

(iii) bei Kommunikationssystemen aus dem direkten Wert des Gutes Kommunikation (der Nutzen steigt direkt mit der Anwenderzahl)237 und/oder aus der

(iv) nachfrageseitig bedingten Ausgestaltung der Komplementärmärkte (eine Zunahme der Anwenderzahl führt zu einem sachlich und räumlich vielfältigerem Angebot der Software-Komponenten)238. Außerdem spielen (v) Erwartungen bezüglich der weiteren Entwicklung des Marktanteils (bei Vorherrschen einer Innovation glaubt man an eine weitere Vorherr-schaft desselben) als auch bezüglich der weiteren Entwicklung der Produkteigenschaften eine Rolle239.

zwischen benzin- und wasserkraftgetriebene Fahrzeugen, zwischen gas- und wassergekühlten Kernreaktoren, usw.; Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen Arthur (1988a; 1988b;1989), Katz (1985, 1986)

233 So ist der Misserfolg des Wasserkraftantriebs bei Fahrzeugen auch damit zu erklären, dass die Wasserreservoirs entlang der Straßen, sozusa-gen die Tankstellen, von Amts wegen verboten wurden. Dieses Defizit auf dem Komplementärmarkt, im Zusammenhang mit "a series of trivial circumstances .pushed several key developers intro petrol... .and by 1920 had acted to shut steam out"; Arthur (1989, S.127)

234 Vgl. Woekener (1992b, S.1) 235 Vgl. Woekener (1992b, S.2) 236 Solche treten z.B. bei der Softwareentwicklung in hohem Maße auf. Die Entwicklung derselben ist ob der Komplexität der Programme sehr

kostenintensiv, die Vervielfältigung eines einmal entwickelten Programms jedoch macht nur noch einen Bruchteil der Kosten aus. 237 Beispiele hierfür sind Faxgeräte, Videokonferenzen, Mobiltelefone, Btx, u.ä. 238 Solche Komplementärgütermärkte spielen insbesondere bei der Unterhaltungselektronik eine große Rolle, wie z.B. beim Aufkommen der CD

eindrucksvoll zu beobachten war, welches zu einem synchronen Wegbrechen des Komplementärgütermarktes für Analog-Schallplatten führte. Gleiches gilt für den Software-Markt, aus eben dem ja der Ausdruck der 'Softwarekomponente' abgeleitet wurde. Aber auch nicht so offensicht-liche Komplementärgütermärkte, wie z.B. das Service-Netz von Autofirmen, sind, z.B. beim Kaufeines Autos dieser Firmen, oftmals wichtige Faktoren bei der Entscheidungsfindung.

239 Erwartungen repräsentieren eine psychologische Komponente, die im folgenden stochastisch-deterministischenModell nicht explizit antizipiert wird (werden kann). Hingegen findet sie in der kritischen Masse dadurch Ausdruck, dass die Erwartungssicherheit zu einem kollektiven Senken der individuellen Schwellenwerte führt[siehe Kritisch-Massen-Modelle').

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Somit steht der potentielle Nutzer sowohl einem netzwerkspezifischen Informationsproblem

als auch einem produktspezifischen Informationsproblem gegenüber; er muss also praktisch

immer unter Unsicherheit entscheiden, bzw. seine Entscheidung immer mit Blick auf jene der

anderen treffen240. Bei nicht zu geringer Komplexität des Gutes ist die Diffusion von Innovati-

onen also immer, im Falle von Netzwerkexternalitäten aber ganz besonders, auch ein sozialer

Prozess.

Ein Paradebeispiel ist der Kampf zwischen den Videosystemen VHS und Betamax, bei dem

eine leichte Führung des einen Systems zu einer Verbesserung der Wettbewerbsposition und

damit zu einem weiteren Steigen des Marktanteils führte. Aus synergetischer Sicht führte eine

kleine Fluktuation bei anfangs prinzipiell gleichen Marktanteilen dazu, dass ein System, näm-

lich VHS (obwohl graduell qualitativ schlechter als Betamax) aufgrund ausreichend starker

Rückkoppelungen schließlich annähernd 100% Marktanteil hatte, während das andere völlig

vom Markt verschwand241. Dieser typische Fall weist wie alle Diffusionsprozesse konkurrie-

render Innovationen, bei denen überproportional wachsende Konformitätskräfte entstehen

und so die eine oder andere Innovation letztendlich den gesamten entstehenden Markt für

sich beansprucht, vier Eigenschaften auf242:

MULTIPLE GLEICHGEWICHTE- mindestens zwei letztendlich erreichte Marktanteils-Lösungen sind möglich. Das Ergebnis ist weder eindeutig noch vorhersehbar.

MÖGLICHE INEFFIZIENZ- obwohl die eine Innovation der konkurrierenden technisch ( bezogen auf das Preis-Qualitätsverhältnis und/oder auf die Weiterentwicklung) überlegen ist, kann sie, wenn sie im Anfangsstadium des Diffusionsprozesses Pech oder einen schlechten Marketing-Chef hat, ins Hintertreffen geraten; die sich durchsetzende Innova-tion ist nicht wohlfahrtsmaximal243 .

LOCK-IN- wenn erst einmal eine stabile Lösung, z.B. in Form einer eindeutigen Beherr-schung des Marktes durch VHS, erreicht worden ist, ist es für den Verlierer schwer, die vom dominanten System gewonnenen Vorteile auszugleichen, und wieder in den Markt zurückzukehren244.

240 Abstrakt ausgedrückt gesellen sich zu den horizontalen Informationsdefiziten bezüglich dem gegenwärtigem Stand der Dinge auch noch vertika-

le Informationsdefizite bezüglich dem zukünftigem Stand der Dinge. 241 Vgl. Arthur (1988a, S.10); dieses Beispiel wurde auch von Katz (1986, S.823ff) aufgegriffen. 242 Schon hier wird die Art der Analogiefindung zu synergetischen Prozessen deutlich. Bei einer anfänglich symmetrischen Anfangsverteilung

werden durch Fluktuationen sich selbstverstärkende Prozesse in Gang gesetzt und die Symmetrie wird gebrochen , eine 'Ordnung durch Fluk-tuation' entsteht. Oftmals sind die positiven Rückkoppelungen so stark, dass der (die) Konkurrenten) mit der Zeit völlig aus dem Markt ge-drängt werden und die, mehr und mehr 'selektive Vorteile' gewinnende Technologie schließlich die gesamte entstehende Nische' (sprich: den gesamten Markt) allein besetzt. In Anknüpfung an obige Betrachtung der Diffusion von Innovationen als sozialen Prozess heißt das, dass die Konformitätskraft immer weiter steigt, während Antikonformitätskräfte aufgrund ökonomischer und sozialer Zwänge völlig verschwinden: Ein oder mehrere Randgleichgewichte bilden dann den Attraktor, auf den die Entwicklung konvergiert.

243 So soll der 'Verlierer' im Kampf der Videosysteme, Betamax, dem 'Gewinner' ,VHS .technisch überlegen sein. Gleiches gilt für den 'Verlierer' im Kampf der Nuklearreaktorentechnologien, nämlich den gasgekühlten Reaktor. Obwohl eigentlich technologisch unterlegen, haben sich mit leichtem Wasser gekühlte Reaktoren durchgesetzt. Dies lag in diesem speziellen Fall daran, dass die Entwicklung letzterer anfangs in den 50er Jahren, da ihre Konstruktion kompakter war und sie so in atomgetriebene U-Boote 'passten', von der US-Navy gefördert wurde. Die so ent-standenen Lerneffekt und Konstruktionserfahrungen führten dazu, dass sie einen uneinholbaren Vorsprung am Markt gewannen, der dazu führ-te, dass heutzutage praktisch 100% aller US-Atomkraftwerke mit leichtem Wasser gekühlt werden; Vgl. Arthur (1989, S.126).

244 Das solche Lock-In's nicht nur durch die, durch das dominante System gewonnenen, ökonomischen Vorteile verursacht sind, sondern oftmals auch ihre Entsprechung im mentalen Bereich haben, darauf weist ein Lock-In hin, der sich auf ein Gut bezieht, das nun nicht gerade System-charakter hat, nämlich Cola. Obwohl Pepsi, wenigstens beim privaten Einkauf, räumlich und zeitlich genauso verfügbar ist wie Coca-Cola, außerdem billiger ist und eine von vielen als ansprechender empfundene Werbung macht, gelingt es ihr seit Jahren nicht, einen entscheidenden Schritt aus ihrem Nischendasein zu tun. Ein anderes Beispiel ist das Tastaturschema 'QWERTY . Interessanterweise stellte die Durchsetzung desselben in der Vergangenheit einen von mehreren möglichen relativ effizienten Lock-In's dar, da durch seine Anordnung die Gefahr einer

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Seite 58

PFADABHÄNGIGKEIT- Die frühe Entwicklungsgeschichte der Marktanteile, die zum Teil eine Folge von kleinen Ereignissen und historischen Zufällen ist, kann ausschlaggebend dafür sein, welche Lösung letztendlich obsiegt245.

Meistens, wenn der „Pay-Off“ einer Handlung mit der Anzahl der dieselbe Handlung Wählen-

den steigt, können multiple Gleichgewichte entstehen. Derartige multiple Gleichgewichte wur-

den in verschiedenen ökonomischen Bereichen lokalisiert, wie z.B. der internationalen Han-

delstheorie246, der räumlichen Ökonomie247 oder der industriellen Organisation248. Jedoch kon-

zentrierte man sich hier vor allem auf die Frage, ob multiple Gleichgewichte vorstellbar sind,

weniger auf die Frage, wie die Existenz derselben durch eine akzeptierte Dynamik erklärt

werden kann.

Aus der synergetischen Sicht kann man die verschiedenen stabilen Gleichgewichte als lokale

Minima von Potentialfunktionen interpretieren. Sie sind untereinander durch Potentialbarrieren

getrennt, für deren Überwindung eine je nach Stärke der Barriere ausreichende Menge exo-

gen aufprallender Energie benötigt wird249 (Abb.21). Anschaulich lässt sie sich z.B. anhand

des Party-Modells als die Kraft verstehen, die benötigt wird, ein, ohne Präferenz für einen

Raum durch starke Konformitätskräfte entstandenes, stabiles Randgleichgewicht (0.20) in das

korrespondierende Randgleichgewicht (20,0) zu 'treiben', also die sich kumulativ wechselsei-

tig verstärkenden Bindungen an eine Konfiguration zugunsten der anderen zu überwinden250.

Aus ökonomischer Sicht kann man diese Schwelle über die in der Zeit akkumulierten ökono-

mischen Vorteile einer Innovation beschreiben, die durch ein Randgleichgewicht repräsentiert

werden (alle VHS).So kann man als Maß des LOCK-IN ein spezielles Gleichgewicht die mi-

nimalen Kosten bezeichnen, die es mit sich bringt, einen Wechsel in ein anderes alternatives

Verhakung der Schlagstangen bei herkömmlichen Schreibmaschinen klein gehalten wurde. Erst durch die Entwicklung der Umwelt, nämlich in Form von Kugelkopfschreibmaschinen und später dann Computern, wurde dieser Vorteil konterkariert und die Vorzüge eines Tastaturschemas sind seitdem nur noch an der 'Schreibgeschwindigkeit', die es seinem Benutzer ermöglicht, zu messen. Unter diesem Maß sind jedoch andere Tastaturen, wie für das von Dvorak 1932 entwickelte DSK in Navy-Experimenten bewiesen, effizienter. Diese Experimente zeigten auch, dass die 'switching-costs', die durch ein Umtrainieren' der Schreibkräfte entständen, binnen kürzester Zeit durch die erhöhte Effizienz amortisiert würden; Vgl. David ( 1985). Trotzdem wird dieser Schritt nicht unternommen, da ihn gleichzeitig alle tun müssten, die Koordinierungsanstren-gung wäre ungemein hoch.

245 Als "a member of a small dissenting sect within the more-or-less tolerant society of academic economists" beschäftigte sich David ausführlich mit dem Phänomenen der Pfadabhängigkeit; Vgl. David (1988)' Zitat aus ebenda (S.l).

246 Das Standardbeispiel ist das zweier Länder, die in zwei möglichen Industrien (z.B. Auto- und Flugzeugindustrie) mit hohen Aufbau- bzw. Fix-kosten oder anderweitig begründeten positiven Skalenerträgen produzieren können. Statisch würde ein Kostenminirnum erreicht, wenn das ei-ne Land die eine und das andere Land die andere Industrie übernehmen würde. Das gewünschte Konsumenten-Mix würde dann durch Handel miteinander erreicht. Welche Industrie sich jedoch in welchem Land ansiedelt, ist unbestimmt, womit in der statischen Sicht multiple Gleichge-wichte lokalisiert sind; Vgl. Arthur (1988a, S.11)

247 So zeigte Weber [zitiert in Arthur (1988a, S.12)], dass Firmen von anderen Firmen oder Industrieagglomerationen profitieren, aber verschiede-ne Konfigurationen der Industrie einer lokalen Minimalen-Kosten-Lösung entsprachen, woraus Palander (zitiert ebenda) u.a. ableiteten, dass die beobachteten räumlichen Industriestrukturen keine eindeutige Lösung des Problems des räumlichen ökonomischen Gleichgewichts darstell-ten, sondern eher Folge eines historischen Prozesses sind (ebenda). Der Versuch einer Formalisierung dieser Einsichten von Allen wurde ja weiter oben beschrieben.

248 Hier zeigte beispielsweise Katz (1985,1986), dass eine Kombination von Netzwerkexternalitäten und Erwartungen zu multiplen Marktanteils-gleichgewichten führen können. Wenn z.B. ex ante eine ausreichende Anzahl von Konsumenten glaubt, dass der IBM- PC einen großen Markt-anteil haben wird, und es Vorteile mit sich bringt einem dominanten Netzwerk anzugehören, so werden sie gewillt sein das Produkt zu kaufen, und der Produzent wird in Erfüllung dieser Erwartungen eine große Quantität des Produktes auf den Markt werfen. Es kann hier insofern von multiplen Gleichgewichten gesprochen werden, weil die gleiche Aussage auch für konkurrierende Produkte gemacht werden kann, also ex-ante, ohne Kenntnis der Erwartungen, verschiedene Gleichgewichte vorstellbar sind. Zu weiteren Beispielen für 'Self-Fulfilling Prophecies' (bzw. Expectations') siehe Schelling (1978, S.115ff); zum Versuch einer Formalisierung derselben siehe Azariadis (1981)

249 Zur Herleitung und Interpretation von Potentialfunktionen siehe Haken (1977, 1983),Weidlich (1983), Erdmann(1990), Zhang (1991) 250 Die Herleitung und Darstellung von Potentialfunktionen die auf dem Partymodell bzw. auf dem Modell der Entstehung von Institutionen (die

sich ja fast vollständig entsprechen) basieren, finden sich in Eger(1990, S.87ff) und Brandes(1990, S.181ff)

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Gleichgewicht zu bewirken (alle Betamax)251.

Abb. 22: Lock-In dargestellt anhand einer Potentialfunktion252

Abb. 23: Lock-In dargestellt anhand einer Potentialfunktion253

251 Arthur (1988a, S.13) 252 Mensch (1980 und in einer Reformulierung 1985) zeigte anhand eines der Katastrophentheorie (zur mathematischen Formalisierung der Ka-

tastrophentheorie, insbesondere zur cusp-catastrophe siehe Zhang, (1991, S.39ff))entlehnten Modells, wie ein Lock-In auch auf der aggregier-ten Ebene der Beschäftigung und der allgemeinen Wirtschaftsaktivität entstehen kann, wobei er sich auf empirische Daten stützte. Es wurde von der Beobachtung inspiriert, dass die Beziehung zwischen Investition, Beschäftigung und Nationalprodukt in den frühen 70er Jahren auf-gebrochen schien. Dem Fakt, dass dies etwas mit der Komposition der Investitionen zu tun hatte und nicht nur etwas mit ihrer absoluten Höhe, trug Mensch als einer der ersten in einem Modell Rechnung. Rationalisierende Investitionen haben eine andere Wirkung auf die Beschäftigung als rein expandierende Investitionen (rationalisierende Investitionen können hier mit Prozessinnovationen, expandierende Investitionen mit Produktinnovationen in Verbindung gebracht werden) . Mensch's Hypothese war, dass die Wirtschaft für bestimmte Kombinationen von ratio-nalisierenden und expandierenden Investitionen durch zwei mögliche Gleichgewichte charakterisiert würde, wobei das eine Unterbeschäfti-gung, das andere Vollbeschäftigung repräsentiert. Wenn man in der Abbildung die Zustandsvariable als Wirtschaftsaktivität X bezeichnet, so charakterisiert das linke Minimum Unterbeschäftigung, das rechte Vollbeschäftigung. Der Lock-In kann hierbei folgendermaßen entstehen: Wenn Unternehmen rationalisieren, kann dies verschiedene Auswirkungen haben. Dann kann von den Firmen auch dann noch Gewinn erzielt werden, wenn die Produktion der Waren verringert wird. Oder aber die Rationalisierung wird so gestaltet, dass die Waren billiger werden imd eine erhöhte Produktion vom Markt aufgenommen wird. Es sind zwei stabile Zustände möglich, die vom rein einzelwirtschaftlichen Kalkül her völlig gleichberechtigt sind. Im ersten Fall kommt nun noch dazu, dass durch die verringerte Produktion auch die Menge von Investitionskapi-tal, welches für die Verwirklichung von Innovationen zur Verfügung steht, verringert wird, der Prozess 'lock't sich in einem Unterbeschäfti-gungsgleichgewicht ein. Um die Rationalisierung in Hinblick auf eine größere Produktion und damit Vollbeschäftigung zu nutzen, müssten zugleich auch Investitionen vorgenommen werden, die zu einer erhöhten Produktion führen (Die erhöhte Produktion wird aber nur dann vom Markt aufgenommen, wenn sich damit Innovationen, die auf neuartige Produkte gerichtet sind, verbinden). Eine wichtige Implikation des Mo-dells ist es, dass in der Wirtschaft, wenn sie erstmal von einem Hoch-Aktivitätspfad auf einen Niedrigen-Aktivitätspfad gesprungen ist, die ex-pandierenden Investitionen auf eine viel höhere Ebene angehoben werden müssen, um das System zu einer 'spontanen' Rückkehr auf den Hoch-Aktivitätspfad zu bewegen, als dies vor dem Lock-In' bzw. bei einer Beibehaltung des Hoch-Aktivitätspfads der Fall ist. Hierin liegt vielleicht eine Erklärung dafür, dass Arbeitsbeschaffungsprogramme oftmals nur temporäre Verbesserungen der Arbeitsmarktsituation zur Folge haben, wenn sie nicht über einen bestimmten 'Schwellenwert' ausgedehnt werden. Ein anderes Beispiel für einen wohlfahrtstheoretisch suboptimalen Lock-In - welches in vager Analogie aufzuführen ist- beschreibt Allen (1988, S.110f) anhand seiner Simulation der kanadischen Fischindustrie: Während normalerweise seine Simulation durch die dynamische Interaktion von Fischbeständen, Fischflotten, Fischindustrie, Beschädigung und Nachfrage ein beständiges auf und ab beschreibt, das vor allem durch Fluktuationen der jährlichen Fangmengen (die wiederum durch Fluktuationen der Fischbestände entstehen), die vom System zu "long-term cycles of'boom' and ‚bust’ "(Allen (1988, S.l 11)) vergrößert wer-den, bestimmt wird, kann es zu einem plötzlichen 'crash' kommen: Wenn die Nachfrageelastizität ausreichend gering ist, kann ein plötzliches temporäres Abfallen der Fischbestände dazu führen, dass die Preise dramatisch steigen und es so den Fischern erlauben von den geringen Fangmengen zu leben. Deswegen werden sie ihr Fangverhalten beibehalten, der Fisch wird zum Luxusgut und auch die Fischindustrie wird ihr Auskommen haben. Als allgemeines Nahrungsmittel wird der Fisch jedoch von der Speisekarte verschwinden. Obwohl rein hypothetisch ist auch dies ein Beispiel für einen Lock-In'.

253 Mensch (1980 und in einer Reformulierung 1985) zeigte anhand eines der Katastrophentheorie (zur mathematischen Formalisierung der Ka-tastrophentheorie, insbesondere zur cusp-catastrophe siehe Zhang, (1991, S.39ff))entlehnten Modells, wie ein Lock-In auch auf der aggregier-ten Ebene der Beschäftigung und der allgemeinen Wirtschaftsaktivität entstehen kann, wobei er sich auf empirische Daten stützte. Es wurde von der Beobachtung inspiriert, dass die Beziehung zwischen Investition, Beschäftigung und Nationalprodukt in den frühen 70er Jahren auf-gebrochen schien. Dem Fakt, dass dies etwas mit der Komposition der Investitionen zu tun hatte und nicht nur etwas mit ihrer absoluten Höhe, trug Mensch als einer der ersten in einem Modell Rechnung. Rationalisierende Investitionen haben eine andere Wirkung auf die Beschäftigung als rein expandierende Investitionen (rationalisierende Investitionen können hier mit Prozessinnovationen, expandierende Investitionen mit Produktinnovationen in Verbindung gebracht werden) . Mensch's Hypothese war, dass die Wirtschaft für bestimmte Kombinationen von ratio-nalisierenden und expandierenden Investitionen durch zwei mögliche Gleichgewichte charakterisiert würde, wobei das eine Unterbeschäfti-gung, das andere Vollbeschäftigung repräsentiert. Wenn man in der Abbildung die Zustandsvariable als Wirtschaftsaktivität X bezeichnet, so charakterisiert das linke Minimum Unterbeschäftigung, das rechte Vollbeschäftigung. Der Lock-In kann hierbei folgendermaßen entstehen: Wenn Unternehmen rationalisieren, kann dies verschiedene Auswirkungen haben. Dann kann von den Firmen auch dann noch Gewinn erzielt werden, wenn die Produktion der Waren verringert wird. Oder aber die Rationalisierung wird so gestaltet, dass die Waren billiger werden imd eine erhöhte Produktion vom Markt aufgenommen wird. Es sind zwei stabile Zustände möglich, die vom rein einzelwirtschaftlichen Kalkül her völlig gleichberechtigt sind. Im ersten Fall kommt nun noch dazu, dass durch die verringerte Produktion auch die Menge von Investitionskapi-tal, welches für die Verwirklichung von Innovationen zur Verfügung steht, verringert wird, der Prozess 'lock't sich in einem Unterbeschäfti-gungsgleichgewicht ein. Um die Rationalisierung in Hinblick auf eine größere Produktion und damit Vollbeschäftigung zu nutzen, müssten zugleich auch Investitionen vorgenommen werden, die zu einer erhöhten Produktion führen (Die erhöhte Produktion wird aber nur dann vom Markt aufgenommen, wenn sich damit Innovationen, die auf neuartige Produkte gerichtet sind, verbinden). Eine wichtige Implikation des Mo-dells ist es, dass in der Wirtschaft, wenn sie erstmal von einem Hoch-Aktivitätspfad auf einen Niedrigen-Aktivitätspfad gesprungen ist, die ex-pandierenden Investitionen auf eine viel höhere Ebene angehoben werden müssen, um das System zu einer 'spontanen' Rückkehr auf den Hoch-Aktivitätspfad zu bewegen, als dies vor dem Lock-In' bzw. bei einer Beibehaltung des Hoch-Aktivitätspfads der Fall ist. Hierin liegt vielleicht eine Erklärung dafür, dass Arbeitsbeschaffungsprogramme oftmals nur temporäre Verbesserungen der Arbeitsmarktsituation zur Folge haben,

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Wenn also der Pay-Off einer Handlung mit der Anzahl der gleichförmig Handelnden steigt,

wird eine zuerst gewählte Handlung auch weiter gewählt werden, und der immer größer wer-

dende ökonomische Vorteil sorgt dafür, dass die "decision sequence 'grooves out' a self-

reinforcing advantage to the activity chosen initially that keeps it locked in to this choice"254. So

kommt es, dass selbst wenn die Wahl des Einzelnen bei zum Wahlzeitpunkt -bezogen auf das

Preis-Qualitätsverhältnis- vollständiger Information optimal ist, sie zu einer langfristig ineffi-

zienten Lösung führen kann. Dies liegt daran, dass ein anfangs qualitativ unterlegenes Pro-

dukt viel bessere Entwicklungsmöglichkeiten besitzen kann; der so entstehenden langfristigen

Allokationsineffizienz würde in einem solchen Fall vom homo oeconomicus Vorschub geleis-

tet.

Realistischer ist es wohl, den oben erwähnten auf Gegenwart wie Zukunft bezogenen Infor-

mationsdefiziten der Individuen Rechnung zu tragen und die Diffusion von Innovationen als

stochastischen Prozess zu modellieren, wie dies Arthur zur Darstellung der Entstehung eines

wenn sie nicht über einen bestimmten 'Schwellenwert' ausgedehnt werden. Ein anderes Beispiel für einen wohlfahrtstheoretisch suboptimalen Lock-In - welches in vager Analogie aufzuführen ist- beschreibt Allen (1988, S.110f) anhand seiner Simulation der kanadischen Fischindustrie: Während normalerweise seine Simulation durch die dynamische Interaktion von Fischbeständen, Fischflotten, Fischindustrie, Beschädigung und Nachfrage ein beständiges auf und ab beschreibt, das vor allem durch Fluktuationen der jährlichen Fangmengen (die wiederum durch Fluktuationen der Fischbestände entstehen), die vom System zu "long-term cycles of'boom' and ‚bust’ "(Allen (1988, S.l 11)) vergrößert wer-den, bestimmt wird, kann es zu einem plötzlichen 'crash' kommen: Wenn die Nachfrageelastizität ausreichend gering ist, kann ein plötzliches temporäres Abfallen der Fischbestände dazu führen, dass die Preise dramatisch steigen und es so den Fischern erlauben von den geringen Fangmengen zu leben. Deswegen werden sie ihr Fangverhalten beibehalten, der Fisch wird zum Luxusgut und auch die Fischindustrie wird ihr Auskommen haben. Als allgemeines Nahrungsmittel wird der Fisch jedoch von der Speisekarte verschwinden. Obwohl rein hypothetisch ist auch dies ein Beispiel für einen Lock-In'.

254 Arthur(1988a, S.13)

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LOCK-IN tat255. In solchen Modellen kann gezeigt werden, <jaß sich der Diffusionsprozess so-

gar zugunsten eines Produktes ein^ locken kann, welches sowohl gegenwärtig ein schlechte-

res Preis^ Qualitäts-Verhältnis als auch langfristig schlechtere Entwicklungsmöglichkeiten bie-

tet. Insbesondere bei einem solchem LOCK^jjj stellt sich natürlich die Frage, ob und wie ein

Sprung aus ju heraus möglich ist, da es zu dem oben erwähnten physikalischen ^e^ chanis-

mus der von außen auf das System aufprallenden Energie, 3. das System in eine alternative

Konfiguration schüttelt, kein ökonomisches Analogon gibt. Die Möglichkeit eines Sprunges

hängt au der ökonomischen Sicht von der Ursache der sich selbst verstärk^ den Mechanismen

ab, davon, inwiefern die durch das inferi0 Gleichgewicht gesammelten Vorteile reversibel oder

auf eine Alt6 native übertragbar sind.

So sind Lerneffekte und spezialisierte Fixkosten weder reversibel noch auf die Alternative

übertragbar256. Koordinationseffekte hingegen sind theoretisch übertragbar, wenn der durch

sie gewonnene Standard sich nicht auch in einem spezifischen Equipment niederschlägt. Je-

doch auch dann findet ein kollektiver Wechsel nur statt, wenn jeder Einzelne die Sicherheit

hat, dass auch alle anderen die Alternative bevorzugen. Ein allmählicher Übergang durch

Übergänge Einzelner ist nicht möglich257.

Die für Diffusionsprozesse charakteristische Pfadabhängigkeit beschreibt die Art und Weise,

wie ein bestimmtes Gleichgewicht erreicht wird. Um mehr als (in Form von selbstverstärken-

den Mechanismen) ein reines Vehikel auf dem Weg zu LOCK-IN's und multiplen Gleichge-

wichten zu sein, müsste der Begriff der Pfadabhängigkeit jedoch zum einen eine gewisse

analytische Prägnanz aufweisen, um Anlass für strategische politische oder unternehmeri-

sche Entscheidungen zu geben, zum andern allgemeingültig genug sein, um eine Vielzahl der

oben angesprochenen Phänomene aus einer einheitlichen Wurzel heraus zu beschreiben.

Damit ist man bei der Frage der Modellierung von Diffusionsprozessen. Beispielhaft sei hier

ein Modellierungsversuch von Woekener (1992b) erläutert, der sich mit der Diffusion konkur-

rierender Systeme als ausschließlichem Ergebnis dezentraler, unkoordinierter Anwender-

Entscheidungen befasste, Produzentenstrategien also nicht berücksichtigte, sondern sich auf

die Modellierung der Folgen direkter Anwenderexternalitäten konzentrierte258:

255 Dieses sehr bekannte Modell geht davon aus, dass 2 Typen von Agenten, R- und S-Agenten, die statistisch voneinander unabhängig sind, se-

quentiell mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 auf den Markt treten, wobei die einen eine eindeutige Präferenz für Technologie A, die anderen eine eindeutige Präferenz für Technologie B haben. Es ist also so als würde man immer wieder eine Münze werfen: Kopf impliziert eine zusätz-liche Adoption von A, Zahl eine von B. Überschreitet jedoch zufällig die Differenz der kumulierten Markteintritte, z.B. zugunsten B, einen ge-wissen Wert, sprich: wirft man z.B. direkt am Anfang fünfmal hintereinander Zahl, so wird der zusätzliche Netzwerknutzen gegenüber Alterna-tive A so groß, dass alle Neuankömmlinge, egal ob R- oder S-Agenten danach Technologie B wählen: Der Prozess 'lockt' in Technologie B fest. [Ausführlich und detailliert siehe Arthur(1988b,1989)] Auch dieses kann natürlich auch auf Basis der Mastergleichung formalisiert werden, wie Arthur (1988a) zeigte.

256 Trotzdem kann, wie in obiger Fußnote anhand der 'QWERTY1- Tastatur aufgezeigt wurde, ein Wechsel trotz 'Sunk-costs' und entstehenden 'Switching-Costs' ein Wechsel ökonomisch sinnvoll sein.

257 Koordinationseffekte schlagen sich jedoch so gut wie immer im "Equipment' nieder. Selbst wenn man einen so einfachen Koordinationseffekt betrachtet, wie den, der durch das durchgängige 'Rechtsfahren' auf unseren Straßen entsteht: So hat sich sowohl die Umwelt in Form von Stra-ßenschildern als auch das Fahrzeug selber, nämlich durch das Linkslenkrad nach ihm ausgerichtet. In 'gefüllten' Fußgängerzonen oder U-Bahnhöfen hingegen, in denen dann der gleiche Koordinationseffekt wirkt (alle gehen rechts), wäre ein Wechsel theoretisch möglich; aber, wahrscheinlich von der Koordinierung auf der Straße rückgekoppelt (oder umgekehrt?), hat er sich mental festge'lock't, wie man auf Rolltrep-pen in englischen U-Bahnhöfen eindrucksvoll beobachten kann: Dort steht man links und rechts wird überholt, die völlig aus der Reihe rechts stehenden werden sofort als Touristen identifiziert.

258 Im folgenden wird das Modell Woekeners relativ ausführlich beschrieben, ohne dass die Urheberschaft Woekener’s immer gesondert ausgewie-sen wird.

Page 65: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 62

5.2.1 Die Modellierung von Diffusionsprozessen mit der Master-Gleichung

Gemäß der Annahme von Informationsdefiziten und nichtlinearen (sozialen) Abhängigkeiten

wird die Diffusion substitutiver Innovationen als nichtlinearer stochastischer Prozess model-

liert.

Die potentiellen Anwender haben homogene Präferenzen. Die Übergänge von Nichtanwen-

dern zu Innovation I bzw. zu Innovation II werden (ob der Entscheidung unter Unsicherheit

wegen) wahrscheinlichkeitstheoretisch definiert. Analytisch werden sie zum einen über eine

unabhängige Komponente, den Basisnutzen (bzw. die Basisrenten) , zum anderen über eine

vom Verhalten der anderen abhängige Komponente, nämlich den Nutzenzustrom, der sich

aus der Existenz positiver externer Anwendererträge (im folgenden: Netzwerknutzen) ergibt,

bestimmt. Anfangs geht man von einer unendlichen Marktgröße aus und davon, dass die

Wahlvorgänge sequentiell in der Zeit stattfinden, also in jeder der unendlich vielen Perioden t

ein neuer Anwender an den Markt kommt und sich irreversibel für eine der beiden Innovatio-

nen entscheidet.

Gäbe es keine Externalitäten, aber Unterschiede in den Basisrenten, die sich aus der Diffe-

renz zwischen dem Basisnutzen und dem Systempreis ergeben, würden sich die Marktanteile

nach anfänglichen Fluktuationen mit Sicherheit nach dem Gesetz der großen Zahl gemäß

dem Verhältnis der Basisrenten zueinander aufteilen.

Existieren Anwenderexternalitäten, so wird jeder neue Anwender, da er um die positive Ab-

hängigkeit seines Surplus von der Gesamtnutzerzahl des von ihm gewählten Gutes weiß, je-

ne Innovation übernehmen, die nach seiner subjektiven Einschätzung in der Konkurrenz der

Anwender vorne liegt, womit die Wahrscheinlichkeit, dass der n-te Anwender die Innovation I

bzw.II übernimmt, umso höher sein wird, je größer ihr tatsächlicher, ihm aber nicht mit Si-

cherheit bekannter Marktanteil [y(t) bzw. z(t)] ist. Auch bei reinem Vorliegen von Netzwerkex-

ternalitäten (a=b) wird sich nach einer anfänglichen Phase der Fluktuations-Dominanz stets

eine bestimmte Marktaufteilung stabilisieren. Welche, das hängt von der konkreten Spezifizie-

rung der Wahlfunktion ab, welche die Beziehung zwischen den Marktanteilen und den Wahl-

wahrscheinlichkeiten festlegt.

Ist die Beziehung linear, z.B. mit p[y(t)]=y(t), so ist speziell bei fehlenden first-mover-Vorteilen

für eine der Innovationen (Y(1)=Z(1)=1 als absolute Anzahl der Anwender) das Diffusionser-

gebnis infolge der positiven Anwendererträge vollständig unbestimmt; außerdem bleibt es

praktisch immer bei einer Koexistenz beider Systeme. Dieser Prozess wird auch als Stan-

dard-Polyaprozess bezeichnet259.

259 Mit solchen Polya-Prozessen beschäftigte sich insbesondere Arthur (1987,1989) und baute sein "general framework" (Arthur (1989,S 123ff))

auf ihnen auf Sein anschaulichstes Beispiel waren wohl die Urnenmodelle In einer Urne mit endlicher Kapazität befindet sich eine rote und ei-ne blaue Kugel Nun wählt man blind und handelt nach dem Motto 'Ziehe ich eine blaue Kugel, so lege ich zwei blaue zurück, ziehe ich eine ro-te, so lege ich zwei "tote zurück ' Dieser Prozess wird andauernd wiederholt " Obviously this process has increments that are path-dependent-at any time the probability (hat the next ball added is red equals the proportion red" ( Arthur (1987,5? 296)|, womit genau die obige Abhängig-keit der Wahrscheinlichkeit von den Marktanteilen wiedergegeben ist p(y(t)=y(t) Die Trage ist, ob der Anteil durch diese sich ändernde Wahr-scheinlichkeit unbestimmbar zwischen 0 und 1 wandern wird, oder sich bei einem festen Anteil fest locken wird Er tut letzteres Der Anteil "tends to a limit X, and with probability one Rut X IS a random variable uniformly distributed between 0 and 1 "(Arthur, 1987,S 297) Genau dies gibt die Abbildung wieder

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Seite 63

Abb. 24: Vier Realisierungen des Standard-Polya-Prozesses

Im Falle nichtlinearer Abhängigkeiten resultieren letztlich sigmoide Wahlfunktionen; die Inno-

vationskonkurrenz endet stets mit einer Selektion (y=1 oder y=0)260. Dabei haben beide mög-

lichen Diffusionsergebnisse bei Y(1)=Z(1) eine Wahrscheinlichkeit von 0.5. Bei Startvorteilen

einer Innovation hat diese eine entsprechend höhere Chance selektiert zu werden. Solche

Startvorteile wurden in Abbildung 24 zugunsten Innovation I angenommen. Bemerkenswert ist

hierbei, dass sich in einer der Realisierungen trotzdem Innovation II durchsetzt, weil sich zu-

fällig, d.h. infolge an sich geringfügiger und daher nicht theoriefähiger historischer Ereignisse,

die Mehrzahl der ersten Anwender für sie entschieden hat. Dies ist dadurch möglich, dass die

individuellen Wahlvorgänge wahrscheinlichkeitstheoretisch formuliert wurden.

Abb. 25: Zwei Realisierungen eines nichtlinearen Poly-Prozesses261

260 Diese Selektion ist natürlich nicht ganz vollständig, da die nicht selektierte Innovation (a anfangs einige Anwender fand, die an ihr festhalten

Jedoch wird die Wahrscheinlichkeit dass neue Anwender die unterlegene Innovation wählen im Verlauf des Prozesses null, dass sie die überle-gene Innovation wählen eins, so dass durch die Annahme unendlicher Marktgröße der Marktanteil der unterlegenen Innovation mit null gleich-zusetzen ist

261 Diese nichtlinearen Polyaprozesse stellen nun eine Erweiterung des Urnenmodells dar, indem sie zum einen sozusagen von einer größeren Vielfalt unterschiedlicher Kugeln ausgehen, und zum anderen "the probability of an addition to type j" als "an arbitrary function of the propor-tions of all types"[Arthur (1987.S.298)] definieren, z.B. indem man jetzt zu jeder gezogenen Kugel zwei zusätzliche zurück legt; Vgl. ebenda ( S.299)

Page 67: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 64

Ginge man von vollständiger Information bezüglich des Marktzustandes aus, würde jeder sich

aufgrund des zusätzlichen Netzwerknutzens mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 für die an-

fangs dominierende Innovation entscheiden: Das Stochastische reduzierte sich dann auf ein

deterministisches Modell, in dem die Ausgangsbedingung (die Anfangskonfiguration), bzw.

bei Fehlen von Startvorteilen der erste neu auf den Markt kommende Anwender, das Selekti-

onsergebnis determinierte. Dies verdeutlicht den Unterschied zwischen reiner Pfadabhängig-

keit und Ergebnisoffenheit: Erstere reflektiert nur die Existenz externer Anwendererträge, letz-

tere zusätzlich jene begrenzter Information.

Abgesehen vom "degenerierten Grenzfall"262 des Standard-Polka-Prozesses kommt es bei

Netzwerkexternalitäten auch bei der Wahl unter Unsicherheit stets zur Selektion einer Innova-

tion; ohne Netzwerkexternalitäten resultiert hingegen bei beschränkter Information immer Ko-

existenz.

Diese Ergebnisse basieren jedoch auf der Annahme einer unendliche'1 Marktgröße, welche

anders gerichtete Entscheidungen - welche ja insbesondere in der Anfangsphase getroffen

werden- vergessen lässt* Außerdem kann wegen dieser Annahme die sigmoide Diffusions-

kurve nicht reproduziert werden, wie auch Basispräferenzen und Basisrenten bzw. die Diffe-

renz zwischen ihnen nicht explizit berücksichtigt werden können. Erst die Berücksichtigung

differierender Basisrenten ermöglicht jedoch wohlfahrtstheoretische Vergleiche zwischen un-

terschiedlichen Selektionsergebnissen sowie die Untersuchung der Konsequenzen von Präfe-

renzkonflikten für den Diffusionsprozess. Hinzu kommt, dass nur Zunahme oder Stagnation

der Anwenderzahl eines Systems modellierbar ist.

Ein geeignetes Modellierungskonzept, das eine komplexe Darstellung des Zusammenwirkens

von unterschiedlichen Basispräferenzen (Präferenzkräften) und kollektiv entstehenden Netz-

werkexternalitäten (Konformitätskräften) bezüglich substitutiver Innovationen (Hand-

lungszuständen) bei einer endlichen Anzahl von Individuen ermöglicht, scheint -einmahl wie-

262 Woekener(1992b, S.9)

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Seite 65

der- die Mastergleichung zu sein:

So geht man nun von einer endlichen und festen Anzahl zukünftiger Anwender A aus, so

dass zu jedem Zeitpunkt gilt: A=X(t)+Y(t)+Z(t), mit X(t) als Zahl der Noch-Nicht-Anwender.

Die Präferenzen der Anwender sind zunächst homogen und der Surplus, den ein einzelner

zum Zeitpunkt t aus der Nutzung von System I bzw. System II zieht, sei a'+n*Y(t) bzw.

b'+n*Z(t). Dabei sind a' und b" die Basisrenten für die hier gilt: a'>b'>0. Bei Sicherheit und der

Möglichkeit zur Koordination würden alle Anwender sich infolge des für beide Systeme identi-

schen marginalen Netzwerknutzens n auf Innovation I verständigen.

Die Division durch die Gesamtanwenderzahl A führt zu den standardisierten, individuellen

momentanen Gesamtrenten a+n*y(t) und b+n*z(t) mit a=a'/A und b=b'/A. Für die Prognosti-

zierbarkeit des Ergebnisses der Systemkonkurrenz bei unkoordinierten Anwender-

Entscheidungen unter beschränkter Information ist die Höhe der Basisrenten im Vergleich

zum theoretisch maximal erreichbaren individuellen Netzwerknutzen n*A/a'=n/a entschei-

dend. Sein Wert dürfte von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein263.

Die individuellen Übergangsraten sind linear steigende Funktionen des jeweiligen momenta-

nen Surpluses, für Innovation I: p[Y(t)]=c'*[a'+n*Y(t)] bzw. p[y(t)]=c*[a+n*y(t)], mit c=c'*A;

für Innovation II entsprechend q[z(t)]=c*[b+n*z(t)]. Dabei ist c' ein Maß des Niveaus der Dif-

fusionsgeschwindigkeit. Über die Mastergleichung kann hieraus nun analog zu obigen Bei-

spielen von Mastergleichungsmodellen die Entwicklung der konfiguralen Wahrscheinlichkeit

P(y,z;t) abgeleitet werden.

Während die ökonomische Herleitung relativ detailliert beschrieben wurde möchte ich mich im

weiteren auf eine anschauliche Darstellung beschränken: Prinzipiell gleicht das Modell dem

der Party, nur befinden sich alle Gäste nun anfangs in einer an beide Räume angrenzenden

Vorhalle, wobei dieser Anfangszustand absolut sicher ist, also P(0,0;0)=1. Allmählich werden

sie sich nun gemäß ihrer Präferenzen (Basisrenten) in die beiden Räume (auf die beiden In-

novationen) verteilen, wobei dieser Übergang irreversibel ist. Hierdurch wird ein zusätzlicher

Konformitätsdruck (Netzwerknutzen) aufgebaut, wodurch sich die Übergänge aus der Vorhalle

(der Noch-Nicht-Anwender) beschleunigen. Da die Anzahl der Gäste (der Anwender insge-

samt) aber begrenzt ist, wird sich die Attraktivitätszunahme zwar in immer weiter steigenden

individuellen Übergangswahrscheinlichkeiten äußern, diese werden sich aber auf immer we-

niger Vorhallengäste (Noch-Nicht-Anwender) beziehen, und die absoluten Übergänge von

dort werden immer geringer -daus Expansionstempo verlangsamt sich und führt schließlich

zur Sättigung: Alle Gäste befinden sich in einem der beiden Räume (alle haben sich für eine

der beiden Innovationen entschieden).

Diese für Diffusionsprozesse typische Ansteckungslogik - hier speziell auf externe Anwender-

erträge zurückgeführt- gilt unabhängig vom konkreten Verlauf einer Realisierung des sto-

chastischen Prozesses; der grundlegende „stylized fact“ einer sigmoiden Diffusionskurve wird 263 So wird er für Kommunikationssysteme sehr hoch, bei Unterhaltungselektroniksystemen mit Aufnahmefähigkeit hingegen eher gering sein; Vgl.

Woekener (1992b, S.10)

Page 69: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 66

reproduziert.

Ist der Diffusionsprozess bei y+z=1 abgeschlossen, so entsprechen die Wahrscheinlichkeiten

der möglichen Endzustände der Endverteilung der Mastergleichung. Bei geringen externen

Effekten wird eine Aufteilung gemäß der Basisrenten die bei weitem wahrscheinlichste sein,

und die Entwicklung des Mittelwertes wird den wahrscheinlichsten Verlauf der Innovations-

konkurrenz wiedergeben. Dies wird für nicht allzu große Verhältnisse n/a stets der Fall sein.

Je größer aber der theoretisch maximale Netzwerknutzen n*A wird, desto größer wird die Va-

rianz der immer noch unimodalen Endverteilung, bis schließlich an dem Punkt, an dem er das

20fache der Basisrente a' erreicht, alle möglichen Endzustände gleichwahrscheinlich sind.

Bei einer differenzierteren Modellierung des Diffusionsprozesses muss man davon ausgehen,

dass sich die Produkteigenschaften im Verlauf des Diffusionsprozesses zunehmend konsoli-

dieren und die Anwender diese zunehmend erlernen. Bei a>b (bei identischen Netzwerk-

größen) werden diejenigen, die sich für Innovation II entschieden haben, tendenziell dazu

neigen, das Netz zu wechseln. Ebenso werden sie auf zunehmende Differenzen in den Netz-

werkgrößen reagieren264.

Kriterium des individuellen Wechsels ist im Modell die subjektive Einschätzung der Differenz

der momentanen Anwenderrenten, die in dem Modell als D(Y,Z)=k'+n(Y-Z) (mit k'=a'-b' bzw.

standardisiert d(y»z)=k+n(y-z)) definiert wird. Wird ein Netz erst einmal verlassen, so treten

durch die damit implizierten Einbrüche auf dem Komplementärgütermarkt bandwagon-Effekte

in umgekehrter Richtung auf265.

Die Systemwechsel können als zusätzliche negative und positive Rückkoppelungen im Modell

implementiert werden, indem man eine, von der Differenz der momentanen individuellen Ge-

samtnutzen abhängige, individuelle Wahrscheinlichkeit für einen Systemwechsel bestimmt.

Die daraus abgeleiteten Wahrscheinlichkeitsflüsse der konfiguralen Übergangsraten werden

auf der rechten Seite der Mastergleichung addiert, oder man lässt die Systemwechsel erst

nach Abschluss des Erstwahl-Prozesses zu266. Die Folgen der Systemwechsel hängen davon

ab, wie man die Abhängigkeit der individuellen Systemübergangsraten von d(y,z) spezifiziert,

d.h. davon, welche Annahmen man über die dynamische Veränderung des Informationsstan-

des der Individuen trifft. Durch d(y,z) kommt dem Verhältnis zwischen Basisrentendifferenz

und Netzwerknutzen eine entscheidende Bedeutung zu. Bei vollständiger Marktinformation

können die Wahrscheinlichkeitsflüsse nur in eine Richtung, nämlich in die des Systems mit

264 Dies kann dazu fuhren, dass die Einzelnen individuell rational handeln, wenn sie auf das System mit der niedrigeren Basisrente, aber mit dem

bei weitem größerem Netzwerk wechseln. 265 Die switching-costs von einem Netz ins andere zu gelangen (mindestens in Höhe der Anschaffungskosten) spielen natürlich auch eine Rolle. Sie

werden im Modell aber nicht berücksichtigt, da der prinzipielle Selektionsmechanismus durch sie nur "entschärft" wird. Dazu trägt auch die Vorstellung bei, dass die Systeme geleast werden oder noch einen Gebrauchtwert besitzen; Vgl. Woekener (1992b, S.15).

266 ^™Um bei der Veranschaulichung durch die Vorstellung einer Party' zu bleiben: Es ist so als würde man bei Erreichen der Sättigungsphase (oder nach Abschluss des Erstwahl-Prozesses) eine Zwischentür zwischen den beiden Räumen öffnen, womit dann auch Wechselwirkungen zwi-schen ihnen stattfinden. Auch diese Wechselwirkungen sind wahrscheinlichkeitstheoretisch formuliert, da man nur von einer Annäherung an vollständige Marktinformation ausgeht. Solange sich noch Leute in beiden Räumen befinden, tritt neben die vertikale Selbstorganisation auch eine horizontale Selbstorganisation. Dieser Zeitraum, in dem beide Typen stattfinden, wurde von Woekener Koevolution genannt.

Page 70: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 67

dem höheren momentanen Gesamtnutzen, laufen267. Je nachdem, ab wann man den Sys-

temwechselprozess (nach oder vor Abschluss des Erstwahlprozesses; vor oder in der Sätti-

gungsphase) einsetzen lässt, und wie dieser abläuft (vollständige vs. unvollständige Marktin-

formation), werden verschiedene Endverteilungen erzeugt, über deren Effizienz sich wohl-

fahrtstheoretische Aussagen machen lassen.

Grundsätzlich wird vollständige Information immer zur Selektion einer Innovation führen(y=1

bzw.y=0). Diese kann bei hohem Netzwerknutzen wohlfahrtstheoretisch ineffizient sein. Bei

unvollständiger Information sind je nach Annahmen sowohl Koexistenz- als auch Selektions-

phänomene zu beobachten.

Insgesamt kann man sagen, dass das Diffusionsmuster davon abhängt, wie schnell sich die

Produkteigenschaften bzw. die Anwenderpräferenzen konsolidieren und die Nutzer Markt-

übersicht erhalten. Ist dies ein langer Vorgang, so wird auch die Koevolutionsphase wahr-

scheinlich ziemlich lang sein. Spätestens in der Sättigungsphase wird die Marktinformation

umfassend sein, so dass es zur Selektion eines Systems kommen wird. Phänomene unvoll-

ständiger Marktinformation werden nur vorübergehende Phänomene sein. Auf jeden Fall gilt:

Je geringer die Basisrenten-Differenzen und je größer die Netzwerk-Externalitäten sind, desto

wahrscheinlicher wird ein ineffizientes Ergebnis der Selektion, also ein Ergebnis, das nicht

wohlfahrtsoptimal ist.

Bisher hatten die Innovationen aufgrund der Homogenitätsannahme für jeden den gleichen

Basisnutzen, wodurch die Selektion der Innovation I (bei a>b) unabhängig davon, ob Netz-

werk-Externalitäten vorliegen oder nicht, wohlfahrtsoptimal ist. Die Existenz externer Anwen-

dererträge war wohlfahrtstheoretisch nur insofern von Bedeutung, als sie, bei zumindest an-

fangs unvollständiger Marktinformation, zur Selektion des Nicht-Surplusmaximalen Systems

führen kann.

Gibt es jedoch heterogene Präferenzen, so ist, wenn keine Netzwerkexternalitäten vorliegen,

Koexistenz wohlfahrtsoptimal268. Dieses Phänomen lässt sich dann nicht mit mangelnder

Marktinformation erklären. Sind jedoch in diesem Fall die Netzwerkexternalitäten groß, so

wird bei Koexistenz nicht der über alle Anwender kumulierte Gesamtsurplus maximiert. Dies

ist vor allem dann nicht zu ändern, wenn durch einen Wechsel zwar der kumulierte Gesamt-

surplus erhöht wird, der individuelle Gesamtsurplus des Wechselnden jedoch zurückgeht, da

er das eigentlich von ihm präferierte System verlässt269.

Ob es bei dezentraler Wahl zu einer Standardisierung kommt und welches System dann se- 267 Hierzu ist zu vermerken, das die vollständige Marktinformation im Sinne vollständiger Kenntnis der Basisrenten (Produkteigenschaften und

Preise) und der aktuellen Netzwerknutzen (Marktanteile) gemeint ist - nicht aber generell vollständige Information, z.B. bezüglich der zukünfti-gen Marktanteilsentwicklung, oder gar Kenntnis des gültigen Modells (rationale Erwartungen) ;Woekener (1992b, S.15).Das sich die Produkt-eigenschaften im Laufe des Diffusionsprozesses verändern, wird nicht berücksichtigt (obwohl diese Veränderungen laut Woekener (1992b, S.33) entscheidend sein können): Nicht die Veränderung der Basisrenten wird modelliert, sondern anfänglich vorhandene Informationsdefizite, die im Verlauf des Prozesses eliminiert werden.

268 Neben die vertikal Produktdifferenzierung (z.B. durch a>b) tritt hierdurch noch eine horizontale Produktdifferenzierung (z.B. a>b für Gruppe 1, a<b für Gruppe2)

269 Vgl. Woekener (1992b, S.25). "Denn dann wäre nicht nur eine irgendwie geartete Koordination zur Erreichung des Wohlfahrtsoptimums nötig, sondern es müssten speziell auch noch Ausgleichszahlungen zwischen den Gruppenfließen"; ebenda (S.25)

Page 71: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 68

lektiert würde, hängt von der Größe der verschiedenen Gruppen sowie der Bedeutung verti-

kaler Basissurplusdifferenz-Effekte ab. Letztere liegen im 2 Güter-2 Gruppen-Fall dann vor,

wenn die Basissurplusdifferenzen zwischen den beiden Systemen in den Gruppen unter-

schiedlich sind.

Woekener beschränkt sich in seinem Modell auf den reinen Präferenzkonflikt, der diese Fak-

toren nicht berücksichtigt. Hierbei werden für zwei gleich große Gruppen genau umgekehrte

Basisrenten angenommen270. Der Diffusionsprozess wird zuerst ohne Berücksichtigung der

Systemwechsler modelliert: Sind die individuellen Übergangswahrscheinlichkeiten wieder li-

neare Funktionen der momentanen Anwenderrenten, so wirken heterogene Präferenzen ho-

mogenisierend bezüglich der Marktanteile. Am wahrscheinlichsten ist ein Endzustand bei dem

sich beide Gruppen gemäß ihrer Basisrenten aufteilen.

Nun werden (wie oben) Systemwechsel berücksichtigt und die sich ergebenden Endverteilun-

gen mit den insgesamt surplusmaximalen Endzuständen, welche die wohlfahrtstheoretischen

Referenzzustände darstellen, verglichen. Je nach Verhältnis der Basisrenten zu jenem des

theoretisch erreichbaren Netzwerknutzens ist dies entweder die Marktaufteilung (yl=y=0.5)

oder einer der beiden Randzustände (y=l,z=0 ;y=0;z=l)271.

Je nach Informationsannahme und den Vorgaben der Basisrenten und der Netzwerkexternali-

täten sind verschiedenste Endverteilungen bzw. Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Endver-

teilungen reproduzierbar. Insgesamt hat das Marktergebnis im Falle heterogener Präferenzen

eine Tendenz zur System-Koexistenz, obwohl bei der Existenz externer Anwendererträge

nicht zu geringen Ausmaßes eine Standardisierung (System-Selektion) vorteilhaft wäre. Im

Gegensatz zum Fall homogener Präferenzen kann also Systemkonkurrenz auch nach Konso-

lidierung des Marktes im Rahmen einer dauerhaften Koexistenz fortbestehen -spie tut dies

gemessen am üblichen Wohlfahrtsoptimum sogar viel zu oft.

Abschließend lässt sich vermerken, dass es durch dieses Modell möglich ist, eine Vielzahl der

im Zusammenhang mit dem selbstorganisierenden Prozess der Diffusion von Innovationen in

der Realität auftretenden Phänomene einheitlich zu formalisieren und mögliche Gründe für

das Zustandekommen eines bestimmten Endergebnisses aufzuzeigen. Außerdem konnte

über einen oder mehrere Referenzzustände die Wohlfahrtsoptimalität der möglichen Endzu-

stände gemessen werden. Jedoch wurde Koordination der Anwenderseite sowie kompetitive

oder kooperative Produzentenstrategien außer acht gelassen272. Zur Heraushebung der zent-

ralen Mechanismen wurde auch die differenzierte Betrachtung des komplexen Netzwerk sozi-

aler Systeme und somit eine differenzierte Betrachtung des Informationsflusses durch selbi-

ges zugunsten eines allgemeinen Erklärungsansatzes vernachlässigt. Eine solche kam aber 270 '"Der Fall nicht gleicher Gruppengrößen und nicht gleicher Basissurplus-Differenzen zwischen den beiden

Gütern wird in Farell (1986) erläutert. 271 Auch hier wieder das Partybeispiel: Die beiden Gruppen repräsentieren Männer und Frauen, die sich entweder an der Bar oder auf (an) der

Tanzfläche sein können, wobei sie genau umgekehrte Präferenzen haben. Sind die Anwesenden weniger interessant, so ist die soziale Abhän-gigkeit kleiner und der wohlfahrttheoretisch optimale Zustand wird dadurch repräsentiert, dass die Mädchen tanzen, die Jungen an der Bar hocken. Sind sie sehr interessant, so wird, egal ob Bar oder Tanzfläche, eine Agglomeration an einem Ort wohlfahrtsoptimal sein.

272 Mögliche Produzentenstrategien finden sich in David(1990), Katz (1985;1986), Arthur (1988a)

Page 72: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 69

immer mehr ins Blickfeld eines anderen Erklärungsansatzes der Diffusion von Innovationen,

der auf der mikroskopischen Ebene in Schwellenwertmodellen, auf der makroskopischen

Ebene in Kritische-Massen-Modellen seinen Ausdruck fand: 78

5.2.2 Soziale Selbstorganisation durch kritische Massen und Schwellenwerte273

Die Diffusion einer Innovation274 wird vom Prozentsatz der Anwender im individuellen persönli-

chen Netzwerk genauso abhängen wie vom Prozentsatz der Anwender im gesamten Sys-

tem275. Sie wird durch das soziale System bestimmt, innerhalb dessen sie auftritt. Mit der

Technik der Netzwerkanalyse wird die Struktur eines sozialen Systems analysiert, um die Art

und Weise der gegenseitigen persönlichen Beeinflussung zu verstehen. Soziale Netzwerke

können als Muster von Beziehungen, die zwischen den Einheiten in einem System existieren,

betrachtet werden276. Solche Beziehungen können auf Freundschaft, Kommunikation oder

anderen Arten von Beziehungen wie Rat, Unterstützung, Respekt u.a. basieren. Die Netz-

werkanalyse hat auf drei Gebieten zur Erforschung der Diffusion beigetragen277:

soziale Struktur strukturelle Äquivalenz278 individuelle Beeinflussung279

zu 1: Die soziale Struktur entspricht der Regularität der Beziehungsmuster, die zwischen den

Einheiten eines Systems existieren und wurde lange als Schlüsselgröße der Rate und der Art

der Diffusion angesehen. Sie schafft oder reflektiert Positionen und Regeln innerhalb eines

sozialen Systems durch welche die Rate und Art der Diffusion bestimmt wird. Auf der Sys-

temebene wird diese durch Netzwerkcharakteristika wie einem hohen Grad der Zentralisie-

rung, der Verknüpftheit, der Dichte und/oder der Integration beschleunigt, durch die Existenz

273 Im folgendem wird ein Modell von Valente (1991) vorgestellt, dass Schwellenwert- und Kritische Massen-Modelle miteinander verbindet und

die Diffusion von Innovation als selbstorganisierenden Prozess modelliert. Dem Informationsfluss durch das Netzwerk sozialer Systeme, als welches die Gesellschaft weiter oben (von Heijl) definiert worden war, kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Diffusion von Innovationen hängt hier nicht von Kosten/ Nutzenkalkülen ab, weder Kosten noch Nutzen wird explizit bestimmt, sondern von 'Anreizimpulsen', die innerhalb der Subsysteme bzw. innerhalb des Gesamtsystems verstärkt oder abgeschwächt werden. Sowohl das Durchschnittsverhalten in Gesamtsystem als auch das 'Einzelverhalten' in den Subsystemen sind hierbei entscheidend; der Diffusionsprozess wird durch soziale Abhängigkeiten zu ei-nem selbstorganisierenden, nichtlinear beschreibbaren Prozess. Durch die Art der Modellierung eignet er sich nicht nur zur Darstellung der Diffusion, sondern der "Diffusion of Technologies and Social Behaviour"[siehe das gleichnamige Buch von Grübler (1991)] was von ähnlich aufgebauten Modellen sozialen kollektiven Verhaltens bestätigt wurde; Vgl. z.B. Schelling (1971;1972;1978). Die bisherige Diffusionsfor-schung sowie die innerhalb dieser stattgefundene Erforschung von Schwellenwerten und kritischen Massen wird in Valente (1991, S.5ff) zu-sammengefasst.

274 Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Modellen wird die Diffusion nur einer einzigen Innovation modelliert, wie z.B. Faxgerät, Btx u.a., wahrscheinlich unter anderem deswegen, weil die Unterschiede zwischen zwei substitutiven, konkurrierenden Innovationen nicht über Effi-zienz- oder Nutzenkriterien bestimmt werden können. Außerdem stellt die Diffusion einer Innovation einen Idealfall dar, dass sie eine per Defi-nition (s.o.) neue Handlungsalternative darstellt, die vorher gar nicht zur Wahl stand. Obwohl der in folgenden aufgezeigte Erklärungsansatz zur Beschreibung der Diffusion von sozialem Verhalten prinzipiell ebenso geeignet ist, ist bei ihm eine solche Annahme der absoluten Erstma-ligkeit nur schwerlich zu machen, außer in dem Fall, dass die soziale Verhaltensweise erst mit der Innovation entsteht (Telefonieren', Fernse-hen', usw.).

275 Vgl. hierzu und zum folgendem Valente (1991, S.1ff) 276 Ausführlich zu sozialen Netzwerken siehe Leinhardt (1977) 277 Vgl. Valente (1991, S.30ff) 278 Zur strukturellen Äquivalenz siehe auch Lorrain (1977) 279 Zum Beinflussungsfeld siehe auch Levine (1977)

Page 73: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 70

von Sub-Gruppen oder „Weak-Ties“280 verlangsamt281

zu 2: Burt282 vermutete, dass die Adoption (Übernahme einer Innovation) von der strukturellen

Position im Netzwerk beeinflusst wird. Er zeigte, dass die Adoption von der individuellen Posi-

tion (Status) in der gesellschaftlichen Hierarchie stärker beeinflusst wird als von anderen Ge-

sellschaftsmitgliedern. Im speziellen machte er die Aussage, dass die Diffusion schneller un-

ter Mitgliedern der Gesellschaft auftritt, die strukturell äquivalent sind. Die strukturelle Äquiva-

lenz bezieht sich auf Individuen in einem Netzwerk, welche die gleiche oder eine ähnliche

Beziehung zu verschiedenen anderen haben. Die reguläre Äquivalenz bezieht sich auf Indivi-

duen in einem Netzwerk, welche die gleiche oder ähnliche Beziehungen zu den gleichen an-

deren haben283.

zu 3: Die individuelle Beeinflussung beschreibt das Ausmaß in, dem man durch die Interakti-

onsmuster im Netzwerk anderen Individuen ausgesetzt ist. Solche Modelle argumentieren,

dass die individuelle Entscheidungsfindung von den Informationen abhängt, die man von de-

nen bekommt, denen man ausgesetzt ist. Somit wird der Grad der Verknüpftheit des Einzel-

nen im Netzwerk sein Adoptionsverhalten beeinflussen. Die Verknüpftheit gibt die Anzahl der

Personen an, mit denen man durch irgendeine Beziehung verbunden ist. Wenn ein Indivi-

duum mit sehr vielen Leuten verknüpft ist, die schon eine Innovation adoptiert haben, dann ist

sein Ausgesetztseins-Grad hoch. Ob dies dazu führt, dass es auch adoptiert, hängt von des-

sen Schwellenwert ab.

Der individuelle Schwellenwert ist die Anzahl der Personen, die ein Individuum bei einer be-

stimmten Verhaltensweise sehen muss, damit es überzeugt (gezwungen) wird, ein gleiches

Verhalten an den Tag zu legen284. Man geht davon aus, dass die Individuen heterogene

Schwellenwerte haben und dadurch auch verschiedene Adoptionszeitpunkte285 .

280 "the strength of a tie is a .combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal Ser-

vices which characterize the tie" (Granovetter, 1978b, S.1361) . Das jedoch auch 'weak-ties' einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Diffusion von Innovationen haben können, also insofern "The Strength of Weak Ties" untermauerte Granovetter (1978b) im gleichnamigen Ar-tikel.

281 Mit dem Zusammenhang von 'Social Structure and the Diffusion of Innovation' beschäftigte sich Mendez (1968) in ebendiesem Artikel. In seinem Modell "three successive steps are considered....(l) New information comes to individuals first from outside the Community through weak but viable Channels of communication; (2) subsequent flow of Information is accomplished through the same Channels, augmented by a flow of messages through 'local' channels;(3) innovation is passed from generation to generation, while the other Channels may continue to be opera-tive. In accordance with this model, there are four major components of diffusion. The first is the intensity of the outside Stimulation and its dis-tribution through time. Second is the distribution of receptive individuals in the social network which in tum depends both on the individuals proclivity toward change and on the fitness of the practice to the culture. The third component is the time lapse required for an adopter to transmit Information or otherwise exert innovative influences on other individuals. This..."absolute velocity" .will vary in accordance with the culturally-defined "urgency" of the innovation message. ..The final component to be considered is the pattern of interpersonal contacts through which information and other pressure for change travel"; ebenda (S.242).

282 Vgl. Burt (1987 283 Burt (1987) zeigte, dass die Adoption unter Ärzten bei medizinischen Innovationen durch die strukturelle Äquivalenz bestimmt wird. Während

ein 'Ansteckungsmodell' davon ausgeht, dass die Individuen von denen beeinflusst sind, mit denen sie in Kontakt treten, proklamiert die struktu-relle Äquivalenz, dass die Individuen 'adoptieren', wenn sie sehen, dass dies Personen tun, zu denen sie strukturell äquivalent sind. "The diffu-sion of an Innovation among physicians" untersuchte auch Coleman (1977) im gleichnamigen Artikel

284 Solche Schwellenwertmodelle wurden z.B. von Granovetter (1978a, 1983, 1986) formuliert. 285 Auch viele von Schellings Modellen und/oder Beispielen für den Zusammenhang von 'micromotives and macrobehaviour' weisen die für Schwel-

lenwertmodelle typische Ansteckungslogik auf. Z.B. die Vorstellung, dass in der Abenddämmerung ein Autofahrer sein Licht anmacht. Sieht nun ein entgegenkommender Autofahrer, der sozusagen den Schwellenwert 1 hat, diesen Fahrer, so reicht für ihn der Anblick eines erhellten Autos aus, um ebenfalls das Licht anzumachen. Dadurch ist es nun möglich, dass ein anderer Autofahrer mit Schwellenwert 2 auf zwei erhellte Fahr-zeuge trifft und so 'gezwungen' wird, ihnen 'nachzueifern'; die Geschwindigkeit dieses Diffusionsprozesses' hängt natürlich in starkem Maße von der Dichte der Fahrzeuge in einem Gebiet ab, bei zu geringer Dichte (im Extremfall nur ein Autofahrer mit hohem Schwellenwert auf der

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Seite 71

Die Schwellenwertverteilung, welche den Anteil der Individuen in einem Sozialsystem mit

niedrigen, mittleren und hohen Schwellenwert wiedergibt, beeinflusst demgemäß die Diffusion

einer Innovation. Im Allgemeinen geht man von einer symmetrischen Verteilung aus

(Abb.25a). Die Schwellenwertmodelle legen eine Dichtefunktion derart fest, dass das kumula-

tive Adoptionsmuster eine S-Form hat, die Diffusion also einen sigmoiden Verlauf aufweist. In

dem in der Abbildung gezeigten Beispiel wird ein anfänglicher Anwenderanteil von 40% keine

Kettenreaktion bis zur Sättigung auslösen, da der erwartete Anteil von 40% Adoptern im Netz

nur 33% wirklich adoptieren lässt, was dazu führt, dass immer mehr Teilnehmer (Adopter) das

Netz (Innovation) verlassen (Abb.25b).

Ein solcher anfänglicher Anwenderanteil von 40% kann aber auch ausreichen, um die anfäng-

lichen Adopter im Netz zu halten. Ob ein Anfangsanteil einen Diffusionsprozess bis zur Sätti-

gung anstößt, oder zu niedrig ist, so dass alle anfänglichen Anwender wieder aussteigen,

hängt ausschließlich von der Schwellenwertdichtefunktion ab. Eine (im Gegensatz zur Nor-

malverteilung) rechtschiefe Verteilung reflektiert, dass mehr Individuen niedrigere Schwellen-

werte haben, also ein niedrigerer Anfangsanteil für eine erfolgreiche Diffusion ausreicht

(Abb.26). Für eine linksschiefe Verteilung trifft das Gegenteil zu286.

Abb. 26: Schwellenwertdichteverteilung erzeugt kumulatives Diffusionsmuster

Straße) könnte sich der Prozess nicht bis zur Sättigung (100% erhellte Fahrzeuge) fortsetzen. Hieran sieht man, dass der Vergleich zu den hier behandelten Inovationsdiffusionen etwas hinkt, da zwangsläufig mit zunehmender Dunkelheit die Schwellenwerte gegen null konvergieren wer-den und alle das Licht anmachen, um überhaupt die Straße sehen zu können. Trotzdem wird auch hieran die reine Ansteckungslogik deutlich, welche die Schwellenwertmodelle beinhalten. Durch eine Handlung werden Kettenreaktionen ausgelöst, die entweder wieder absterben oder zu einem Durchbruch einer Handlungsweise führen.

286 Mehr Individuen haben hohe Schwellenwerte, der Diffusionsprozess wird langsamer erfolgen. Wenn eine solche Verteilung stark linksschief ist, kann das bedeuten, dass die Noch-Nicht-Anwender erst 90% Anwender in ihrem persönlichen Netzwerk sehen müssen, bevor sie auch zur An-wendung der Innovation bereit sind. Der Innovator muß in einem solchen Falle erst einmal eine sehr große Zahl von anfänglichen Anwendern gewinnen, um den Diffusionsprozess dann sich selbst zu tiberlassen. Eine Sättigung wird dann nicht durch den Schwellenwertprozess alleine zu erreichen sein, sondern auch andere Beeinflussungsprozesse müssen in Gang gesetzt, Ober Medien, Werbung uä., und so die Schwellenwerte der Individuen reduziert werden; unter Umständen kann man so sogar eine rechtsschiefe Verteilung erzeugen; Vgl. Valente (1991, S.38ff)

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Die Schwellenwertdichteverteilung und das durch sie erzeugte kumulative Diffusionsmuster. Ober eine 'Schwellenwertdichtefunktion' wird

die Verteilung der Schwellenwerte gegenüber einer Innovation angegeben, wobei die Höhe der Kurve keine wirkliche Interpretation hat.

Abb. 27: Rechtsschiefe Schwellenwertdichteverteilung und ihr Diffusionsmuster

Eine rechtsschiefe Schwellenwertdichteverteilung und ihr Diffusionsmuster. Bei 40% anfänglich erwartete Adopter reichen aus um den

Diffusionsprozess bis in die Sättigung zu treiben.

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Der so simulierte Diffusionsprozess ist zwar einleuchtend, stellt aber eine starke Abstrak-

tion der tatsächlichen Prozesse dar. So geht er davon aus, dass die Proportion von An-

wendern zu Nicht-Anwendern in allen individuellen (persönlichen) Netzwerken gleich ist

und von diesen in einer statischen Weise beeinflusst wird287: Nur durch die heterogenen

Schwellenwerte gibt es unterschiedliche Adoptionszeitpunkte.

In der Realität jedoch, die aus einem Netzwerk von differenzierten sozialen Systemen be-

steht, verändern sich die Anwender-Nichtanwender-Anteile im individuellen Netzwerk; das

soziale Netzwerk strukturiert dabei den Beeinflussungsfluss und diktiert die Proportionen

von Anwendern zu Nicht-Anwendern288. Um dieses zu antizipieren, kann eine neue Be-

schreibungsebene eingeführt werden, die des Ausgesetzt-Seins, welche die Stärke der

Impulse auf den einzelnen misst. Diese verändern sich mit der Zeit, in der mehr und mehr

Individuen adoptieren {vertikale Variation), je nach ihrer Stellung im sozialen Netzwerk

(horizontale Variation). Schwellenwerte beschreiben dann den Ausgesetzt-Seins-Level,

der notwendig ist, ein Individuum zu überzeugen, auch zu adoptieren289. Insofern spielen

also zwei Dinge eine Rolle: Menschen mit niedrigen Schwellenwerten sind noch immer

diejenigen, die früher adoptieren, aber Menschen die einer Neuerung in hohem Maße

ausgesetzt sind, haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr individueller Schwellenwert 287 'Das heißt man geht davon aus, dass sich die Beeinflussung durch das persönliche Netzwerk in der Zeit nicht verändert (i.S., dass es keine

Veränderungen des Verhältnisses von Anwendern zu Nichtanwendem im persönlichen Netzwerk gibt.) ,und nur der 'durchschnittliche' Ge-samteinfluss das Adoptionsverhalten bestimmt. Somit adoptieren unabhängig vom persönlichen Netzwerk Individuen mit niedrigen Schwellenwerten früh, solche mit hohen Schwellenwerten spät; Vgl. Valente (1991, S.39)

288 Diese Abhängigkeit des Verhaltens des Einzelnen von seiner direkten persönlichen und nicht seiner gesamten Umgebung wird auch in Schellings Seggregationsmodellen reflektiert. Sein einfachstes Modell geht von einer 70 Häuser langen Straßenzeile aus, die von zwei, durch bestimmte Merkmale klar voneinander zu trennenden Gruppen (Rasse, Einkommen) aus, die durch Sterne und Punkte repräsentiert werden. Beide Gruppen sind gleich groß (je 35 Sterne und Punkte). Diese sind anfangs zufällig auf die Häuser verteilt:

O 00 0 0 00 0 0 0 0 00 00 0 0 000 0 0 0 0 00

O+OOO++O+OO++OO+++O++0++OO+++00+ + 00+ + 0+0+00+++O++OOO00+++OOO+OO++O+O++O

Wenn nun die Nachbarschaft jedes Einzelnen durch die vier linksseitigen und die vier rechtsseitigen Bewohner definiert wird, und man an-nimmt, dass jeder zumindest die Hälfte dieser Nachbarn als von derselben Art wie er selber wünscht (also auf die inklusive ihm selber be-zogenen Häuser eine Mehrheit seiner 'Art' ) , so werden alle für die dieses Minimalverhältnis nicht zutrifft unzufrieden sein und wechseln wollen. Die Unzufriedenen sind hier durch Punkte gekennzeichnet. Die nun stattfindenden Wechsel folgen einer einfachen Regel: Die Un-zufriedenen bewegen sich zum nächsten Punkt, der ihrer Minimalforderung nach einer absoluten Mehrheit in der Nachbarschaft gerecht wird (Hier wird abstrahierend angenommen, dass sie sich inclusive ihres Hauses zwischen zwei andere Bewohner setzen können, und die-se dann auseinanderrücken, was anschaulich eher der Vorstellung einer Reihe von Wohnwagen, statt einer Häuserzeile entspricht). Wäh-rend dieser sequentiellen Bewegung der Unzufriedenen passieren zwei Dinge: Einige die zufrieden waren werden unzufrieden, da Nach-barn gleicher Art aus ihrer Nachbarschaft wegziehen, aber ebenso werden einige, die unzufrieden waren, nun durch den Zuzug gleichar-tiger Nachbarn zufrieden. Nach dem ersten Ablauf ergibt sich folgendes Bild:

00000000++++0+++++++++0000++000+0+0+++0+++++++++0000000000000000+ +++++

Die nun Unzufriedenen folgen der gleichen Regel, wodurch ein Gleichgewichtszustand (keiner will mehr wechseln) eneicht wird; die resultie-rende Konfiguration hat folgende Form:

00000000++++++++++++++ + 0000000000++++++++++++ +++0000000000000000++++++

(8) (15) (10) (15) (16) (6)

Das Resultat sind Cluster, deren durchschnittliche Größe 12 Mitglieder beinhaltet. Erstaunlicherweise resultiert aus einer 'seeking-ratio' von fünf zu vier ein Verhältnis, welches größer als fünf zu eins ist. Diese selbstorganisatorischen Seggregationstendenzen sind bei verschie-densten Anfangskonfigurationen zu beobachten. Dieses sehr vereinfachte 'Schwellenwert'-Modell wurde von Schelling verfeinert und so konnten z.B. entstehende räumliche Verteilungsmuster in einem realistischeren 2-dimensionalen Modell simuliert werden. Die grundsätz-liche Aussage, nämlich dass über solche wechselseitigen 'Ansteckungseffekte' makroskopische Muster bzw. Ordnungen entstehen, die vom einzelnen weder gewollt noch beabsichtigt waren, bleibt die gleiche. Außerdem wird auch in diesen Modellen das Verhalten des Einzelnen nicht von einer Systemgröße abhängig gemacht, sondern er reagiert auf Veränderungen seiner in direkt betreffenden Umgebung, hier al-so auf Veränderungen in der Nachbarschaft; Vgl. zu den hier angesprochenen Modellen Schelling (1978, S.147; 1971, S.149ff)

289 Zum Beispiel die Frage, ob man bei Rot über die Straße geht. Ob man sich dafür entscheidet, hängt sowohl von allgemeinen Kriterien ab (man geht wenn alle, die Hälfte, oder auch wenn keiner geht) als auch von speziellen Kriterien (man geht, wenn alle, die Hälfte, oder auch keiner der Freunde, Bekannten, Kegelbrüder, schönen Frauen geht). Wahrscheinlich ist man bei weitem stärker von letzteren beein-flusst; Vgl. Valente ( 1991, S.40)

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überschritten wird290.

Das soziale Netzwerk entspricht der Struktur des sozialen Systems. Sie bestimmt den

Grad des Ausgesetzt-Seins und der Schwellenwert bestimmt den Zeitpunkt der Adopti-

on291.

Abgesehen von den interpersonellen Einflüssen gibt es auch auf der Makroebene einen

rückkoppelnden Einfluss: die kritische Masse. Sie wird über den Anteil von Anwendern zu

Nichtanwendern im gesamten betrachteten System bestimmt (gibt also das gewichtete

Durchschnittsverhältnis aller individuellen Systeme an). Allgemein ist die kritische Masse

die Minimalanzahl von Teilnehmern, die benötigt wird, um eine kollektive Aktivität aufrecht-

zuerhalten292. In Diffusionsmodellen wird sie oft (z.B. von Valente) an dem Punkt als er-

reicht angesehen, an dem die Anzahl der neuen Anwender maximal ist (die erste Ablei-

tung der Diffusionsfunktion hat dort ein Maximum)293.

Im engsten Sinne muss die kritische Masse mit den ersten Anwendern erreicht, der An-

fangswert also größer oder gleich der kritischen Masse sein294. Somit jeden Anfangswert

eines erfolgreichen Diffusionsprozesses als kritische Masse zu definieren, würde aber

wohl kein Erkenntnisfortschritt sein. Vielmehr muss der kritischen Masse eine eigenstän-

dige Bedeutung zugemessen werden, welche sie klar von der des Anfangswertes trennt.

Dies ist unter der Annahme von einer während des Diffusionsprozesses invarianten (sich

nicht ändernden) Schwellenwertverteilung, welche die Adoptionsraten über die dynami-

sche Veränderung der Ausgesetzt-Sein-Levels beschreibt, aber nicht möglich.

290 "To be sure> individuals with low thresholds are still early adopters, however, individuals with high exposure are more likely to meet their

threshold. Thus, high exposure is associated with early adoption, but is contingent on a low threshold"; Valente (1991 , S.41) 291 Vgl. Valente (1991.S.41) 292 Teilnehmer können Menschen, Organisationen, Nationen oder andere Einheiten sein. Bei der Aktivität kann es sich um Innovationsdiffusi-

on, aber auch um andere kollektive Handlungen wie Marktanteile, öffentliche Meinung, oder auch der Stadion-, Theater- oder Zoobesuch bzw. eine Pokerpartie sein. Vgl. Valente (1991, S.45f) Bei der Betrachtung der Diffusion von ökonomischen Innovationen, d.h. Innovatio-nen, die den Produzenten auch Geld einbringen sollen und die oftmals Systemcharakter haben, "critical mass can be defined at least in terms of its economics" (D.Allen,1988, S.258) . Das heißt die kritische Masse kann im Fall von steigenden Skalenerträgen auf Anbieter- (sinkende Stückkosten) und Abnehmerseite (Netzwerkexternalitäten) zumindest als der Punkt bezeichnet werden, ab dem der Produzent kostendeckend produzieren kann bzw. Profit macht.

293 Die Anzahl der neuen Anwender steigt, bis die kritische Masse erreicht ist, und nimmt dann ab. Bei einem logistischen Diffusionsprozess befindet sie sich im Allgemeinen genau auf halbem Wege. Das Sinken der absoluten Anzahl der neuen Anwender nach Erreichen der kriti-schen Masse wird auch hier zum Teil durch die immer mehr sinkende Anzahl von Noch-Nicht-Anwendern erklärt; Vgl. Valente (1991, S.46). Unglücklicherweise impliziert die Definition aber auch, dass auch nicht erfolgreiche Innovationen 'ihre' kritische Masse erreicht haben. Dem kann man aber aus dem Wege gehen, indem man unter Diffusionsprozessen keine Misserfolgsentwicklungen subsumiert, da es bei ihnen gar nicht zu einer Diffusion kommt.

294 /Dies lehnt sich an die physikalische Definition der kritischen Masse als "kleinste Masse an Spaltstoff in der eine Kettenreaktion von Kern-spaltungen ohne äußeren Einflüsse aufrechterhalten bleibt" [Dtv ( Bd. 10, S.163)] an. Wenn man sich weniger mit der Fragestellung be-schäftigt, wie die Dynamik eines Diffusionsprozesses allgemein zu beschreiben ist und wann, wie und mit welcher Wahrscheinlichkeit in ihr eine kritische Masse überschritten wird, sondern sich eher auf die praktische Untersuchung empirisch beobachteter Diffusionsprozes-se beschränkt, ist eine solche Definition jedoch recht brauchbar. Dann interessiert vor allem die Unterscheidung zwischen einem An-fangszustand, in dem direkt eine größere Gruppe von Adoptern an den Markt treten muß und dem Endzustand der 100%tigen Adoption, die, wenn ersterer eine kritische Masse' überschritten hat, dann durch allmähliche Eintritte von Noch-Nicht-Anwendern in den Markt er-reicht wird. Der Anfangszustand kann dann Objekt einer strategischen Beurteilung werden, anhand von ihm kann untersucht werden, "what distinguishes the successful ..(innovations ).from those that sputter and fail to become realized"; D. Allen (1988, S.257). So be-schäftigte sich z.B. D. Allen (1988) mit der Installierung von neuen interaktiven Netzwerken, deren Erfolg (Minitel) bzw. Misserfolg (Btx) er an ihren jeweiligen spezifischen Anfangszuständen festmachte. Demgemäß schrieb er: "Much of our recent understanding about the demand for networks has been based on experience with relatively mature tele-communications Systems. However, a start-up network faces a special circumstance that differs in one key respect from the mature network. Since the fundamental raison d'etre of a network is to connect people, a new network by its very nature requires a group o subscribers if it is to start-up. This need for the critical mass group surely distinguishes the startup from the mature System. A mature system has necessarily moved beyond that point in its development where a critical mass has initial assembled"; Ebenda (S.257).

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Dies wirft die Frage auf, inwiefern die kritische Masse die Schwellenwerte beeinflusst bzw.

inwiefern sich die Schwellenwertverteilung überhaupt ändert:

Vor dem kritischen Punkt ist eine Adoption riskant und nur Individuen, bei denen hohe

Ausgesetztseinsgrade auf niedrige Schwellenwerte stoßen werden wahrscheinlich adop-

tieren. Jenseits der kritischen Masse wird sie nicht mehr als riskant angenommen und die

Schwellenwerte sinken. Größeres Risiko lässt die Schwellen anwachsen, niedrigeres Ri-

siko lässt sie sinken.

Hiermit wird ein Mikro-Makro-Link etabliert. Ausgesetzt-Sein-Levels und Schwellenwerte

sind Konstrukte auf der Mikroebene, welche die individuelle Informationsumwelt charakte-

risieren. Die kritische Masse ist ein Konstrukt auf der Makroebene, welches das Diffusi-

onsmuster eines sozialen Systems charakterisiert. Der Systemparameter Kritische-Masse

bestimmt die soziale Effizienz einer Innovation und entscheidet so über Erfolg oder Miss-

erfolg derselben. Er wird aber auf der Mikroebene durch die Wechselwirkungen von

Schwellenwert- und Ausgesetztseinsverteilung erzeugt295. Ein Schwellenwert-Kritische-

Massen-Modell muss versuchen, beiden Einflüssen Rechnung zu tragen296.

Obwohl diese Betrachtungsweise der Diffusion von Innovationen als selbstorganisieren-

der Prozess, der aus der wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Aggregationsebe-

nen entsteht, einleuchtend ist, erweist sich die Modellierung angesichts der Komplexität

des Netzwerk von sozialen Systemen als äußerst schwierig. Auf jeden Fall muss zwi-

schen externer (Individuum <=> System) und interner Beeinflussung (Individuum <=> per-

sönliches Netzwerk) unterschieden werden.

Externe Beeinflussungsmodelle beschreiben Diffusionsprozesse, die durch eine externe

Kraft wie Massenmedien, strukturellen Wandel, und ähnliches angetrieben werden. Da

interne gegenseitige Beeinflussungen durch interpersonale Kommunikation, die zusätzli-

che selbstverstärkende Prozesse erzeugen können, nicht berücksichtigt werden, ist bei

ihnen der Anfangswert (seed-value) oftmals mit dem der kritischen Masse gleichzusetzen.

Gemischte Beeinflussungsmodelle, die von extern angestoßener und unterstützter Diffu-

sion sowie internen, innerhalb der persönlichen Netzwerke in Gang gesetzten, Diffusionen

ausgehen, sind wahrscheinlich in den meisten Fällen realistischer.

Letztere jedoch stellen den Modellbauer vor ein Modellierungsproblem. Da jedes Indivi-

duum gleichzeitig Mitglied in verschiedenen sozialen Systemen ist, und die persönlichen

Netzwerke verschiedener Individuen so gut wie nie völlig deckungsgleich sein werden,

können auch keine geschlossenen und in sich homogenen Subgruppen gebildet werden.

295 “There is a dynamic interaction between the individual-level threshold and the system-level critical mass point, and between the critical

mass and thresholds. Micro-level processes occur at the individual level of analysis. Personal efficacy, attitudes, and behaviour are ex-amples of variables involved in micro-level processes. Macro-level processes occur at a System level of analysis. Societal efficacy, atti-tudes and behaviour are examples of variables involved in macro-level processes"; Valente (1991, S.51).

296 Das Ausgesetztsein bestimmt, wann eine kritische Masse erreicht wird, indem es den Informationsfluss über eine Innovation strukturiert. Wenn Individuen mit niedrigen Schwellen auf hohe Ausgesetztseinsgrade treffen, dann beschleunigt sich die Rate der Diffusion und eine kritische Masse wird erreicht. Wenn diese kritische Masse erreicht wird, senken sich (im Durchschnitt) die Schwellen, und niedrigere Grade des Ausgesetztseins reichen aus, um sie zur Adoption zu bewegen: Es gibt also eine dynamische Interaktion zwischen Mikro- und Makroebene. Somit ist der Begriff der Selbstorganisation auch in diesem Erklärungsansatz gerechtfertigt.

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So wird es angebracht sein, die Subgruppen über eine spezifische Wirkungsbeziehung zu

definieren, z.B. gemäß struktureller Äquivalenz. Solche Subgruppen können unterschied-

liche Kritische-Massen-Punkte haben, d.h. die kritische Masse kann für eine Subgruppe

schon erreicht sein bevor andere Subgruppen bzw. das ganze System seine kritische

Masse erreicht297. Die so als Mitglied einer bestimmten Subgruppe aufgrund von Anste-

ckungseffekten (chain-reactions, die durch einen gegenüber dem Durchschnitt in der Ge-

samtbevölkerung erhöhtem Aussetzungsgrad verursacht sind) und/oder dem Erreichen

einer gruppenspezifischen kritischen Masse (die zu einer Senkung der Schwellenwerte

innerhalb der Subgruppen-mitglieder führt) zur Adoption gezwungenen Individuen werden

dann als Mitglied anderer Subgruppen dort den Ausgesetztheitsgrad der Mitglieder erhö-

hen und u.U. dadurch auch dort zu einem Erreichen einer für diese Gruppe spezifischen

Kritischen-Masse führen, usw.298.

Dieser unendlich verschachtelte Prozess, der ausgehend von heterogen verteilten

Schwellenwerten und Ausgesetztheitsgraden zu einer asymmetrischen Entwicklung selbi-

ger in der Zeit führt, kann in einem Überwinden der globalen kritischen Masse enden: Die

Innovation erhält globale soziale Akzeptanz und geht von einer novelty in eine necessarity

über299, wodurch kollektiv die Schwellenwerte gesenkt werden300. Hierdurch wird der Dif-

fusionsprozess oftmals bis zur Sättigung getrieben (annähernd 100% Adopter).

Eine Implikation dieser dynamischen Mikro-Makro-Hypothese ist, dass die Sättigung vor

Erreichen der globalen kritischen Masse vermieden werden kann, während sie nach Er-

reichen der kritischen Masse fast nicht mehr zu verhindern ist301 -aber damit gilt auch um-

gekehrt, dass durch Anfangswerte unterhalb der kritischen Masse Prozesse in Gang ge-

setzt werden können, die zu einem Erreichen derselben führen. Somit kann zwischen

seed-value und kritischer Masse unterschieden werden.

In einem Modell kann die ganze Komplexität der ablaufenden Prozesse nicht antizipiert 297 So demonstrierte D. Allen (1988, S.262f), dass die kritische Masse für bestimmte Videotextservice von Minitel schon erreicht wurde, bevor

dies auch bei anderen bzw. dem ganzen System der Fall war. 298 Diese wechselseitige Beeinflussung, die dem Individuum die für selbstorganisatorische Prozesse typische Doppelrolle als 'Reizaddressat

und 'Öffentlichkeit' zuweist wurde von D. Allen (1988, S.260) bezogen auf die Verbreitung von Minitel folgendermaßen beschrieben: "It seems likely that individuals base their choice on what they expect the others to decide. Thus, the individual's effort to decide hinges upon 'watching the group'- the other members in the Community of actual/potential subscribers- to discern what the group choice may be. ..The outcome for the group then turns literally upon everybody, watching while being watched."

299 D. Allen (1988), der sich mit der Verbreitung der Innovation 'Videotext', bzw. Minitel beschäftigte schreibt hierzu: "The new network begins as an innovation and a curiosity, but if in time it does succeed, it is transformed and becomes a necessity, entrenched in the habits of the subscribing group, The incremental steps (*der Diffusion und damit der Erwartungen bezüglich des Erfolges der Innovation (An-merkung des Autors)) can lead, in other words, to a larger shift in outlook that considers as necessary what was earlier viewed as novelty. Thus what begins as an attempt at a new network (such as videotext) may become a new orthodoxy in Communications... .The shift from novelty to necessity- the larger-scale discontinuity in expectations- creates, in other words, a sense of new value"; Ebenda (S.262)

300 Anknüpfend an obiges Beispiel von an der Ampel stehenden Menschen, kann der Effekt des Überwindens einer 'regionalen' kritischen Masse und der so implizierten Übergang einer Handlungsweise von einer novelty zu einer necessarity zwar nicht sehr präzise, dafür aber sehr plastisch deutlich gemacht werden. Wenn zwei Omis, fünf Kegelbrüder, sowie 10 weitere voneinander unabhängige Personen in Freiburg vor einer roten Ampel stehen, so werden die Kegelbrüder ihr Verhalten voneinander abhängig machen und wenn drei von ihnen gehen, wird der 'Ausgesetztsseinsgrad' für die zwei Verbleibenden wahrscheinlich so hoch, dass sie auch gehen. Die 10 Anderen werden, wenn über die weak-ties, die sie untereinander und mit den fünf Gehenden verbinden, ausreichend starke Impulse auf sie auswirken, unter Umständen in einer Kettenreaktion auch zum Gehen 'gezwungen' werden. Die Omis aber werden auf kernen Fall gehen, da ihre Schwel-lenwerte viel zu hoch sind: Die 'regionale' kritische Masse ist in Freiburg noch nicht überwunden. In Hamburg hingegen hat der Über-gang des Bei-Rot-über-die-Ampel-Gehens' von einer novelty zu einer necessarity schon längst stattgefunden, und nach eigener Beobach-tung ist es selbst für ältere Damen der Normalfall, unabhängig von dem, was die anderen machen, die Straße bei Rot zu überqueren

301 Vgl. Valente(1991, S.59)

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werden, trotzdem sollten in einem solchen zumindest die grundlegenden Mikro-Makro-

Wechselwirkungen reflektiert werden: Es ist eher der Prozentsatz der relevanten Anderen,

der die Schwellenwerte der Individuen beeinflusst, als die absolute Anzahl der Adopter

bzw. deren Prozentsatz im Gesamtsystem302. Die Schwellenwertverteilung und die Vertei-

lung der Ausgesetztseinsgrade wirken sich auf die kritische Masse aus303, wobei im Ver-

lauf der Diffusion zwei Prozesse interagieren:

Zum einen wird es im Laufe der Zeit, wenn mehr und mehr Individuen adoptieren, für alle

Individuen wahrscheinlicher, dass die steigenden Ausgesetztseinsgrade ihre persönlichen

Schwellenwerte übersteigen: Die Verteilung der Ausgesetztseinsgrade wird von einer

rechtsschiefen zu einer linksschiefen Verteilung.

Zum anderen werden durch die frühen Anwender Erfahrungen über die Innovation ge-

sammelt, die - anderen vermittelt- im positiven Falle zu einem Senken der Schwellenwerte

der Noch-Nicht-Anwender führen304; wird eine kritische Masse erreicht, so führt auch dies

zu einem Senken der Schwellenwerte und eine derart im Zusammenspiel mit steigenden

Ausgesetztheitsgraden beschleunigte Adoptionsrate wird die Innovation so gut wie voll-

ständig diffundieren lassen305.

Der Schwellenwertverteilung und ihrer Entwicklung in der Zeit kommt eine entscheidende

Bedeutung zu. So kann eine Schwellenwertverteilung:

302 Vgl. Valente(1991, S.56) 303 Vgl. Valente(1991, S.57) 304 Vgl Valente(1991, S.59) 305 "The interaction between a lowering of the threshold, and a rise in exposure levels increases the rate of adoption" ;Valente (1991, S.58);

"As the diffusion process progresses, resistance to adoption decreases, and simultaneously exposure levels increase. The interaction re-sults in individuals meeting their threshold of adoption, and adopting."; Valente,1991, S.62). Der Unterschied zwischen der hier aufge-zeigten Betrachtungsweise und der Betrachtungsweise einer reinen Ansteckungslogik lässt sich anhand einer von Granovetter (1978a) diskutierten hypothetischen Situation von 100 Aufrührern deutlich machen. Bei normalverteilten Schwellenwerten - im Sinne von: Person 1 hat Schwellenwert 1, Person 2 hat Schwellenwert 2 usw.- wird ein Aufruhr, wenn er erst einmal 'angestoßen' ist, in einem graduellen Prozess wachsen, bis schließlich alle sich an dem Aufruhr beteiligen. Im Schwellenwert/Kritische-Masse-Modell initiieren ein paar Men-schen einen Aufruhr und erzeugen so für einige andere einen 'Ausgesetztheitsgrad' von 10,20, oder 30 Prozent. Die Menschen, bei denen die 'Ausgesetztseinsgrade' besonders hoch sind, werden sich an dem Aufruhr beteiligen. Hierdurch werden die 'Ausgesetztsheitsgrade' weiter steigen und mit diesem Anstieg werden einige potentielle Aufrührer ihre Schwellen senken, was wiederum die Diffusionsrate be-schleunigt, usw. Die Situation wird dann gemäß der Interaktion von ansteigenden Ausgesetztheitsgraden und sinkenden Schwellen 'kri-tisch', und der Aufruhr wird nur noch schwierig oder gar nicht mehr zu stoppen sein.

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im Zeitverlauf konstant bleiben sinken steigen sinken und dann steigen steigen und dann sinken306

Der letzte Fall stellt wohl die interessanteste Variante dar, da sie zum einen in vielen Fällen

zutrifft, in denen Innovationen unsicher, zweifelhaft und risikoreich sind, und zum anderen,

weil sich in diesem Fall Schwellenwerte und kritische Massen am stärksten beeinflussen307. Nach-

dem eine gewisse Zahl von Individuen anfänglich bereit ist, eine solche Innovation zu adoptieren,

werden die Schwellenwerte der anderen dann steigen, wenn sie ihre Entscheidung auf Basis

von, aus interpersoneller Beeinflussung stammender, Information treffen. Sie werden auf die

Erfahrungswerte warten, die mit der Zeit von den anfänglichen Risikonehmern gesammelt

und über die persönlichen Netzwerke vermittelt werden. Da jede Innovation eine Bedro-

hung in Form einer Veränderung des gewohnten Laufs der Dinge darstellt (Konservati-

vismus sozialer Systeme308), wird ihr im Verlauf der Wartezeit eher mit erhöhtem Wider-

stand begegnet, als dass eine stabile oder neutrale Reaktion zu erwarten ist309.

306 Für jeden dieser fünf Fälle lassen sich mögliche verhaltenstheoretische Erklärungen finden. Wahrscheinlich wird sowohl die Schwellen-

wertverteilung, als auch ihre Entwicklung in der Zeit in starkem Maße vom Charakter der Innovation abhängen. Ebenso werden Erwar-tungen der Noch-Nicht-Anwender, die wahrscheinlich in hohem Maße von der subjektiv wahrgenommenen Verbreitung der Innovation im persönlichen wie im gesamten sozialen Netzwerk abhängen, eine große Rolle spielen. Ein typischer Fall konstanter Schwellenwerte ist die Verbreitung eines Virus, wie z.B. des AIDS-Virus (wie schon angemerkt ist das Modell auch auf die Verbreitung einer bestimmten sozia-len Verhaltensweise, oder auch einer Krankheit anwendbar). Die individuelle Resistenz gegenüber dem Virus (der Schwellenwert) ändert sich im Zeitverlauf nicht. Sinkende Schwellenwerte sind oftmals bei der Diffusion einer Innovation mit sehr hohem Netzwerknutzen zu be-obachten, bei denen die Produkteigenschaften keinen Unsicherheitsfaktor darstellen. So kann man annehmen, dass bei der Verbreitung des Fax-Gerätes, deren Produkteigenschaften sich schon sehr früh konsolidiert hatten, die Schwellenwerte im Verlauf seiner Verbreitung kontinuierlich gesunken sind bzw. noch sinken. Voraussichtlich wird es in absehbarer Zeit auch in privaten Händen einen gleichberech-tigten Platz neben dem Telefon und der Post einnehmen (die kritische Masse in der 'Subgruppe' der Geschäftsleute hat es schon vor nicht allzu langer Zeit überwunden und ist dort zu einer absoluten Notwendigkeit geworden). Sinkende Schwellenwerte können über einen ge-wissen Zeitraum hinweg auch über die Preispolitik des Unternehmers erzeugt werden: So wird bei neuen Konsumgütern der Schwellen-wert des Einzelnen in starkem Maße vom Preis derselben abhängen. Dies machen schon die z.B. beim Eintritt einer neuen Zeitschrift in den Markt anfangs geforderten Einführungspreise' deutlich. Hat sie sich erst einmal am Markt etabliert, so wird durch weitere synergeti-sche Effekte erzeugte Schwellenwertsenkungen (Gewohnheit; räumliche und zeitliche Verfügbarkeit; hohe Auflage, die dann auch eine entsprechend große Redaktion und damit auch eine höhere 'Qualität' impliziert usw.) die dann erfolgende Schwellenwerterhöhung durch, auf ein zumindest kostendeckendes Niveau, steigende Preise mehr als kompensiert. Steigende Schwellen sind entweder dadurch zu erklä-ren, dass eine anfangs unsichere, aber von anderen anfangs als prinzipiell zukunftsträchtig angesehene, Innovation im Zeitverlauf als immer unbrauchbarer beurteilt wird ,und/oder dass sie, was insbesondere für Systeminnovationen mit hohem Netzwerknutzen zutrifft, die in sie gesteckten Erwartungen bezüglich ihrer Verbreitung nicht erfüllt, wodurch mit der Zeit immer mehr abspringen und so die 'Ausge-setztheitsgrade' sinken, wie auch die Schwellen ob der enttäuschten Erwartungen steigen. Ein Beispiel für enttäuschte Erwartungen be-züglich der Produkteigenschaften ist mit Abstrichen der Versuch der Durchsetzung von Elektroautos; ein Beispiel für enttäuschte Erwar-tungen bezüglich der Verbreitung ist der Versuch der Durchsetzung von Btx. Das diese beiden Komponenten meistens nicht voneinander zu trennen sind macht eben die erfolglose Diffusion von Btx deutlich. Während bei einer steigenden Anwenderzahl durch learning-by-doing Effekte, bzw. beim Btx-System durch ein in Abhängigkeit von der steigenden Anwenderzahl immer größeres und vielfältigeres An-gebot an Dienstleistungsservicen und an potentiellen Kommunikationspartnern, positive Rückkopplungen bezüglich der Schwellenwerte der Noch-Nicht-Anwender auftreten werden, werden bei einer sinkenden Anwenderzahl in Abhängigkeit von dieser sowohl die angebote-nen Dienstleistungsservice (Produkteigenschaften bzw. Produktnutzen) als auch der Netzwerknutzen und die Erwartungen bezüglich der zukünftigen Verbreitung negative Rückkopplungen auf die Schwellen der Noch-Nicht-Anwender auslösen. Eine solche Schellenwertent-wicklung wird den Diffusionsprozess wahrscheinlich zur Erfolglosigkeit verdammen. Ein Beispiel für zuerst sinkende und dann steigende Schwellenwerte sind Moden, wie Petticoats, Kotletten, u.a. Anfangs sinken die Schwellen, d.h. je mehr Menschen man sieht, die dieser, von einem selber als 'chic' empfundenen, Mode folgen, desto mehr sinkt die eigene Hemmschwelle und desto wahrscheinlicher ist es, dass man beim nächsten mal, wenn man mit dieser Mode konfrontiert wird, ihr auch folgt. Mit der Zeit jedoch findet man sie immer langweili-ger und so steigen die Schwellen wieder.

307 Vgl Valente (1991, S.64f) 308 Zu "Theories of Personal and Collective Conservatism" siehe Kuran (1988), Hejl (1990, S.327ff) 309 Vgl. Valente (1991, S.66) Ein Beispiel ist eine neue Saatkornart, deren Effizienz anfangs unsicher ist, und deren Erprobung von den Far-

mern die Bereitstellung eines genügend großen Landstückes erfordert. Folglich werden die Farmer anfänglich hohe Schwellen haben. Ei-nige das Risiko in Kauf nehmende Farmer [vielleicht nach dem Motto: "IF YOU DONT DO IT, NOBODY ELSE WILL"; Vgl. zu einer möglichen verhaltenstheoretischen Begründung den gleichnamigen Artikel von Oliver(1984)] werden das Experiment machen und so das

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Das Schwellenwert-Kritische-Masse-Modell nimmt an, dass vor Erreichen der kritischen

Masse ein hohes 'Ausgesetztsein' für die Adoption notwendig ist, da die Schwellen an-

fangs sehr hoch sind, viel höher als das durchschnittliche Ausgesetztsein. Mit der Zeit

sinken die Schwellen relativ zum Ausgesetztsein, steigen aber absolut, bis eine kritische

Masse erreicht wird. In diesem Punkt ist die absolute Zahl der neuen Adopter am höchs-

ten. Danach sinken die Schwellen, und der Diffusionsprozess läuft bis in die Sättigungs-

phase310. Unter diesen Annahmen über den Diffusionsprozess modellierte Valente selbi-

gen am Computer, wobei ihm durch Feinabstimmungen sowohl bezüglich der Dynamik

der Schwellenwertverteilung als auch bezüglich der Art von Beeinflussung und der Art der

Netzwerkstruktur, unter Referenznahme von empirisch beobachteten bzw. theoretisch

hergeleiteten Diffusionskurven, zum Teil recht gute Beschreibungen gelangen.

Interessant ist an diesem Erklärungsansatz die der Synergetik ähnliche Betrachtungswei-

se. Der individualistische Ansatz der Schwellenwertmodelle wird mit dem holistischen An-

satz der Kritischen-Masse-Modelle auf eine synergetische Art und Weise miteinander ver-

knüpft. Wenn man von vielen gruppenspezifischen kritischen Massen, die allmählich in

der Zeit sukzessive erreicht werden, ausgeht, wird die Analogie zur synergetischen Be-

trachtungsweise eines, sich durch das Verhalten der mikroskopischen Einheiten heraus-

bildenden und dann stabilisierenden, makroskopischen Ordners noch deutlicher.

5.3 Individualismus, Holismus und Synergetik

Allgemein kann der Erklärungsansatz der selbstorganisatorischen (hier in Form der syn-

ergetischen) Sichtweise folgendermaßen von dem der individualistischen oder gar holisti-

schen Sichtweise unterschieden werden: Die Vertreter eines individualistischen Ansatzes

schneiden aus dem Interdependenzgeflecht Einheiten als Aktoren heraus, geben diesen

Handlungsmöglichkeiten und Bewertungsschemas und lassen sie in Wechselwirkung tre-

ten. Unter der Annahme rationalen Verhaltens der Individuen ergeben sich dann auf der

kollektiven Ebene konsistente Handlungsgleichgewichte311. Die Vertreter eines holisti-

schen Ansatzes hingegen lassen das Interdependenzgeflecht intakt, konservieren es, ge-

ben ihm Namen wie System, Ganzheit oder Struktur und ernennen es zum Handlungsträ-

neue Saatkorn auch in die persönlichen individuellen Netzwerke einführen. Hiernach werden jedoch die Noch-Nicht-Anwender ihre Schwellen heben, da das Risiko, welches sie sonst vielleicht sogar in Kauf genommen hätten, nun verlagert ist, und abwarten, welche Er-fahrungen die 'Tester' mit dem Saatkorn machen werden. Erweist sich das Experiment als erfolgreich, stellt sich also eine gewisse Er-folgsgarantie ein, so werden die 'Noch-Nicht-Anwender' ihre Schwellen senken.

310 Vgl. Valente (1991, S.71) 311 Ziel des individualistischen Ansatzes ist es, jegliches Systemverhalten auf die Handlungen der Individuen zu reduzieren: Hierbei werden

bestimmte Präferenzen und Handlungsalternativen unterstellt, und es wird untersucht, unter welchen Bedingungen ein Gleichgewicht existiert. Dieses kann ein Marktgleichgewicht oder auch ein spieltheoretisches Gleichgewicht sein. Die Gleichgewichte sind vor allem durch eine Kompatibilität der rationalen Erwartungen gekennzeichnet. Diese fuhrt zu einer Kompatibilität der einzelwirtschaftlichen Plä-ne, um die es in der Ökonomie vordringlich geht; Vgl. Schmidtchen (1990, S.83). Ob ein solcher Gleichgewichtszustand überhaupt realis-tisch ist, sei dahingestellt (siehe hierzu das nächste Kapitel). Das jedoch auch die Stabilität der Präferenzen unterstellt wird, wie auch, dass eine instantane, simultane Anpassung an das (die) Gleichgewichte) stattfindet, also eine Koordination a-priori angenommen bzw. dem Koordinationsprozess keine Bedeutung zugemessen wird, wirft Zweifel auf. Während im individualistischen Ansatz Präferenzen und Gleichgewichte hervorgehoben werden, werden die Prozesse der Präferenzbildung, der Koordination und des Handeln in der Zeit ver-nachlässigt. Dies führt zu einem weitgehendem Verzicht sowohl auf die (modelltheoretische) Formalisierung von Interaktionen als auch auf die Betrachtung von anderen Ordnern als nur dem des Preises. Besonders bei der Erklärung evolutionärer Prozesse kommt der indi-vidualistische Ansatz in Beweisnot, da sowohl die Definition der Präferenzen als auch die Produktionsfunktionen ihre Aussagekraft ver-lieren; Vgl. Weise (1990, S.54ff)

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ger312. Um zu funktionieren und zu überleben muss ein System bestimmten Erfordernis-

sen genügen, deren Erfüllung gleichsam die Handlungen des Systems darstellen313.

Anders ausgedrückt betrachtet der holistische Ansatz als letzten, nicht weiter erklärbaren

Ordner das Systemverhalten selbst, dieses wird als Wirkungsgröße betrachtet, die alle

Individuen versklavt. Hingegen nimmt -in dem Versuch jegliches Kollektivverhalten mit

individuellem Rationalverhalten in Übereinstimmung zu bringen- der individualistische An-

satz die individuellen Präferenzordnungen als Wirkungsgrößen an, denen die gesamte

Güterwelt untergeordnet ist, wobei alle Koordinationen derart schnell verlaufen, dass das

Systemverhalten immer gleichgewichtig ist314.

Der synergetische Ansatz ist viel gröber als der individualistische Ansatz, aber viel diffe-

renzierter als der holistische Ansatz und erlaubt es, als eine Art mittlerer Ansatz beide

miteinander zu verbinden. "Er betrachtet wie der holistische Ansatz eine Vielfalt von Ord-

nern, koppelt diese aber auf individuelles Verhalten zurück, und geht wie der individualis-

tische Ansatz von Individuen aus, betrachtet aber Interaktionen auf verschiedenen Ebe-

nen statt quasi isolierter Individuen und Selbstorganisation über viele Ordner bei sequen-

tiellem Handeln statt quasi isolierter Individuen und Selbstorganisation über viele Ordner

statt Selbstorganisation über Preise bei simultanen Handeln zu Gleichgewichtspreisen."315

312 Der holistische Ansatz beschreibt die Größen, die zu einer Anpassung des individuellen Verhaltens an gesellschaftliche Zwänge führen.

"Zwang, Herrschaft, Sprache, Symbole, Kommunikation, Struktur, Systemerfordernis und anderes mehr sind die Vehikel zur Versklavung der Personen. Wesentlich beim holistischen Ansatz ist demnach die Darstellung dieser Zwangsfaktoren und der entsprechenden Vermitt-lungsprozesse, unwesentlich ist die Beschreibung der Personen selber und die selbstorganisatorische Erzeugung dieser Zwänge durch ih-re Interaktionen"; Vgl. Weise (1990, S.56).

313 Der holistische Ansatz spielt vor allem in der Soziologie eine Rolle, während in der Ökonomie nur vereinzelt, beispielsweise die Kommuni-kation zwischen Kapitalkoeffizient und Lohnquote in den Blickpunkt einiger Makroökonomen gerät; Vgl. Weise (1990, S.8f

314 Vgl. Weise(1990, S.46ff) 315 Ebenda(S.46)

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6. Spontane Ordnung in sozioökonomischen Systemen = Selbstorganisation = Evolution?

"It is certainly true that an actual economy will be changing all the time." J.R. Hicks316

Während bisher anhand von Modellen, deren Gegenstand vor allem die selbstorganisato-

rische Herausbildung einzelner Ordner war, jeweils spezifische Phänomene in sozioöko-

nomischen Systemen simuliert wurden, stellt sich nun die Frage, welches Bild der sozio-

ökonomischen Entwicklung und der in ihr ablaufenden Prozesse in ihrer Gesamtheit aus

dem Erklärungsansatz der Selbstorganisation -etwas überspitzt ausgedrückt: welches

'Weltbild' aus ihm resultiert.

Dies wird schon in obigem Zitat, in dem von einer "Selbstorganisation über viele Ordner"

die Rede ist, angedeutet: Durch ein dynamisches Wechselspiel der mikroskopischen und

der makroskopischen Ebene wird eine Vielfalt von Ordnern erzeugt und aufrechterhalten.

Diese Ordner beeinflussen sich wiederum gegenseitig, wobei man zwischen langsamen

und schnellen Größen auf verschiedenen Zeitebenen unterscheiden kann317. Die Ordner

sind im Verhältnis zu den individuellen Handlungen vergleichsweise stabil und wenig ver-

änderlich318. Da sie sehr viel langsamer variieren als die individuellen Verhaltensweisen,

scheint es so, als ob sie ein Eigenleben führten319. Der Tatsache, dass auf jeder Ebene

ein Gesamtverhalten emergiert, welches mehr ist als die Summe der individuellen Hand-

lungen, kann man -wies im Hauptteil dieser Arbeit gezeigt wurde- mittels einer synergeti-

schen Modellierung gerecht werden. Aber konnte mit den Modellen auch die Evolution

des bzw. eines sozioökonomischen Systems dargestellt werden, ist also Selbstorganisati-

on gleich Evolution?

316 Zitiert in Lehmann (1992.S.93) 317 Vgl. Weise (1990, S.46) Über diese verschiedenen Zeitebenen kann man eine Hierarchie von Ordnern auf verschiedenen Zeitebenen defi-

nieren, wie z.B. : Natur><=Kultur»<t=Institutionen»<= Normen»<=Wirtschaft»<= ....; idealisierend wurde in den in dieser Arbeit ge-zeigten Modellen das "System gedanklich in System und Umwelt", zerlegt", aber so, dass sich das System jeweils schneller an die Umge-bung anpasst, als diese an jenes. Bleibt die Umgebung durch die Aktionen des Systems unverändert, kann man das Systemverhalten durch Umgebungsparameter erklären. Beispiele: Nomadentum, Staatenentstehung. Verändert sich die Umgebung, so können Systembrüche auf-treten; Beispiele: Neolithische und industrielle Revolution, die heutigen Transformationen von Wirtschaftssystemen. Existieren Bimodali-täten, genügen kleine Variationen, um große Verhaltensumschwünge zu bewirken; Beispiele: Schah und Khomeini im Iran, fortschrittliche und konservierende Kräfte in Gesellschaften wie UdSSR, CSSR, Rumänien oder China"; Vgl. Weise(1990, S.51f). Zu einer Theorie politi-scher Revolutionen siehe Kuran (1989); zum Ordner Kultur siehe Schlicht (1990).

318 Anschaulich bedeutet dies z.B.: Die Zeitschrift Bravo', die vor allem von Teenies' gekauft wird, hat über die Jahre hinweg eine relativ konstante Auflagenzahl, die auch als Ordner bezeichnet werden kann. Obwohl die individuellen Konsumenten, die diesen Ordner erzeu-gen, ständig wechseln, bleibt dieser als Ordner in der Zeit mehr oder weniger invariant. Dies kann man meiner Meinung nach als 'verti-kale Stabilität' des Ordners bezeichnen. Diese gilt auch für Schulen, Heiratsinstitute, Zoo, Mofas, Vorlesungen usw. Sie zeichnet sich da-durch aus, dass trotz des ständigen altersbedingten Durchflusses eine wie auch immer zu bestimmende Altersgruppe den Ordner auf-rechterhält. Diese war in den erläuterten Modellen nie Bestandteil der Betrachtung, in ihnen ging es vor allem um eine von mir als hori-zontal' bezeichnete Stabilität, die bei der Betrachtung kürzerer Zeiträume im Vordergrund steht. Bei ihr geht es darum, wie ,trotz indivi-dueller Verhaltensinstabilitäten in einer Gruppe, (Population) ein stabiler makroskopischer Ordner aufrechterhalten wird. Ein anschauli-ches Beispiel: Obwohl jeder Raucher des Öfteren seine Zigarettenmarke wechselt, also die Substitute Marlboro, Camel, L&M und Lucky Strike nur mit gewissen relativen und absoluten Häufigkeiten wählt, bleibt der Marktanteil und damit der Ordner, der durch jede Marke erzeugt wird, mehr oder weniger konstant. Im Verhältnis zu den individuellen Verhaltensweisen ist er vergleichsweise stabil und wenig veränderlich. Auf aggregierter ökonomischer Ebene zeigt sich dies z.B. darin, dass die absolute Höhe der Investitionen in einer Wirtschaft relativ konstant bleibt (in the short-run), obwohl die mikroskopische Ebene durch ständige Markteintritte und Marktaustritte von Firmen wesentlich instabiler ist.

319 31^Diese Sicht entspricht der von Haken postulierten 'adiabatischen Elimination'. Wenn das Verhalten von Ordnern auf höheren Ebenen beschrieben wird, geht man zwar nicht von einer vollständigen, aber von einer ungefähren und somit vernachlässigbaren Anpassung der unteren Ebenen an das dynamische Verhalten der Ordner aus.

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Seite 82

Abstrakt ausgedrückt evolviert ein sozioökonomisches System "indem es sich selbst re-

produziert und seine Elemente variiert"320. Praktisch ausgedrückt sind im sozioökonomi-

schen System immer sowohl Interaktionen mit negativem Feedback, d.h. Interaktionen,

die sich auf ein Gleichgewicht zu bewegen, als auch Interaktionen mit positiven Feed-

back, d.h. Interaktionen, die sich wechselseitig verstärken und ein Gleichgewicht aufbre-

chen, gegenwärtig. Letztere können zu Phasenübergängen und damit zu Herausbildung

neuer bzw. anderer Strukturen führen. Für die Beschreibung sozioökonomischer Evolution

scheinen die Interaktionen bei negativen und positiven Feedbacks sowie Größen unter-

schiedlicher Anpassungsgeschwindigkeit entscheidend zu sein, womit sich Evolution als

Anpassungsprozess verstehen lässt, bei dem sich sehr schnelle Variablen an die schnel-

len Variablen anpassen, diese an die langsameren, usw."321

Diese selbstorganisatorische Sicht der Dinge wirft die Frage auf, warum dieser Anpas-

sungsprozess ständig abzulaufen scheint, aber trotz der fortwährenden Anpassung immer

Ungleichgewichte im System präsent sind, ohne dass jemals ein globales Gleichgewicht

bzw. ein globaler Attraktor erreicht wird. Dies ist um so verwunderlicher, da ja auch kom-

plexere Attraktoren als der einfache traditionelle Fall eines Fixpunktattraktors mit in die

Betrachtung einbezogen werden, die obendrein noch als Fließgleichgewichte charakteri-

siert werden können.

Natürlich verändert sich die Umgebung der Subsysteme während des Anpassungspro-

zesses - anders als bei der biologischen Evolution, bei der die Anpassung an eine gege-

bene Umwelt geschieht- wodurch das sich entwickelnde System durch die Präferenzkräfte

möglicherweise dieser gegenüber immer weniger effizient angepasst ist. Dann ziehen Prä-

ferenzkräfte und Konformitätskräfte in eine andere Richtung, das Systemverhalten wird fragil,

und durch exogen oder endogen verursachte Störungen kann es zu Katastrophen kom-

men. Trotzdem müsste sich, nachdem das System über solche Fluktuationen seine Stabi-

lität in einem gewissen Sinne getestet, bzw. über durch diese ausgelöste Umorganisati-

onsprozesse seine Stabilität erreicht hat, eine makroskopische Ordnung einstellen, die

durch Gleichgewichte oder Fließgleichgewichte gekennzeichnet ist, deren Zustand oder

Entwicklung in der Zeit eine geschlossene Darstellung ermöglichen322 .

Der Zustand eines totalen Gleichgewichtes stellt hierbei den Referenzzustand dar, der 320 Weise(1990, S.51) 321 Ebenda (S.51ff); die Time-Lags' zwischen den Ebenen werden am Beispiel der Natur besonders deutlich. Erst heute antwortet das ökologi-

sche System auf die Neuerungen der letzten Jahrzehnte im Wirtschaftssystem, nämlich mit Ozonlöchern, Waldsterben usw. und initiiert so einen neuen Anpassungsprozess, der auch den Charakter der Innovationen und somit die Richtung' der zukünftigen Evolution bestimmt.

322 Das dies auch aus ökonomischer Sichtweise eine Fiktion ist vermerkte auch Day (1987, S.46f):"Unfortunately, simple dynamic behaviour is not exhibited by typical economics of record. Instead they exhibit complex dynamics: irregular fluctuations; overlapping waves of de-velopment and structural change; and institutional change and evolution. If there where a tendency for economics to converge to simple dynamic paths within a fixed institutional framework, none of this would be important, because the departure from balanced growth or cycles would eventually abate. Theories of the steady State and of cycles would approximate with ever greater accuracy the path of actual events, and society would settle down once and for all to a fixed organizational structure. But this too is not the case. If anything, the pace of change has accelerated with the advance of human progress; the duration of growth and decay periods have shortened correspond-ingly. Fluctuations have dampened for a time, only to erupt again in even wider Swings; in spite of the remarkable growth in Statistical methods of estimation, progress in forecasting is negligible at best. Economic change is as erratic, or even more so, than ever." In seinem Artikel führt er eine Reihe von Argumenten auf, die stark mit der Synergetik zusammenhängen: Die Ökonomie ist für ihn ein komplexes Anpassungssystem, wobei Gehorsam, Imitation, die Bildung von Gewohnheiten und Experimentation die Basis für diesen Anpassungspro-zess bilden.

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scheinbar nie erreicht wird. Im mikroökonomischen Sinne des allgemeinen Gleichgewichts

liegt ein totales Gleichgewicht dann vor, wenn sich "alle Wirtschaftssubjekte im Dispositi-

ons- und alle Märkte im Marktgleichgewicht"323 befinden. Die Gleichgewichte reflektieren

eine Kompatibilität aller einzelwirtschaftlicher Pläne. "Kompatibilität ist dabei definiert als

Abwesenheit von Entscheidungsirrtümern, die sich ex post entweder als Enttäuschungen

(nicht erfüllte Erwartungen) oder als Bedauern (nicht genutzte bessere Gelegenheiten)

von Entscheidungen niederschlagen"324. Wenn sowohl Enttäuschungen als auch Bedau-

ern in den Märkten vorhanden sind, ist dies ein Hinweis auf Ungleichgewichte325. Wie ge-

zeigt wurde, können diese an anfänglich unvollständiger Information liegen, auf Basis de-

rer natürlich auch falsche Erwartungen gebildet werden.

Geht man von einer gewissen, sich nicht ändernden objektiven Informationsmenge aus,

so ist der Konvergenzprozess auf ein Gleichgewicht als der Prozess der immer weiter zu-

nehmenden subjektiven Information, der schließlich in einer Deckungsgleichheit von sub-

jektiver und objektiver Information endet, beschreibbar. Der Konvergenzprozess auf ein

Gleichgewicht zu ist dabei meistens dann nicht eindeutig, wenn während seines Ablaufes

wechselseitige Bindungen zwischen den beteiligten Individuen herrschen. In solchen Fäl-

len werden Konformitätskräfte bzw. Antikonformitätskräfte, Fluktuationskräfte, Präferenzen

und sequentielles Handeln in der Zeit eine Rolle spielen326. Geht man außerdem realisti-

scherweise davon aus, dass die subjektive Informationszunahme nicht simultan erfolgt,

werden die gegenseitigen Beeinflussungsprozesse noch offensichtlicher. Jeder orientiert

sich am Verhalten der relevanten Anderen, genauso wie er ein Großteil der Information

von ihnen erhält. Das bedeutet, dass sich Individuen mit unvollständiger Information an

Individuen mit unvollständiger Information orientieren, die sich wiederum an Individuen mit

unvollständiger Information orientieren...usw.

Ist die objektive Information gegeben und fest, so wird sie allmählich durch das Netzwerk

der sozialen Systeme als subjektiv neue Information hindurch diffundieren und Verhal-

tensänderungen implizieren. Dieser Prozess dauert an, bis alle Individuen in einem ge-

wissen Sinne vollständige Information über ihre Handlungsmöglichkeiten und Handlungs-

restriktionen erlangt haben, und gegenüber diesen ihre optimale bzw. zufrieden stellende

Wahl treffen327, was zu Gleichgewichten auf allen Märkten (Kompatibilität der individuellen

Handlungen) führt328.

Die Einschränkung 'in einem gewissen Sinne' bezieht sich auf die Tatsache, dass die

Vorstellung vollständiger Information auf beiden Marktseiten eine reine Fiktion ist, schon

323 Dichtl (1987,Bd.2, S.735) 324 Schmidtchen (1990.S.83) 325 Zum Versuch "The General Theory of Disequilibrium Economics and of Economic Evolution" zu begründen, siehe Day (1987) im gleich-

namigen Artikel. 326 Die anfänglich unvollständige Information verbunden mit externen Effekten wurden in Woekeners Modell dargestellt. 327 Zur verhaltenstheoretischen Kontroverse über die Motivationsproblematik: Optimierendes vs. zufrieden stellendes Verhalten, siehe Witt

(1987, S.139fF) Zu ersten formalen Implementierungen der 'satisfying'- Hypothese in Modellen siehe z.B. Winter (1971) 328 In Witt's Modell z.B. käme es dann auf jedem Markt zu einem Zusammenfallen von Ober- und Untergrenze; mit einer eindeutigen best-

practice wird ein über ein Preis-Qualitäts-Verhältnis eindeutig bestimmtes 'optimales' Gut produziert und nachgefragt.

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da die menschliche Aufnahmefähigkeit gegenüber dem Ausmaß der riesigen Informati-

onsmenge beschränkt ist329. Vielmehr läuft die Aussage vollständiger Information darauf

hinaus, dass an keiner Stelle des sozioökonomischen Systems mehr eine Information ei-

ne Verhaltensänderung auslöst330. In den Märkten ist dann alle Information im Preis ent-

halten und auch Kirzners findiger Unternehmer - der Arbitrageur- findet kein Betätigungs-

feld mehr bzw. sichert bei Abweichungen eine Rückkehr auf die Gleichgewichtspfade (ne-

gative Rückkopplung)331.

Aus der selbstorganisatorischen Sicht organisiert sich das sozioökonomische System

über eine endliche Anzahl von möglichen Handlungszuständen selbst, wobei mehr oder

weniger stochastische Informationsflüsse, die durch das soziale Netzwerk strukturiert

werden, mit positiven und negativen Rückkopplungen interagieren, und so der Systemver-

lauf einen spezifischen Entwicklungspfad beschreibt: Aus der Vielfalt der möglichen Ent-

wicklungspfade wählt das System über Fluktuationen seine spezifische Geschichte. All-

mählich stabilisiert sich die entstehende selbstorganisierende sozioökonomische Struktur,

wodurch sich mehr und mehr die Umwelt der jeweiligen Subsysteme (Randbedingungen)

stabilisiert. Die Ordner verfestigen sich, Institutionen, Moral, Tabus, Städtestrukturen, Ein-

kommensverteilungsstrukturen usw. entstehen. Unter den nun mehr und mehr gegebenen

Handlungsrestriktionen und Handlungsmöglichkeiten trifft das Individuum auf den Märkten

unter vollständiger Marktinformation nun seine Wahl, wobei der Preis seiner Koordinati-

onsaufgabe als einfacher reagierender Ordner gerecht wird und Gleichgewichte auf allen

Märkten schafft: Da die einzelwirtschaftlichen Pläne nun miteinander kompatibel sind, gibt

es keine Enttäuschungen, und da es vollständige Information bezüglich der nicht genutz-

ten Gelegenheiten gibt, gibt es kein Bedauern. Was man unter den sozialen und den öko-

nomischen Zwängen für möglich und optimal bzw. zufrieden stellend hält, erweist sich als mög-

lich und optimal bzw. zufrieden stellend: Das Individuum passt sich den durch das sozio-

ökonomische Beeinflussungsfeld erzeugten Zwängen an. Diese können mehr und mehr

internalisiert werden, was einer Transformation von äußeren Zwängen in innere Zwänge

entspricht; das, was für den Einzelnen möglich ist, entspricht dann dem, was er sich

wünscht. Wenn dies für alle Individuen gilt, kann man von einem totalen Gleichgewicht im

engeren Sinne sprechen. Einem solchem würden hochgradig stabile individuelle Verhal-

tensmuster entsprechen332.

Ein wie gerade beschriebener Anpassungs- und Entwicklungsprozess ist im Prinzip über

selbstorganisatorische Modelle beschreibbar. Unter einer objektiv gegebenen (möglicher-

weise im Verlauf des Prozesses zum Teil erst später subjektiv von den Individuen wahr-

genommenen) Anzahl von Handlungsmöglichkeiten 'evolviert' ein sozioökonomisches 329 Zu den Beschränkungen in Informationsaufnahme und -Verarbeitung siehe Witt (1987, S.127ff) 330 Wie Witt (1987, S.150) es ausdrückte: "Dabei ist klar: Jede Anpassung durch Lernen (Wissen) und Gewöhnung (Präferenzen) müsste

irgendwann enden, wenn nicht immer wieder neue Anstöße erzeugt würden und sich ausbreiteten." 331 Zu Kirzners Theorie des Arbitrageprozesses siehe Witt (1987, S.71ff) 332 "Origins of ...behavioural regularities can be, on the one hand, preferences, the internal behavioural constraints, or, on the other forces

brought about through man's network of interdependence. These forces are a result of the active Cooperation of man and at the same time provide for the regularity of this Cooperation. A portion of these forces-in total equilibrium all of them- express themselves as internal behavioural constraints within the individuals and stabilize the external forces:'Conscience is social angst"',Brandes,1990, S.175

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System in der Zeit, indem es sich über diese Handlungsmöglichkeiten hinweg selbst or-

ganisiert. Kann man jedoch überhaupt z.B. bei über die Mastergleichung simulierten Ent-

wicklungsprozessen, bei Siedlungsstrukturmodellen oder bei 'Jahrgangsmodellen ' von

Evolution reden? Diese Frage wird in der Literatur konträr beantwortet und hängt eng mit

der Definition von Evolution zusammen.

Ein Erklärungsansatz, der deswegen interessant ist, weil eine im Kern verhaltenstheoreti-

sche Begründung mit einer im Kern ökonomischen Begründung verknüpft wird, stammt

aus der Institutionenökonomik: "The central mechanism responsible for societal evolution

in institutional economic theory is the process of instrumental valuation"333.

Diese Theorie behauptet, dass die Menschen die Güter, Dienstleistungen und Situationen

am höchsten bewerten und somit wollen und wünschen, die ihr persönliches oder kollekti-

ves Wohlbefinden möglichst groß werden lassen. Derartige Güter, Dienstleistungen oder

Situationen werden zu Zielen, die mit verschiedenen Mitteln verfolgt werden. Der Satz von

möglichen Zielen und Mitteln jedoch ist zu jeder Zeit in erster Linie von der gegenwärtigen

Technologie bestimmt334.

Gemäß dieser Theorie evolvieren sozioökonomische Systeme, wenn ihre Individuen mit

Hindernissen bei der Erreichung ihrer Ziele konfrontiert werden. Wenn das der Fall ist, setzen

sie Wissen und Vernunft ein, um das Problem zu lösen und erhöhen so den Technologie-

level der Gesellschaft335. Der so erweiterte Satz der möglichen Ziele und Mittel ändert 333 Radzicki (1990, S.60) 334 Dies impliziert, dass unter den gegebenen Technologien der Satz von möglichen Zielen und Mitteln endlich ist, was wiederum impliziert,

dass es eine gewisse objektive endliche Information über die Handlungsmöglichkeiten der Individuen gibt. Hierdurch erfährt meine oben aufgestellte ad-hoc-Hypothese einer gegebenen objektiven Information seine Begründung. Evolution wird gemäß Faber (1990, S.3) fol-gendermaßen beschrieben: "In our view the key characteristics of evolution are (1) change and (2) time". Da diese in dem hier dargestell-ten Kontext keine faktische Aussagekraft besitzen, denn das eine wie das andere stellen ja gerade Schlüsselcharakteristika aller in dieser Arbeit betrachteten Phänomene dar, halte ich mich hier an Witt: "Um dem folgenden eine möglichst allgemeine, von Analogien unabhän-gige, Definition zugrunde zulegen, soll hier von einer evolutionären Theorie gesprochen werden, wenn drei Kriterien erfüllt sind. Die Theorie ist dynamisch, d.h. sie hat eine in der Zeit ablaufende Entwicklung zum Gegenstand. Der Theorie liegt das Konzept der irrever-siblen, historischen Zeit zugrunde, d.h. sie bezieht sich auf Entwicklungen, die eine zeitlich nicht umkehrbare Richtung aufweisen. Die Theorie erklärt, wie es zu Neuerungen in den untersuchten Entwicklungen kommt und welche allgemeinen Einflüsse sie haben, d.h. sie formuliert Hypothesen über das zeitliche Verhalten von Systemen, in denen Neuerungen auftreten und sich ausbreiten."[Witt (1987, S.9)]. Insbesondere das dritte Kriterium erfährt in der von mir dargestellten Sichtweise besondere Aufmerksamkeit. Hierzu lege ich eine einfa-che Definition nach Witt (1987, S.18) zugrunde: "Eine Neuerung ist die Einführung einer zuvor zumindest im betrachteten Zusammen-hang von einem Individuum oder eine Gruppe von Individuen nicht angewendeten Handlungsmöglichkeit." Sowohl Entstehung als auch Ausbreitung einer Neuerung sind Bestandteil der sozioökonomischen Evolution. Während die Ausbreitung (wie gezeigt wurde) als selbst-organisatorischer Prozess, in dem eine objektive Neuerung als subjektive Neuerung durch das Netzwerk sozialer Systeme diffundiert, be-schreibbar ist, beinhaltet die Entstehung die eigentliche Problematik, da die Neuerung sowohl allen Individuen als auch dem wissen-schaftlichen Betrachter zuvor unbekannt ist, also eine zuvor nicht antizipierbare Handlungsmöglichkeit die sozioökonomische Evolution bestimmt. Sie "verändert u.U. die Menge der zuvor bekannten, möglichen Zustände in einer...nicht positiv antizipierbaren Weise"[Witt (1987, S.25)] bzw. schafft objektiv neue Information: "Gemeint ist der Umstand, dass die in objektiven Neuerungen enthaltende Informa-tion definitionsgemäß vor ihrem Eintreten nicht bekannt ist und nicht positiv antizipiert werden kann"; Witt(1987, S.21).

335 Hier stellt sich natürlich die Frage: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Führt die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand zu vermehrten Anstrengungen, den Satz der Möglichkeiten zu erweitern und somit zur Entwicklung neuer Technologien? Oder ist es die Kreativität, die, angetrieben von den Anreizmechanismen einer komplexen, marktwirtschaftlichen, sozioökonomischen Gesellschaft, über die Entwicklung neuer Technologien zur Erhöhung der möglichen Ziele und Mittel führt? Dann ist es der erhöhte Satz der Möglichkeiten, der neue von den Individuen als höher bewertete Ziele ermöglicht und hierdurch eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand schafft. Diese Frage ist nicht beantwortbar, in der Realität spielen wohl beide Prozesse eine Rolle. "Es ist zwar intuitiv einleuchtend, dass nicht alle objektiven Neuerungen den gleichen Überraschungswert haben...; das Spektrum reicht von Neuerungen, die als Lösung eines bekannten, präzise definierten Problems schon lange erwartet worden sind, bis zu unvermittelten, aus dem gegebenen Kontext heraus nicht nahe liegenden, neuen Aktivitäten, die z.B. durch Wechsel der Bezugs- oder Abstraktionsebene gewonnen wurden. Ex ante lässt sich jedoch nicht sagen, wo in diesem Spektrum eine noch nicht eingetretene Neuerung angesiedelt sein wird", Witt(1987, S.21) Für die kon-zeptionelle Betrachtung ist vor allem wichtig, dass durch eine Erhöhung des Technologielevels einer Gesellschaft Anpassungsreaktionen, die sich in Um- oder Neustrukturierungen äußern, ausgelöst werden. Dies zeigt sich auch an den geschilderten Siedlungsstrukturmodellen von Allen. Für den Simulationsablauf ist es egal, ob die Orte bei Übersteigen einer gewissen Einwohnerzahl eine 'neue' höherwertige

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auch die relativen Bewertungen der Individuen und damit das, was von ihnen erwünscht

wird.

Diesen technologisch induzierten Veränderungen in den Bewertungen und Zielen stehen

jedoch oftmals die traditionellen Bewertungen entgegen. "Thus, ...the process of societal evo-

lution consists of a continuous tug-of-war or conflict between the forces of techno-logical

change and cultural stability"336.

Stark vereinfacht zeigt Abb.27 diesen 'evolutionären' Prozess:

Abb. 28: Der evolutionäre Anpassungsprozeß

Es wird eine explizite Unterscheidung zwischen dem „actual State“ und dem „desired Sta-

te“ eines Systems getroffen- Jede bestehende Diskrepanz zwischen diesen Zuständen

führt zu Handlungen, die -ceteris paribus- wieder zu einer Entsprechung der beiden Zu-

stände führen. Da die Information über einen neuen möglichen und gewünschten Zustand

asymmetrisch durch das Netzwerk der sozialen Systeme diffundiert337 und außerdem

Handeln als Handeln in der Zeit begriffen wird, werden die korrektiven Handlungen zeit-

verzögert eintreten, aus Sicht der Selbstorganisation wird das System beginnen zu fluktu-

ieren338. Diese Fluktuationen werden durch positive Rückkopplungen verstärkt, die simul-

tan mit der Diffusion der neuen Information ablaufenden Prozesse treiben das System in

wirtschaftliche Funktionen zugesprochen bekommen und dann sozioökonomischen Faktoren über Erhaltung und Diffusion derselben ent-scheiden, oder ob die Funktionen selber stochastisch an verschiedenen Orten auftauchen. So oder so ist der Erhalt einer Funktion, und damit die Wahrscheinlichkeit eine solche an einem bestimmten Ort vorzufinden, in starkem Maße von der Einwohnerzahl (Markt) an die-sem Orte abhängig.

336 Radzicki(1990, S.61) 337 "Depending on the structure of the particular System in question, this flow of information may be delayed and/or distorted before it

reaches the actor." ;Radzicki ( 1988, S.640) 338 "Humans, for example, take time to form opinions before acting and firms need time to produce new widgets before they can correct dis-

crepancies in their level of inventory" ;Radzicki ( 1990, S.61)

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einen von mehreren möglichen neuen Gleichgewichtszuständen. Ein solches Gleichge-

wicht wird in der institutionellen Dynamik als totales Gleichgewicht im engeren Sinne ver-

standen und "in an institutional dynamics model can only occur, when all of its actual sta-

tes equal their desired states, simultaneously: In such situations all goals are satisfied and

there is, consequently, no motivation for change and no fluctuation"339.

Gemäß einer solchen Auffassung von Evolution als einem fortwährenden Anpassungs-

prozess an durch fortwährende Innovationen geschaffene, vorher nicht vorhersehbare,

Handlungsmöglichkeiten, der zu Umstrukturierungen und/oder zu komplexeren Struktu-

ren340 führt, muss man bei der Modellierung sozioökonomischer Dynamik meiner Meinung

nach aus der selbstorganisatorischen Sicht zwischen der Entfaltung, der Erhaltung und

der Evolution eines Systems unterscheiden.

Erstere beschreibt, wie sich ein System über eine gegebene Anzahl von Handlungszu-

ständen selber organisiert. Die möglichen Handlungszustände und die Art der gegenseiti-

gen Abhängigkeiten sind von dem Modellbauer unter Umständen in einem Modell antizi-

pierbar. Von einem gegebenen Anfangszustand entfaltet sich das System in Abhängigkeit

von den Randbedingungen (die die Umwelt des betrachteten Systems in Form exogener

Beeinflussungsgrößen charakterisieren) und den das Interaktionsmuster beschreibenden

Gleichungen, wobei die spezifische Dynamik durch die Wahl der Parameter bestimmt

wird341. Meistens, wenn nicht gerade die Randbedingungen (die Umwelt) des Systems

starken Schwankungen unterliegen, konvergiert die Systementwicklung auf einen Attrak-

tor zu, der aber durchaus komplexer sein kann als ein einfacher Fixpunktattraktor; einen

Extremfall stellt ein Strange Attraktor dar, durch den die Entstehung von deterministi-

schem Chaos aufgezeigt werden kann. Der Attraktor beschreibt aufgrund der stochasti-

schen Formulierung den Zustand bzw. die geschlossene Dynamik von Fließgleichgewich-

ten und über diese die Selbstaufrechterhaltung eines stabilen Zustands des Systems.

Zwar kann man durch die stochastische Formulierung Handlungsinstabilitäten, imperfek-

ter Information und historischen Zufällen gerecht werden: Die Fluktuationen testen die

Stabilität des Systemzustandes; als Abweichungen vom Durchschnittsverhalten sind sie

ein treibender und korrigierender Faktor bei der Systementwicklung.

Dieses Nichtdurchschnittsverhalten wird von einigen Autoren als kreatives Handeln inter- 339 Radzicki( 1990, S.61) 340 Dieser steigende Komplexitätsgrad während der Evolution des sozioökonomischen Systems führte Laszlo zu folgendem Schluss bezüglich

der Autopoiesis des sozioökonomischen Systems: "Trotz der supraindividuellen Organisationsebene der Gesellschaft, ist ihre strukturelle Komplexität wesentlich geringer als die ihrer einzelnen menschlichen Mitglieder. Allein das menschliche Gehirn ist um mehrere Größen-ordnungen komplexer als alle Gesellschaften der heutigen Welt zusammengenommen. Die relative Einfachheit soziokultureller Systeme steht im Einklang mit allgemeinen evolutionären Trends . Systeme auf einer höheren Organisationsebene sind anfangs immer einfacher als die Systeme, aus denen sie bestehen; ein neues Organisationssystem bewirkt anfangs eine Simplifizierung der Systemstruktur, eröffnet aber gleichzeitig enorme Möglichkeiten für eine spätere Steigerung des Komplexitätsgrades"; Laszlo (1987, S.114f). "Die diskontinuierli-che, nicht-lineare Weise der historischen Entwicklung erscheint im Licht des heutigen Wissens über die Evolution gleichgewichtsferner Systeme folgerichtig und erwartungsgemäß....Gesellschaften sind autopoietische Systeme, die sich im Durchströmen von Menschen, Res-sourcen und Infrastrukturen sowie einem Energiefluss mittels autokatalytischer und wechselseitiger katalytischer Reaktionen erhalten. Al-lerdings sind Gesellschaften nicht autopoietische Strukturen; sie sind gleichzeitig multistabile, veränderungs- und transformationsfähige Systeme...Es kann zu plötzlichen Veränderungen in der Autopoiesis der Gesellschaft kommen"; Laszlo(1987, S.128f).

341 Anschaulich kann man sagen, dass durch die Spezifizierung der Gleichungen die 'Art' und durch die zusätzliche numerische Spezifizierung der Parameter die Weise' der Systemdynamik beschrieben wird.

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pretiert und deswegen mit evolutionären Vorgängen in Verbindung gebracht. Dieser an-

scheinende „short-cut“ erfährt seine Begründung in der Vorstellung, dass die Evolution

über die Entdeckung objektiv vorhandener, subjektiv aber nicht wahrgenommener, Hand-

lungszustände beschrieben werden kann342. Der „Stochast“', der durch ein Springen in

einen vorher subjektiv noch nicht wahrgenommene Handlungszustand vom Durch-

schnittsverhalten abweicht, wird zum Innovator343.

Somit müssten sich theoretisch evolutorische Prozesse prinzipiell z.B. mit Hilfe der Mas-

ter-Gleichung darstellen lassen344.Die Einschränkung bleibt jedoch die, dass dem Modell-

342 342Dieser Sicht leistete auch Schumpeter Vorschub, indem er mit dem "kreativen' Unternehmer die Einführung von Neuerungen zwar

endogen, aber in wenig befriedigender Weise erklärt; Vgl. Schumpeter (1912; 1947). Das Problem wird "durch die Annahme stets schon gegebener und bekannter Inventionen einfach reduziert"; Witt (1987, S.41). Die Kreativität' liegt dann in der Transformation von Inventi-onen zu Innovationen und somit in der liier postulierten selbstorganisatorischen Betrachtungsweise im Entdecken subjektiv 'neuer' Infor-mationen, im Sinne von subjektiv 'neuen' Handlungsmöglichkeiten. "Bemerkenswert ist, dass die Information, auf der alle Innovationen fußen, als exogen gegeben und frei verfügbar aufgefasst wird. Den zu beobachtenden Neuerungen scheinen fertige Blaupausen' zugrunde zu liegen. Es bedarf jeweils nur der ausgewählten befähigten Leute, die sie durchsetzen"; Witt (1987, S.38). Aus makroskopischer Sicht können diese Innovatoren dann als sich 'nicht-durchschnittlich' verhaltende Personen, also als Abweichungen vom Mittelwert, angesehen und gefolgert werden, dass "it is just this diversity, which drives evolution!" Allen ( 1988, S.108). Damit erfährt das synergetische Kon-zept der Wahrscheinlichkeit eine zusätzliche Bedeutung als Konzept zur modelltheoretischen Antizipierung von Neuerungsverhalten. So schreibt Erdmann (1990, S.139): "Verlässt man nämlich den Bereich der Mikroökonomik und betrachtet die Gesamtheit der Akteure, drückt sich die Streubreite des individuellen Neuerungsverhalten in der Varianz entsprechender gesamtwirtschaftlich aggregierter Verhaltensfünktionen aus". Hieraus schlussfolgert er, dass die Mastergleichung ein adäquates "Modellkonzept evolutionärer Prozesse" ist: "Die wesentliche Eigenschaft solcher Gleichungssysteme besteht darin, dass sich die von ihnen beschriebene Dynamik global ändern kann, wenn einzelne Parameter gewisse kritische Werte überschreiten. Solche globalen Änderungen des Charakters der Dynamik werden als Phasenübergänge bezeichnet. Da die Natur der Lösungen jedoch nicht durch äußere Vorgaben erzwungen wird, sondern sich auf-grund der inneren (nichtlinearen) Struktur des Systems ergibt, hat man damit ein paradigmatisches Modell offener Entwicklungen oder, wenn man will, für 'das zeitliche Verhalten von Systemen, in denen Neuerungen auftreten und sich ausbreiten'(Witt 1987, S.9)";Erdmann (1990, S.145).

343 Allen (1988) veranschaulicht diese Vorstellung an einem Modell "far removed from that of hi-tech' and 'Silicon Valley'" (Allen (1988, S.l 10)), welches das Verhalten von Fischern simulierte. Es zeigt das Zusammenspiel von sich verändernden Fischbeständen in den verschie-denen Gebieten und dem Verhalten der Fischer. Abstrahierend identifizierte er zwei Extreme: Auf der einen Seite die 'Stochasten', die oh-ne jegliche ökonomische Rationalität stochastisch durchs Meer diffundieren; auf der anderen Seite die Kartesianer', die absolut präzise die verfügbare Information abschätzen und mit der Wahrscheinlichkeit 1 zu dem Punkt mit der größten Attraktivität fahren. Obwohl die rigorose Trennung zwischen den beiden Extremen wohl der Realität nicht entspricht, sondern eine Vielfalt von 'mixed-types' vorzufinden sein wird, können so doch die realen Vorgänge gut simuliert werden. Die 'risk-takers' entdecken 'neue' Potentiale (nicht im Sinne der Po-tentialfunktionen!) und dadurch, dass die Informationen über diese diffundieren, folgen ihnen die Kartesianer'. Obwohl dies zum einen von Allen weder explizit noch implizit angedeutet wird, zum anderen hier erst die nachfolgenden Kartesianer die Entdeckung' effizient ausbeuten, so wird doch durch dieses Modell die Schumpetersche Vorstellung von der Entdeckung eines Potentials durch (einen) Innova-tor, die eine Gruppe von Imitatoren nach sich zieht, reflektiert

344 So entwarfen Haag und Weidlich [Vgl. hierzu Haag (1987)) und Weidlich (1983, S.141ff)] auf Basis der Mastergleichung ein Modell, das den Schumpeterschen Prozess von Innovation und Imitation auf der aggregierten Ebene der Investitionen beschreibt: "It is called 'the Schumpeter Clock' here...,since its moving parts, driving mechanism and control devices are typically Schumpeterian and not neo-classical or neo-keynesian...In particular, the model operationalizes the Schumpeterian notion of the Prime Mover, i.e., innovators and Imitators, who create and propagate microeconomic differences"; Haag (1987, S.187f). "The creation of such differences (leading to competitive advantages among rivaling producers) is the objective of the Strategic Investments of entrepreneurs, which are classified here according to their respective purposes as 'expansionary' or 'rationalising' ...From the notion of a dynamics of the shifts between differen-tiation (innovation) and conformative behaviour (imitation) the main argument for the cyclicity of industrial (short-term) development presented here is derived"; Weidlich (1983, S.142). Expandierende Investition wird mit Produkt-, rationalisierende Investition mit Pro-zessinnovationen in Verbindung gebracht. Die entscheidenden, die Entwicklung der Investorenkonfiguration beeinflussenden, Kräfte sind auch hier zum einen eine Konformitätskraft, 'The Coordinator', der über den Parameter K "manifests itself as a synchronization effect of investments of the same type undertaken by a majority of investors" [Haag (1987, S.200)]; zum anderen eine Präferenzkraft, The Altema-tor', der über den Parameter 8 "initiates the reversal of strategic bias"[Haag (1987, S.200)]. Beide "determine the transition probabilities at any point in time" [Haag (1987, S.200)]. Um die 'Schumpeter-Clock' am Laufen zu halten wird der 'Altemator' 8, der die Rolle einer "trend setting function" [Haag (1987, S.203)]spielt, dynamisiert (bei konstanten Parametern würde sich sonst nach einer Zeit ein stabiles Gleichgewicht herausbilden, in dem das System verharrt) und zwar gemäß der Vorstellung, dass, z.B. wenn mehr und mehr Investoren ex-pansionäres Investment betreiben, einige Innovatoren (Pioniere) auf den Plan treten und versuchen ihre Wettbewerbsposition durch das 'Adoptieren' einer nicht-konformistischen Strategie zu verbessern und so "capture quasi-rents due to differentiation"(Haag (1987.S.203)). In diesem Fall investieren sie in kostenreduzierende Investments (rationalisierende Investitionen) und 'zwingen' so die anderen, diese Strategie in Erwartung weiterer Kostenreduktionen im Markt zu imitieren. Der gleiche Prozess kann natürlich in die Entgegengesetzte Richtung verlaufen: Dann wird die Masse der rationalisierenden Investoren durch Produktinnovationen der 'Trend-Setter' zu "quality up-dating behaviour"(ebenda), also wie im ersten Fall zur Imitation, gezwungen. Durch diesen ewigen Kreislauf von Innovation' und Imitati-on' wird "the Synchronisation to be observed in the occurence of Business cycles"(ebenda) kreiert. Der Altemator 8 wird zu einer Funkti-on in der Zeit, wobei er sich in Abhängigkeit von vier weiteren Parametern, der Soziokonfiguration und seinem eigenen Zustand verän-dert. Anschaulich kann man sagen, dass sich durch diese Dynamisierung die Potentialfunktion, die bei konstanten Parametern die mögli-

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bauer zumindest die Anzahl und Art der möglichen Handlungszustände bekannt sein

muss, die ein Individuum des betrachteten Subsystems einnehmen kann345. Aber kann demgemäß

Evolution antizipiert werden?346

In der Ökonomie führt eine Gleichsetzung von "Theorie der spontanen Ordnung = Selbst-

organisationstheorie = evolutorische Ökonomik"347 zu einem reinen Anpassungs- und

Konvergenzdenken. Es stellt sich spontan ein Zustand der Ordnung ein, der das Ergebnis

des Handelns von Menschen ist, aber nicht Ergebnis menschlichen Entwurfs. Die spezifi-

sche Eigenschaft der am Prozess des Ordnens beteiligten Komponenten (Elemente), auf

die es in der Ökonomie ankommt, ist die Fähigkeit zum zielsuchenden Verhalten. In der

Ökonomie wird dieses Handeln als das Bestreben der Wirtschaftsubjekte bezeichnet, das

für sich Beste aus einer gegebenen Situation zu machen. Man nennt dies auch Eigen-

nutzstreben, wobei Gewinnerzielung als eine Form des Eigennutzes gesehen wird348. Wie

chen stabilen Zustände eines Systems wiedergibt (siehe hierzu Abb.20), selber in der Zeit verändert. Durch die Annäherung der Investo-renkonfiguration an einen Attraktor (bzw. durch das Erreichen desselben) verändert sich dieser selber, der Systemzustand wird instabil und in Richtung des neuen Attraktors getrieben, wobei durch die Annäherung an den 'neuen' Attraktor dieser sich wiederum ändert, usw. Durch dieses 'einfache' Modell können so Konjunkturzyklen simuliert werden. Indem die verschiedenen exogenen Parameter einer Fein-abstimmung' unterworfen wurden, konnten Weidlich und Haag die empirisch beobachtete Entwicklung der Investorenkonfiguration' für drei voneinander getrennte Perioden (1955-1965; 1967-1971; 1973-1980) anhand des Modells nachvollziehen. Diese ex-post Beschrei-bung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Modell keineswegs prognosefähig ist, da für die Abschätzung der zukünftigen Parameterwerte keine Grundlage gegeben wird. Die Fähigkeit zur relativ genauen Beschreibung beobachteter 'ökonomischer' Vorgänge scheint aber darauf hinzuweisen, dass auch diesen, im beschriebenen Falle im engeren Sinne dem Investitions-, im weiteren Sinne dem Innovations- und Imitationsverhalten , selbstorganisatorische Mechanismen zugrunde liegen, die über fundamentale Gesetzmäßigkeiten, die in dieser Arbeit aufgezeigt wurden, beschrieben werden können.

345 Womit die Behauptung im Vorsatz auch schon widerlegt ist. Wie Schlicht bezüglich der Hayekschen 'Musterbildung' [Vgl. hierzu Hayek (1972)] in sozioökonomischen Systemen, die ja auch bei evolutorischen Prozessen zu beobachten ist, vermerkte: "Viele dieser Überlegun-gen sind qualitativer Art, soll heißen: Sie beziehen sich nicht auf die Bewegung gewisser Variablen, sondern sie befassen sich mit dem Entstehen neuer Variablen. Die Synergetik thematisiert demgegenüber hauptsächlich quantitative Selbstorganisationsphänomene, soll heißen, die Koordinierung gewisser gegebener Variablen in einem Gesamtsystem"; Schlicht (1986,S,221).

346 Um die im vorhergehenden genannten Aspekte einer evolutorischen Betrachtungsweise gemäß Dopfer (1990; 1991) einer einheitlichen theoretischen Sichtweise zu unterwerfen: Die strukturellen Charakteristika eines Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt werden als syn-chrones Regime bezeichnet. Die Veränderung eines Systems über die Zeit S^—>S2-.—>SX wird als diachroner Prozess bezeichnet, wenn: Si#S2#...#Sx, also ein Übergang von einem synchronen Regime zu einem anderen stattfindet. "Eine diachrone Theorie muss Aussagen über jene Erklärungsvariablen machen, die in der synchronen Analyse typischerweise konstant gehalten werden. Diese in synchroner Perspektive konstanten Faktoren umfassen technologischen Fortschritt, Bevölkerung sowie strukturelle und institutionelle Aspekte einer Ökonomie"; Dopfer (1990, S.28). Schumpeters endogene Erklärung des Wirtschaftsprozesses geht von einem synchronen Regime im Gleichgewicht aus, das vom schöpferischen Unternehmer durch materielle Umsetzung exogen gegebener Inventionen (Ideen, die den technischen Fortschritt bestimmen) zerstört wird; der so initiierte diachrone Prozess führt zu einem neuen Gleichgewicht. Ideen und ma-terielle Faktoren sind somit "zwei integrale Prozesskonstituanten"; Dopfer (1990, S.30). Erstere kann man als Potentiale [nicht im Sinne der Potentialfunktionen sondern im Sinne von Evolutionspotentialen (Vgl. Dopfer (1990, S.36ff)]:"if a potential is defined in its evolution-ary meaning, it should be defined as informational potential"; Dopfer (1991, S.56)], letztere als Aktualisierung derselben interpretieren. Jedes Potential lässt nur eine endliche Menge von Aktualisierungen zu: "Das Charakteristische eines Potentials, beispielsweise einer Er-findung, ist, dass es Möglichkeiten zu seiner Entwicklung bzw. zu seiner Variation bietet"; Dopfer (1990, S.31). "Economically, it may be-come increasingly difficult to find new Solutions (actualizations) on the basis of an old potential. Accordingly any differential surplus will increasingly vanish, as the potential is exhausted, or the actualization process reaches its terminal point"; Dopfer (1991, S.56). "Wir kön-nen also ein synchrones Potential als Variationspool, der eine endliche Menge von nicht-wiederholbaren Aktivitäten zulässt, definieren"; Dopfer (1990, S.31). Sind die Potentiale im Schumpeterschen Sinne endlich, so würden sie sukzessive erschöpft ["Information is a poten-tial only as long as not everyone has it. An informational potential is consumed as it is 'applied', hence it is finite"; Dopfer (1991, S.56)]. Hier aber setzt die Kreativität der ökonomischen Agenten ein: Die Erschöpfung eines Innovationspotentials durch die dem Innovator fol-genden Imitatoren führt zu verschwindenden Gründergewinnen und deswegen wird "der Prozess der Erschöpfung eines Variationspoten-tials...also von einem Prozess der Suche nach und der Generierung von neuen Variationspotentialen" begleitet; Dopfer (1990, S.34). So-mit muss zwischen synchronen Prozessen (die in der Ökonomie als Marktpreisbildungsprozesse mit ihren Allokationskonsequenzen im Vordergrund standen), diachronen Prozessen, die sich in einer Ausschöpfung bestehender Potentiale äußern (und von einem allwissen-dem Modellbauer zumindest bezüglich ihrer möglichen Folgen modelliert werden können müssten) und diachronen Prozessen, die sich in der Entdeckung neuer Potentiale und ihrer Ausschöpfung äußern (und selbst vom allwissenden Modellbauer nicht antizipiert werden kön-nen?), unterschieden werden. So oder so werden diachrone Prozesse, die hier im Gegensatz zu synchronen Prozessen als evolutionäre Prozesse definiert werden, zur Entstehung neuer Variablen und/oder zu einer Veränderung der Interaktionsmuster fuhren. Demgemäß müssen die Gleichungen selber in der Zeit evolvieren, also zusätzliche mögliche Handlungszustände antizipieren und/oder ihre Struktur selber verändern, und zwar gemäß der Veränderung des Interaktionsmusters.

347 Schmidtchen (1990, S.81) 348 Die Ausführung einer Entscheidung für eine Güterkombination (ein Gut) stellt ein zielorientiertes, an das entworfene Weltbild angepasstes

Page 93: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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auch Witt' s Modell anschaulich machte, führt dies -ceteris paribus- im Zusammenhang mit

diffundierender Information zu einem Zustand der Ordnung. Dieser wird in der Ökonomie

in erster Linie über die Kompatibilität von einzelwirtschaftlichen Plänen definiert und kann

zum Beispiel durch einen auf einem Markt herrschenden Gleichgewichtspreis reflektiert

werden. Bei dem Konvergenzprozess kommt Kirzner's Arbitrageur eine besondere Bedeu-

tung zu, da er Informationsdefizite ausgleicht.

Der eigentliche evolutionäre Prozess findet aber nun dadurch statt, dass sich während des

Anpassungsprozesses der Attraktor selber verändert. Ein kreativer Schumpeterscher Un-

ternehmer tritt auf den Plan und erfindet z.B. ein neues Konsumgut349. Dadurch entsteht

neue, vorher von Kirzner's Unternehmer nicht zu entdeckende, Information. Es bildet sich

ein neuer Attraktor, und man muss nun einen Phasenübergang erklären. "Für die Bildung

des neuen Attraktors wie für den Phasenübergang ist in erster Linie das Unternehmertum ver-

antwortlich. Schumpeter-Innovation mag den neuen Attraktor begründen; Kirzner-Innovation ist

notwendig, um den Phasenübergang zu vollziehen."350 Dies ist in Abb.28 dargestellt:

Handeln dar. Dem liegt die Idee zugrunde, dass jede Entscheidung die Aufstellung eines Entscheidungsmodells erfordert, in dem sich die Weltsicht des Entscheidungsträgers niederschlägt, und damit auch die von ihm selbst als relevante erachtete Menge an Handelsbeschrän-kungen; die Entscheidung reflektiert die Lösung dieses Modells. In der Ökonomie wird die individuelle Handlungssituation überwiegend als Maximierungsentscheidung unter Nebenbedingungen modelliert; Vgl. Schmidtchen (1991, S.81)

349 Hier wird der kreative Schumpetersche Unternehmer als Entdecker' eines Potentials gesehen. Um mit der obigen Vorstellung des Schum-peterschen Unternehmers konsistent zu sein, kann man ihn als Entdecker und Umsetzer (Aktualisierer) eines gegebenen Informationspo-tentials sehen, also als ein Informationsbeschafffer höherer Art. Die weiteren Variationen des Potentials werden von einer Mischform der Unternehmervorstellung Schumpeters und Kirzners, dem Kirzner-Innovator' 'aktualisiert': "So wie der Schumpeter-Unternehmer auch ein Arbitrageur ist, so ist der Kirzner-Untemehmer ein Neuerer. Das Schließen von Koordinationslücken durch Arbitrage stellt ein Tüllen' von Nischen dar. Der Vorgang, der eine Nische füllt, fuhrt jedoch dazu, dass zahlreiche neu Nischen eröffnet werden. Man denke an die Einführung des Autos (Füllen einer Nische), die zu neuen Nischen führte in Form des Bedarfs an Tankstellen, Krankenhäusern, Gummi-plantagen, Werkstatten usw."; Schmidtchen (1991 , S.106). Schmidtchen geht zwar etwas weit, indem er schon das Entdecken von Preis-differenzen wegen der Ausschöpfung der Gewinnmöglichkeiten, die diese schaffen, als Innovation dem Kirzner-Untemehmer zuschreibt: "Wahrend das Entdecken einer Gewinnmöglichkeit der Erfindung (invention) Ähnlich ist, stellt die Ausnutzung derselben eine Innovation dar"; Schmidtchen (1990, S.107). Aber er antizipiert die meiner Meinung nach richtige Schlussfolgerung, dass nicht alle Variationen ei-nes Potentials dem 'reinen' Schumpeterschen Unternehmer zugeschrieben werden kann, da die Erzeugung neuer Information ja ein fun-damentales Charakteristika jeder Innovation ist ( siehe oben. ):"Wenn z.B. ein Kirzner-Unternehmer eine Preisdifferenz zwischen zwei Märkten entdeckt, dann besitzt er ein Wissen, das erstens außer ihm kein anderer besitzt und das zweitens 'neu' ist, das er also vorher nicht hatte"; Schmidtchen (1991, S.106f) Wahrscheinlich ist es gemäß der hier aufgezeigten Sichtweise am geeignetsten zwischen einem Schumpeter-Innovator [Aktualisierer eines 'entdeckten' Potentials(materiell)], einem Kirzner-Innovator [Aktualisierer der möglichen Va-riationen eines entdeckten Potentials(materiell)] und einem Kirzner-Unternehmer [Ökonomischer "Beschleuniger1 des Informationsflus-ses Ober eine neue durch vorhergehendes geschaffene Handlungsmöglichkeit(ideell)] zu unterscheiden. Im folgenden wird von Schmidt-chen nur zwischen einem Schumpeter-Innovator und einem Kirzner-Untemehmer unterschieden. Letzterer wird jedoch als Kirznerinnova-tor bezeichnet, wahrscheinlich um das gegenseitige Wechselspiel von neuer Handlungsmöglichkeit und so entstehender neuer Information herauszustreichen. Das für die 'Veränderung' eines Attraktors notwendige Wechselspiel von Anpassung (Kirzner) und Neuerung (Schum-peter) ist Kernstück der Betrachtung, wobei. -ceteris paribus-, Anfangs- wie Endzustand durch ein Gleichgewicht gekennzeichnet sind. Preise die erst als Entdeckungs- und dann als Koordinationsinstrument fungieren bilden in Schmidtchens Artikel das eigentliche Erkennt-nisobjekt.

350Schmidtchen (1991, S.89)

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Abb. 29: Konvergenz auf sich dynamisch verändernde Attraktoren

Abb.28: Die von einer Theorie super-spontaner Ordnungen postulierte Konvergenz auf Attrak-

toren bei gleichzeitiger, diskontinuierlicher Veränderung derselben: Punkt A sei der Aus-

gangspunkt. Wandel der Anfangs- und Randbedingungen führe zu dem neuen Attraktor B.

Der Zustand des Systems verändert sich in der Zeit gemäß dem Pfad von A nach B. In Punkt

b komme es erneut zu einem Wandel der Anfangs- und Randbedingungen. Punkt C sei der

neue Attraktor. Der Zustand des Systems folgt dem Pfad b-C. Im Zeitpunkt c ergebe sich

als neuer Attraktor D, Der Zeitpfad der Entwicklung des Zustands ändert sich erneut. Das

System entwickelt sich in Richtung D.

Die durch Innovationen entstehenden neuen Märkte führen zu Umstrukturierungen der beste-

henden Märkte351. Durch bedeutende Innovationen kann es auch zu Neustrukturierungen

im Sinne von höheren Komplexitätsgraden kommen352. Der ständige Wandel der Präferenzen, der 351 Diese werden durch eine Veränderung der Randbedingungen in Gang gesetzt. Mehr wird in der Abbildung jedenfalls nicht dargestellt: Die

zwei 'Zustände' organisieren sich immer wieder neu auf einen Gleichgewichtszustand hin, wobei sich der Attraktor während des Annähe-rungsprozesses verändert. Interessanterweise ist dies das gleiche Phänomen, das Troitzsch bei der Betrachtung des Wahlverhaltens an-hand seiner empirisch ermittelten Wahrscheinlichkeitsdichteverteilungen beobachtete und an exogenen 'Störungen' festmachte.

Legt man das in dieser Arbeit aufgezeigte Modellierungskonzept der Mastergleichung zugrunde, so sind bezüglich der Interpretation der Abbildung verschiedene Szenarios zu entwerfen: Durch das Entstehen neuer Märkte verändern sich die Randbedingungen bestehender Märkte bzw. -in einer möglichen Interpretation der obigen Abbildung- eines bestehenden Marktes. Diese Randbedingungen können durch die anderen Märkte bestimmt sein und stellen die Umwelt des betrachteten Marktes dar. Durch die Änderungen können sich z.B. die Prä-ferenzen im betrachteten Markt und somit die Parameter der Gleichungen ändern. Die Änderung der Parameter führen (wie in der 'Schumpeter-Clock) zu einer Veränderung der Potentialfunktion und somit zu einer Veränderung des Attraktors. Ein anderes Szenario ist, dass ein zusätzliches substitutives Produkt (eine neue Handlungsmöglichkeit) endogen erzeugt im Markt auftritt (dies würde dem plötzli-chen Auftreten einer vierten Partei in Erdmanns Wahlmodell entsprechen). Dieser hinzutretende dritte 'Zustand' führt zu einer Verände-rung des Verhältnisses der beiden anderen zueinander und sie konvergieren auf den neuen 'stabilen' Zustand (Verhältnis) zu. In der Mo-dellierung durch die Mastergleichung müsste eine dritte Dimension miteinbezogen werden, was unter der gegebenen 'Art' der Interaktion unter anderem eine parametrische Änderung der bestehenden Gleichungen zur Folge hätte. Die Mastergleichung würde durch diese En-dogenisierung einer neuen substitutiven Handlungsmöglichkeit komplexer werden.

352 Durch Neustrukturierungen des "Netzwerks sozialer Systeme', also der Kommunikationsstruktur bzw. des Interdependenzgeflechtes', über welches das Netzwerk ja definiert wird, kann es zu Veränderungen im Interaktionsmuster selber und damit zu einer Veränderung der Gleichungen kommen. Obwohl dies eine rein theoretische Überlegung ist, ist damit gemeint, dass z.B. durch die Innovation Auto oder Te-lefon 'neue' soziale Systeme entstehen und somit auch die 'Art' des Informationsflusses grundlegend geändert wird. Die Subpopulationen (bezüglich derer die paradigmatische Homogenitätsannahme getroffen wird) müßten unter Umständen eine Umdefinierung erfahren.

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wechselseitigen Abhängigkeiten und der Randbedingungen durch die Entstehung neuer mögli-

cher Handlungszustände ist mit Modellen wie sie in dieser Arbeit aufgezeigt wurden höchs-

tens ex-post darzustellen353. Ex-ante wird durch die "Zwillingsidee von Arbitrage und Neuerung"

das Problem einer Theorie gestellt, die man als Theorie super-spontaner Ordnungen bezeichnen

kann354, und deren Gegenstand der "nie endende Prozess des Wandels der ökonomischen Morpho-

logie oder die morphologische Instabilität ökonomischer Systeme ist355. Unterliegt der Wandel in der

Zeit, der Wandel der Attraktoren wie der Anpassungspfade - also der Wandel der sozioökonomi-

schen Morphologie- einer Ordnung, folgt er einem Muster356?

Nach Schmidtchens Ansicht sollte man drei Abteilungen in das Erkenntnisprogramm einer

Theorie der spontanen Ordnung aufnehmen:

Abt.1: Zustand der Ordnung (Attraktor) Abt.2: Anpassungspfade an den Zustand der Ordnung357

Abt.3: Anpassungspfade an den Zustand der Ordnung bei "gleichzeitiger" Verände-rung desselben358.

Die letzte Abteilung stellt eine Evolutionstheorie im engeren Sinne dar, welcher aber ohne

die beiden ersten - die Thema dieser Arbeit waren- ein erkenntnistheoretisches Funda-

ment fehlen würde. "Evolutionstheorie kann nicht nur als Theorie der Innovation begriffen

werden"359. Man muss sich vielmehr fragen, ob Neuerungsverhalten zu einem neuen

Attraktor führt, was gleichbedeutend mit der Frage ist, ob unter den neuen Anfangs- und

Randbedingungen ein Zustand der Ordnung -ein Gleichgewicht- existiert, womit man wie-

derum bei der Frage ist, ob es nicht allein die Existenz von Attraktoren ist, die in einen

Prozess ewigen Wandels systematische Züge bringt und insofern erst wissenschaftliche

Ebenso könnten durch Veränderungen der Struktur des Informationsflusses die Art der internen und externen wechselseitigen Abhängig-keiten eine Veränderung erfahren.

353 Angesichts der hier aufgezeigten Schwierigkeiten bei der Modellbildung: Wie und wo trennt man das System von der Umwelt?'; Wie und welche Subpopulationen definiert man?'; Wie spezifiziert man die Interaktionsmechanismen?'; usw. , sind die Ergebnisse der in dieser Arbeit aufgezeigten Modelle umso erstaunlicher. Durch gegenüber der realen Komplexität der ablaufenden Prozesse mehr als stark ver-einfachte Modelle konnten auf verschiedenen Abstraktionsebenen empirisch beobachtete selbstorganisierende Strukturbildungen und/oder -veränderungen simuliert werden. Insbesondere ex-post können (siehe z.B. die 'Schumpeter-Clock' oder die Migrationsmodelle') durch ziemlich grobe 'Feinabstimmungen' real beobachtete Vorgänge mit überraschender Präzision dargestellt werden. Das die simulierte Ei-gendynamik trotz aller Unwägbarkeiten der Beobachteten in etwa entspricht weist daraufhin, wie stark der formalisierte Mechanismus reale Gesetzmäßigkeiten widerspiegelt; das so viele verschiedene Phänomen einheitlich dargestellt werden können, weist daraufhin, wie allgemeingültig er ist

354 Vgl. Schmidtchen (1990, S.88ff) 355 Schmidtchen (1990, S.90) 356 Hier nun lässt sich bezüglich der Evolution vermerken: "Genauer gesagt geht es nicht um die Analyse der Evolution eines Systems, son-

dern um die Untersuchung einer 'succession of Systems with evolving structures'"; Schmidtchen (1990, S.90). 357 Diese waren vor allem Thema dieser Arbeit. In der Ökonomie fand die Untersuchung derselben z.B. in der Marktprozesstheorie Ausdruck:

Beispielhaft hierzu Witt (1980). 358 So einleuchtend dies zu sein scheint, so hat es doch schwerwiegende Implikationen: Entweder ist die 'gleichzeitige' Veränderung durch

eine Veränderung der Umwelt eines betrachteten Systems verursacht. Dann müsste eine 'Meta-Theorie' die Veränderung der gesamten komplexen Umwelt eines Systems erklären, also die Veränderung der verschiedenen Ordner auf den verschiedenen Zeitebenen antizipie-ren; oder die 'gleichzeitige' Veränderung wird - wie in der 'Schumpeter-Clock'- endogenisiert. Dann aber wäre die Dynamik des betrach-teten Systems in einem starken Maße selbstreferentiell, was angesichts der Tatsache, dass jedes Mitglied', z.B. eines Marktes, zugleich Mitglied' anderer Märkte ist, sprich: dass jeder Markt in starkem Maße vom Vorhandensein, Entstehen und Verschwinden der anderen Märkte abhängt, nicht anzunehmen ist. Zwar wird jede Konvergenz auf einen Gleichgewichtszustand in einem Markt durch die so entste-henden Zwänge (siehe Witt's Modell) zu Prozessinnovationen und somit zu einer Attraktoränderung fuhren, aber viel wahrscheinlicher wird die Attraktoränderung vor allem durch Produktinnovationen hervorgerufen werden und solche können in einer isolierten Betrach-tung nicht antizipiert werden. Vielleicht ist eine solche Endogenisierung ja auf aggregierteren Ebenen des Gesamtsystems möglich, wie z.B. dem Investitionsverhalten. Dies wird von der 'Schumpeter-Clock' angedeutet.

359 Vgl. Schmidtchen (1990.S.91)

Page 96: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

Seite 93

Erkenntnis ,und damit auch Vorhersagen, ermöglicht. "Wenn alles lediglich fließt, was

bleibt dann noch an Erkenntnismöglichkeiten für die Wissenschaft?"360

7. Schlussbemerkung

Interdependenzen im sozialen und in zunehmendem Maße auch im ökonomischen Han-

deln sind fundamentaler Fakt in sozioökonomischen Systemen. Die Erkenntnis Aristote-

les: "Der Mensch ist ein soziales Wesen" erfährt im Lichte des Paradigmas der Selbstor-

ganisation eine neue Bedeutung. Durch eine Analogie zu den Naturwissenschaften - ob

berechtigt oder unberechtigt sei dahingestellt- ist es möglich, eine Vielzahl von sozioöko-

nomischen Phänomenen einheitlich zu formalisieren. Die Betrachtungsweise ist bei wei-

tem komplexer als in traditionellen Theorien, da der Versuch gemacht wird, das Ganze

nicht aus der Summe seiner Teile, sondern aus dem Interdependenzgeflecht heraus zu

erklären, als welches das sozioökonomische System gesehen wird.

Ob die Frage nach Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen mit einem "More

Questions than Answers"361 zu beantworten ist (wie Fritsch dies in der Überschrift eines

Artikels tat362, sei dahingestellt. Diese Fragen werden sich aber weniger auf das ,von

Keynes einleitend zu dieser Arbeit bezüglich der traditionellen Ökonomie formulierte, "lack

of generality and clearness in the premises" beziehen, als vielmehr auf die Anwendbarkeit

des Paradigmas und die Präzision der aus diesem geschlussfolgerten Aussagen. Somit

laden sie auch bzw. wegen der bisherigen weitgehenden Negierung sozialer Tatbestände

gerade- in der Ökonomie zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Paradigma der

Selbstorganisation ein.

Jede Theorie wird schlussendlich zum einen daran gemessen werden, wie geschlossen

sich das auf ihr basierende Theoriengebäude repräsentiert; hierzu können, da sich die

wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Selbstorganisation in ei-

nem Anfangsstadium befindet, noch keine Aussagen getroffen werden. Zum anderen wird

die zukünftige Einschätzung ihrer Aussagekraft vor allem daran festzumachen sein, wie

gut in auf ihr basierende Modelle zukünftige Entwicklungen antizipieren können, sprich:

wie gut die gemachten Prognosen sind.

Der Theorie der Selbstorganisation kommt dabei zugute, dass sie den klassischen Theo-

rien nicht konträr, sondern eher komplementär gegenübersteht: Lineare Beziehungen und

perfekte Gleichgewichte sind sozusagen als Spezialfall in ihr enthalten, wobei letztere so-

gar noch in einen komplexeren Begründungszusammenhang eingebunden werden.

Von nichtlinearen Beziehungen kann aber in den Sozialwissenschaften gar nicht, in den 360 Schmidtchen (1990.S.92) ."Theorie der Evolution marktwirtschaftlicher Ordnung sollte als Theorie spontaner Ordnung, als Theorie der

Selbstorganisation betrieben werden und nicht etwa nur als Theorie der Innovation. Selbstorganisation aber setzt die Idee eines Zustan-des der Ordnung, eines Attraktors voraus. Ohne diese Idee kann man nur Wandel an sich analysieren, aber nicht die Frage, ob der Wan-del eine Ordnung, eine Struktur, aufweist. Und nur insofern er diese Ordnung aufweist, lässt sich überhaupt wissenschaftlich etwas über ihn aussagen"; Schmidtchen (1990, S.108).

361 Fritsch(1984, S.197) 362 Fritsch(1984)

Page 97: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Wirtschaftswissenschaften immer weniger abstrahiert werden. Solche werden vor allem

im komplexen Systemen evident sein, und da sich auch das ökonomische System auf

immer höheren Komplexitätsgraden organisiert (strukturiert), werden auch dort komplexe,

wechselseitige Zusammenhänge eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren müssen.

Damit jedoch steht der menschliche Geist vor erheblichen "Perzeptions- und Akzeptanz-

probleme[n]. Unser 'gesunder Menschenverstand' neigt immer wieder dazu, einen einmal

beobachteten Trend linear in die Zukunft fortzuschreiben, und zwar auch dort, wo es der

Sache nicht angemessen ist. Damit verbunden assoziieren wir gerne kleine Ursachen mit

kleinen Wirkungen und vice versa...; das Denken in Nichtlinearitäten ist schlecht entwi-

ckelt"363. Das Paradigma der Selbstorganisation kann für die Entwicklung eines solchen

Denkens eine große Hilfestellung sein. Wir müssen uns "notgedrungen mit nichtlinearen

dynamischen Systemen beschäftigen und dazu auch mathematische Hilfsmittel und

Computer heranziehen, mit deren Hilfe wir lernen können, in komplexen Systemen zu

denken" 364.

363 Vgl. Erdmann (1989, S.260f) 364 Vgl. Erdmann (1989, S.261)

Page 98: Selbstorganisation in sozioökonomischen Systemen

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Quellenverzeichnis der Abbildungen:

Abb.1: Gleick (1987), S.71

Abb.2 : Schnabl (1991), S.563

Abb.3 : Gleick (1987), S.143

Abb.4 : Prigogine (1988), S.114

Abb.5 : Prigogine (1988), S.115

Abb.6 : Hejl (1990), S.330

Abb.7 : Weise (1990), S.14

Abb.8 : Haag (1990), S.132

Abb.9 : Woekener (1992a), S.421

Abb.10: Woekener (1992a), S.424

Abb.11: Weidlich (1991), S.51

Abb.12: Weidlich (1991), S.52

Abb.13: Weidlich (1991), S.53

Abb.14: Weidlich (1991), S.54

Abb.15: Troitzsch (1990),S.523

Abb.16: Troitzsch (1990), S.530ff

Abb.17: Allen (1985a), S.6

Abb.18: Allen (1984), S.155

Abb.19: Allen (1984), S.155

Abb.20: Allen (1984), S.157

Abb.21: Allen (1984), S.157

Abb.22: frei nach Erdmann (1990), S.141

Abb.23: Woekener (1992b), S.7

Abb.24: Woekener (1992b), S.7

Abb.25: Valente (1991), S.35

Abb.26: Valente (1991), S.37

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