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1 Selbstorganisierende Prozesse beim Lernen und Handeln – Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung und ihre Bedeutung für die Wissensgesellschaft – Siegfried Greif, Universität Osnabrück Zusammenfassung Die Mikroprozesse beim Lernen und Handeln werden durch das Aufmerksamkeitssystem, das Arbeitsgedächtnis und den Langzeitspeicher organisiert. Sie bilden zusammen die adaptive, "offene Stelle" und den Komplexitätsmanager des Bewusst- seins in den sich selbst organisierenden, geschlossenen Netzwerksystemen des Gehirns. Die Verarbeitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses ist begrenzt, aber es wird sehr flexibel und effizient durch Aufmerksamkeitssysteme unterstützt, die mit Priorität die Aufmerksamkeit auf gefährliche, neue und ungewöhnliche sowie mit intensiven Affekten verbundene Reize lenken. Diese leicht ablenkbaren Mikroprozesse sind in ihrer Sequenz scheinbar ungeordnet und nicht vorhersehbar. Sie werden aber kontinuierlich durch das Langzeitgedächtnis reorganisiert. Das Langzeitgedächtnis interpretiert die Informatio- nen und verbindet sie mit Faktenwissen, prozeduralem und episodischem Wissen, das in einem Langzeit-Arbeitsgedächtnis kontextbezogen bereit gestellt wird. Emotionen, Ergebnis- und Erfolgserwartungen fungieren dabei als Ordner. Sie sorgen dafür, dass Risiken vermieden und Fehler rasch korrigiert werden und dass die Handlungsergebnisse am Ende für die han- delnde Person erfolgreich sind. Im Beitrag werden Erkenntnisse und Annahmen der Gedächtnispsychologie, Neurobiologie und -psychologie sowie der PSI- Theorie von Kuhl (2000), integrative psychophysiologische Emotions- und Aktivierungsmodelle von Boucsein (1995), ein Prozessmodell von Norman und Shallice (1986), die sozialpsychologische Theorie der Selbstwahrnehmung von Duval und Wicklund (1972) und die synergetische Chaostheorie (Kriz 1998) zusammengeführt und als integratives Theoriengerüst zur Beschreibung und Erklärung des Wechselns zwischen intuitiv und bewusst gesteuerten Prozessen beim Lernen und Handeln herangezogen. Danach wird die Bedeutung von Emotionen beim Lernen erklärt und warum beim Lernen scheinbar chaoti- sche Mikroprozesse zu beobachten sind. Verhaltensroutinen werden überwiegend unbewusst durch Affekte aktiviert. Nur bei speziellen Aufgaben und Anforderungen ist eine bewusste Handlungssteuerung erforderlich. Durch die Theorie der Selbst- wahrnehmung und neuropsychologische Erkenntnisse lässt sich erklären, wie Selbstreflexionsprozesse und bewusst zielge- richtetes und selbstgesteuertes Lernen durch schwierige Aufgaben, durch Fehler oder Misserfolge initiiert und konfligierende spontane Handlungsimpulse gehemmt werden. Durch sie und die sprachliche Kommunikation mit anderen über Erfahrungen und Selbstbeobachtungen verfügt der Mensch über besondere Fähigkeiten zur zielorientierten, bewussten Veränderung des eigenen Handelns. Das integrative Theoriengerüst wird zur Analyse aktueller praktischer Konzepte (exemplarisch am Beispiel Hypermedia, Lernstrategietrainings und Osnabrücker Konzepten) und für Ideen zum Design von zukünftigen Lernumgebungen herange- zogen. Emotionen beim Lernen und chaotisch ablaufende Lernprozesse sollen nicht verhindert werden (vgl. Tastaturproto- kolle über chaotische Prozesse beim Erlernen eines neuen Computerprogramms), sondern durch fehlerfreundlich gestaltete Lernumgebungen und persönliche Hilfen erfolgreiches, eigenaktives Komplexitäts- und Chaosmanagement fördern. Als Zukunftsidee wird ein handlungsorganisierendes Design von Lernumgebungen skizziert, verbunden mit einem Coaching der Lernenden, das sich an den dargestellten theoretischen Grundlagen orientiert. Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung .............................................................................................................................................. 1 1. Grosse und kleine Frage, Beobachtungen und ungeklärte Probleme .............................................................. 2 Welche Beiträge kann die Psychologie zur Wissensgesellschaft und wissensintensiven Wertschöpfung liefern? ........................................................................................................................................................... 2 Ist Lernen chaotisch? ..................................................................................................................................... 3 Ist Lernen unsystematisch und unvollständig? .............................................................................................. 4 Welche Bedeutung haben Emotionen beim Lernen von Innovationen? ........................................................ 4 Neue Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und Chaostheorie.................... 5 Zusammenfassung der Ausgangsfragen......................................................................................................... 5 2. Selbstorganisiertes oder Selbstgesteuertes Lernen? ........................................................................................ 6 Selbstorganisation als allgemeiner Begriff .................................................................................................... 6 Das Gehirn als sich selbst organisierendes Lernsystem ................................................................................. 6 Grundannahme zur Bedeutung der Eigenaktivität beim Lernen .................................................................... 6 Selbstbestimmung fördert die Eigenaktivität ................................................................................................. 6 Methoden zur Förderung der Eigenaktivität und der Tu-Effekt ..................................................................... 7 Selbstgesteuertes und selbstreguliertes Lernen .............................................................................................. 7 Folgerungen ................................................................................................................................................... 8 3. Selbstorganisation und Emotionen.................................................................................................................. 8 Gefühle und Vernunft .................................................................................................................................... 8 Basale Affektsysteme..................................................................................................................................... 8 Die Intensität der Affekte beeinflusst die Einprägung ................................................................................. 10

Selbstorganisierende Prozesse beim Lernen und Handeln · 2010. 5. 19. · 1 Selbstorganisierende Prozesse beim Lernen und Handeln – Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung

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    Selbstorganisierende Prozesse beim Lernen und Handeln– Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschungund ihre Bedeutung für die Wissensgesellschaft –

    Siegfried Greif, Universität Osnabrück

    ZusammenfassungDie Mikroprozesse beim Lernen und Handeln werden durch das Aufmerksamkeitssystem, das Arbeitsgedächtnis und denLangzeitspeicher organisiert. Sie bilden zusammen die adaptive, "offene Stelle" und den Komplexitätsmanager des Bewusst-seins in den sich selbst organisierenden, geschlossenen Netzwerksystemen des Gehirns. Die Verarbeitungskapazität desArbeitsgedächtnisses ist begrenzt, aber es wird sehr flexibel und effizient durch Aufmerksamkeitssysteme unterstützt, die mitPriorität die Aufmerksamkeit auf gefährliche, neue und ungewöhnliche sowie mit intensiven Affekten verbundene Reizelenken. Diese leicht ablenkbaren Mikroprozesse sind in ihrer Sequenz scheinbar ungeordnet und nicht vorhersehbar. Siewerden aber kontinuierlich durch das Langzeitgedächtnis reorganisiert. Das Langzeitgedächtnis interpretiert die Informatio-nen und verbindet sie mit Faktenwissen, prozeduralem und episodischem Wissen, das in einem Langzeit-Arbeitsgedächtniskontextbezogen bereit gestellt wird. Emotionen, Ergebnis- und Erfolgserwartungen fungieren dabei als Ordner. Sie sorgendafür, dass Risiken vermieden und Fehler rasch korrigiert werden und dass die Handlungsergebnisse am Ende für die han-delnde Person erfolgreich sind.Im Beitrag werden Erkenntnisse und Annahmen der Gedächtnispsychologie, Neurobiologie und -psychologie sowie der PSI-Theorie von Kuhl (2000), integrative psychophysiologische Emotions- und Aktivierungsmodelle von Boucsein (1995), einProzessmodell von Norman und Shallice (1986), die sozialpsychologische Theorie der Selbstwahrnehmung von Duval undWicklund (1972) und die synergetische Chaostheorie (Kriz 1998) zusammengeführt und als integratives Theoriengerüst zurBeschreibung und Erklärung des Wechselns zwischen intuitiv und bewusst gesteuerten Prozessen beim Lernen und Handelnherangezogen. Danach wird die Bedeutung von Emotionen beim Lernen erklärt und warum beim Lernen scheinbar chaoti-sche Mikroprozesse zu beobachten sind. Verhaltensroutinen werden überwiegend unbewusst durch Affekte aktiviert. Nur beispeziellen Aufgaben und Anforderungen ist eine bewusste Handlungssteuerung erforderlich. Durch die Theorie der Selbst-wahrnehmung und neuropsychologische Erkenntnisse lässt sich erklären, wie Selbstreflexionsprozesse und bewusst zielge-richtetes und selbstgesteuertes Lernen durch schwierige Aufgaben, durch Fehler oder Misserfolge initiiert und konfligierendespontane Handlungsimpulse gehemmt werden. Durch sie und die sprachliche Kommunikation mit anderen über Erfahrungenund Selbstbeobachtungen verfügt der Mensch über besondere Fähigkeiten zur zielorientierten, bewussten Veränderung deseigenen Handelns.Das integrative Theoriengerüst wird zur Analyse aktueller praktischer Konzepte (exemplarisch am Beispiel Hypermedia,Lernstrategietrainings und Osnabrücker Konzepten) und für Ideen zum Design von zukünftigen Lernumgebungen herange-zogen. Emotionen beim Lernen und chaotisch ablaufende Lernprozesse sollen nicht verhindert werden (vgl. Tastaturproto-kolle über chaotische Prozesse beim Erlernen eines neuen Computerprogramms), sondern durch fehlerfreundlich gestalteteLernumgebungen und persönliche Hilfen erfolgreiches, eigenaktives Komplexitäts- und Chaosmanagement fördern. AlsZukunftsidee wird ein handlungsorganisierendes Design von Lernumgebungen skizziert, verbunden mit einem Coaching derLernenden, das sich an den dargestellten theoretischen Grundlagen orientiert.

    InhaltsverzeichnisZusammenfassung.............................................................................................................................................. 11. Grosse und kleine Frage, Beobachtungen und ungeklärte Probleme.............................................................. 2

    Welche Beiträge kann die Psychologie zur Wissensgesellschaft und wissensintensiven Wertschöpfungliefern?........................................................................................................................................................... 2Ist Lernen chaotisch?..................................................................................................................................... 3Ist Lernen unsystematisch und unvollständig?.............................................................................................. 4Welche Bedeutung haben Emotionen beim Lernen von Innovationen?........................................................ 4Neue Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und Chaostheorie.................... 5Zusammenfassung der Ausgangsfragen......................................................................................................... 5

    2. Selbstorganisiertes oder Selbstgesteuertes Lernen?........................................................................................ 6Selbstorganisation als allgemeiner Begriff.................................................................................................... 6Das Gehirn als sich selbst organisierendes Lernsystem................................................................................. 6Grundannahme zur Bedeutung der Eigenaktivität beim Lernen.................................................................... 6Selbstbestimmung fördert die Eigenaktivität................................................................................................. 6Methoden zur Förderung der Eigenaktivität und der Tu-Effekt..................................................................... 7Selbstgesteuertes und selbstreguliertes Lernen.............................................................................................. 7Folgerungen................................................................................................................................................... 8

    3. Selbstorganisation und Emotionen.................................................................................................................. 8Gefühle und Vernunft.................................................................................................................................... 8Basale Affektsysteme..................................................................................................................................... 8Die Intensität der Affekte beeinflusst die Einprägung................................................................................. 10

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    Folgerungen................................................................................................................................................. 114. Wechsel zwischen intuitiv und bewusst selbstgesteuerten Prozessen........................................................... 12

    Das Prozessmodell von Norman und Shallice............................................................................................. 12Auszuführende Aufgaben als Meta-Erzeugungsschemata........................................................................... 13Bewusste, intentionale Aufmerksamkeit beim Handeln.............................................................................. 13Quasi-automatische Handlungsschemata..................................................................................................... 13Folgerungen................................................................................................................................................. 14

    5. Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeitssysteme......................................................................................... 14Arbeitsgedächtnis und zentrale Exekutive................................................................................................... 14Unbewusste Informationsaufnahme und –verarbeitung............................................................................... 15Das Ich als bewusstes Selbststeuerungszentrum.......................................................................................... 15Basale Aufmerksamkeitsreaktionen und -systeme....................................................................................... 15Folgerungen................................................................................................................................................. 17

    6. Das Langzeitgedächtnis als erfolgsorientierter Ordner chaotischer Mikroprozesse.................................... 17Komplexitätsmanagement, Komplettierungsdynamiken und nicht vorhersagbare Prozesse....................... 17Folgerungen................................................................................................................................................. 18

    7. Bewusste Selbststeuerung nach der PSI-Theorie.......................................................................................... 18Schwierige Steuerung der Ausführung von Doppelaufgaben...................................................................... 18Folgerungen................................................................................................................................................. 19

    8. Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion................................................................................................... 19Missverständliche Begriffe.......................................................................................................................... 19Die Theorie der Selbstaufmerksamkeit von Duval und Wicklund............................................................... 20Warum vermeiden Menschen, über sich selbst nachzudenken?.................................................................. 21Aktivierung von Schemata für die Selbstreflexion...................................................................................... 22Folgerungen................................................................................................................................................. 23

    9. Diskussion exemplarischer aktueller Lernkonzepte...................................................................................... 24Lernen von Lernstrategien und Selbstregulation beim Lernen als fächerübergreifende Kompetenzen....... 24Hypermediales Lernen................................................................................................................................. 26Ein offenes Konzept zum selbstorganisierenden Lernen............................................................................. 28

    10. Handlungsorganisierende Gestaltung der Umgebung................................................................................. 31Zukunftsvision zum handlungsorganisierenden Design von Lernumgebungen........................................... 32

    Literatur............................................................................................................................................................ 33

    1. Grosse und kleine Frage, Beobachtungen und ungeklärte Probleme

    Welche Beiträge kann die Psychologie zur Wissensgesellschaft und wissensintensivenWertschöpfung liefern?

    Für die führenden Wirtschaftsunternehmen wird das Lernen und Wissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inder Zukunft als Ressource wichtiger werden, als heute die Energie und andere Rohstoffe. Die geplante wirt-schaftliche Nutzung dieser Ressource, die „wissensintensive Wertschöpfung“, wird nach Bullinger, Wörner undPrieto (1997) die Wissensgesellschaft bestimmen, eine Gesellschaft, in der möglichst viele Menschen nahezutäglich neues praktisch nützliches Wissen erwerben und anwenden müssen. Die Fragen, wie diese Zukunftsge-sellschaft gestaltet werden kann, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um sie zu ermöglichen undwelche Methoden oder Bedingungen für kontinuierliches menschliches Lernen und Anwenden von Wissen för-derlich sind, erfordern Antworten und Lösungsbeiträge von allen einschlägigen Wissenschaften und Anwen-dungsdisziplinen.

    Lernen, Gedächtnis und Wissen sind Kerngebiete der psychologischen Grundlagenforschung. Die daraus ge-wonnenen Erkenntnisse haben allerdings bisher noch keine große Bedeutung für die aktuelle Diskussion überwissensintensive Wertschöpfung erlangt. Dies mag zum Teil daran liegen, dass in den Blickpunkt der öffentli-chen Aufmerksamkeit zuerst einmal die neuen Informationstechnologien zum Wissensmanagement gerückt sind.Die teilweise bereits sehr großen Investitionen einzelner Unternehmen in Datenbanken und technologisch-organisatorische Lösungen bilden aber, wie der Unternehmensberater Simon (1999) nach den inzwischen vorlie-genden praktischen Erfahrungen feststellt, allenfalls eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung fürwissensintensive Wertschöpfung. Informationen in Datenbanken werden erst durch Menschen und ihr aktivesHandeln in nützliches Wissen umgesetzt. Der Schlüssel zur erfolgreichen Nutzung von Wissen in Unternehmenund in der Wissensgesellschaft ist der lernende Mensch. Die Psychologie und ihre Grundlagenerkenntnisse überdie Bedingungen und Möglichkeiten des Lernens und des menschlichen Gedächtnisses hat deshalb im Kanonverschiedener Fachdisziplinen eine besondere Relevanz.

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    Vorreiter der Psychologie in diesem interdisziplinären Gebiet sind heute die anwendungsorientierten Teildis-ziplinen, wie die Pädagogische Psychologie (vgl. Mandl & Reinmann-Rothmeier 2000), Arbeitspsychologie(vgl. Hacker 1998) und Organisationspsychologie (vgl. Kluge 1999). Sie haben in den letzten Jahren wichtigeBeiträge zu diesem Thema geliefert. Eine Erklärung für die verhältnismäßig geringe Bedeutung der psychologi-schen Grundlagenforschung in diesem Feld mag darin liegen, dass sich die Theorienbildung und Forschung indiesem Feld inzwischen auf kaum noch überschaubare Teilgebiete und Spezialfragen auseinanderdifferenzierthat und dabei so komplex und umfangreich geworden ist, dass ein Überblick selbst für Experten schwer gewor-den ist. Außerdem sind anscheinend die Grundlagenforscher in der Psychologie methodisch besonders vorsichti-ge Wissenschaftler, die Aussagen über unklare Fragen und nicht empirisch geprüfte oder überprüfbare, spekula-tive theoretische Annahmen meiden.

    Um einen Beitrag zu den angesprochenen großen Fragen leisten zu können, ist Wissen über die Gesetzemenschlichen Lernens und Handelns beim Erwerben und Anwendung neu erworbenen Wissens erforderlich. Umpraktisch verwertbares Wissen zu erzeugen, muss sich die psychologische Wissenschaft auf unsicheres Terrainbegeben. Viele gute Wissenschaftler, anwendungsorientierte Grundlagenforscher und Feldforscher sind erfor-derlich, um an der herausfordernden Aufgabe mitzuarbeiten, Theorien und Erkenntnisse immer wieder neu unterdem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur zukünftigen Wissensgesellschaft zu überdenken, theoretische Annahmenund Folgerungen zu formulieren und durch praktische Beobachtungen, experimentelle Untersuchungen undsystematische Evaluationsforschung zu überprüfen.

    Ist Lernen chaotisch?Die Schwerpunkte meiner eigenen Arbeit in diesem Feld liegen in der Arbeits- und Organisationspsychologie,einem Anwendungsfach der Psychologie. Insbesondere bei meinen Untersuchungen und Beobachtungen zumErlernen komplexer neuer Softwaresysteme (vgl. zusammenfassend Greif 1994) habe ich zunehmende Zweifelentwickelt, ob die typischen Lernprozesse durch herkömmliche psychologische Lerntheorien erklärt werdenkönnen und mit den bis heute gebräuchlichen pädagogischen und psychologischen Methoden gefördert werdenkönnen. Carrol und Mack (1983) haben als Erste das Erlernen eines Textverarbeitungsprogramms mit Logfilesmillisekundengenau protokolliert und ihre Versuchspersonen zum lauten Denken aufgefordert. Sie mussten fest-stellen, dass die Lernprozesse außerordentlich chaotisch und fehlerreich ablaufen. Sie werfen die Frage auf,wieso Menschen, die ständig Fehler gemacht und aus ihren Fehlern verkehrte Folgerungen gezogen haben undkaum eine Lernaufgabe vollständig bearbeitet haben, also offensichtlich auf einem chaotischen Weg ein Text-verarbeitungsprogramm erlernen konnten.

    Als schnelle Erklärung wird hier mitunter auf den Klassiker Thorndike (1922) und seine Tierexperimente zum Lernendurch Trial and Error und andere Experimente zum Labyrinthlernen verwiesen. Das Lernverhalten am Computer kann jadurchaus treffend als Lernen durch „Trial and Error“ oder durch „Herumprobieren und Misserfolge“ beschrieben werden.Thorndikes Theorie ist jedoch keineswegs eine Lerntheorie zur Erklärung des Lernerfolgs aus Misserfolgen oder zumLernen aus Fehlern, sondern eine Theorie zum Lernen durch Erfolg. Wie andere nach ihm, hat sich Thorndike primär mitdem Lernen durch die Kontingenz zwischen Verhalten und Belohnung (z. B. Befreiung aus einem Käfig oder Futter) be-schäftigt. Obwohl es keine eindeutig definierbaren „Futterstellen“ oder Belohnungen gibt, explorieren lernende Menschenneugierig oder weil sie beruflich dazu angehalten werden, komplexe Computerlabyrinthe. Sie können dieses besondereLabyrinth niemals vollständig erkunden, sondern immer nur sehr partiell. Oft schaffen sie es auch nach einer gründlichenAusbildung nicht, sämtliche Möglichkeiten und Varianten des Systems zu nutzen. Sie hätten auch kaum genügend Zeitdafür. Es gelingt ihnen oft nicht sofort, eine Aufgabe auszuführen, die sie ausführen wollen, weil sie einen oder mehrereFehler machen. Jeder Fehler erfordert zusätzliche Lösungsschritte und erhöht damit die Komplexität der Aufgabe. Wennman nicht mehr weiter weiß, ruft man Kollegen oder Experten zur Hilfe, die nicht immer helfen können. Eine andereMöglichkeit ist, einfach die ursprünglichen Absichten, Aufgaben oder Prozeduren zu ändern. Man versucht etwas anderes,macht wieder Fehler und ist oft selbst überrascht, was dabei herauskommt. Durch diese nahezu unendliche Zahl vonMöglichkeiten und Konstellationen ist die Komplexität von Computersystemen mit den klassischen Versuchsanordnungenoder späteren Tier- und Humanexperimenten zum Labyrinthlernen nicht zu vergleichen. Erstaunlich viele können schließ-lich aber dennoch sehr erfolgreich mit komplexen Computersystemen umgehen. Sie können selbst nicht erklären, wiesosie das können.

    Die beobachteten Prozesse lassen sich als ein aktives und fehlerreiches Suchverhalten beschreiben. Es ist frag-lich, ob sich der Ablauf psychologisch angemessen als hierarchisch oder heterarchisch gegliedertes System vonOber- und Unterzielen und zugeordneten Teilprozessen rekonstruieren lässt. Liefert die Chaostheorie mit ihrenBegriffen zur Klassifikation verschiedener Arten von Chaos und Ordnung, ihren rekursiven Formeln und Mo-dellen zur Beschreibung des Wechselns zwischen verschiedenen Systemzuständen angemessenere Beschrei-bungsmodelle (vgl. Kriz 1998 für die Anwendung der Chaostheorie in der Psychologie)?

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    Ist Lernen unsystematisch und unvollständig?Die protokollierten Prozesse zum Lernen am Computer zeigen, dass die Lernaufgaben und Lernbereiche nursehr unsystematisch und unvollständig bearbeitet werden. Fachbegriffe und Eingabesequenzen bei der Durchfüh-rung von Aufgaben, die jeder Pädagoge als wichtig ansehen würde, werden einfach ausgelassen und überhauptnicht geübt. Nach herkömmlichen pädagogischen oder psychologischen Methoden müsste man solche unsyste-matischen, unvollständigen und fehlerreichen Lernprozesse eigentlich unterbinden, um zu verhindern, dass dieSchüler „etwas Falsches lernen“. Wieso können Menschen anscheinend trotzdem recht erfolgreich aus Lern-bruchstücken lernen und später die komplexen neuen Medien und Informationstechnologien zielgerichtet nut-zen?

    Mandl, Gruber und Renkl (1995) beschreiben menschliches Lernen als einen Prozess, in dem personeninterneFaktoren mit personenexternen, situativen Komponenten in Wechselbeziehung stehen. Um ein Softwaresystemzu beherrschen, genügt es nicht, die Menüs zu kennen und Eingabesequenzen zu üben. Zusätzlich müssen Erfah-rungen über verschiedene kritische Situationen (z. B. Systemzustände und Fehlersituationen) erworben und ge-lernt werden, wie das soziale Umfeld genutzt werden kann, um Hilfe durch andere Personen zu erhalten. Mandlet al. (1995) führen hierfür den Begriff situiertes Lernen ein. Nach dieser Erweiterung des Lernbegriffs erfolgtLernen gewissermaßen immer in mehreren Lernräumen. Was in einem Lernraum (z. B. in der Welt der schuli-schen Vorstellungen über Lernen) als unzulässig gilt (z. B. sich Hilfe vom Nachbar zu holen), ist im sozialenLernraum nützlich und erklärbar. Es wäre nicht sinnvoll, Fehlersituationen beim Lernen zu vermeiden, weil mansie im Alltag nicht verhindern kann. Die funktionale Bedeutung des sozialen Netzwerks und des Ausprobierensverschiedener (Fehler-)Situationen muss zusätzlich berücksichtigt und analysiert werden, will man die scheinbarchaotisch ablaufenden Prozesse verstehen. Die Frage bleibt aber weiter offen, wie es lerntheoretisch erklärt wer-den kann, dass Menschen mit komplexen Systemen nach kurzem Herumprobieren, nach geringer Übungszeitund mit unvollständigem Wissen oder sogar mit offensichtlich fehlerhaften Kenntnissen praktisch arbeiten kön-nen. Warum sind viele Schüler in diesem Gebiet sogar offensichtlich ihren Pädagogen weit voraus? Können wirvon ihnen lernen, wie Menschen in Organisationen und in der Wissensgesellschaft effizient lernen können, stän-dig Neues zu lernen? Wie dieses Beispiel zeigt, können sich aus kleinen Beobachtungen am Ende große wissen-schaftliche und praktische Fragen ergeben.

    Welche Bedeutung haben Emotionen beim Lernen von Innovationen?Das Innovationstempo hat in den letzten Jahrzehnten in allen Bereichen stark zugenommen (z. B. durch die Ent-wicklung neuer Produkte und Dienstleistungen sowie Produktionsverfahren, Technik und Werkzeuge). Wirkönnen vorhersagen, dass das Veränderungstempo aller Voraussicht nach noch weiter ansteigen wird. Nichtvoraussagen können wir aber, welches Wissen in der Zukunft erforderlich ist. Menschen müssen immer schnel-ler lernen, Gewohnheiten zu ändern und mit Innovationen umzugehen und sich auf unbekannte zukünftige Ver-änderungen einzustellen. Alles Ungewohnte oder Neue macht aber Angst (Lorenz 1973, S. 262). Die Anforde-rung, die eigenen Gewohnheiten zu ändern, kann auch Ärger oder kompliziert zu analysierende „gemischte Ge-fühle“ auslösen. Führen Emotionen demnach immer zur Blockade von Neulernprozessen? Gibt es Affekte, diedas Lernen von Innovationen fördern?

    Die Aktivierung individuell unterschiedlicher Gefühle lässt sich gut in Seminaren (in der Industrie, aber ähnlich auch ander Universität) beobachten, in denen die Lernenden mit neuartigen Inhalten, ungewohnten Konzepte und Methoden, ins-besondere mit ihnen nicht vertrauten Dozenten konfrontiert werden. Wenn man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer be-reits vor Beginn zu offenen Äußerungen zu ihren individuellen Erwartungen und Empfindungen ermuntert, zeigen sichunterschiedliche, oft polarisierte Meinungen und Emotionen. Einige erklären, dass sie hoffen, etwas Neues zu lernen. Beivielen zeigt sich eine deutliche Zurückhaltung oder Vorsicht in allen Äußerungen. Manche äußern sich skeptisch oder kri-tisch, wollen vorher genauer wissen, was auf sie zukommt oder reagieren ärgerlich, weil sie keine hinreichenden Vorin-formationen erhalten haben. Einzelne lehnen das Seminar von vornherein ab, weil sie grundsätzliche Einwände gegen dieAuswahl der Methoden oder der Inhalte haben. Nach meinen Beobachtungen kann ich insbesondere bei den Personen, dieanfangs emotional besonders deutlich reagieren – wenn ich mich von ihrem ablehnenden oder unsicher zurückweisendenVerhalten nicht abschrecken lasse, sondern auf sie und ihre Probleme zugehe – oft feststellen, dass sie sehr intensiv lernenkönnen. Aus manchen spontanen positiven Äußerungen bei einem zufälligen Wiedersehen, viele Monate oder sogar Jahrenach dem Seminar, kann ich erkennen, wie aktuell präsent das Gelernte und die Lernsituation bei ihnen noch ist. DieseBeobachtungen haben mich ermutigt, Verunsicherungen oder Ärgerreaktionen zu Beginn von innovativen Seminaren alsChancen für intensives Lernen anzusehen.

    Bei der ersten Erfahrung mit den für die meisten neuartigen Methoden des selbstorganisierten Lernens (vgl. Greif & Kurtz1996, mehr dazu unten) reagieren viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer anfangs unzufrieden oder verunsichert und for-dern mehr Anleitung oder Informationsvermittlung. Im weiteren Verlauf ändert sich diese Situation aber grundlegend,wenn man mit diesen Reaktionen offen und verständnisvoll umgeht und den Lernenden als Coach beim selbstständigenBewältigen der Lernaufgaben z. B. mit kurzen Leittexten methodische Hilfen zur Selbsthilfe gibt, ohne den expliziten

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    Forderungen nach konkreter Hilfe nachzukommen. Die Aktivierung der Lernenden nimmt enorm zu und die anfänglicheKritik schlägt oft am Ende in eine geradezu euphorische Begeisterung über die (eigenen) Lernerfolge im Seminar um.

    Wie lassen sich diese Beobachtungen lernpsychologisch erklären? Durch die Wirkungen von Erfolgserlebnis-sen oder durch Affekte, die mit antizipierter Belohnung und Bestrafung verbunden sind? Literaturrechen überLernen und Emotionen bringen wenig Resultate. Sieht man die Standardwerke zur Pädagogik und Pädagogi-schen Psychologie durch, findet man, dass die herkömmlichen Konzepte vorwiegend auf die Wirkungen vonBelohnungen und Erfolgserlebnisse oder Angstvermeidung eingehen. Bei der Implementation innovativer EDV-Lösungen zum Wissensmanagement bleiben die Emotionen der Nutzer(innen) unberücksichtigt. Wer aber aufemotionale Äußerungen achtet, die sich zeigen, wenn Menschen mit neuen Dingen und Aufgaben konfrontiertwerden, kann eine Fülle interindividuell sehr unterschiedlicher und dynamisch sehr veränderlicher Gefühlsäuße-rungen aufnehmen. Welche Bedeutung haben sie für das Handeln und Lernen? Gibt es neue Erkenntnisse undwelche Folgerungen ergeben sich daraus für die Pädagogik und für die Gestaltung von Lernumgebungen beimWissensmanagement in Unternehmen?

    Neue Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung undChaostheorie

    In einem Forschungssemester hatte ich viel Zeit zum Lesen und Diskutieren mit Kolleg(inn)en1. Besonders fas-ziniert haben mich viele für mich neue Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung. Neurobiologen wieRoth (1999, 2000) haben große Theorieentwürfe entwickelt, um zu erklären wie das menschliche Gehirn funk-tioniert und wie menschliches Handeln und Lernen durch Emotionen reguliert wird. Psychophysiologen wieBoucsein (1992) haben integrative Modelle über Aktivierungsprozesse basaler Emotionen vorgelegt. Persönlich-keits- und Grundlagenforscher wie Julius Kuhl (2000) haben komplexe Theorien ausgearbeitet, um die neu-ropsychologischen Dynamiken der Regulation menschlichen Handelns zu erklären und die Interaktionen zwi-schen Persönlichkeit und Situation. Chaostheoretiker wie Jürgen Kriz (1998) verwenden rekursive Formeln, umpsychologische Dynamiken zu modellieren. Lassen sich in diesen Arbeiten Antworten auf die angesprochenenFragen finden? Ist ein Brückenschlag zwischen Erkenntnissen und Theorien aus der Grundlagenforschung undder praktischen Anwendung möglich? Wie können Bezüge zwischen den Mikroprozessen im menschlichenGehirn, den Mesoprozessen beim Lernen und Handel im Alltag und den Makroproblemen bei Zukunftsfragendes Wirtschaftssystems hergestellt werden? Im folgenden Beitrag wird ein Versuch gemacht, zur Beantwortungdieser Fragen, Erkenntnisse, Aussagen und Annahmen aus unterschiedlichen Theorien und praktischen Konzep-ten zusammenzuführen. Das Ergebnis wird als eine Art integratives Theoriengerüst betrachtet, das für Erweite-rungen und Veränderungen offen bleibt. Der Schwerpunkt liegt zunächst in der Analyse und Erklärung des Ler-nens und Handeln von Individuen. An anderer Stelle (Greif & Kluge, in Vorbereitung) werden Erweiterungenvorgestellt.

    Zusammenfassung der AusgangsfragenAls Zwischenresümee ergeben sich die folgenden Ausgangsfragen, zu denen im vorliegenden Beitrag Antwor-ten durch eine Integration neurowissenschaftlicher und psychologischer Grundlagentheorien und Erkenntnissegesucht werden:

    • Wie ist erklärbar, dass erfolgreiche Lernprozesse beim Erlernen neuer Medien und Informationstechnolo-gien fehlerreich und chaotisch verlaufen?

    • Wieso können Menschen entgegen allen herkömmlichen Regeln der Pädagogik erfolgreich lernen, wennsie die Lerninhalte und –bereiche nur bruchstückartig bearbeiten und Handlungssequenzen nicht systema-tisch und vollständig, sondern sehr unvollständig üben?

    • Welche Bedeutung haben Emotionen beim Lernen? Stören oder fördern Affekte das Lernen von Innova-tionen? Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Pädagogik und psychologisches Coaching vonLernprozessen sowie für die Gestaltung von Lernumgebungen beim Lernen in Organisationen?

    • Lassen sich neuere Erkenntnisse und Theorien der Neurobiologie, Neuropsychologie, der psychologischenGrundlagenforschung und Chaostheorie zu einem integrativen Theoriengerüst zusammenführen, um Ant-worten auf diese Fragen zu geben und daraus innovative Beiträge zur wissensintensiven Wertschöpfung inUnternehmen und der zukünftigen Wissensgesellschaft zu liefern?

    1 Bei der Überarbeitung des Manuskripts haben mir viele in diesem komplexen Gebiet ausgewiesene Wissenschaftler(innen) mit wichtigen

    Hinweisen und kritischen Anmerkungen sehr geholfen. Insbesondere Cordula Artelt, Wolfram Boucsein, Kai-Christoph Hamborg, MiguelKazén, Annette Kluge, Jürgen Kriz, Julius Kuhl und Arist von Schlippe verdanke ich viele Anregungen und die Ermunterung, mich indieses für mich neue Terrain zu wagen.

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    2. Selbstorganisiertes oder Selbstgesteuertes Lernen?

    Selbstorganisation als allgemeiner BegriffSelbstorganisation wird im folgenden als ein allgemeiner Oberbegriff verwendet, definierbar als die aktive undpartiell eigenständige Strukturierung oder Ordnung von Prozessen. Durch die Verwendung des Begriffs derSelbstorganisation wird die Bedeutung der eigenaktiven Ordnung von Prozessen hervorgehoben und als theoreti-sches Organisationsprinzip in den Mittelpunkt gestellt. In der allgemeinen Bedeutung dieser Definition istmenschliches Lernen und Handeln immer selbstorganisiert oder als ein eigenaktiver, sich selbst organisierenderProzess zu verstehen.

    Im Prinzip ist die Untersuchung von sich selbst organisierenden Prozessen in der Wissenschaft keineswegs neu. DarwinsEvolutionstheorie ist mit ihren Annahmen zur natürlichen Selektion der für die Umweltbedingungen jeweils bestgeeigne-ten Lebewesen ein Prototyp einer Selbstorganisationstheorie. Aus der Geschichte der Psychologie sind insbesondere dieGestalttheorien zu nennen, etwa die Gestaltgesetze zur Organisation der Wahrnehmung. Beispiele für neuere Theorien, dieSelbstorganisationsprozesse im definierten Sinne besonders betonen, sind die konnektionistischen oder neuronalen Pro-zessmodelle des Lernens (McCelland, Rumelhart & Hinton 1986), die Synergetik und Chaostheorie (Haken 1989, vgl.Kriz 1998), der radikale Konstruktivismus (Glasersfeld 1998) oder der soziale Konstruktivismus (Gergen 1985, vgl.Westmeyer 1999). Selbstorganisationstheorien bilden zusammen keineswegs eine gemeinsame, untereinander integrierba-re theoretische Richtung. Es gibt verschiedene theoretischen Richtungen mit pointierten, teilweise kaum kompatiblenWissenschaftsauffassungen.

    Das Gehirn als sich selbst organisierendes LernsystemNach Singer (1992) ist das menschliche Gehirn ein Lernsystem, das sich selbst organisiert. In den Selbstorgani-sationstheorien des Gehirns (vgl. Roth 1999, Singer 1992) werden alle Prozesse als sich selbst organisierendeAbläufe eingeordnet, weil sie sich durch die veränderlichen Strukturen partiell nach eigenen Gesetzmäßigkeitenordnen. Nach diesem Verständnis sind selbst- und fremdbestimmtes Lernen spezielle Untergruppen des selbstor-ganisierten Lernens.

    Nach Roth (2000) kann Lernen neurobiologisch als Umstrukturierung synaptischer Kopplungen oder Veränderung derÜbertragungseigenschaften an den Synapsen angesehen werden. Acetycholin ist möglicherweise der Botenstoff, der einebesonders wichtige Bedeutung für die Bildung von Langzeitpotenzierung (Long-Term Potentiation, LTP) hat. Diese Po-tenzierungen bilden sich aus einer Kombination von neurochemischen, elektrophysiologischen und neuroanatomischenVeränderungen (vgl. Martinez & Derrick 1996). Rosenzweig (1996 oder auch Roth 2000) hält sie für die derzeit bestenKandidaten, um den Mechanismus der Langzeitspeicherung zu erklären. Wichtige exitatorische und inhibitorische Effektewerden dabei durch lokale Ausschüttung von Glutaminsäure oder GABA (Gamma-Amminobuttersäure) und anderenStoffen erzeugt. Calcium kann die Einleitung dauerhafter post- und präsynaptischer Veränderungen fördern. Eine zusam-menfassende Übersicht über die Gedächtnisstrukturen des Gehirns nach heutigem Forschungsstand gibt Pinel (1997, S.391).

    Grundannahme zur Bedeutung der Eigenaktivität beim LernenEine allgemeine Grundannahme zum selbstorganisierten Lernen ist, dass das Gelernte in Abhängigkeit von derStärke der Eigenaktivität länger und genauer im Gedächtnis eingeprägt wird. Diese Grundannahme wird in päd-agogischen und psychologischen Konzepten zum selbstorganisierten Lernen oft wie eine Art Axiom oder alsThese propagiert und nicht aus Theorien und Forschungsergebnissen abgeleitet. Hierzu werden unten in derDarstellung Theorien und Erkenntnisse aus der Neurobiologie und Neuropsychologie herangezogen.

    Selbstbestimmung fördert die EigenaktivitätSelbstorganisiertes Lernen wird oft mit selbstbestimmtem Lernen gleichgesetzt und von fremdbestimmtem Ler-nen abgegrenzt. Da aber sogar bei der Informationsaufnahme im Frontalunterricht – als typisches Modell fürfremdbestimmten Unterricht – die Informationsaufnahme vom Individuum immer aktiv und eigengesetzlichstrukturiert wird, ist auch das Lernen durch Frontalunterricht als selbstorganisierendes Lernen einzuordnen.Allerdings ist die Eigenaktivität der Lernenden bei fremdbestimmtem Lernen und anderen rezeptiven Lernme-thoden im allgemeinen relativ gering.

    Die Erweiterung der Selbstbestimmung ist für viele Menschen ein wichtiges Ziel. Beim Lernen kann sich dieSelbstbestimmung auf verschiedene Entscheidungsbereiche beziehen. Wichtige Bereiche, in denen die Lernen-den in unterschiedlichem Ausmaß selbst bestimmen können, sind:

    1. Auswahl und Definition der Lernziele2. Auswahl und Planung der Lernaufgaben und -schritte3. Erarbeitung der Regeln zur Aufgabenbearbeitung

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    4. Auswahl und Planung der Lernmethoden, -medien und -mittel5. Festlegung und Überwachung der Zeitdauer und Wiederholungen bei der Bearbeitung6. Auswahl der Bewertungskriterien und der Form des Feedbacks, Durchführung oder Mitwirkung an

    den Bewertungen

    Je größer die Selbstbestimmung in den aufgeführten Bereichen ist, desto stärker ist die erforderliche Eigenakti-vität beim Lernen. Das Ausmaß der Eigenaktivität kann demnach durch den Umfang der Selbstbestimmungbeeinflusst werden. Nach der oben genannten allgemeinen Grundannahme führt dies wiederum zu einer längerenund genaueren Einprägung des Gelernten. Diese mittelbare aktivierende Wirkung der Selbstbestimmung giltjedoch nicht für alle selbstbestimmten Entscheidungen. Aktives Lernen kann sehr anstrengend sein und mancheLernenden entscheiden sich bewusst für rezeptive Unterrichts- und Lernformen oder ordnen sich in ihrer Lern-gruppe dominanten Mitgliedern unter, die ihnen im Verlauf die Last der Entscheidung abnehmen. Dadurch ver-ringert sich die erforderliche Eigenaktivität und es wäre nach der oben aufgeführten Grundannahme zu erwarten,dass das Gelernte nicht sehr lange und genau im Gedächtnis eingeprägt wird.

    Methoden zur Förderung der Eigenaktivität und der Tu-EffektSkell (1996) beschreibt verschiedene aktivierende Methoden selbstständigen Lernens, durch die das Ausmaß derEigenaktivität der Lernenden gefördert werden kann. Auch bei rezeptiven Methoden ist dies durchaus möglich,etwa beim Lernen durch Beobachten oder beim sprachgestützten Lernen. Um gedankenloses Hinsehen beimBeobachtungslernen zu verhindern, erhalten die Lernenden die aktivierende Aufgabe, den Ablauf nach vorgege-benen Kriterien zu protokollieren. Außerdem kann der Lehrer beim Vormachen einer komplizierten Tätigkeitseine Gedanken und Empfindungen laut aussprechen („lautes Denken“), um den Lernenden ein Modell für akti-ves Nachdenken zu geben („kognitives Modellieren, vgl. den Cognitive Apprenticeship-Ansatz von ) und sie ankritischen Stellen fragen, was sie jetzt überlegen und tun würden.

    Die Erfahrung lehrt, dass man sich besonders gut an das erinnert, was man selbst praktisch gemacht hat. En-gelkamp (1997) bezeichnet dies als „Tu-Effekt“ . Er erklärt ihn damit, dass beim praktischen Handeln Informa-tionen gleichzeitig durch verschiedene sensorischen Systeme und in mehreren Arealen des menschlichen Ge-hirns verarbeitet werden müssen.

    Bereits in der klassischen humanistischen Reformpädagogik (vgl. Deitering 1996, S. 45 ff) wurde die Bedeu-tung sowohl des praktischen Tuns beim Lernen als auch der Eigenaktivität unter dem Oberbegriff der Selbsttä-tigkeit hervorgehoben. Nach Diesterweg (1873, S.202) ist Selbsttätigkeit die entscheidende Vorraussetzung fürdie Aneignung von Erfahrungen: „Was der Mensch sich nicht selbsttätig angeeignet hat, hat er gar nicht; wozu ersich nicht selbst gebildet hat, ist gar nicht in, sondern ganz außer ihm.“ Wenn wir allerdings nach neurobiologi-schen Selbstorganisationstheorien des menschlichen Gehirns annehmen, dass das menschliche Gehirn Sinnesrei-ze grundsätzlich immer eigenaktiv oder selbsttätig verarbeitet, müssen wir Diesterwegs These anders interpretie-ren oder umformulieren: „Was sich der Mensch mit geringer Eigenaktivität angeeignet hat, vergisst er schnelloder kann es nach kurzer Zeit nicht mehr aus seinem Gedächtnis reproduzieren. Aktive Verfügung hat er nurüber Bildung, die er sich sehr aktiv erworben hat.“

    Selbstgesteuertes und selbstreguliertes LernenSelbstgesteuertes Lernen ist nach Deitering (1996, S. 45) „ein Oberbegriff für alle Lernformen, in denen dieLernenden ihren Lernprozess weitgehend selber bestimmen und verantworten können.“ Der Begriff wird jedochnicht nur für Theorien gebraucht, die sich ausschließlich mit selbstbestimmten Lernformen beschäftigen, son-dern auch für Theorien, die der Selbststeuerung beim Lernen eine besonders wichtige Bedeutung zuweisen. Einvollkommen selbstbestimmtes Lernen wäre auch gar nicht möglich, weil niemand seine Lernumgebung oderLernerfordernisse völlig frei bestimmen kann. „Selbstgesteuertes Lernen ist eine Idealvorstellung, die verstärkteSelbstbestimmung hinsichtlich der Lernziele, der Zeit, des Ortes, der Lerninhalte, der Lernmethoden und Lern-partner sowie vermehrter Selbstbewertung des Lernerfolgs, beinhaltet.“ (Neber 1978, S. 22).

    Als eine der Ausgangsfragen wurde oben die Frage gestellt, wie das zunehmende Innovationstempo bewältigtwerden kann und wie das Problem gelöst werden kann, dass wir nicht voraussagen können, welches Wissen inder Zukunft erforderlich ist. In einer vom Programme for International Student Assessment (PISA) finanziertenStudie sehen Baumert et al. (2000) eine Antwort in der Entwicklung einer allgemeinen Fähigkeit zum selbstre-gulierten Lernen als fächerübergreifende Kompetenz der Lernenden. „Selbstregulation beim Lernen (SRL) be-deutet „in der Lage zu sein, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen zu entwickeln, die zukünftiges Lernen för-dern und erleichtern und die – vom ursprünglichen Lernkontext abstrahiert – auf andere Lernsituationen übertra-gen werden können.“ (a.a.O., S. 2). Sie beziehen sich dabei auf ein an Boekarts (1997) orientiertes, modifizier-tes Rahmenmodell des dynamischen Wissenserwerbs (a.a.O., S. 4), das die (meta-)kognitiven und motivationa-len Komponenten aufführt, die am selbstregulierten Lernen beteiligt sind. Nach einem neueren Drei-Schichten-

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    Modell von Boekaerts (1999) sind dabei drei Regulationssysteme zu unterscheiden (vgl. Baumert et al. 200, S. 5ff): (1) als Basis die Regulation des Selbst (Wahl von Zielen und Ressourcen), (2) Regulation der Lernprozesse(Anwendung metakognitiven Wissens zur Steuerung des Lernens) und (3) Regulation der Modi der Informati-onsverarbeitungsprozesse (Auswahl der kognitiven Strategien, z. B. zum Elaborieren und Wiederholen der In-formationen). Diese schwierig zu trennenden Regulationssysteme bedingen sich wechselseitig. In der Diskussionexemplarischer praktischer Konzepte wird auf die PISA-Studie und die Fähigkeiten zur Selbstregulation desLernens und das Lernen von Lernstrategien zurückgekommen.

    In kognitions- und handlungspsychologischen Theorien wird der Begriff der Selbststeuerung synonym zumBegriff der Selbstregulation enger im Sinne einer bewussten, aktiv zielgerichteten Überwachung und Optimie-rung des eigenen Handlungsablaufs verstanden (entsprechend dem zweiten Regulationssystem nach Boekaerts1999). Danach lässt sich selbstgesteuertes Lernen als bewusstes Überwachen und Regulieren des eigenen Ler-nens definieren. Im Folgenden wird diese enge Definition zugrunde gelegt. Eine bewusste Steuerung des eigenenHandelns oder Lernens wäre nach diesem Verständnis auch dann erforderlich, wenn die Ziele, Aufgaben oderKriterien fremdbestimmt vorgegeben sind. Davon zu unterscheiden wären automatisch oder intuitiv ablaufendeLernprozesse, ohne bewusste Selbststeuerung.

    Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der so eingegrenzt verstandene Begriff „Selbststeuerung“ im Folgenden im-mer in Verbindung mit Adjektiven und mit einer Bezeichnung des Regulationsgegenstands verwendet, z. B. „bewussteSelbststeuerung des Handelns“ oder „automatische Regulation der Aufmerksamkeit“. Im vorliegenden Beitrag wird derVersuch gemacht, ein umfassendes Theoriengerüst für bewusste und nicht bewusste innere Regulationsprozesse des Ler-nens zu entwickeln.

    Folgerungen

    • Selbstorganisation wird als die aktive und partiell eigenständige Strukturierung oder Ordnung von Prozes-sen definiert.

    • Lernen ist ein eigenaktiver, sich selbst organisierender Prozess. Lernen ist per Definitionen immerselbstorganisiert.

    • Der Begriff der Selbststeuerung wird synonym zum Begriff der Selbstregulation im Sinne einer bewussten,aktiv zielgerichteten Überwachung und Optimierung des eigenen Handlungsablaufs verwendet.

    • Nach der allgemeinen Grundannahme zum selbstorganisierten Lernen wird das Gelernte in Abhängigkeitvon der Stärke der Eigenaktivität länger und genauer im Gedächtnis eingeprägt.

    • Auch fremdbestimmtes Lernen erfordert eigenaktive, sich selbst organisierende Prozesse. Je größer aberdie Selbstbestimmung über die Lernziele, -aufgaben, -methoden und die Bewertung der Lernergebnisseist, desto stärker ist im allgemeinen die erforderliche Eigenaktivität beim Lernen. Auch beim rezeptivenLernen kann die Eigenaktivität durch geeignete Methoden erhöht werden.

    • Nach dem „Tu-Effekt“ prägt sich besonders das gut ein, was man selbst praktisch gemacht hat.

    3. Selbstorganisation und Emotionen

    Gefühle und Vernunft„Gefühle beinträchtigen oder verhindern vernünftiges Denken“ ist eine bis heute in der Wissenschaft verbreiteteAuffassung. Sie wurde schon von den griechischen Philosophen Plato und Sokrates vertreten. Wie Cacioppo undGardner (1999, S. 194) dies bildhaft ausdrücken, wurden die Gefühle als die „bösen und gefährlichen Piraten“angesehen, die das von der menschlichen Vernunft gesteuerte Schiff plötzlich überfallen und das Ruder über-nehmen können. Nach vielen überraschenden Erkenntnissen der jüngeren neurowissenschaftlichen Forschungwird die Bedeutung von Gefühlen für das Denken und Lernen inzwischen jedoch vollkommen anders bewertet.Emotionen oder Affekte sind keine schlechten Einflüsse auf den menschlichen Verstand. Die Affektsysteme sindüberlebenswichtige und nützliche, in der Evolution entstandene Aktivierungssysteme. Emotionen organisierenmenschliches Handeln und Lernen. Sie können primitives oder problematisches Verhalten auslösen, aber auchseine höchsten Fähigkeiten entfalten sich nicht ohne sie.

    Basale AffektsystemeNach dem heutigen Forschungsstand über die Funktion von Emotionen beim Handeln und Lernen lassen sichzumindest zwei elementare Affektsysteme unterscheiden (vgl. Boucsein 1995, Cacioppo & Gardner 1999, Kuhl2000, Roth 1999, 2000): ein System für positive, und ein zweites für negative Affekte. Die Ergebnisse neuro-physiologischer Forschung legen nahe, dass neben anderen Botenstoffen Dopamin und Acetycholin als zentral-

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    nervöse Transmittersubstanzen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Emotionen eine wichtige Rollespielen2. Starke positive Affekte führen zur Ausschüttung von Dopamin über dopaminerge Bahnen im Gehirn.Durch starke negative Affekte kommt es dagegen zur vermehrten Ausschüttung von Acetycholin über cholinergeBahnen im Gehirn.

    Kuhl (1994, 1998, 2000) hat eine Persönlichkeitstheorie entwickelt, die PSI-Theorie (PSI steht für”Persönlichkeits-System-Interaktion”). Durch neuropsychologische und -elektrophysiologische Untersuchungenwurden in seinem Osnabrücker Labor sehr komplexe Wechselwirkungen zwischen Affektsystemen, Persönlich-keitsmerkmalen und Selbststeuerungsprozessen bei elementaren Aufgaben entdeckt. Im Folgenden können nurausgewählte Erkenntnisse dieser komplexen Theorie wiedergegeben werden. In Abbildung 1 werden die vierHauptsysteme wiedergegeben, die bei der Bewältigung von Aufgaben und durch die mit ihnen verbundenenAffekte aktiviert werden können.

    Vier Systeme

    (4) Empfinden u. Objektwahrnehmung

    (3) Intuieren u. Verhalten

    Parietal(u.a.)

    (2) Fühlen(1) Denken und Wollen

    Präfrontal

    Rechte Gehirnhälfte

    Linke Gehirnhälfte

    (Kuhl 2000)

    Abb. 2: Die Hauptsysteme nach Kuhls PSI-Theorie

    Die in Abb. 1 (s.o.) aufgeführten Funktionen der Systeme 1 und 2 werden nach Kuhl (2000) durch diepräfrontalen Gehirnlappen (das Stirnhirn) gesteuert. Die Systeme 3 und 4 regulieren dagegen die Verarbeitungs-und Steuerungssysteme von Reizkonstellationen. Die Systeme 1 und 3 lassen sich in der linken Gehirnhälfte, 2und 4 dagegen rechtskortikal lokalisieren.

    Die folgende Abbildung 2 (s.u.) fasst die elementaren Annahmen zusammen, die nach Kuhl (2000) den Ablauftypischer Prozesse bei (1) einer intuitiven Verhaltenssteuerung nach Erfolg oder (2) bei der vorsichtigen Ob-jektwahrnehmung nach Misserfolgen beschreiben.

    Positive und negative Affekte

    Erfolg positiver Affekt Dopamin laufen lassen

    (1) Intuitive Verhaltenssteuerung

    (2) Vorsichtige Objektwahrnehmung

    Misserfolg + Gefahr negativer Affekt Acetylcholin

    Hemmen der intuitiven Steuerung genaues Empfinden/ wache Objektwahrnehmung

    (Kuhl 2000)

    Abb. 2: Wirkungen von Affekten nach Kuhls PSI-Theorie

    2 Ich danke Wolfram Boucsein für viele geduldige Erläuterungen und Diskussionen. Er hat mir geholfen, die komplexen Prozesse im

    menschlichen Gehirn nicht zu einfach zu sehen und nicht jede Einzeluntersuchung als aussagekräftig zu bewerten, sondern mir der beson-deren methodischen Schwierigkeiten in diesem Forschungsfeld bewusst zu bleiben.

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    (1) Intuitive Verhaltenssteuerung:Durch erfolgreiche Bearbeitung von Aufgaben können positive Affekte entstehen (Erfolgserlebnisse). Dabeiwird Dopamin ausgeschüttet. Dies bewirkt, dass das System zur intuitiven, quasi-automatischen Handlungs-steuerung3 (vgl. System 3 in Abb. 1) aktiviert wird (”laufen lassen, ohne nachdenken zu müssen“). Die Aktivie-rung kann auch durch nicht bewusst verarbeitete Hinweisreize bereits vor Erfolgen ausgelöst werden. In einerpositiven Stimmung tendieren Personen zu einem „aufgelockerten Stil“, sind eher kreativ, intuitiv, aber auchunzuverlässig beim Steuern des eigenen Handelns. Sie sind offen für neue Erfahrungen und explorieren die Um-gebung. Wie Roth (2000) dies anschaulich ausgedrückt hat, werden die synaptischen Verbindungen durch Do-pamin dafür bereit gemacht, netzwerkartige Bahnen für neue Informationen herzustellen.

    Beim Beobachten von positiv gestimmten typischen Small-Talk-Situationen (z. B. bei einer Stehparty) kann man intuitivgesteuerte Prozesse gut beobachten. Gesprächspartner, die sich sympathisch finden und gegenseitig das Gefühl geben,dass alles toll und interessant ist, was der andere sagt, versetzen sich gegenseitig in beste Stimmung und stimmen ihre Af-fekte aufeinander ab. Man nickt freundlich und lacht zusammen. Ein Stichwort genügt und assoziativ entlässt man allepassenden Geschichten aus dem Gedächtnis, die beim anderen positive Gefühlsäußerungen auslösen könnten. Die sprung-hafte Unterhaltung wird solange fortgesetzt, bis ein Gesprächspartner nicht mehr positiv reagiert, irgendwann Gespräch-sermüdungssymptome zeigt oder durch andere Partner abgelenkt und in Anspruch genommen wird. Solche Gesprächekönnen auch mit völlig Fremden geführt werden. Sie sind keineswegs sinnlos, sondern können als netter Zeitvertreib, zurfreundlichen, relativ „unverbindlichen“ ersten Kontaktaufnahme oder zur Beziehungspflege dienen.

    (2) Vorsichtige Objektwahrnehmung:Wenn eine gelernte Routinehandlung zum Misserfolg führt oder wenn beim Handeln Hinweisreize auf Misser-folge aufgenommen werden, ändert sich nach Kuhls (2000) Theorie die Affektlage und die beschriebene intuiti-ve Verhaltenssteuerung wird gehemmt. Das System für bewusstes Denken und Wollen (System 1 in Abb. 1) wirdeingeschaltet. Dies dient dazu, die Handlungssteuerung zu überprüfen und zu verbessern. Wenn regelrechteMisserfolge und gefährliche Situationen oder Risiken auftreten (z. B. durch einen Fehler, der die berufliche Kar-riere der Person beeinträchtigt) werden negative Affekte ausgelöst. Sie können physiologisch mit der Ausschüt-tung von Acethycholin über chonlinerge Bahnen verbunden sein. Dies bewirkt eine Hemmung der positivenGefühle. Nach Kuhl werden dadurch alle Sinne auf das System Empfinden und Objektwahrnehmung (System 4in Abb. 1) eingestellt. Aktiviert beobachtet der Mensch in Gefahrensituationen alles, was um ihn herum ge-schieht, um auf jede gefährliche Veränderung schnell reagieren zu können. Negative Affekte, Angst oder Ärgerfördern einen „angespannten Stil“. Negative Emotionen kalibrieren die neuropsychologischen Systeme fürschwierige Aufgaben (Cacioppo & Gardner 1999, S. 206).

    In Anlehnung an Panksepp (1982) unterscheidet Boucsein (1995) vier Systeme, die „mit bestimmten emotio-nalen Herausforderungen verbunden sind“ (a.a.O., S. 153, Hervorhebungen im Original): (1) Cholinerges Sy-stem (Frustrationen, Ärger und Wut/ Aggressions- und Kampfverhalten), (2) Serontonerges System (Furcht,Schmerz, Lebensbedrohung/ Freezing oder Fluchtverhalten), (3) Noradrenerges System (Panik, Trennung, so-ziale Verluste/ Agitiertheit und Vokalisation) und (4) Dopaminerges System (positive Erwartungen und Anreize,Appetenzverhalten und exploratorisches Verhalten). Er integriert die vorliegenden, noch nicht vollkommen ein-deutigen neurophysiologischen Erkenntnisse in einem vorläufigen komplexen Modell der hemmenden und akti-vierenden Wirkungen der Botenstoffe. Boucsein (1995) leitetet daraus Hypothesen über differenzierte Wirkun-gen dieser Systeme auf unterscheidbare und relativ zuverlässig messbare elektrodermale und kardiovaskuläreIndikatoren ab4.

    Die Intensität der Affekte beeinflusst die EinprägungHandeln und Lernen wird nicht durch die Großhirnrinde organisiert, sondern, wenn wir das integrative Modellvon Boucsein (1995) heranziehen, durch das limbische System (Hippocampus, Amygdala und umliegende Rin-de). Die neurowissenschaftliche Forschung über die Bedeutung von Emotionen für das menschliche Lernensteht, ist allerdings insgesamt noch sehr schmal (Peper 1999) und beruht auf einer noch recht spekulativen ge-meinsamen Interpretation interessanter Einzelbefunde. So kann McGaugh (2000, Ferry, Roozendaa1 &McGaugh 1999) in Tier- und Human-Experimenten zeigen, dass die Gedächtnisleistungen in bedrohlichenStress-Situationen durch Auslösung intensiver Emotionen besser werden, die zur Aktivierung mehrerer beteilig-

    3 Im Modell von Kuhl (2000) werden diese Prozesse keineswegs als vollkommen, von bewusster Steuerung und Rückmeldungen unbeein-

    flusst, gesehen. Zur Unterscheidung von automatisierten Prozessen, die nicht erst nach Erfolg oder Misserfolg, sondern bereits vorher ein-setzen und ohne bewusste Verarbeitung von propriozeptiven Rückmeldungen (siehe unten bei der Darstellung über basale Aufmerksam-keitsreaktionen), werden sie hier im Unterschied zu automatisch ablaufenden Prozessen als „quasi-automatisch“ regulierte Prozesse ein-geordnet.

    4 Diese Indikatoren können in der Erforschung der Bedeutung basaler emotionaler Zustände beim Lernen und Handeln mit realisierbaremtechnischen Aufwand verwendet werden.

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    ter Areale des Gehirns über das noradrenerge System führen. Eine zentrale Rolle bei der Aktivierung spieltdabei die Amygdala (oder Mandelkern5) und das Stresshormon Noradrenalin (bzw. Norepinephrin). Nach Auf-fassung der Autoren wird das Langzeitgedächtnis durch diese hormonellen Aktivierungsprozesse reguliert, umeine bessere Einprägung von Gefahrensituationen zu ermöglichen.

    Der Hippocampus hat eine andere Funktion. Er reguliert (vgl. Roth 2000) den Zugang zu den früher erworbe-nen Gedächtnisinformationen, insbesondere die mit Emotionen verbundenen Informationen. Menschen, die nachintensiven Angsterlebnissen eine Phobie mit ausgeprägtem Meideverhalten entwickelt haben (z. B. Angst vorMäusen), zeigen bei einer Konfrontation mit Bildern ihrer Angstobjekte neben einer Aktivierung der Amygdalazugleich eine starke Aktivitätszunahme im Hippocampus. Nach erfolgreicher Therapie geht sie zurück. Die Ak-tivierung der Amygdala und die Noradrenalin-Ausschüttung in bedrohlichen Situationen ist davon jedoch unab-hängig und wird von der Verhaltentherapie nicht beeinflusst, die Wirkungen von Noradrenalin können aberdurch Beta-Blocker aufgehoben werden (Ferry et al. 1999). Neurobiologisch lassen sich demnach die Aktivie-rungsprozesse bei gelernten phobischen Angst- und Meidereaktionen von gedächtnisaktivierenden als bedrohlicherlebten Stressreaktionen unterscheiden.

    In der Evolution war es von Vorteil für das Überleben der Art, wenn sie die Fähigkeit hatte, Gefahrensituatio-nen phobisch zu meiden oder sich sorgfältig einzuprägen. Während heute phobisches Meideverhalten für dieBetroffenen und die Umwelt oft ein Problem darstellt, ist die Intensivierung von Affekten durch bedrohlicheSituationen im Allgemeinen auch in der gegenwärtigen Zivilisation durch die dadurch erzielte Verbesserung derLangzeit-Gedächtnisleistungen außerordentlich funktional. Wir können annehmen, dass solche zweckmäßigenAktivierungen mehrerer Gehirnareale generell durch als bedrohlich empfundene neue Situationen im Alltag oderinnovative Veränderungen in Organisationen ausgelöst werden können. Zur Eingangsfrage über die Bedeutungvon Emotionen beim Lernen können wir danach eine erste Annahme formulieren. Bedrohlich empfundene neueSituationen im Alltag und Innovationen in Organisationen verbessern, vermittelt über die beschriebenen neuro-biologischen Aktivierungsprozesse die Genauigkeit der Einprägung der reproduzierbaren Informationen imLangzeitgedächtnis. Mit dieser Annahme können wir die zu Beginn geschilderten Beobachtungen theoretischerklären, wonach Lernsituationen, die anfangs starke Verunsicherungen auslösen, anscheinend wichtige Lang-zeitergebnisse hervorgerufen haben. Zugleich wird der Begriff der (Eigen-)Aktivierung genauer spezifiziert unddurch physiologische Indikatoren messbar operationalisiert.

    Die pädagogische Folgerung ist, dass eine anfängliche Verunsicherung und Beunruhigung der Lernendendurch neue Lernaufgaben oder Situationen nicht grundsätzlich vermieden und sofort reduziert werden sollte.Dies sollte jedoch keinesfalls als Aufforderung missverstanden werden, den Lernenden unkontrollierbare Angstzu machen oder Meidereaktionen zu fördern. Wichtig ist, keine Aufgaben zu stellen, die nicht bewältigt werdenkönnen, Verständnis für die Beunruhigung zu zeigen und effektive Hilfe zur Selbsthilfe bei der Kontrolle dereigenen Emotionen und bei der Bewältigung der Situation zu geben. Die Überwindung eigener Ängste ist einstarkes Erfolgserlebnis. Um Vermeidungslernen zu verhindern, muss aber gewährleistet werden, dass niemandbeim Lernen durch Ängste dominiert wird.

    FolgerungenAus der kurzen Übersicht über aktuelle Erkenntnisse der neurobiologischen, neuropsychologischen und persön-lichkeitspsychologischen Grundlagenforschung können erste praktische Folgerungen gezogen und Annahmenformuliert werden.

    • Nach den Ergebnissen neurophysiologischer Forschung lassen sich mehrere basale Affektsysteme unter-scheiden. Die beiden am besten erforschten Systeme sind das dopaminerge System, mit positiven Affektenzusammenhängende und das cholinerge, durch negative Affekte aktivierbare System. Diese Erkenntnissekönnen für die zukünftige Forschung herangezogen werden, um zu untersuchen, ob Lernende in Abhän-gigkeit von der Affektlage unterschiedlich reagieren und wie Lernen in diesen Situationen aktiviert und ge-steuert wird. Nach der PSI-Theorie von Kuhl (2000) führen positive Affekte zu intuitiv gesteuertem explo-ratorischem Handlungsstil, negative Affekte dagegen zu einem angespannten, auf vorsichtige Beobachtungder Umgebung orientierten Stil, um auf jede gefährliche Veränderung schnell reagieren zu können.

    • In Anlehnung an McGaugh (2000) wird angenommen, dass bedrohlich empfundene neue Situationen imAlltag und Innovationen in Organisationen, vermittelt über neurobiologische Aktivierungsprozesse die Ge-nauigkeit der reproduzierbaren Informationen im Langzeitgedächtnis verbessern.

    • Eine anfängliche Verunsicherung und Beunruhigung der Lernenden durch neue Lernaufgaben oder Situa-tionen ist nicht grundsätzlich zu vermeiden. Dabei muss aber sicher gewährleistet werden, dass niemanddurch zunehmende Ängste dominiert wird und dass kein Vermeidungslernen entsteht. Es dürfen keine

    5 Genauer eingegrenzt, handelt es sich um den Basolateralen Nukleus der Amygdala (Ferry et al 1999).

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    Aufgaben gestellt werden, die nicht bewältigt werden können. Für die Verunsicherung und Beunruhigungmuss Verständnis gezeigt werden und es muss effektive Hilfe zur Selbsthilfe bei der Kontrolle der eigenenEmotionen und der Bewältigung der Situation gegeben werden.

    4. Wechsel zwischen intuitiv und bewusst selbstgesteuerten Prozessen

    Das Prozessmodell von Norman und ShalliceNorman und Shallice (1986) haben ein Modell entwickelt, mit dem sie beschreiben können, wie die scheinbarchaotischen Mikroprozesse beim Handeln und Lernen ablaufen und wie dabei intuitiv und bewusst selbstgesteu-erte Prozesse abwechseln. Wie in Abbildung 3 (s.u.) wiedergegeben, werden danach sensorische Informationendurch sensorische Wahrnehmungsstrukturen (Sensory-Perceptual Structures) aufgenommen und mit im Ge-dächtnis gespeicherten, die Prozesse auslösenden Informationen verglichen. Sie werden als Trigger-Datenbank(Trigger Data Base) bezeichnet. Diese Trigger (mit Trigger wird auch der Abzugshebel einer Pistole bezeichnet)können ein oder mehrere Schemata in Aktion setzen, die in der Abbildung als untereinander angeordnete Recht-ecke dargestellt werden (mit Kreisen als Symbole für die einzelnen Operationen). Diese Trigger-Datenbankfunktioniert wie eine Art zwischengeschaltete Datenbank der spezifischen Informationen, welche die zu aktivie-renden, im Gedächtnis gespeicherten Schemata auslösen.

    Die zeitlichen Abfolgen werden als horizontale Prozess-Verbindungen (Horizontal Processing Threads) be-zeichnet, die hierarchischen Strukturen als vertikale. Die vertikalen Prozess-Verbindungen (Vertical ProcessingThreads) in Abb. 3 stehen für die hierarchisch übergeordneten Strukturen zur Entscheidung, welche Schemataausgewählt und an die psychologischen Prozess-Strukturen (Psychological Processing Structures) weitergegebenwerden, die am Ende beobachtbare äußere und nicht beobachtbare innere Handlungen (External and InternalActions) in Gang setzen. Wie in der Abbildung skizziert wird, entscheiden motivationale Einflüsse und die Res-sourcen des Aufmerksamkeitssystems, welche Schemata mehr oder weniger stark aktiviert oder gehemmt wer-den.

    Sensorische Information

    Sensor. Wahrneh-mungs-

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    Psycholog. Prozess-

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    Vertikale Ver-bindungen

    Horizontale Verbindungen

    Motivationale Einflüsse

    Aufmerksamkeit, Aktivierung u.Hemmung

    - Abb. 3: Prozessmodell von Norman und Shallice (1986)

    Der sich selbst organisierende, quasi-automatische Ablauf von Handlungsketten wird im Modell von Normanund Shallice (1986) durch die Aktivierung von gelernten Schemata erklärt. Die Schemata bestehen aus einerFolge von Operationen (die einzelnen Operationen werden durch kleine Kreise dargestellt). Einmal aktiviert,können hochgeübte Schemata auch ohne permanente bewusste Aufmerksamkeit und Kontrolle ablaufen, bis siez. B. durch einen aufmerksamkeitserzeugenden Fehler blockiert werden, der nur durch bewusste Selbststeue-rung bewältigt werden kann (Näheres dazu siehe unten). Die Schemata, die konkret als Folge von Operationenablaufen, können aus dem Gedächtnis durch passende Stimuli oder Trigger-Daten aus der Umgebung aktiviertwerden, die durch das sensorische Wahrnehmungssystem in die Trigger-Datenbank aufgenommen oder als neugebildete Schemata durch Erzeugungsschemata aus dem Gedächtnis der handelnden Person generiert werden.Ein Erzeugungsschema kann mit einem Folgeschema verbunden und nachfolgende Schemata oder Erzeugungs-schemata initiieren.

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    Auszuführende Aufgaben als Meta-ErzeugungsschemataEin wichtiger Grundgedanke aus den Schematheorien ist, dass es Schemata gibt, die als Erzeugungsschemataselbstorganisierend neue konkrete Folgen von Operationen generieren können. Wenn wir diesen Gedanken wei-terführen, können wir annehmen, dass es auch noch allgemeinere, übergeordnete Meta-Erzeugungschemata gibt,die wiederum Erzeugungsschemata erzeugen. Tätigkeiten, die ausgeführt werden sollen, werden im Alltag gene-rell als Aufgaben bezeichnet. Hierbei interessieren uns zunächst speziell diejenigen Aufgaben, „die man auszu-führen bereit ist“. Dabei wäre es zunächst einmal egal, ob man dies „selbst will“ oder weil sie einem „übertragenwurden“. Möglicherweise will man die Aufgabe nicht ausführen, aber man akzeptiert die Autorität der Person,die den Auftrag erteilt oder meint dies tun zu müssen, weil es erwartet wird oder weil es im Allgemeinen ungün-stig wäre, sich zu verweigern. (Für eine genauere Unterscheidung selbst- und fremdbestimmter willentlicherEntscheidungen und ihrer Folgen siehe Kuhl 1998.) Es wäre auch kaum sinnvoll, ständig darüber nachzudenkenund zu prüfen, ob man das „wirklich“ selbst tun möchte, was von einem erwartet wird. Ohne lange nachzuden-ken oder zu fragen, ob dies sinnvoll oder vernünftig ist, werden deshalb solche „auszuführenden Aufgaben“auch tatsächlich ausgeführt, wenn eine Person mit akzeptierter Autorität die Ausführung wünscht und beobachtet(vgl. Greif 1996). Wir erklären dieses unreflektierte, quasi-automatische Ausführen von Aufgaben durch dieAktivierung eines hochgeübten und täglich bekräftigten Meta-Erzeugungsschemas „auszuführende Aufgabe“.Die Technik der Führung durch Aufgaben (Management by Objectives) ist eine einfache Motivierungstechnik,die dieses Meta-Schema nutzt.

    Bewusste, intentionale Aufmerksamkeit beim HandelnEs gibt Aufgaben, die nicht quasi-automatisch bewältigt werden, sondern durch reflektiertes Nachdenken undbewusstes zielgerichtet gesteuertes Handeln. Norman und Shallice (1986, freie Übersetzung) stellen die besonde-ren Aufgaben zusammen, die eine bewusste, intentionale Aufmerksamkeit beim Handeln erfordern:

    (a) Aufgaben, die Planen erfordern oder Entscheidungen.

    (b) Probleme, die gelöst werden müssen (Troubleshooting).

    (c) Aufgaben, die schlecht gelernt wurden oder neue Handlungssequenzen enthalten.

    (d) Als gefährlich oder als technisch schwierig eingeschätzte Aufgaben.

    (e) Aufgaben, bei deren Ausführung eine starke Gewohnheit überwunden werden muss oder eine verführeri-sche Alternative.

    Besonders bei neuen oder komplexen Aufgaben, Fehlern oder anderen Problemen (und den übrigen oben ge-nannten besonderen Aufgaben) ist eine zusätzliche Überwachung und Kontrollstruktur im Bewusstsein erforder-lich. Diese Zusatzaufgabe wird von einer spezifischen Funktion des Arbeitsgedächtnisses übernommen, die sieÜberwachendes Aufmerksamkeitssystem (Supervisory Attentional System, SAS) nennen. Die Aufgabe dieses sehrspezifischen Subsystems des menschlichen Bewusstseins besteht darin, Handlungsprogramme – oder Schemata,wie Norman und Shallice sie nennen - zu überwachen und zusätzlich zu den automatischen Abläufen zu aktivie-ren oder zu hemmen. Es kann die Steuerung der Prozesse je nach Erfordernis bewusst unterbrechen und verän-dern.

    Quasi-automatische HandlungsschemataEine permanente bewusste Überwachung durch das SAS ist nach Norman und Shallice (1986) erforderlich, wennneue Handlungsabsichten ausgeführt werden sollen, Entscheidungen über die Auswahl und Reihenfolge vonSchemata oder Handlungsprogrammen getroffen werden müssen oder wenn eine bewusste Start- oder Stopp-Entscheidung erforderlich ist. Es gibt Handlungsroutinen (z. B. Greifbewegungen), die keine bewusste Überwa-chung erfordern, die aber durch Trigger ausgelöst und durch Objekte in der Umgebung gestoppt werden (z. B.das Objekt, das man ergriffen hat). Wie Hacker (1998, S. 609 ff) in Anlehnung an Forschungsarbeiten von Heuer(1990) feststellt, können Bewegungen nur kurzzeitig nach Impulsen vor Beginn der Bewegung ohne jede pro-priozeptive Rückmeldung ausgeführt werden. Bei hochgeübten Bewegungsprogrammen wird die Verarbeitungder Rückmeldungen effektiver und reguliert die Prozesse nach der hier favorisierten Begrifflichkeit nicht voll-kommen automatisch, aber „quasi-automatisch“ und unbewusst. Bewusste willentliche Kontrolle ist allerdingsdann erforderlich, wenn man sich z. B. konzentrieren muss, um keine Fehler zu machen oder wenn man verhin-dern will, dass man in eine gewohnte oder attraktive Handlungsalternative verfällt (vgl. Hacker 1998, S. 239 füreine differenzierte Unterscheidung verschiedener Arten „bewusst geführter“ Prozesse).

    An einem Alltagsbeispiel erläutern Norman und Shallice (1984) den inneren Kampf zwischen unbewussten Tendenzenund willentlicher Selbstkontrolle: „Nachdem man sich entschieden hat, keinen weiteren Biss von einem köstlichen, abersehr kalorienhaltigen Kuchen zu essen, muss man sehr auf sich aufpassen. Eine kurze Unaufmerksamkeit genügt und derKuchen wird gegessen.“ (freie Übersetzung, a.a.O., S. 14). Je nach erwarteten Handlungskonsequenzen, ist die bewusste

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    willentliche Aktivierung von Schemata und Handlungen schwer oder leicht. So fällt es uns manchmal schwer und ein an-dermal leicht, am Morgen aus dem Bett zu kommen, je nachdem, was wir vom Morgen erwarten.

    Die Funktionen und die Wirkmechanismen aktivierender und hemmender, motivationaler und emotionalerProzesse werden im Modell von Norman und Shallice (1986) nur grob skizziert. Hier führen die wiedergegebe-nen neurophysiologischen und -psychologischen Erkenntnisse über Aktivierungsprozesse weiter. Das Modellerklärt die Schnelligkeit und Dynamik der Mikroprozesse beim Ablauf menschlicher Handlungen. Es beschreibt,wie Handlungsschemata erlernt und beim Handeln durch Reize aus der Umgebung aktiviert und aus dem Ge-dächtnis abgerufen werden können. Als Grundmodell lässt es sich auch nach neueren laborexperimentellen ge-dächtnispsychologischen Befunden (vgl. Baddeley (1990, 1996) und aktuellen neurobiologischen Erkenntnissenaufrechterhalten. So ließe sich das Konzept der Trigger-Datenbank neurobiologisch möglicherweise auf einegedächtnisorganisierende Funktion des Hippocampus und der umgebenden Rinde zurückführen (vgl. Roth 1999,2000). Möglicherweise sind aber weitere Differenzierungen erforderlich. Ericsson und Kintsch (1995) postulie-ren nach gedächtnispsychologischen Untersuchungen die Existenz eines handlungs- oder kontextbezogenenLangzeit-Arbeitsgedächtnisses. Es sorgt vermutlich für eine Vorbereitung beschleunigter Aktivierungsprozesse(in der Fachliteratur wird dies als Priming bezeichnet, vgl. hierzu auch die Untersuchungen zum impliziten Ler-nen von Goschke 1998b) und für eine Aktivierung unerledigter Handlungsabsichten.

    FolgerungenMenschliche Handlungen und Lernprozesse erscheinen chaotisch, weil sie sich in einem kontinuierlichen, dyna-mischen Wechsel zwischen bewusster Steuerung und intuitiven, quasi-automatischen Handlungsschemata undErzeugungsschemata selbst organisieren und dabei sowohl durch externe Reize oder innere Aktivierungs- undHemmungsprozesse und motivationale Prozesse beeinflusst werden.

    • Das Modell von Norman und Shallice (1986) beschreibt, wie Handlungsschemata in der Wechselwirkungmit Reizen aus der Umgebung (Trigger-Daten) aktiviert und aus dem Gedächtnis abgerufen werden kön-nen. Es kann herangezogen werden, um die Bedeutung des Erlernens situativer Kontextbedingungen vonHandlungen zu erklären, die beim Konzept des situierten Lernens (Mandl et al. 1995) postuliert werden.

    • Das Modell erklärt den kontinuierlichen Wechsel zwischen bewusster Steuerung und intuitiven, quasi-automatisch ablaufenden Prozessen sowie die Schnelligkeit und Dynamik der Abläufe. Hochgeübte Hand-lungsschemata werden ohne bewusstes Überlegen quasi-automatisch durch Reize aus der Umgebung akti-viert. Sie können sehr schnell ablaufen, weil sie keine bewusste Steuerung erfordern. Registriert das Auf-merksamkeitssystem aber Probleme und Schwierigkeiten bei den zu bearbeitenden Aufgaben, erfolgt einWechsel zur bewussten Steuerung und die Prozesse werden verlangsamt. Beim Lernen und Ausführenneuer und komplexer Handlungsschemata ist eine permanente bewusste Überwachung erforderlich.

    • Es wird angenommen, das Menschen ein Meta-Erzeugungsschema für „auszuführende Aufgaben“ gelernthaben, das ihnen kontinuierliche Überlegungen und Willensentscheidungen erspart, ob sie Aufgaben aus-führen wollen. Menschen ordnen Aufgaben in das Schema „auszuführende Aufgaben“ ein, die ihnen alsAuftrag von Personen gegeben wurden, deren Autorität zur Auftragerteilung sie akzeptieren, oder weil siemeinen, sie ausführen zu müssen, weil dies von ihnen erwartet wird. Diese Aufgaben (auch unsinnige)werden im Allgemeinen ohne Reflexion ausgeführt.

    Die zentrale theoretische Annahme ist, dass sich die Mikroprozesse beim Handeln und Lernen in einem ständi-gen Wechsel zwischen bewusst gesteuerten und quasi-automatisch ablaufenden Schemata, stimuliert durch Um-gebungsreize selbst organisieren, die wiederum durch im Gedächtnis gespeicherte Trigger aktiviert werden. Eineschwierige methodische Frage ist, wie diese Schemata und Umgebungsmerkmale wissenschaftlich erforschtwerden können und ob es möglich ist, solche Mikroprozesse in ihrem Ablauf vorherzusagen oder durch pädago-gische Interventionen zu beeinflussen. Die Probleme der Erfassbarkeit und Vorhersagbarkeit werden im Folgen-den behandelt. Auf Möglichkeiten der Umgebungsgestaltung zur Förderung von Lernprozessen wird am Endedes Beitrags eingegangen.

    5. Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeitssysteme

    Arbeitsgedächtnis und zentrale ExekutiveDas überwachende Aufmerksamkeitssystem (SAS) nach Norman und Shallice (1986) funktioniert wie eine Artbewusstes Entscheidungsverfahren, welches das Gehirn veranlasst, je nach Aufgabe und Problem zwischen ver-schiedenen Programmen – Triggern von quasi-automatischen Schemata oder bewusste Selbststeuerung – zuwählen. Baddeley (1990, 1996) hat ein differenziertes Modell des Arbeitsgedächtnisses entwickelt, das heute inder Psychologie von vielen Forschern als Grundlage herangezogen wird. Er verweist auf das SAS-Modell vonNorman und Shallice (1986), experimentelle Befunde und Alltagsbeobachtungen sowie Untersuchungen an

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    Patienten mit einer Schädigung der Frontallappen (vgl. Baddeley 1990, S. 93 ff), um die Funktion eines spezifi-schen Systems zu beschreiben, dass den Prozess der bewussten Aufmerksamkeitszuwendung steuert. Er weistdiese Überwachungsfunktion für alle Arten von Informationen einem zentralen Leitsystem des Arbeitsgedächt-nisses zu, das er als zentrale Exekutive bezeichnet6. Annahmen aus diesem Modell lassen sich auch recht gut mitErkenntnissen und aus der Gedächtnispsychologie Kuhls PSI-Theorie zusammenbringen (vgl. Kuhl & Kazén1999).

    Die Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive lässt sich sehr eindeutig eingrenzen (Baddeley 1990, 1996).Das System kann alle Informationen verarbeiten, die durch die Sinnesmodalitäten wahrgenommen werden. Nurbis zu 7 Informationseinheiten einer Modalität können darin aufgenommen und (durch untergeordnete „Sklaven-systeme“) für ein bis zwei Sekunden bewusst präsent gehalten, verarbeitet und abschließend im Langzeitge-dächtnis gespeichert werden. Es wird deshalb mitunter vorschnell als das schwächste Glied oder als Flaschenhalsin der Prozesskette bezeichnet. Lebewesen sind aber immer auf eine Reduktion der Menge und Komplexität derInformationen angewiesen, die von außen aus der externen Umgebung oder intern vom Organismus auf dasSystem treffen. Insofern ist es nicht als Schwäche, sondern als positive Leistung des Systems anzusehen, wennes in der Lage ist, überlebenswichtige Informationen herauszufiltern, oder solche, die es ermöglichen, Misserfol-ge zu vermeiden und Erfolge zu erzielen.

    Unbewusste Informationsaufnahme und –verarbeitungDas Modell der zentralen Exekutive bezieht sich vorrangig auf die Verarbeitung bewusst wahrgenommenerInformationen. Anscheinend können Informationen aber auch nicht bewusst aufgenommen und verarbeitet wer-den. Dies wird sehr eindrucksvoll durch die Forschungen an Tieren und Menschen mit einer Durchtrennung derVerbindung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte (Split-Brain) belegt (vgl. Pinel 1997, S. 433 ff). Split-Brain-Patienten können Gegenstände, die sie mit dem rechten Auge sehen, bewusst wahrnehmen und sprachlichkorrekt bezeichnen. Gegenstände, die ihnen nur im linken Gesichtfeld dargeboten werden, können sie dagegenanscheinend nicht erkennen und auch nicht begrifflich benennen. Sie reagieren aber – für sie selbst überraschend- durchaus sinnvoll auf diese Objekte, so als würden sie sie sehen. Es gibt demnach automatische Aufmerksam-keitsreaktionen, die nicht an eine bewusste Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen gekoppelt sind.

    Das Ich als bewusstes SelbststeuerungszentrumRoth (1999, S. 213 ff) betrachtet das Bewusstsein als einen beim Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Erinnernund Handeln empfundenen Begleitzustand. Bei diesen Prozessen ist anscheinend primär der linke Frontallappenaktiviert. Eine besondere Form ist das „Ich-Bewusstsein“, das bewusste Selbststeuerungszentrum der Person. Eslässt sich als die Empfindung eingrenzen, wach und „bei Bewusstsein“ zu sein, eins mit dem eigenen Körper undein einheitliches Wesen mit einer Vergangenheit zu sein und dass „ich es bin, der etwas tut und erlebt“ (a.a.O., S.213). Hiervon zu unterscheiden ist die bewusste Aufmerksamkeit, die sich auf äußere oder innere Prozesse rich-ten kann (a.a.O., S. 220 ff.).

    Basale Aufmerksamkeitsreaktionen und -systemeDie basalen Aufmerksamkeitsreaktionen für die internen und äußeren sensorischen Informationen werden kei-neswegs alle bewusst gesteuert. Sie sind auch nicht bewusst wahrnehmbar, sondern werden vermutlich durch dieAmygdala kontrolliert. Die Aufmerksamkeit wird keineswegs nur durch ein spezielles, einzelnes Aktivierungs-system reguliert. Boucsein (1992, 264ff) fasst den Forschungsstand mit drei komplexen Subsystemen zusammen.Danach spielt die Amygdala bei der Fokussierung der Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle, während derHippocampus in Zusammenarbeit mit dem Papez-Kreis des Limbischen Systems die Verarbeitung der als rele-vant erkannten Information steuert. In die Auswahl und Vorbereitung von Reaktionen sind dagegen auch dieBasalganglien als subkortikale Struktur einbezogen. Die von Boucsein (1995) beschriebenen vier basalen Boten-stoffsysteme des Gehirns schütten ihre Hormone nicht erst nach erlebten Misserfolgen oder Erfolgen aus, son-dern bereits vor der bewussten Wahrnehmung. Nach Roth (2000) werden alle vom Organismus aufgenommenenInformationen nach einem genetisch festgelegten Programm automatisch in einer bestimmten Reihenfolge nach-einander analysiert, sortiert und an das Arbeitsgedächtnis oder das Bewusstsein zur bewussten Verarbeitung undSteuerung weitergeleitet (etwas verändert formuliert nach Roth 2000):

    (1) Welche Sinnesmodalität wird angesprochen (modalitätsspezifische Aktivierung und Weiterverarbeitungdurch modalitätsspezifische Areale)?

    6 Bredenkamp (1998) hat dieses Gedächtnismodell erweitert und etwas umgestellt, um die experimentell gefundenen Zusammenhänge und

    Gedächtnisleistungen besser erklären zu können. Danach werden der semantische und prozedurale Langzeitspeicher zwischen dem Ultra-Kurzzeitspeicher und der zentralen Exekutive angeordnet. Dies trägt dem Befund Rechnung, dass die Aufnahmekapazität des Kurz-zeitspeichersystems der zentralen Exekutive vom Vorwissen abhängt. Wer in einem Bereich über ein gut strukturiertes Fakten- oder Ver-fahrenswissen verfügt, kann dadurch mehr Informationen aufnehmen.

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    (2) Ist die Information gefährlich/neu/ungewöhnlich (prioritäre Aufmerksamkeitsreaktion) oder ist sie be-reits bekannt (Aktivierung von Standardroutinen)?

    (3) Welche Bedeutung hat die Information (sekundäre Aufmerksamkeit: emotionales Empfinden, Bezüge zubewussten Handlungsabsichten oder wichtigen Zielen/angestrebten Ergebnissen)?

    Das gesamte Aufmerksamkeitssystem des Menschen lässt sich vorläufig als komplexe Resultante der Zusammen-arbeit zwischen mehreren Aktivierungs- und Hemmungssystemen des limbischen Systems verstehen. Die Umge-bung und inneren Prozesse werden gewissermaßen kontinuierlich unbewusst und bewusst überwacht. Die obenbeschriebenen vier basalen Botenstoffsysteme des Gehirns schütten ihre Hormone nicht erst nach Misserfolgenoder Erfolgen aus, sondern bereits vor der bewussten Wahrnehmung7. Dies führt zu kortikalen Aktivierungs- undHemmungsprozessen, eine Art Vororganisation der unbewusst aufgenommenen (von der linken Gehirnhälfte zuverarbeitenden) Informationen und zur Strukturierung der bewusst wahrgenommenen Informationen Aufmerk-samkeitsprozesse (rechte Hemisphäre). Die genauen Regulationsprozesse der menschlichen Aufmerksamkeitsind allerdings noch unzureichend erforscht. Sie wären nur mit großem apparativem Aufwand8 erfassbar. Imvorliegenden Zusammenhang genügt es aber festzuhalten, dass die komplex zusammenarbeitenden Aufmerk-samkeitssysteme sowohl die Informationen ordnen und überwachen, die im Fokus der Aufmerksamkeit stehen,als auch die peripher oder nur teilweise beachteten Hintergrund- und Nebeninformationen sowie die möglicher-weise unbewusst aufgenommenen Informationen. Mit der Überwachungsfunktion der Aufmerksamkeitssystemeverbunden ist die Aufgabe, innere Prozesse und Handlungsroutinen entsprechend der Intensität der Aufmerk-samkeit schnell und differenziert zu aktivieren oder zu hemmen - beeinflusst durch Affekte und unterstützt durchkontextbezogene im Langzeit-Arbeitsgedächtnis (Ericsson & Kintsch 1995) bereitgestellte Emotionen, Ziele,Absichten und Handlungsprogramme (vgl. Kuhl & Kazén 1999).

    Im Unterschied zu den Modellen von Baddeley (1990) oder Norman und Shallice (1986) wird angenommen, dass dieAufmerksamkeit primär durch die oben erwähnten Affektsysteme aktiviert wird. Nach Roth (1995, 2000) laufen die Pro-zesse zur modalitätsspezifischen Aktivierung und zur Stimulierung der Aufmerksamkeit bei gefährli-chen/neuen/ungewöhnlichen Informationen vollkommen automatisch ab. Bereits bei Reptilien und allen in der Evolutionnachfolgenden Lebewesen mit einem limbischen System funktioniert dies ähnlich. Dadurch sind diese Lebewesen in derLage, auf Gefahren/neue/ungewöhnliche Informationen mit ihrer maximalen Geschwindigkeit zu reagieren. Auch für denMenschen und auch noch in unserer modernen Zivilisation kann diese blitzschnelle und vorrangige Orientierungsreaktionund unbewusste Aktivierung von Handlungsprogrammen überlebenswichtig sein. Wer überraschend heranrasende Autosnicht sofort unbewusst registriert und ohne nachzudenken wegspringen kann, riskiert Gesundheit und Leben. Wie untereinem Zwang starren Menschen dorthin, wo sie überraschend eine schnelle Bewegung bemerken oder wo sie ein lautesGeräusch lokalisieren. Man muss bewusst gegen diese festgelegte Tendenz zur prioritären Aufmerksamkeitszuwendungankämpfen, um ihr widerstehen zu können. Diese Prozesse können deshalb auch als basale prioritäre Aufmerksamkeitsre-aktionen bezeichnet werden.

    Als dritter, sekundärer Teilprozess können nach Roth (1995, 2000) zur Bewertung der Wichtigkeit der Infor-mation „höhere“, spezifisch menschliche Überwachungsfunktionen einsetzen. So kann die unbewusst aktivierteAufmerksamkeit nachträglich bewusst reguliert werden. Wenn prioritäre Tendenzen die bewusste Aufmerksam-keit nicht vollständig auslasten, sondern lediglich zu einem Teil binden, kann die periphere Wahrnehmung auchbewusst aktiviert werden (z. B. durch bewusstes Beobachten einer Person „aus dem Augenwinkeln“). WelcheEmotionen, bewusste Absichten oder anzustrebende Ergebnisse stimuliert werden, hängt von den im Langzeit-gedächtnis gespeicherten und durch die Situation wach gewordenen Vorerfahrungen ab. Die basale Intensität derbeteiligten Emotionen und die subjektive Wichtigkeit der Absichten und Ziele regulieren aber vermutlich dieIntensität der Aufmerksamkeitsreaktion zunächst einmal automatisch.

    Durch die postulierte genetisch festgelegte Prioritätenreihenfolge kann es in den komplexen Aufmerksamkeits-systemen bei Gefahren/neuen/ungewöhnlichen Informationen keine zeitliche Verzögerungen durch Prioritäten-konflikte geben. Die Dosierung der Aufmerksamkeitsreaktion erfolgt immer im frühestmöglichen Moment. Dieunmittelbare Aufmerksamkeitszuwendung kann lediglich mit einer Zeitverzögerung durch bewusste Selbststeue-rung beeinflusst werden. Diese Steuerung verlangsamt die Prozesse und ist nur dann zweckmäßig, wenn dieerforderliche Zeit investiert werden kann. Die Reaktionsgeschwindigkeiten können maximal werden und flexibelan verschiedene Situationen und Aufgaben angepasst werden. Wenn genügend Zeit vorhanden ist, kann zumFeintuning durchaus auch eine bewusste Überwachung und Steuerung einsetzen – etwa durch ein SAS. Eineständige Überwachung durch hierarchisch übergeordnete bewusst gesteuerte Systeme würde nicht nur unnötigverlängerte Verbindungswege erfordern, sondern auch spezielle neuronale Netze, die Prioritäten-Konflikte ent-scheiden können. Der postulierte Prozess der prioritären Aufmerksamkeitszuwendung selbst kann dagegen beiKonflikten bereits im Vorfeld das Problem sehr flexibel und effizient managen. Im Übrigen kann die Funktion

    7 Man bezeichnet solche Prozesse auch als „präattentive“ (vor der Aufmerksamkeit) Prozesse. Da hier der Begriff der Aufmerksamkeit nicht

    nur bewusste, sondern auch die unbewusste Prozesse umfasst, wäre diese Bezeichnung irreführend.8 Etwa mit Positronen-Emissions-Tomographie (PET, einführend zu den Forschungsmethoden siehe Pinel 1997, S.110 ff).

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    des Aufmerksamkeitssystems als zentraler Koordinator und Organisator durch das Modell von Norman undShallice (1986) als allgemeine Grundlage beibehalten werden.

    FolgerungenMit den wiedergegebenen Erkenntnissen über basale Aufmerksamkeitsreaktionen und –systeme wird das Pro-zessmodell von Norman und Shallice (1989) erweitert, um die unbewusste Aufnahme und Verarbeitung vonInformationen sowie affektive Regulationsprozesse in das Modell zu integrieren.

    • Die basalen Aufmerksamkeitssysteme dienen zur Regulation der unbewussten Informationsaufnahme undzur Vororganisation der bewusst und unbewusst verarbeiteten Informationen.

    • Die unmittelbare Reaktion auf gefährliche/neue/ungewöhnliche Informationen (prioritäre Aufmerksam-keitsreaktion) ist auch in der heutigen Zivilisation existentiell bedeutsam. Sie nicht verlernt werden. Wennden Lernenden im Rahmen der herkömmlichen Pädagogik ausschließlich Handlungsschemata zur bewuss-ten Regulation ihres Handelns vermittelt werden, kann dies für sie sehr riskant sein.

    Die Erforschung der unbewussten Informationsaufnahme beim Lernen und die Entwicklung wissenschaftlichfundierter Methoden zur Förderung unbewusster Lernprozesse ist ein neues Aufgabenfeld.

    6. Das Langzeitgedächtnis als erfolgsorientierter Ordner chaotischerMikroprozesse

    Das Langzeitgedächtnis ist ein Universum mit einer unvorstellbar großen Kapazität. Es kann zu der in jederSekunde aktivierten Information – schneller und vielfältiger als jedes heutige Computersystem – quasi blitz-schnelle „Online-Verbindungen“ herstellen und zu allen nur irgendwie mit dem Handlungskontext zeitlich,emotional, zielorientiert oder für die Handlungsorganisation individuell bedeutsamen Informationen und Hand-lungsprogrammen Bezüge aktivieren. In Anlehnung an Ericsson und Kintsch (1995) nehmen wir an, dass – er-gänzend zum Langzeitspeicher im oben erwähnten Modell von Bredenkamp (1998) – dieses kontext- oder auf-gabenbezogen aktivierte Wissen eine Art Langzeit-Arbeitsspeicher bildet, der bereitgestellt wird, um den Kurz-zeit-Arbeitsspeicher in seiner Verarbeitungskapazität zu beschleunigen und zu verstärken. Leistungsunterschiedein der Verarbeitungskapazität zwischen verschiedenen Menschen sind weniger auf die Aufnahmekapazitätsun-terschiede des Kurzzeit-Arbeitsspeichers oder Aufmerksamkeitssystems zurückzuführen (sie liegen in einemschmalen Variationsbereich), sondern auf erhebliche Wissensunterschiede im Langzeitgedächtnis und großeKapazitätsunterschiede im Langzeit-Arbeitsgedächtnis.

    Komplexitätsmanagement, Komplettierungsdynamiken und nicht vorhersagbare ProzesseDas Kurzzeit-Arbeitsgedächtnis kann immer nur Informationsbruchstücke aus dem Ultrakurzzeitspeicher verar-beiten. Durch die Auswahl der am stärksten aktivierten externen und internen Informationseinheiten und ihresubjektive Interpretation wird die Komplexität der Informationen auf einen verarbeitbaren Umfang reduziert undquasi-automatisch erfahrungs- und erfolgsorientiert sequentiell organisiert. Menschen müssen Abläufe nichtbewusst planen, um Aufgaben in einer sinnvollen Reihenfolge schrittweise bearbeiten zu können. Der Arbeits-speicher nimmt parallel zu anderen Informationen kontinuierlich Abfolgeinformationen über die Aufmerksam-keitssysteme auf und rekonstruiert daraus unter Zuhilfenahme des Langzeitgedächtnisses subjektiv konsistenteHandlungsabfolgen, die durch die Trigger-Datenbank und Handlungsabsichten als Schemata zur Organisationdes Handlungsablaufs bei der Aufgabenbearbeitung aktiviert werden können.

    Wie Kriz (1998) unter Rückgriff auf Chaos- und Selbstorganisationstheorien formuliert, können Systeme un-vollständige Teile ihrer Ordnung durch selbstordnende Einflüsse selbst komplettieren oder Fehler selbst heilen.Er nennt sie „Komplettierungsdynamiken“. Die Chaosforschung hat sich von der Vorstellung verabschiedet, dassalle Prozesse vorhersagbar oder berechenbar sind (Kr