Siewerth Grundfragen Der Phi Lo Sophie Im Horizont Der Seinsdifferenz

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    GUSTAV SIEWERTHwww.gustav-siewerth.de

    GRUNDFRAGEN DERPHILOSOPHIE IMHORIZONT DER

    SEINSDIFFERENZ

    TRIALOGO VerlagD-78421 Konstanz

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    Auflage : 2003/06Alle Rechte vorbehalten!Copyright 2003 by TRIALOGO

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    VORWORT

    Die hier verffentlichten Abhandlungen sind in einem Zeitraum von ungefhr dreiig Jahren entstanden.

    Sie sind ein philosophisches Gesprch, das im Zusammenhang mit den brigen Arbeiten des Verfassers

    zwar in verschiedenen Richtungen, aber in stetiger Fortentwicklung der transzendentalen Seinsdeutung

    gefhrt wurde. Diese Seinsdeutung gipfelt in der Errterung der Differenz von Sein und Seiend, die

    von Martin Heidegger als jener wesentliche Auftrag philosophischer Besinnung bezeichnet wur-

    de, die den verengten Horizont der neuzeitlichen Philosophie aufbrechen und den verdeckten oder

    vergessenen Ursprung philosophischen Fragens wieder erffnen knnte. Dabei besttigt es sich wie

    im Schicksal der Metaphysik, da die groen Entscheidungen des Denkens im philosophisch-

    theologischen Seinsentwurf des hohen Mittelalters gefallen sind. Um sie einzuholen und in ihrem geistes-

    geschichtlichen Gewicht zu erweisen, gengt es nicht, das von den einzelnen Denkern Gedachte in der

    Weise historischer Nachzeichnung wiederzugewinnen. Es gilt vielmehr, den unmittelbaren Gang spe-

    kulativen Denkens auf die potentielle Systematik hin zu verdichten und zu vertiefen, um in geistesge-

    schichtlicher Reflexion die entscheidenden Wenden in ihrer Notwendigkeit, in ihrer theologischen und

    existentiellen Bedingtheit, in ihrem systematischen Gewicht wie in ihrer in den Anfngen noch ver-

    deckten oder verhaltenen Potentialitt sichtbar werden zu lassen und entsprechend zu kennzeichnen. In

    diesem Betracht ist die Darstellung der Seinscharaktere und ihrer Dialektik im System des Duns Sco-

    tus von besonderer Bedeutung, nicht minder der Aufweis der theologischen Herkunft der modernen Sub-

    jektivitt und ihrer absoluten Systematik oder Logik.

    Die Arbeiten ber Definition und Intuition und die transzendentale Struktur des Raumes versu-

    chen, den seinsvergessenen Lehrbegriffen des kritischen Idealismus und Realismus die ungleich kom-

    plexeren und trotz ihrer Ursprnglichkeit und Sachgemheit so schwer zugnglichen Lsungen

    der Seinsphilosophie gegenberzustellen. In den Aufstzen ber die Selbigkeit des Wahren, des Guten

    mit dem Sein und ihrer Unterschiedenheit tritt zutage, da eine rein geschichtliche Wiederholung der

    entfalteten Lehren des Aquinaten die unvollendete und spannungsreiche Potentialitt der Untersu-

    chungen verfehlen mu. Ihr entgeht, da gerade in einer lehrhaften Verfestigung und einer ent-

    sprechenden abstrakten Verbegrifflichung der vorlufigen Aussagen ein wesentlicher Grund liegt fr das

    Hervortreten einer antinomischen Problematik, die ohne eine tiefere Ausfaltung der transzendenta-

    len Differenz und des Verhltnisses von Sein und Nichtsein zu radikalen Lsungen treibt.

    Auch die frhen Aufstze ber den Widerspruch im Werke des jngeren Hegel oder ber Kants Lehre

    von der Geschichte der menschlichen Vernunft, die nach der Vollendung der Habilitationsschrift und

    ihres Hauptteils Der Thomismus als Identittssystem in den Jahren 1936 und 1938 verfat wurden,

    sind ein kritisches Gesprch. In ihm wird versucht, in der Schrfe und Strenge der Seinsphilosophie und

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    unter dem Magrund ihrer Prinzipien und Methoden die Strukturen und Denkweisen der beiden groen

    neuzeitlichen Denkentwrfe aufzuhellen und die in ihnen geschehenen Entscheidungen aus den Aussa-

    gen der Denker selbst kritisch nachzuvollziehen.

    Die moderne transzendenzlose und seinsvergessene Subjektivitt steht im Mittelpunkt der Aufstze

    ber Dilthey und den Psychologismus. Durch die Reduktion des Menschen auf eine organologisch und te-

    leologisch oder auf eine durch Anlagen und Neigungen prdeterminierte Natur wird offenbar, in

    welchem Mae die spezialwissenschaftlichen Aspekte das Wesen des Menschen gefhrden.

    Die Auseinandersetzung mit den spekulativen Paradoxa Hawthornes kann durchaus mit der Gottesfra-

    ge bei Martin Heidegger zusammengelesen werden. In beiden Abhandlungen geht es ja um den

    gttlichen Gott, der in der Tat durch die Notwendigkeiten ontotheologischen und logischen Denkens

    in seinem unzugnglichen freiheitlichen Wesen und Walten verstellt oder der Undenkbarkeit preisgege-

    ben wird. Beide Errterungen stehen zugleich in einem inneren Zusammenhang mit der zentralen Arbeit

    ber die Seinsdifferenz. Durch sie soll vor allem deutlich werden, wie die seit dem hohen Mittelalter

    aufgegebene Frage nach dem Wesen der Seins- und Gottesdifferenz in ihrer Verklammerung mit

    dem Nichtsein kraft der fortschreitenden Logisierung des Seins die gnostische und rationalistische On-

    totheologik der modernen Philosophie hervortreten lie. Wird der Aquinate in diesem letzten und

    hchsten Horizont spekulativ aus seinen Prinzipien weitergedacht, so wird offenbar, da die Seins-

    vergessenheit Heideggers wie die Ontotheologik Hegels nur als theologisches Geschick begreifbar

    sind. Deshalb kann auch nur in der berlegenen Helle der unverkrzten Differenzstrukturen wie in der

    unaufhebbaren Absolutheit der personalen Subsistenz des Seins und ihrer relationalen (existentiellen)

    Transzendenz die Ontotheologik Hegels in ihren Scheinnotwendigkeiten, ihren zerrttenden Widerspr-

    chen und ihrer verdeckenden Nivellierung unaufhebbarer Unterschiede entschleiert werden und die

    Wahrheit ihrer bedeutsamen und positiven spekulativen Vollzge ans Licht treten. Da die theologische

    eschatologische Systematik Hegels sowohl im Nationalsozialismus wie im dialektischen Materia-

    lismus (im Versuch, die unaufgehobenen Widersprche im politischen und gesellschaftlichen Bereich

    und nicht nur in der geschichtstranszendenten Idee zu vershnen) ihre epochale Ausprgung gewann,

    so bedeutet die spekulative Auseinandersetzung mit ihr eine Aufgabe, der sich kein Philosophie-

    render entziehen kann, der sich der Forderung Heideggers stellt, zu bedenken, was heute istund seins-geschicklich waltet. Es gilt auch hier der Satz Heideggers, da man einen Denker nur ehrt,

    indem man denkt oder die Lehre des Aquinaten, da in der Wahrung und Erhellung eines philo-

    sophischen Prinzips fr die Wahrheit und das Heil der Menschheit Wichtigeres geschah als im Gesamt al-

    ler brigen Erkenntnisse natrlichen Denkens.

    Der letzte Aufsatz Christentum und Tragik, der 1934 eine von Theodor Haecker gestellte Frage zu

    beantworten sucht, ist das Ergebnis eines lange whrenden Bedenkens der antiken Tragdie. Ihr exis-

    tentielles Mysterium steht nicht nur in einem wesenhaften Zusammenhang mit der sich gleichlaufend er-

    eignenden Philosophie - ihm eignet auch im Geschichtsgang des abendlndischen Geistes ein verweisenderBezug zumGeschehen auf Golgotha. Sofern die Gnade erlittenen Wissens alle irdische Glckseligkeit

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    berschattet, deutet sie auf eine gttliche Weisheit, die den Aufgang gttlichen Lebens nur im verschul-

    deten oder die Schuld tilgenden Untergang des sich luternden oder sich opfernden Daseins zum unver-

    lierbaren, gttlich ermchtigten Ereignis werden lt.

    Freiburg i. Brg., im Juni 1963

    Gustav Siewerth

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    DEFINITION UND INTUITION

    Die Definition ist herkmmlich ein Lehrstck der Logik. Da diese es mit den Begriffen und den aus

    ihnen gebildeten Urteilen, mit den Regeln der Verknpfung unter der Norm der Richtigkeit, gleich

    ursprnglich mit den Begriffszeichen, d. h. den Worten und den aus ihnen gebildeten Stzen zu tun hat, so

    bezeichnet man primr mit Definition die Umgrenzung oder Ausgrenzung der Worte und ihrer Bedeu-

    tungen. Ein Wort definieren besagt aber im Grunde nichts anderes, als es zu klren, zu erlutern und

    seinen Bedeutungsumkreis festzulegen. Dieses Geschft ist nur sinnvoll, wenn ein Ausdruck durch an-

    dere Worte, die irgendwie als ursprnglicher gegeben angesehen werden, die einfacher und deshalb

    leichter falich sind, verdeutlicht wird.

    Schon in diesen wenigen Stzen zeigt es sich, da die Logik keine ursprngliche Wissenschaft ist,

    sondern auf einem Grunde aufruht, von dem her sie ermglicht ist. Denn das Gesagte ist nur sinn-

    voll, wenn die Worte und ihre Bedeutungen aus einem Elemente herstammen und auf es zurck-

    verweisen, das so etwas wie eine Aufhellung eines Zusammengesetzten und Mannig fa lt igen du rch

    Ei nfac here s er mgl ic ht un d in welchem das Einfachere als das ursprnglicher Einsichtige und Gege-

    bene erscheint. Das kommt in der Logik selbst zum Ausdruck, indem sie neben die Worterklrung (defini-

    tio nominalis oder definitio quoad nomen) die Umgrenzung der Sache selbst oder die Wesensumgren-

    zung setzt (definitio realis oder quoad rem).Diese Umreiung der Sache aber kann dieser Logik gem auf zwei Weisen geschehen: erstens durch

    Bezeichnung einer allgemeinen Gattung, innerhalb der die Sache sich findet, um dann durch bestimmte

    Eigenheiten irgendwelcher Art von anderen Dingen der gleichen Gattung unterschieden zu werden. Die-

    se Eigenheiten sind Kenn-zeichen und Merk-male der Sache, durch die sie eindeutig wiedererkannt

    und im Gedchtnis behalten (gemerkt) werden kann (definitio descriptiva). Zweitens kann die Sache

    umgrenzt werden, in dem die Wesenselemente, die das Ganze einer Sache konstitutieren und

    zugleich unterscheidend kennzeichnen, genannt werden (definitio essentialis). Eine Definitio ist sol-

    chermaen eine Rede, wodurch die Wesenheit der Sache selbst erlutert wird (oratio, qua ipsius reiessentia declaratur) (Sebast. Reinstadler, Elementa philosophicae scholasticae. Vol. I.).

    Diese Wesenserluterung geschieht durch die nchste Gattung (genus proximum) und den artge-

    benden Unterschied (differentia specifica). Als Beispiel sei genannt: Der Mensch ist das Lebe-

    wesen, das mit Vernunft begabt ist (animal rationale). Wrde statt Lebewesen Leben oder Sein

    gesagt, also nicht die nchste Gattung genannt, so wre die Umgrenzung (gegen hhere Seinsbe-

    reiche) aufgelst, da eine Unterscheidung des Menschen vom reinen Geist, also einem Engelwesen

    oder einem Gott, nicht mehr zum Ausdruck gebracht wrde. Wre der artgebende Unterschied nicht

    getroffen, wie wenn gesagt wrde, der Mensch ist das aufrecht gehende, das spontan reagierende

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    oder das urteilende Lebewesen, so wrde sein Wesen mit tierischen (niederen) Daseinsformen zu-

    sammenfallen. Es wre insofern desgleichen unbestimmt.

    Es braucht nicht groe Mhe, zu erkennen, da diese Sach- oder Wesensdefinition mehr voraus-

    setzt, als in den Lehrbchern der Logik zum Ausdruck gebracht wird. Diese Wissenschaft wird so-

    wohl in der modernen Scholastik wie auch in der modernen Wissenschaftstheorie als erste, durch sich

    selbst begrndete Erkenntnis von den Regeln des Denkens und seiner richtigen Anwendung bestimmt,

    wodurch die Vorstellung nahegelegt wird, als gbe es einen durch sich selbst einsichtigen Funktiona-

    lismus des Denkens, dessen im Subjekt liegende Gesetze aller mglichen Wissenschaft zugrunde

    liegen. In Wahrheit setzt sie, wie im obigen Falle, stets die in der Metaphysik erhellten Wesens-

    strukturen des Seins und der seienden Dinge voraus, von deren schulmiger berlieferung sie wie von

    einem Selbstverstndlichen ausgeht und lebt, ohne ihre eigene Abhngigkeit bedenken zu knnen.

    Wenn Rainstadler mit allen modernen Scholastikern die Logik an den Anfang der Elemente der

    Wissenschaft stellt, so drckt sich hierin nichts anderes aus als der Verfall der modernen Philosophie.

    Dies erhellt, wenn wir die Wesens- und Sachdefinition tiefer auf ihre Ermglichung befragen. Sie er-

    mglicht sich allein durch eine ursprngliche Einsicht in ein gattunghaft Allgemeines, das viele seien-

    de Wesen einschliet und von diesen aussagbar ist. Des weiteren macht sie die Annahme, da das

    Allgemeine der Gattung im Ganzen und Einen des Artwesens irgendwie fortwalte und einem

    konstituierenden, grndenden Wesensteil zugeordnet ist, dem die Artunterscheidung als ein for-

    meller Bestimmungsgrund entspricht. Drittens mu dieses Allgemeine ursprnglicher gegeben und

    durch seine elementarere Einfachheit einsichtiger sein als das Wesen selbst, das von ihm erhellt werden

    soll. Viertens entsteht die Frage nach der Umgrenzung des Allgemeinen der Gattung selbst. Dieser

    Versuch, das Umgrenzende der Gattungen selbst einzugrenzen, fhrte schon bei Aristoteles zur

    Erkenntnis, da das Sein und die Substanz, also die hchsten Gattungen, nicht mehr definierbar sind.

    Es ist selbstverstndlich, da damit alles logische Definieren zu einem halt- und bodenlosen Spiel

    wird, wenn nicht die obersten Gattungen, der Einsichtigkeit des Allgemeineren gem, von hchster

    Intelligibilitt sind, wenn sie nicht, wie Aristoteles sagt, durch sich selbst das Offenbarste

    (saphestaton), das Gewisseste (gnorimotaton), das im Bestand Festeste (bebaiotaton) und das in sich

    selbst Grndende, das Voraussetzungslose und an sich selbst Vorliegende (anypotheton) sind und derDefinition nicht bedrfen, um wahre Erkenntnis zu erwirken. (Vgl. Aristoteles, Metaphys. G 3.)

    Dieselben Fragen erffnen sich vom artgebenden Unterschied her. Denn wenn er die Sache selbst

    und das Wesen konstituiert, so mu er erstens als solcher in die Erscheinung treten. Er mu daher ei-

    nem informierenden Grunde zugeordnet sein und doch zugleich so verhllt sein, da seine Heraushe-

    bung neben uerlichen, scheinhaften Bestimmungen sinnvoll ist. Wodurch aber kommt er zur Erschei-

    nung, und zwar so, da er das durch sich selbst unklarere Wesen aufhellt? Wie verhlt sich sein arthaf-

    tes Bestimmen zum Seienden selbst? Ist nicht alles logische Definieren eine Verstellung und Zerst-

    ckung der Sache, wenn diese selbst nicht aus einer inneren Geschiedenheit ihrer konstituierendenGrnde durch Einigung zu einer realen Einheit kommt? Umgreifen schlielich die hchsten Gattun-

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    gen, wie das Sein und das Leben, nicht schon durch sich selbst auch die mglichen artgebenden Unter-

    schiede, so da die Definition die logische Forderung, da die erluternden Elemente sich nicht vor-

    aussetzen und einschlieen drfen, letztlich gar nicht erfllen kann? Denn gehrt nicht jeder Artunter-

    schied auch zum Sein, so da auch von ihm her wie bei der Gattung das Geschft der Definitionen im me-

    taphysischen Horizont des Seins sich heillos verwirrt? Auch hier zeigt es sich, da es Mglichkeit und

    Sinn nur bewahrt, wenn es im Letzten und Allgemeinsten des Seins Unterscheidungen gibt, welche die

    Einheit des Seins nicht antasten, also nur zum Ausdruck bringen, wie das Sein durch seine Artung als

    Sein zu sich selbst kommt, da also der Unterschied eine Weise der Einheit und Einigung des Seins

    selber ist. Deshalb sagt der Aquinate, da das Sein nicht nach logischer Weise durch genus und spe-

    cies entwickelt und verdeutlicht werden kann; es wird vielmehr in sich selbst kontrahiert, d. h., es

    bewegt sich als das gleiche durch seine Bestimmungen fort, oder es wird nach aktuierendem und emp-

    fnglich-ermglichendem Sein geschieden (ens dividitur per actum et potentiam), wobei der Einheit

    des Seins dadurch Rechnung getragen wird, da die Potenz jeweils als Nicht-sein oder Noch-

    nicht-Sein (oder als mgliches Sein) bestimmt wird.

    Daraus ergibt sich, da die Definitio der Logik ermglicht und getragen ist durch die Metaphysik.

    Sie wre nur dann Sachumgrenzung, wenn gezeigt wrde, wie das Seiende selbst aus dem Sein her ent-

    springt und sich aus seinen Grnden konstituiert und zu sich selbst heraufgeht. Nur wenn das undefi-

    nierbare Sein so begriffen wird, da es (auer in Gott) nicht zu sich selbst kommen und real subsistieren

    kann, wenn es sich nicht scheidet nach Wesen und Sein und sich solchermaen verendlicht, hat alles De-

    finieren seinen Grund in der Sache. Dann ist die Wesenheit die Eingrenzung (limitatio) des Seins und

    als Seiendes ein definitum eines indefinitum (illimitatum). Diese Wesenheiten aber gehen dann not-

    wendig aus dem Allgemeinsten des Seins zu immer grerer Eingrenzung fort, bis dahin, da sie

    schlielich nicht mehr in sich selbst grnden, sondern eines Empfnglichen und Anderen, als sie selbst

    sind, bedrfen, eines Nicht-Wesentlichen, worin sie als einigende Grnde zu sich selbst kommen und

    sich erhalten.

    So sind alle Wesen der sichtbaren Natur zusammengesetzt aus einem, das sie artet, einigt und durchwal-

    tet, und einem anderen, das durch sie geeinigt wird. Jede Pflanze, jedes Lebewesen baut sich solcher-

    maen aus den Elementen der Natur auf, die von den Alten das Materielle oder das Empfnglich-Mtterliche genannt wurden. Sofern dieser Aufbau des Elementaren in Stufen geschieht, prgt er

    sich gattungshaft (werdehaft) aus, so da die niedere Einigungsstufe vom Materiellen her umfnglicher

    ist als die informierende Artung.

    Ist ein Gattungsbereich festgelegt, so ergeben sich aus ihm von selbst die Weisen der herkmmlichen

    Definitionen. Erstens kommt es darauf an, das Artbesondere oder das Einzelne unterscheidend herauszu-

    heben. Diese Heraushebung und Sicherung des Besonderen kann durch Beschreibung von Besonderheiten

    geschehen, die hinreichen, die Sache von anderen zu unterscheiden. Diese Unterscheidungsabgrenzung

    kann durchaus zufllige Momente enthalten, wofern nur in ihnen gegeben ist, da sie in anderen Seien-den der gleichen Gattung oder Art nicht anzutreffen sind. Solche Bestimmungen sind im genauen

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    Wortverstande Kenn-zeichen und Merk-male fr ein unterscheidendes Wiederfinden der Sache. Sind

    derlei Merkmale aber durchhaltend bei jedem Seienden der gleichen Art gegeben, dann gehren sie of-

    fenbar zum Wesensgefge selbst, dessen einigendes Sicheingrenzen sich in ihnen enthllt. Dann wird das

    Kenn-zeichen zum Wesenszeichen, und die Unterscheidungsumgrenzung nhert sich der Wesensdefiniti-

    on. Diese vollendet sich mit der Einsicht, da in der Tat das Merk-mal das Ganze der Wesenheit be-

    stimmt und alle mglichen anderen uerungen durchwaltet und verstndlich macht. So wre die Defini-

    tion des Menschen als animal rationale dann wesenhaft und echt, wenn es sich erweisen lt, da alle

    anderen menschlichen Bestimmungen, wie das freie Handeln, die Technik, das Lachen und Sprechen,

    durch die fgende Einigungskraft der Ratio ermglicht wren.

    Die Definition hebt daher am Ursprung jene Bestimmungen heraus, wodurch ein Ding oder eine Sache

    im Sein der Natur wie in ihrer Erscheinung sich als einig und in sich und durch sich begrenzt und dadurch

    von allen Wesen unterschieden erweist. Ihre Bedeutung besteht letztlich darin, da sie den Blick auf das

    grndende Ganze des Wesens zu richten und ihn im Fortgang der (wissenschaftlichen) Bestimmung darin

    zu halten wei. Eine Wesensdefinition ist daher Ausgang, Grund und Medium der Erkenntnis - eine Un-

    terscheidungsdefinition hingegen nur eine Kennzeichnung zur Fest-legung und Fest-stellung einer Sa-

    che im Strom mannigfaltiger Erscheinungen.

    Es ergibt sich aus dieser Klrung, da eine Definition sehr verschiedenen Charakter haben kann. Im-

    mer kommt es darauf an, ein Mannigfaltiges so zu umgrenzen, da es als Einheit von anderen hinrei-

    chend unterschieden oder aber aus sich selbst in seiner inneren Einheitsordnung sichtbar wird. Die Aus-

    grenzung ist daher die Weise, eine Sache als Einheit im Mannigfaltigen und Zuflligen ihrer Erschei-

    nung gegen den Schein zu sichern und sowohl der Verwechslung mit anderen Dingen wie der Verwor-

    renheit und Unklarheit zu wehren. Da eine solche Ttigkeit nur mglich ist, wenn es eine vorgngige

    oder ursprngliche Offenheit von Wesenszgen und Wesensgrnden gibt, die zugleich die Kriterien ih-

    rer durchhaltenden Wesentlichkeit an sich tragen, so ist jede Ausgrenzung stets eine Bestimmung von

    etwas her (de - finitio). Als solche Gegebenheiten gelten die allgemeinen Gattungen (Sein, Leben, Le-

    bewesen, Ding, Pflanze, Tier usw.), die einen solchen Umfang haben, da sie unmittelbar in der Erfah-

    rung sichtbar und erfabar sind. Eine weitere Weise der Aufhellung der Erscheinungen liegt in ihrer

    inneren Ordnung, in der Regelmigkeit, Gleichheit und hnlichkeit ihrer Abfolge und Zusammen-hnge, was zumindest darauf verweist, da sie im Wesen grnden. Schlielich widersetzt sich jede

    Wesenheit der Abscheidung nicht-zuflliger Bestimmungen, von denen der abstrahierende Logos

    absehen mchte. In diesem Sinne gehrt notwendig alles das zum Wesen einer Sache, was sich nicht

    wegdenken lt, ohne sie zu zerstren oder aufzuheben. So ist kein Ton denkbar ohne eine gewisse

    klangliche Farbe oder Intensitt, wodurch eine wesenhafte Verbindung erhrtet ist, ohne da schon der

    innere Grund fr die Notwendigkeit einer solchen Einheit einsichtig sein mu. Des weiteren erhellt, da

    jede De-finitio einer Sache von einem Allgemeinen her geschieht, in dem sie sich besondert.

    Von diesem Allgemeinen her hngt letztlich die Sachlichkeit und die besondere Artung des Um-grenzens selber ab. So wurde oben gezeigt, da jede echte Sachdefinition im Sein als Sein grndet und

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    von ihm her ermglicht sein mu. Es knnte jedoch auch jederzeit dieser Anspruch unerfllt bleiben

    und die Sachbestimmung sich in der Ordnung der Natur oder der Lebewesen oder der quantitativ gemes-

    senen Erscheinung der materiellen Vorgnge halten. Solchermaen gibt es von einer Sache soviel De-

    finitionen, als sie an verschiedenen Ordnungen teilhat und von ihnen her gemessen wird. So wird

    eine Pflanze anders bestimmt, wenn sie als besondere Weise des Seins oder des Naturlebens, oder als

    chemischer Proze oder als Nahrung oder als sichtbare Gestalt betrachtet wird. Die apriorischen Mae

    und Sichtweisen einer Wissenschaft entscheiden daher auch ber ihr spezifisches Definieren, das oft keine

    Wesensbestimmungen mehr enthlt, sondern nur noch die Ordnung von Erscheinungen nach gegebenen

    Maen enthllt. Es ist mglich, da z. B. die Naturwissenschaft Elemente nach Gewicht definiert, ohne

    darber Auskunft zu geben, was mit dieser Bestimmung eigentlich getroffen ist, und ob es sich um eine

    Wesensbestimmung handelt. Die Umgrenzung ist selbst durch das Nicht-mehr-Befragte der Mae

    zufllig und gewinnt ihre Rechtfertigung allein durch den theoretischen und praktischen Erfolg, d. h.

    durch die Erfahrung, da sich die Erscheinungen weitgehend den Maen fgen und die Vorgnge zu

    technischem Gebrauch verwendbar werden. Das Durchgngige mathematischer Bestimmungen lt al-

    lerdings notwendig die Frage entspringen, wie Natur geartet ist, wenn sie gem solchen Maen

    durchgngig oder weitgehend bestimmt erscheint.

    Jedes Definieren ereignet sich als eine Weise von Erkenntnis. Es setzt daher ein gewisses Unbestimmtes

    voraus, das durch sie berwunden wird, um die Einheit einer Sache zu sichern. So ist die Worterkl-

    rung als Eingrenzung gegen die Mehrdeutigkeit, die Unbekanntheit oder die Ungenauheit eines Wor-

    tes gerichtet; die Unterscheidungsdefinition gegen die Verwechselbarkeit von hnlichen Gegenstn-

    den, die Wesensdefinition gegen die Zuflligkeit und den Schein der Erscheinung, die Seinsumgren-

    zung gegen das Bodenlose der Gattungsbestimmungen und das Zufllige der Verbindung der Teile ei-

    ner Definition. Dabei zeigt sich, da das Geschft der Definition in erster Linie eine Versicherung gegen

    einen Schein, eine Undeutlichkeit oder Unsicherheit ist und daher in keiner Weise mit der Erkenntnis

    einer Sache zusammenfllt. Eine Sache definieren heit unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes, als

    am Ursprung sich der Sache so zu versichern, da der Blick auf sie hingerichtet bleiben kann, ohne durch

    Fehlaspekte dauernd verwirrt oder beirrt zu werden oder gar die Sache berhaupt aus dem Auge zu

    verlieren. Durch sie kommt das Erkennen im eigentlichen Sinn erst in Gang, indem die wesentlichenUmgrenzungsbestimmungen bezeichnet und durch andere Bestimmungen so entwickelt und erhellt

    werden, da alle mglichen Merkmale der Sache in ihrer wesenhaften gegenseitigen Ermglichung ver-

    standen werden. Die Definition animal rationale umreit daher die Aufgabe, von der Einigungs-

    macht des Logos und der seins-vernehmenden Schaukraft der Vernunft her alle Weisen des

    Menschseins in ihrem wesenhaften Begrndungszusammenhang aufzuhellen. Ohne diesen inneren

    Fortgang ist die Definition eine leere, sperrende Hlse, die bei Halbgebildeten den Schein vollendeter

    Erkenntnis erzeugt und sie in der Gewiheit anfnglicher Erfassungen versichert und zugleich beschrnkt.

    Dennoch ist leicht einsehbar, da die Definition nicht nur dem Sprechen und Erkennen dient, sondernselbst im Erkennen sich vollzieht und eine Weise von Erkenntnis bedeutet. Definition besagt stets eine

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    Verbindung von Worten zu einem Satz oder von Merkmalen zu einem In-sich-Einigen oder Ganzen.

    Solch eine Ttigkeit aber setzt stets eine Erfassung der Definitionsteile als solcher voraus, die ja nicht

    wiederum durch Definition bestimmt werden mssen, soll man nicht, was unmglich ist, ins Unendli-

    che gehen. Eine solche Erfahrung aber ist unmittelbar und wird in der Philosophie als einfache Hin-

    nahme (Auffassung) (simplex apprehensio) bezeichnet. Sie ist nichts anderes als ein unmittelbares An-

    schauen und Vernehmen, in dem sich einfache (nicht zusammengesetzte) Wesenszge durch sich selbst

    dem Blick darbieten. Eine solche unmittelbare Hinnahme kann nun auch gegenber der Zusammengeh-

    rigkeit von einfachen Gegebenheiten (also einer Relation) statthaben, so wenn die figurale Ein-

    heit der drei Seiten eines Dreiecks unmittelbar aufgefat wird. Es ergeben sich in solchem Vernehmen

    Bedeutungseinheiten, in sich einige Ganzheiten, die nichts darstellen als ursprngliche, durch Er-

    scheinungen gegebene und getragene Anschauungen, ber deren notwendige Verknpfung nichts ausge-

    macht ist. Sie knnten daher per accidens auch innerlich unmglich oder scheinhaft sein, wie ein Tier,

    das redet. Immer aber grnden sie in einer Weise intelligibler Schauung (visio), die als solche je-

    dem Urteil und jeder Erkenntnis vorausgeht und daher weder als wahr noch als falsch bezeichnet werden

    kann.

    Ihr gegenber erweist sich das Urteil oder die Erkenntnis als eine Verknpfung oder Trennung, die

    unter das Ma des Wesensnotwendigen gestellt ist und die Einheit einer Sache als wesentlich oder aber

    als unwesentlich erhellt. In diesem Falle wird also die definitorische Verbindung noch einmal durchlau-

    fen, doch so, da die einzelnen Teile am Mae eines Wesentlichen, das ursprnglich (apriori) auf-

    leuchtete, gemessen werden. Dabei erweist sich der Verstand als ein abstrahierendes (abziehendes, auf-

    lsendes) Vermgen, welches die unmittelbar gegebenen Wesenszge beliebig und souvern vonein-

    ander lst oder aber zueinander rckt, um sie in ihrem Zusammenhang und Zusammenhalt zu erproben.

    Indem er dieses versucht, erfhrt das schauende Vernehmen von den Phnomenen her eine Ge-

    genwehr oder aber eine bereinstimmung, wobei und wodurch sich die ursprngliche Sicht erhr-

    tet oder auflst und das Urteil hervorgeht. Das Urteil waltet daher ber einem vom Verstand her-

    vorgebrachten Unterschied, dem es entweder sich von der Sache her entgegensetzt oder ihn besttigt.

    So kann der Logos die Ausdehnung von der Farbe unterscheiden und auf Grund dieses unmittelbar

    aufgefaten Unterschiedes versuchen, die Phnomene voneinander abzulsen. Bei diesemVersuch erfhrt er eine Ntigung von seiten der Phnomene, die so miteinander verbunden sind, da

    mit dem Schwinden der Ausdehnung auch die Farbe vergeht. Im Grunde erfhrt das Phnomen der Far-

    be in der Ablsung eine Zerstrung, deren Not den abstrahierenden Verstand selbst vor ein Nichts, d. h.

    immer auch vor die Un-mglichkeit seines Tuns bringt und dieses als leer und scheinhaft entlarvt. Ge-

    lnge jedoch die Ablsung, so wenn vom Menschen seine weie Hautfarbe abgelst wird, so ent-

    springt mit der Mglichkeit anderer Hautfarben die Einsicht in das Zufllige der weien Farbe, die

    das Menschsein als solches nicht bestimmt. Dann wird ebenfalls durch eine Besttigung des Verstandes-

    spiels dessen vorgngige Befangenheit im Schein einer vielleicht mglichen Einheit aufgelst und seinunsicheres Versuchen zu einer Entscheidung ber Wesen und Unwesen gebracht. Das Urteil aber durch-

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    mit hier die Phnomene unter dem Richtma des sich wehrenden oder nachgebenden Wesens- und

    Seinsbestandes einer Sache.

    Deshalb ist jedes Urteil eine Entscheidung ber die Scheidung des Logos, deren Richtma im Wesenden

    Sein selbst gefunden wird und von diesem her zur Erscheinung kommt. Es ist stets eine Durchmessung

    der Erscheinungen vom Sein der Sache her (mensuratio), ferner eine Rckfhrung der bloen Phno-

    mene auf den Wesensgrund (reductio) und schlielich die Auflsung eines Scheins ins Notwendige des

    Wesenden (resolutio). Auerhalb dieser einsichtigen Urteilsvollendung (intellectus dividens et com-

    ponens) ist der discursus rationis (Thomas) daher fr das Urteil insofern notwendig, als dieses

    im unmittelbaren Erfassen der Phnomene zugleich im Schein vorerst un-absehbarer Mglichkeiten

    verharrt. Er ist eine Anzeige der Endlichkeit und Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis, die

    von den sinnlichen Gegebenheiten, d. h. von den materiell zerstreuten und aufgelsten Dingen ausgeht

    und am Anfang noch keineswegs ber Schein und Wesen entschieden hat. Die Arbeit des Verstandes ist

    daher nur eine Voraussetzung des Urteils. Sie bringt die unmittelbaren Erfassungen (simplices appre-

    hensiones) so zusammen oder auseinander, da sie dabei vor den Wesensbl ick, die Schaukraft der

    Vernunft, des Intellekts oder des nous gebracht und in seinserhellter Einsicht in ihrer Notwendig-

    keit oder Zuflligkeit vernommen werden. Man kann auch sagen, die Scheidungen und Verknpfun-

    gen des Verstandes stoen an die Wesensgrenzen der in sich und aus sich wesenden und sich durchhal-

    tenden Dinge, bei welchem Vorgang die Vernunft den Rcksto des Wesens erfhrt und in die Ein-

    sicht ins Innere eines haltgebenden Grundes gentigt wird. Solchermaen de-finiert, begrenzt die We-

    sensmacht des Seins das Spiel des Verstandes und zwingt ihn in den Dienst der ideierenden, wesens-

    einsichtigen Vernunft.

    Aus diesem Zusammenhang erhellt, da die einfachen Erfassungen am Ursprung keine Erkenntnisse,

    sondern nur intentiones sind, in denen der Verstand durch Verknpfung und Scheidung die Erhel-

    lung des Wesens intendiert. Der Verstand ist solchermaen nichts als die Vernunft auf dem Wege,

    die im Dunkel, im Vagen und Unsicheren des Scheins sich bewegt, die suchend versucht, wagend er-

    wgt, um solchermaen die Sache und das Wesen anzuzielen, bis es sich durch die ihm eigene Bestn-

    digkeit enthllt.

    Es ist nicht schwer einzusehen, da ein solches Unternehmen bodenlos, ohne gesicherten Ausgang undohne Ziel wre, wenn nicht das Wesens- und Seinsma in der Form des vollendeten Urteils, also in der

    Weise einer Vernunfteinsicht immer schon gegeben wre. Wre aber diese erste, vorgegebene Ein-

    sicht in gleicher Weise durch einen versuchenden Diskurs zustande gekommen, so mte man ins Un-

    endliche, d. h. ins In-definite und Un-definierte weitergehen, wodurch alles Erkennen aufgehoben wr-

    de. Daraus folgt, da die ursprnglichsten Magrnde aller Erkenntnis nur dann ma-gebliche Herr-

    schafts- und Ausgangsgrnde (archai, principia, dignitates) sein knnen, wenn sie unmittelbar in ih-

    rer Notwendigkeit fr die Vernunft hervorgehen, und zwar aus einer nur ihnen eigenen vordringli-

    chen Leuchtkraft, die sich im Mannigfaltigen der sinnlichen Erscheinungen unmittelbar enthllt undausweist. Da aber jede faktische Erscheinung nur dann sich in ihrem notwendigen Wesensbestand ent-

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    hllt, wenn der scheidende Verstand diesen im Diskurs erprobte und durch Unwesentliches gleichsam

    herausforderte, so folgt, da auch am Ursprung unserer Erkenntnis eine allerletzte und hchste Heraus-

    forderung an einem letzten, unverrckbaren Seins- oder Wesensbestand geschehen sein mu. Da nun aber

    am Ursprung keine vermittelnde Bewegung des Verstandes stehen kann (weil sein Tun ohne jeden

    einsichtigen Magrund wre), so mu sich hier die sonst dem Verstande geme herausfordernde

    Scheidung im Vernehmen (der Vernunft) selbst in zeitloser Unmittelbarkeit und Vollendung ereignen.

    Demnach wre am Anfang der ganze rationale Urteilsvollzug durch eine durch sich selbst vollendete

    Synthesis oder Negation berholt, die innerhalb der schauenden Vernunft statthat, also als reine In-

    einsschau, Zusammenschau und Einschau (contuitus, intuitus, intellectio), als reine Einsicht (perspicientia,

    inspicientia) sich vollzieht. Dieser Intuitus wre in der Tat das reine Er-ugnis schlechthin, das

    reine Wesen und die ursprngliche Wahrung des Seins wie des Erkennens in der Wahrheit. So sagt

    Thomas: Die Vernunft wird dadurch, da sie Formen empfngt, nicht bewegt; sie wird vielmehr

    ruhend vollendet und einsichtig: erkennt sie aber durch Bewegung, so wird sie gehindert, d. h., die

    Bewegung hat den Sinn, Hindernisse zu beseitigen.1

    Eine Intuition ist demgem ganz genuin im Bilde des Blitzes darstellbar, sofern dieser sich deut-

    lich als Lichtstrahl und Lichtbewegung vollzieht, doch so eilig, da man bei der Erfassung des Aus-

    gangs auch schon das Ende und die ganze Strahlstrecke im Auge hat und solchermaen den Anfang von

    der Vollendung her erfassen kann. Da Blick ursprnglich Blitz bedeutet, so wre im Grunde ein

    Augen-blick soviel wie eine intuitive Erhellung, ein unmittelbares Einleuchten wesenhafter Bez-

    ge.

    Dieses Einleuchten trgt die Vermittlung in sich selbst; sie ist aber stets veranlat durch eine Her-

    ausforderung, die im hin-nehmenden (receptiven) Erkennen selber liegt. Denn jede Empfngnis o-

    der Hinnahme hebt notwendig an, so da eine vernehmende Anschauung nicht denkbar ist ohne das

    Gedchtnis ihres Anfangs und Noch-nicht-Seins. Sofern aber der ganze Vorgang der Erscheinung den

    Charakter eines Heraufgangs und Werdens hat, hlt sich die vernehmende Vernunft ursprnglich im

    Elemente des Nichtseins, des Anfangenden, Kommenden und insofern des Bestandlosen. Das Offenbar-

    werden des Seins ereignet sich nur, indem es zunchst oder gleich ursprnglich das Vernehmen mit

    dem ihm und der Erscheinung eigenen Nichtsein bereignet. Dieses innere Nichtsein im Erkennen istgleichsam der ther der Vernunft, den sie nur gewahrt, wenn Seiendes erscheint, der aber nur ins Walten

    und ins Helle einer Sicht kommt, um sofort und gleichursprnglich vom Sein berwaltet und ber-

    lichtet zu werden. Dann leuchtet unmittelbar das Wesenswort oder Wesenslicht des Seins auf, in-

    dem es sich als Nicht-nicht-Sein, als Negation einer Negation und somit als Bestand ausweist, der vom

    Nicht her weder treffbar noch auflsbar ist. Das erste Vernehmen des Seienden und des Seins ist daher

    keine einfache Hinnahme, kein Begriff und keine intentio, sondern ein urteilendes, durchmes-

    sendes Begreifen des Seins, eine conceptio entis und in keinem Betracht ein conceptus; wobei

    das in der Rezeptivitt einer endlichen Vernunft gelegene Ma des Nicht-seins vom Sein her abgewiesen

    1 G. 2. 50. (=Summa contra gentiles)

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    und entmchtigt wird. Die Vernunft wird daher vom Sein her in gewisser Weise ber-mchtigt o-

    der ins Sein und seine Notwendigkeit gentigt. Deshalb sagt der Aquinate, da am Ursprung das

    Sein die wahren Aussagen hervorbringt (ens facit veras enuntiationes). - Es ergibt sich zugleich, da

    der erste Ausgang der Erkenntnisse eine abweisende (negative) Bestandsicherung ist, in der Seiendes

    sich als Nicht-nicht-Sein erhellt.

    Wird dieses intuitive Seinsbegreifen in einer Weise von Reflexion vom Verstande her gegliedert

    und definitorisch in Worte gesetzt, so ergibt sich das Widerspruchsprinzip, dessen negative Ur-

    teils- und Satzform immer eine nach-trgliche, verstandesgeme Nachzeichnung eines zeitlosen, intui-

    tiven Erkenntnisblitzes ist.

    Ist der Seinsbestand gesichert, dann tritt er (wiederum durch die Form der Erscheinung und ihre Man-

    nigfaltigkeit herausgefordert) als in sich seiende Einheit hervor, die das schlechthin Mannigfaltige als

    eine Weise des Nichtseins bekundet. Da jedes Seiende eine in sich grndende Einheit ist, gehrt daher

    auch ins intuitive Begreifen der Vernunft. Diese Einsicht intuiert unmittelbar weitere, wie die,

    da das in sich Seiende ein Mannigfaltiges nur in der Weise an sich tragen kann, da es dieses auf sich

    hin einigt und als Teile auf Einheit hin verfgt und zusammenhlt, wobei ebenfalls unmittelbar ein-

    leuchtet, da das Ganze mehr als die Teile ist. Es erscheint somit als das ursprnglichere seiende-

    re Sein und damit als Grund und Ur-sache des Mannigfaltigen. Auch das sogenannte Kausalprinzip ge-

    hrt solchermaen zum intuitiven Urteilsbestand der Vernunft. Da Seiendes in sich selbst einig ist, so

    kann es nur dieser Einheit gem wirken, so da es sich in jeder Wirkung sichtbar darstellen mu.

    Entsteht also ein Seiendes, so ist es erstens als Sein wesenhaft nicht-Nichtsein und weist damit einen

    Ursprung aus dem Nichts ab, zweitens ist es als Wirkung seiner Ursache hnlich, so da es als

    Seiendes notwendig auf ursprnglicher Seiendes hinweist, aus dem es entspringt. Damit ergibt

    sich, da die herkmmlich als Prinzipien bekannten Formeln nichts mit logischen Verstandesstzen

    zu tun haben, da sie vielmehr eine rationale Nachzeichnung der urtmlichen intuitiven Seinserkennt-

    nis bedeuten, durch die jede Vernunft zu sich selbst aufgelichtet und zum Urteilsvollzug ermchtigt ist.

    Diese intuitive anfngliche Durchlichtung unseres Geistes, zu der auch die Ursichten vom Guten und vom

    Schnen gehren, ist keineswegs arm; sie ereignet sich aber zunchst so sehr im Allgemeinsten und Hch-

    sten, da es eines festen Entschlusses oder eines gnstigen Geschickes bedarf, da sie nicht vom andrn-genden Konkreten und Mannigfaltigen der Dinge und des Weltlaufs als bedeutungslos zur Seite ge-

    setzt wird, wenn es auch nie geschieht, da ihr Vernunfts- und Gewissenslicht gnzlich erlischt, weil es

    wesenhaft zum Menschsein gehrt. Wer es preisgibt, verfllt heilloser Skepsis und einem ziel- und bo-

    denlosen Umtrieb im Wesenlosen.

    Diese intuitive (zusammenschauende) Einsicht ist nicht auf die Ausgnge beschrnkt. Jedes Urteil ist

    von ihr ermglicht, indem die vorgngige Helle der Vernunft Anruf und Macht bedeutet, Dunkel und

    Schein der unmittelbaren Erscheinungen aufzuhellen. Also geht das Versuchen des Verstandes vom

    Einsichtigen her aus und diskurriert nicht aufs Geratewohl, sondern hlt sich in sinnvollen Grenzen,um immer am Ende seines Tuns die Phnomene so einander zugeordnet zu haben, da der intuitive Blitz

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    der Einsicht, der contuitus, die wesenhafte Zusammenschau sich ereignet. Jedes Urteil, jeder

    Schlu entspringt aus einer Intuition und vollendet sich in ihr. Deshalb wchst mit jedem echten

    Urteilsvollzug der intuitive Umkreis der Vernunft, bis dahin, da ein weise gewordener Denker aus

    der intuitiv durchlichteten Seinsordnung her Seiendes nicht mehr in umstndlichem rationalem Diskurs

    prfend sichten und vergleichen mte, weil sich ihm viele Dinge unmittelbar aus ihren ihm bekannten

    Grnden bieten. Der weise Mensch vernimmt daher die Erscheinungen in intuitiver ad-perception,

    nicht in grbelnder Anstrengung. Er stellt sie jeweils in einen solchen Reichtum geklrter Hin-sichten,

    da viele wesenhafte Bezge wie von selbst aufleuchten und einsichtig werden. Freilich ist es dem Men-

    schen nicht gegeben, seine Erkenntnis so zu steigern, da er die umsichtig suchende ratio entbehren knn-

    te, zumal mit der Einsicht auch die Fragen wachsen und die konkrete Individuation der wechselnden Er-

    scheinungen immer neue und unabsehbar mannigfaltige Gegebenheiten darbietet.

    Wie die Definition stellt sich daher auch die Intuition in verschiedenen Weisen dar. Die erste

    Intuition ist die Ausgangserkenntnis der Vernunft in ihrer unmittelbaren Seins- und Wahrheitshel-

    le. Die zweite ist die rationale, reflexive Nachzeichnung des intuitiven Wahrheitsbestandes in Form

    von Stzen, die den Charakter von logischen Prinzipien zu haben scheinen und im Sprechen und Lesen

    der richtig geformten Stze immer wieder in ihrer unmittelbaren Einsichtigkeit aufleuchten. Die dritte

    ist die Intuition, die jedes Urteil als reductio und resolutio im Seins- und Wesensma der Ver-

    nunft vollendet, die als Wissen im ontologischen Gedchtnis des Geistes habituell, d. h.

    in intuitiver Erinnerung, bereitliegt; die vierte ist jede habituelle (systematische) Vollendung des

    Denkens, das einen solchen Reichtum wesenhafter Bezge enthlt, da viele Erscheinungen sich ohne

    mhsamen Verstandesdiskurs unmittelbar in ihrer Wesensbezglichkeit aufhellen. Eine fnfte Weise

    von Intuition entspringt aus der Erschlieung des gttlichen Grundes alles Seienden, in dessen Licht

    alle Wesen der Welt und das Sein selbst einen ana-logen, verweisenden, transzendierenden Charak-

    ter gewinnen. Solchermaen werden sie Spuren, Abbilder und Spiegel des Absoluten, deren urbildli-

    ches Aufleuchten die Vernunft als speculative und contemplative erfat. Wie sich hier der rationa-

    le analoge Diskurs in spiegelnde Einsicht und schlielich in eine contemplative, d. i. contuitive Zu-

    sammenschau von Wirkung und Ursache, Geschpf und Schpfer verwandelt, dies zu zeigen wrde den

    Rahmen dieser Arbeit berschreiten.Des weiteren gibt es Weisen von Intuition, die nicht im Magrund und im Licht der Seinsnot-

    wendigkeit wurzeln, aber doch nicht ohne sie verstndlich sind. Die erste ist diejenige, die im

    deutschen Sprachgebrauch mit dem Wort Intuition gemeinhin benannt wird. Sie wird der begriffli-

    chen Zergliederung und der umsichtig und ma-gerecht schlieenden (zusammenschlieenden) Ver-

    knpfung einzelner, fest definierter oder gemessener Elemente entgegengesetzt. Von ihr wird gesagt,

    da sie gefhlsmig voraneile und fr ihre Einsichten keine berzeugenden Grnde nennen kn-

    ne, aber doch vielfach das Rechte treffe - was Anla ist, Leitmechanismen im Un-bewuten der Seele

    anzunehmen.

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    Dazu ist zu sagen, da die reflexive, rationale, satzhafte Entfaltung intuitiver Einsichten diese selbst

    gar nicht konstituiert, sondern ihr nachfolgt, so da es sehr wohl ein seinhaft versichertes Denken

    geben kann, das sich im gngigen Betrieb wissenschaftlicher Aussagen nicht ausweisen

    kann. Des weiteren ist es durchaus mglich, da Wesenszusammenhnge und eine innere Abfolge der

    Erscheinungen sich im Figuralen und Gestalthaften, im Rhythmus eines Geschehens und im Unbeachte-

    ten mannigfaltiger Phnomene anzeigen und den Gefhlsgrund so erregen und formieren, da er

    unmittelbar ins Walten eines echten Zusammenhangs einschwingt und seiner inne wird, ohne die

    Weise der Verknpfung und den Gang der Enthllung fr sich selbst zu erfahren. Solchermaen

    gibt es Intuitionen des Herzens, aus dessen sympathetischem und antipathetischem Gefhls-

    grund im konkreten Daseinsvollzug unmittelbar gegebene Verknpfungen auftauchen, deren Echtheit

    und Wahrheit nur erfhlt ist. Wenn auch bei einfachen Menschen oft die Grnde fr solche

    Einsichten verborgen bleiben, so kann doch ein wachsamer Feinsinn, der auf die tiefe poietische, nachges-

    taltende und einfhlende Kunst des Gemtes und der Liebe eingebt ist, sie ans Licht heben und zei-

    gen, da solche Intuition oft aus tieferen Erfahrungen, Einsichten und vor allem aus einem abtasten-

    den Gefhlsdiskurs gegenber den Erscheinungen seine Gewiheit hat.

    Ist gar das Wort verfallen, oder sind die Magrnde der rationalen Diskurse wesenlos geworden, sind

    die Begriffe definitorisch verflscht, wie bei den meisten der sogenannten Gebildeten unserer Zeit, so

    liegt oft auf seiten der intuitiven Einsichten nicht nur die grere Gewhr fr wesenhaftes Erkennen,

    besonders im Bereich des menschlichen Daseins, sondern sehr oft grnden die Einsichten in echten We-

    sens- und Seinssichten, deren reflektierte, rationale Enthllung nicht geschehen kann oder, wenn sie ge-

    schieht, nicht ernst genommen wird. In diesem Verhalt grndet die oft erfahrene Tatsache, da ein meta-

    physisches Sprechen aus der Tiefe des Seins viel leichter und tiefer vom Ungebildeten als vom soge-

    nannten Gebildeten verstanden wird, wenn jener auch weniger Worte darber machen oder die

    Darstellung in ihrer Strenge nicht wiederholen kann.

    Es gibt freilich auch eine Scheinintuition, die an Hand von hnlichkeiten unter den Phnomenen zu

    schnellen, unvermittelten Einsichten zu kommen meint, die in Wahrheit einem kritisch auflsenden Dis-

    kurs des Verstandes nicht standhalten.

    Schlielich gibt es entsprechend der reinen Ordnungsdefinition innerhalb eines angenommenen Masys-tems auch eine vordergrndige Notwendigkeitsverknpfung, die den Bezug zum Sein und seinem We-

    sen verloren hat oder die ihn nicht mehr bedenkt. Solche Notwendigkeiten liegen in den Stzen der

    Mathematik; in den abstrakten Geltungen der Logik, der seinslos gltigen Werte oder forma-

    ler, seinsloser Sollensgesetze usw. Sie werden stets als durch sich selbst gegebene Wesenseinsich-

    ten mit evidentem Geltungsanspruch und einer dem Seienden apriorischen, d. h. ma-gebenden Gl-

    tigkeit angenommen, ohne da sie am Licht der Seinsprinzipien gemessen und berprft wurden. Da-

    durch erhalten sie einen ab-soluten, d. h. einen von der Wirklichkeit abgelsten und ihr darin anschei-

    nend berlegenen Charakter, dieweil ihre Gltigkeit dem zeitlichen Wandel der Phnomene ent-hoben scheint. Da sie zugleich auerhalb der Seinsprinzipien angenommen werden, so ist die Instanz

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    zu ihrer berprfung aufgegeben, was negativ ihre Unantastbarkeit, positiv aber ihre Bedeutung

    als Magrund fr jede mgliche Objektivitt wissenschaftlicher Aussagen begrndet.

    In Wahrheit beruhen alle solche seinslosen Notwendigkeiten immer in willentlich verfgten Set-

    zungen. Sie sind Hypo-thesen, aus Freiheit gelegte Grnde, auf Grund deren sich Notwendigkeit

    erst ergibt. Dies gilt auch fr die am meisten gerhmten Axiome der Mathematik, die in der Tat

    keine Einsichten, sondern Setzungen und Forderungen darstellen. Im Rahmen der Seinsdeutung

    hat es die Mathematik nach dem Aquinaten mit der intelligiblen Materie, d. h. mit einem Wesen-

    und Seinslosen zu tun, dessen Einigungen durch den zhlenden Verstand ihm eine abstrakte, d. h. vom

    Verstand selbst gesetzte Einheit und damit eine analoge Weise von Sein gewhrt. Diese aus dem rech-

    nenden Verstand erfolgende Seinsweise eines an sich vllig Unbestimmten und allein vom

    Verstand Verknpften macht ihre Rationabilitt aus, wobei sowohl der Vorgang der Einigung als

    bloe Zusammenstellung und die Einheit als gezhlte Summe sich so sehr im Seins- und Bedeu-

    tungslosen halten, da sie durch den Verstandesvollzug selbst hinreichend bestimmt und erhellt sind.

    Im Fortgang dieses Spieles hlt sich der Verstand immer in der gleichen Dimension seines eigenen

    Tuns, das er mit dem ihm eigenen Licht vollzieht und fortschreitend erhellt.

    Dabei ergibt sich sofort eine entscheidende Frage, ob es in der Mathematik berhaupt ein letztes Urteil

    im Sinne der metaphysischen Seinserkenntnis gibt. Es wird zuwenig bedacht, da es keinen ge-

    ringen Unterschied macht, ob ich sage 3 x 3 ergibt 9 oder 3 x 3 ist 9. Im ersten Falle sage ich aus, da

    ein bestimmter Rechenvorgang zu einer Einheit hinfhrt oder sie erst folgen lt, whrend im zwei-

    ten Fall ein Seinsbestand zum Ausdruck gebracht ist, was einen groen Unterschied einschliet. Denn

    wre die Neun wesenhaft und seinshaft nur das Erfolgende einer Rechenoperation, so mte sie durch al-

    le mglichen Operationen definiert werden, die es gibt. Da es deren aber fr jede Zahl unendlich viele

    gibt, so wre jede Zahl ein absolut In-definites und Unmgliches. Wird sie aber als bestimmte Einheit

    gesetzt, so gewinnt sie einen (vom Verstand ihr gegebenen) analogen Seinscharakter, wodurch sie a-

    ber wesenhaft nur sie selbst ist und nicht ausschlielich durch eine Relation zu anderen Zahlen be-

    stimmt wird, wiewohl solche Relationen in ihr als der Einheit von 9 Einheiten begrndet sind. Das Ur-

    teil mte daher auf diesen Verhalt Rcksicht nehmen, wenn es keinen Verflschungen verfallen

    will, die unter Umstnden sehr folgenschwer sind. Immer mte man sagen: 3 x 3 ergibt eine 9,und dieses Entsprungene ist als neue (gesammelte) Einheit mehr als der Rechenproze: nmlich

    eine nur durch sich selbst bestimmte, unverwechselbare Einigung; es ist ein Ganzes, das als durch sich

    selbst bestimmtes mehr ist als alle seine Teile, sofern man sie vereinzelt und dann erst rechnend zu-

    sammenstellt; es nimmt in der Reihe der Zahlen einen ihm eigenen Ort und Wert ein. Das, was 9 ist,

    besteht daher immer schon vor jedem mglichen Rechenvorgang, der eine 9 ergibt; es besteht

    aber nur in einer Reihe, deren Charakter vorher vom Verstande (freilich einer echten Mglichkeit

    gem) gesetzt wurde.

    Versteht sich die Mathematik nicht in dieser Weise, dann ruiniert sie das Denken der rechnendenMenschen, weil sie dazu fhrt, als ergbe das bloe Rechnen und Einigen als solches eine seinshafte

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    Gleichheit und damit eine Sache. 2 x 2 kann ja nicht ohne weiteres 7 - 3 gleichgesetzt werden. In

    Wahrheit ist das Rechnen nur eine Verstandessynthesis, in deren Ende die Vernunft das von der

    Synthesis vorgestellte Eine und Ganze in seinem Seinscharakter und damit die Gleichheit der Re-

    sultate vernimmt.

    Da diese Mathematik Seiendes darstellen kann, das liegt in der Materialitt der Natur be-

    grndet, die der Empfnglichkeit des Menschengeistes entspricht. Von ihr her aber ergibt sich kei-

    nerlei Gewhr und Notwendigkeit ihrer Setzungen. Da 1 und 1 zwei ist, ist eine willkrliche An-

    nahme und nicht mehr als eine Forderung, nmlich die Einigung in der Form einer Zusammenstel-

    lung zu halten, in der die Teile im Ganzen ihren Bestand so weit bewahren, da sie jederzeit wieder

    als Einheiten herauslsbar sind. Ohne diese Forderung wre nicht einzusehen, warum 1 und 1, da

    sie im Wesen ja vllig unbestimmt sind, sich nicht so einigen sollten, da sich eines ergibt, wie im

    chemischen Proze, oder 3 wie im Einigungsvollzug einer Zeugung. Die Mathematik hat daher gar kei-

    ne ursprnglichen Wesensnotwendigkeiten, sie ist ein Vollzug, deren Regeln vom Verstande gesetzt

    und eingehalten werden. Die Notwendigkeiten ergeben sich erst, wenn die ersten Forderungen ange-

    nommen und nach ihnen verfahren wird. Die abstrakte Zahl als leere Einheit ist so nichtig und wesen-

    los, da man die Frage aufwerfen knnte, ob der Mensch berhaupt eine solche Setzung vollzogen

    htte, wenn in der Natur nicht die zhlbaren (die zerstreuten, uerlich zusammenstellbaren und

    scheidbaren) Dinge angetroffen wrden. Darum ist im Ursprung die Zahl immer positiv, d. h. in

    Analogie zum seienden Ding genommen worden.

    Es wrde zu weit fhren, den hypothetischen Charakter der Notwendigkeit fr die brigen Wissen-

    schaften, die Wertlehre, die Logik im einzelnen aufzuweisen. Ihre Wirksamkeit fr das neuzeitliche

    Geistesleben steigert sich in dem Mae, als der Verfall der Metaphysik, die Seinsvergessenheit,

    die Instanz entthronte, ohne die das Hypothetische und Axiomatische der Anfnge nicht mehr bedacht

    werden kann. Dadurch gewannen diese Regeln und Setzungen einen seinshaften, absoluten Gel-

    tungscharakter. Der Fortgang der Wissenschaft hielt sich in der Entfaltung dieser axiomatischen Not-

    wendigkeiten und gewann dadurch den Anschein absoluter, notwendiger oder objektiver Verknp-

    fungen.

    Indem das Seiende von ihnen her gemessen wurde und man nach der Regel des Descartes verfuhr,da man das nicht mehr als gegeben und wirklich ansah, was nicht aus solcher Notwendigkeit klar

    und distinkt bestimmt werden konnte, so wurde der Natur und dem Seienden eine Antwort abver-

    langt und der Reichtum ihrer ursprnglichen Erscheinungsweisen auf eine einzige, das quantitativ

    Bestimmbare, reduziert.

    Der ungeheure Erfolg solchen Geschehens ist nun die eigentliche Rechtfertigung dieses Vorgehens, das

    nicht von den Ausgngen, sondern von der Ergiebigkeit des Tuns Energie und Gewicht erhlt. Da-

    bei whrte der Schein der Gesetzlichkeit so lange, als Natur als mechanistisches Getriebe, in ihren

    Bewegungserstreckungen und ihren ueren Wirkungen und Kraftmitteilungen, also in einem Relations-gefge von Wirkteilen betrachtet wurde, was angesichts ihrer materiellen Zerstreutheit und Teilbar-

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    keit in unerhrtem Mae mglich war. Im Mae man aber zu den seinshaften Wirkgrnden, den in sich

    seienden Elementen und individuellen Substanzen, d. h. ins Innere der elementaren Atome vorstie,

    erwies sich notwendig die Mathematik als ungeeignet, die spontanen Vorgnge zu przisieren. Was

    heute als statistische Gesetzlichkeit bezeichnet wird, verbirgt in dieser Aussage die Tatsache, da

    das Naturgesetz als Notwendigkeit des Seins und damit auch der Wirkgrnde aller Natur eine

    unbegrndete Hypothese war, eine rationalistische Schimre, die der Verstand ersann und der Natur

    als Ma anlegte, soweit mit Erfolg, als Natur in passiven, bewegungs- und energieempfnglichen Tei-

    len und einer nach auen wirkenden Energie in die Erscheinung trat.

    Die hypothetische Axiomatik aber nimmt nun nach dem Verlschen der Seinsintuition den Ort der intui-

    tiven Prinzipien ein. Da sie nicht mehr bedacht werden kann, so wird sie das regelnde Ma des Den-

    kens. Die Verknpfung des Verstandes richtet sich nach ihr aus und kommt daher nicht mehr zu spekula-

    tiver, intuitiver Auflsung ins Wesenhafte, sondern geht nach Regeln der Richtigkeit ihren vorweg ge-

    richteten Gang. Die Vernehmungskraft der Vernunft wird diesem erblindeten Geschehen ein- und un-

    tergeordnet, indem sie das anschauliche Material beibringt und darauf achtet, da es sich in rechter Wei-

    se ordnet. Die fgende Synthesis des rationalen Diskurses wird solchermaen das eigentliche We-

    sen des Urteils und der Erkenntnis. Erkennen ist dann wesenhaft ein synthetisierendes Vor-stellen im

    Subjekt, dessen Funktionsregeln (angefangen von kategorialen Schematismen) zu enthllen sind. Da

    die synthetisierende Funktion des Verstandes ber die Reichweite und Geltung der Erkenntnis ent-

    scheidet und alles beiseite gesetzt wird, was sich diesem Vorgehen nach Regeln nicht fgt, so lt sich

    offenbar aus der Untersuchung des Erkenntnisvermgens ein hinlngliches Ma gewinnen fr seine

    Leistung und Mglichkeit. Damit wird die nicht mehr verstandene, berlieferte Metaphysik des Seins,

    d. h. die der Verstandessynthesis transzendente Gegebenheit als dogmatischer Schein vom denken-

    den Subjekt her entlarvt und als idealer Horizont einer seinslosen Vernunft der Verstandesttigkeit

    behufs Sicherung seiner synthetisierenden Objektivitt untergeordnet. Die seinserkennende Ver-

    nunft wird, wie Hegel sagt, unter die Taufe des Verstandes gehalten und die neuzeitliche Erkennt-

    niskritik, die Absteckung der Grenzen des Verstandesvermgens, als Prolegomenon jeder mglichen

    Metaphysik zum eigentlichen Prinzip, zum magebenden Ausgang und Geleit aller Philosophie. Es

    ereignet sich eine geradezu groteske Verkehrung in der Geschichte des menschlichen Denkens, sofern derintuitionslose, erblindete Verstand, vom Erfolg der mathematischen Naturwissenschaft geblendet, seine

    Befangenheit zum Dogma macht und die intuitive Seins-Vernunft des Dogmatismus zu berfhren

    trachtet. Der Einbruch des radikalen Dogmatismus in eine seinsentfremdete Philosphie konnte offenbar

    nicht geschehen, ohne da der vernunftlose Verstand sein eigenes, intuitionsloses Wesen dem Walten

    der Vernunft und ihrer metaphysischen Erkenntnis aufprgte und die entthronte Knigin des Geistes vor

    seinem Gerichtshof anklagte und zu seiner Dienstmagd entmchtigte.

    Um dies zu erhrten, dazu bedarf es nur einer Durchleuchtung der Einleitung zur Kritik der reinen Ver-

    nunft. Schon im ersten Abschnitt wird die menschliche Erkenntnis folgendermaen gekennzeichnet:Denn wodurch sollte das Erkenntnisvermgen zur Ausbung erweckt werden, geschhe es nicht durch

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    Gegenstnde, die unsere Sinne rhren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Vers-

    tandesttigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknpfen oder zu trennen und so

    den rohen Stoff sinnlicher Eindrcke zu einer Erkenntnis der Gegenstnde zu verarbeiten, die Erfahrung

    heit.2

    Es ist nicht schwer zu erkennen, in welchem Mae hier das Erkennen nach dem Modell der technischen

    Verarbeitung eines rohen Stoffes entworfen ist. Dieser Stoff ist offenbar eine qualittslose, ungeord-

    nete Masse, der nach dem Ma der Kausalitt der Naturdinge die Sinne rhrt und Vor-

    stellungen bewirkt. Diese Einwirkung und Rhrung bleibt offenbar ganz im Rohen, d. h. im Chaoti-

    schen und Ungeordneten der Naturdinge befangen und ist nur Anla3, da das Erkenntnisverm-

    gen zur Ausbung und der Verstand in Bewegung gebracht wird. Diese Bewegung aber wird als

    vergleichende, verknpfende und trennende Verarbeitung eines rohen Stoffes ganz als techni-

    scher Vorgang beschrieben, durch den der Gegenstand der Erkennntnis erst hergestellt und seine Erfah-rung ermglicht wird.

    Es ist klar, da damit die Frage entsteht, was unser eigenes Erkenntnisvermgen (durch sinnliche

    Eindrcke blo veranlat) aus sich selbst hergibt, die wir freilich nur dann beantworten knnen, wenn

    uns bung darauf aufmerksam gemacht hat.

    Dieses vom Erkenntnisvermgen Hergegebene ist dann notwendig soviel wie der gestaltende, verursa-

    chende Grund der Gegenstnde der Erfahrung und wird somit mit Recht apriori genannt, weil es

    von aller Erfahrung, d. h. von sinnlichen Einwirkungen unabhngig ist und weil ihm nichts Empiri-

    sches beigemischt ist.

    Welches ist nun aber das Kriterium oder das Merkmal fr das Apriorische? Kant antwortet: Findet

    sich erstlich ein Satz, der zugleich mit Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil apriori; ist er

    berdem auch von keinem abgeleitet, als der selbst wiederum als ein notwendiger Satz gltig ist, so ist

    es schlechterdings apriori. Diese Behauptung grndet wiederum darin, da Erfahrung ihre Urteile

    niemals wahr oder streng gebe, weil sie nur angenommene und komparative Allgemeinheit haben,

    die durch Induktion gewonnen ist. Darum lehrt Erfahrung nur, da etwas so oder so beschaffen sei, aber

    nicht, da es nicht anders sein knne.

    Aus diesen wenigen Stzen erhellt, da Kant keine intelligible Anschauung, keine intuitive Seins-

    erkenntnis und infolgedessen auch keine Wesenserfassung kennt. Der ganze Erkenntnisvorgang er-

    eignet sich daher in einer durch und durch zuflligen Natur, die von sich her nichts an Wesendem und

    Whrendem hergibt, sondern erst durch die Bearbeitung des Verstandes in eine Ordnung nach not-

    wendigen Regeln gebracht wird. Die Erkenntnis ist daher eine synthetische Vorstellung eines Gegens-

    tandes, der wie eine Maschine seine gesetzliche Ordnung allein aus dem Verstand seines Schpfers

    gewinnt.

    2 Alle Hervorhebungen vom Verfasser, auch die folgenden3 Kritik der reinen Vernunft (Einfhrung in die K.d.r.Vft.)

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    Wodurch aber ist es einsichtig, da Erfahrung keine Notwendigkeit bei sich hat? Und was besagt

    das Wort Notwendigkeit an dieser Stelle? Kant gibt im Hinblick auf diese Frage ein Beispiel,

    wenn er apriori gegebene Begriffe erwhnt. Er sagt: Lat alles weg, was im Krper empirisch ist,

    so bleibt doch der Raum brig, den er einnahm, und den knnt ihr nicht weglassen. Danach wre an ei-

    nem Gegenstand das notwendig, was man nicht von ihm ablsen kann, ohne ihn aufzulsen.

    Liegt aber darin der geringste Anla zur Annahme, da dieser unlsbare Seinsbestand nicht zur u-

    eren Natur gehrt? Nur wenn ich die durch nichts begrndete Annahme mache, Natur sei ein chaoti-

    sches Gewoge vllig ungeordneter Gegebenheiten ohne Wesen und Bestand wie der weiche Ton fr den

    Tpfer und das Empirische sei nichts als eine zufllige Affektion, wie der Ton dem Tpfer vor die

    Hand kommt, nur dann sind die Stze sinnvoll. Sie ruhen daher vllig auf nicht mehr bedachten Axi-

    omen und Hypothesen auf und sind solchermaen durch und durch dogmatisch.

    Der Schlu gelingt daher auch nur durch eine sophistische Aequivokation. Nachdem Kant das Nicht-

    wegdenkbare von der Ausdehnung beim Krper oder von der Substanz beim Objekt berhaupt hervor-

    gehoben hat, fhrt er fort: Ihr knntet also, berhaupt durch die Notwendigkeit, wodurch sich dieser

    Begriff Euch aufdrngt, gestehen, da er in Eurem Erkenntnisvermgen apriori seinen Sitz hat. Es

    braucht nicht viel zu erkennen, da es hier nicht um die Notwendigkeit des Rufdrngens geht, sondern

    um die der inneren Einheit des Begriffes. Metaphysisch gesehen ist an diesen Stzen beinahe alles prob-

    lematisch oder falsch: So ist die Definition des Krpers als res extensa nur eine Unterschei-

    dungs-, aber keine Wesensdefinition, da der Seinscharakter der res und noch mehr der der Ausdeh-

    nung nicht mehr durchleuchtet und bedacht wurde. Des weiteren ist kein Grund angegeben, da die

    Unauflsbarkeit der Phnomene sie notwendig aus dem Naturbereich heraushebt, da Natur selbst

    nicht mehr metaphysisch, sondern vom Modell der herstellenden Technik interpretiert ist, ohne da

    auch nur der leiseste Ansatz zu einer kritischen Reflexion gegen diese cartesische Entwesentlichung

    und Depotenzierung, die schon einer Verballhornung gleichkommt, zu spren wre. Drittens ist nicht

    gesehen, da das Nicht-wegdenken-drfen nur eine Forderung ist, die das Denken selbst erhebt,

    ohne da sie aus dem Sein selbst sichtbar gemacht werden knnte. Denn tatschlich liegt im Begriff ei-

    ner res extensa berhaupt keine Notwendigkeit dafr, da sie bestehe, so da sich selbst nach Kants

    Annahme ergibt, da sie auch nicht apriori im Verstande bereitliegen knne, sondern ihm zumindestso gegeben ist, wie sie selbst als kontingentes Seiende geschaffen wurde oder uns erscheint, da es ja

    mglich ist, jederzeit Teile der quantitativen Natur als nicht-existent zu denken und somit die Natur

    selbst. Nur wenn ich die Forderung erhebe, der Verstand msse die res extensa denken oder denken

    knnen, darf ich sie nicht so weit aufheben, da ihr Wesensgrund erlischt. Aber solche Forderung

    ist eine reine willentliche Setzung und entbehrt jeglicher einsichtigen Notwendigkeit. Die Kritik der

    Reinen Vernunft ruht daher durch und durch auf dogmatischen, uneinsichtigen Annahmen auf. Man

    knnte auch gegen Kant schlagend ad hominem argumentieren: Da ich in einer sinnlichen Affektion

    das, was rhrt, nicht wegdenken kann, ohne da die Affektion erlischt, so gehrt das die SinneRhrende, also der Stoff der Natur, zum apriori des Verstandes.

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    Dasselbe ergibt sich in noch verstrktem Mae im Fortgang der Ausfhrungen. Bekanntlich ist

    die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft nach dem 6. Abschnitt der Einleitung in der Frage

    enthalten: Wie sind synthetische Urteile a priori mglich? Im 4. Abschnitt hat Kant die Urteile

    nach analytischen und Erweiterungsurteilen unterschieden. Dabei bezeichnet er den Satz: Alle

    Krper sind ausgedehnt als analytisch. Auch hier wird die cartesische Definition als selbstver-

    stndliches Absolutum vorausgesetzt, hinter die man nicht zurckgehen kann. An die Stelle intuitiver

    Vernunfturteile aus dem Sein als Sein sind also Begriffsdefinitionen getreten, deren meta-

    physische Herleitung und Durchleuchtung nicht mehr versucht wird.

    Dieselbe Abhngigkeit von einer Begriffslogik, deren Wurzeln bis auf Suarez zurckgehen, wird

    sichtbar bei der Darstellung der synthetischen Erfahrungsurteile. Als Beispiel nennt Kant den Satz:

    Alles, was geschieht, hat seine Ursache, und fgt hinzu: In dem Begriffe von etwas, was geschieht,

    denke ich zwar das Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht usw., und daraus lassen sich analytische

    Urteile ziehen. Aber der Begriff einer Ursache liegt ganz auerhalb jenem Begriffe und zeigt etwas von

    dem, was geschieht, verschiedenes an, ist also in dieser letzten Vorstellung gar nicht mit enthalten. Wie

    komme ich denn dazu, von dem, was berhaupt geschieht, etwas davon ganz verschiedenes zu sagen

    und den Begriff der Ursache, obzwar in jenem nicht enthalten, dennoch als dazu und sogar notwendig

    Gehriges zu erkennen? Was ist hier das unbekannte x, worauf sich der Verstand sttzt, wenn er auer

    dem Begriff von A ein demselben fremdes Prdikat = B aufzufinden glaubt, welches er gleichwohl

    damit verknpft zu sein erachtet. Die Antwort ist, da es nicht Erfahrung ist, die mich dazu veranlat,

    da ich vielmehr mit dem Ausdruck der Notwendigkeit, mithin gnzlich apriori und aus bloen Begrif-

    fen diese zweite Vorstellung zu der ersten hinzufge (4. Abschnitt).

    Diese wenigen Stze zeigen, da Kant nirgend mehr den Boden des Seins berhrt, sondern als der

    Erbe einer rationalistischen Schultradition in festen Begriffsdefinitionen denkt, die in der Logik zu

    richtigen Stzen miteinander verfgt werden. Diese Begriffsdefinitionen mit ihren sprden (ab-soluten)

    Abgrenzungen sind ihm das eigentliche Element des Denkens, das solchermaen als Synthesis von Be-

    griffen nach Magabe von Begriffen erscheint. Sagt er doch selbst (Abschnitt 3): Ein groer Teil und

    vielleicht der grte von dem Geschfte unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die

    wir schon von Gegenstnden haben. Die innere Abhngigkeit Kants von der traditionellen Logiktritt daher nicht nur in der Entwicklung seiner Verstandeskategorien zutage. An dieser Stelle wird ihm

    sogar etwas, was geschieht zu einem abgegrenzten Begriff, der zwar das Dasein, vor welchem eine

    Zeit vorhergeht, enthlt, aber nichts von einer Ursache bei sich hat. Diese Ursache wird ihm

    vielmehr auch zu einem Begriffe, der als solcher ganz auerhalb jenem (obengenannten) Be-

    griffe liegt und etwas von dem, was geschieht, verschiedenes anzeigt. Damit ist auch die

    Begriffswelt, wie die Dinge der Natur chaotisch vereinzelt waren, in lauter sprde, abgelste Beg-

    riffseinheiten aufgelst, so da sich auch hier das Denken vor eine der technischen hnliche Aufgabe ge-

    stellt sieht, diese zerstreute Welt von Begriffs- oder Lichtpunkten zu einem sinnvollen Ganzen zuverknpfen, also die geistige Welt erst herzustellen. Da es keine intuitive Seinserfahrung gibt, also

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    auch kein Element, nmlich das Sein, in welchem ein Geschehendes oder Werdendes sich als dem Sein

    Entsprungenes, d. h. als Seiendes bekundet, so ist ein geheimnisvoller Mechanismus, ein Leitsystem

    fr die denkende Synthesis notwendig, die den sprde isolierten Begriffen eine Gewalt antut und sie

    in eine Ordnung der Verknpfung ntigt, von der sie aus sich selbst nichts an sich tragen . Die Wei-

    se, wie Kant hier spricht, ist denn auch in der Tat geradezu eine Offenbarung seiner ver-

    zweifelten, d. h. seiner begriffsversperrten Situation. Er fragt nach einem unbekannten x, wor-

    auf sich der Verstand, dem die Begriffe nichts mehr hergeben, sttzen mu, um A und B mit-

    einander zu verknpfen. Wenn er zugleich sagt, da er diese Verbindung mit dem Ausdruck der

    Notwendigkeit, mithin gnzlich apriori und aus bloen Begriffen zustande bringt, so zeigt er we-

    nigstens an, da diesen letzten apriorischen Begriffen fr sich selbst die spekulative Fundierung man-

    gelt, da sie vielmehr, an sich ein unbekanntes x, in der Notwendigkeit des Denkens und zu denken,

    also in einer Forderung grnden und deshalb auch in den erstgenannten Begriffen, die am Ende

    seiner Stze zu Vorstellungen werden, in keiner Weise anzutreffen sind, so wenig wie Ordnung

    in der Natur angenommen wurde. Auch hier zeigt sich also der Forderungscharakter der apriorischen

    Notwendigkeit, die fr einen Herstellungsproze zu seiner Ermglichung gesetzt wird und somit

    einen durchaus hypothetischen Charakter hat.

    Im 5. Abschnitt wird diese Urteilslehre dann durch die mathematischen Urteile besttigt, die ins-

    gesamt als synthetisch a priori bezeichnet werden. In diesem Abschnitt wie in den weiteren Kapiteln

    zeigt sich deutlich, da Kant das Ideal der synthetischen Wissenschaftlichkeit in der Mathematik und der

    mathematischen Naturwissenschaft durch deren faktischen Erfolg erhrtet sah und von dorther das Ma

    fr den synthetischen Urteilsproze der Vernunft hernahm.

    Das berhmte Beispiel lautet: 7 + 5 = 12. Auch hier spricht Kant von einem Begriff der Summe von 7

    und 5, der nichts weiter enthlt als die Vereinigung beider Zahlen in eine Einzige, wodurch aber

    ganz und gar nicht gedacht ist, welches diese einzige Zahl sei, die beide zusammenfat. Man mu

    daher ber diese Begriffe (7 + 5) hinausgehen, in dem man die Anschauung zu Hilfe nimmt, die

    einem von beiden korrespondiert, etwa seine 5 Finger ... oder 5 Punkte, und so nach und nach die Einhei-

    ten der in der Anschauung gegebenen 5 zu dem Begriffe von 7 hinzutut. Indem ich fr den Begriff der 5

    die Finger meiner Hand als Anschauung zu Hilfe nehme, so tue ich die Einheiten, die ich vorher zusam-mennahm, um die Zahl 5 auszumachen, nun an jenem meinem Bilde nach und nach zur Zahl 7 und sehe so

    die Zahl 12 entspringen.

    Auch hier gibt es eine begriffliche Einschrnkung des Denkens, wenn auch im Begriff einer Summe

    so etwas wie ein Sollen oder eine Aufgabe mitgedacht und vorgezeichnet wird. Diese berschreitung

    des Begriffes geschieht jedoch hier nicht nach apriorischen Regeln, sondern unter Zuhilfenahme der An-

    schauung, oder wie Kant an anderer Stelle sagt, vermittels einer Anschauung. Das Bedeutungsvolle

    liegt in dieser Mittel-stellung der Anschauung, die nicht nur ein Mittleres zwischen Begriffen,

    sondern zugleich ein Mittel (Instrument) der Synthesis wird. Kant bleibt sich darin treu, da er dieBegriffe primr aus anschauungslosen Umreiungen (Definitionen) ansetzt und die genannten Sum-

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    menbegriffe daher in hchst umstndlicher und elementarer Weise (durch Finger oder Punkte) nachtrg-

    lich in anschauliche Vorgnge auflst, um dann auf diesem neuen Boden synthetisch voranschreiten zu

    knnen. Das Urteil selbst aber wird wiederum als ein Herstellungsproze dargestellt, sofern nach und

    nach die Einheiten hinzugetan werden, um die Zahlen aus-zu-machen, bis der Zhlende die Zahl

    12 entspringen sieht.

    Es erfllt sich daher alles das, was fr ein reines Verstandesurteil verlangt wird. Dies geht nicht von

    der Intuition der Vernunft aus, um durch den Diskurs in ihr zu endigen, sondern hlt sich im Hervorbrin-

    gen einer Synthesis, als deren Resultat (im eigentlichen Verstande des Wortes) der gesuchte Ge-

    genstand entspringt. Diesem Vorgang und Hervorgang aber ist die Anschauung als Instrument und Mittel

    der Bewegungssicherung und Fhrung untergeordnet. Das Resultat wird im Medium der Anschauung

    herausgezhlt.

    Notwendig fehlt daher hier die Mglichkeit einer metaphysischen Durchlichtung. Es bleibt vllig unver-

    stndlich, was die Copula oder das Gleichheitszeichen in diesem synthetischen Verstandes- oder Rechen-

    urteil eigentlich besagt. Mute Kant nicht darauf bestehen, statt des ist stets ergibt zu sagen? Und ist

    die Zahl 12 wirklich nur die Resultante aus dem Additionsproze, was, wie oben gesagt wurde, dazu

    fhrte, sie durch alle mglichen Rechensynthesen zu bestimmen, was ihren Zahlencharakter vllig aufh-

    be? Ist dieser nicht durch die Zahlenreihe und die ausschlieende Einigung von 12 wieder auflsbaren

    Einheiten zum Ganzen einer Einheit als fester Bestand schon gegeben, wenn berhaupt das Geschft des

    Zhlens beginnt? Ist dieses nicht ermglicht und umgriffen von einem intuitiven Erfassen der Zahlenreihe

    und ihrer mglichen Einheiten? Ist nicht das Urteil auch ohne Synthesis in seinem Wesen erfllt, wenn

    das umstndliche zhlende Durchlaufen anschaulich gegebener Teile gar nicht statt hat. Ist etwa 1 + 1

    = 2 weniger ein Urteil, weil keine Synthesis statt hat, sondern ein einfacher Bestand eingesehen

    wird? Hier zeigt es sich deutlich, da das Wesen des Urteils durch den verbindenden Diskurs

    verfehlt ist. Denn die Veranschaulichung in der Vorstellung, die rationale Synthesis macht das

    Urteil nicht aus, sondern bringt nur einen vorliegenden Bestand vor den schauenden Intellekt, da die

    Einheit und Notwendigkeit gesehen werden kann. Wenn Kant selbst die Notwendigkeit von Begriffen

    dadurch bestimmt, da Gegebenheiten nicht weggedacht werden knnnen, so zeigt er selbst mit Evidenz,

    da diese gerade darin besteht, da keine Synthesis hergestellt wird, sondern ein vorgngig beste-hender Zusammenhalt sich dem ablsenden Verstand widersetzt und somit dem trennenden Tun des

    Verstandes berlegen oder transzendent ist. Was aber nicht geschieden werden kann, kann auch nicht

    verknpft werden. Deshalb ist in einem Urteil, das eine notwendige Verbindung ausdrckt, die logi-

    sche Urteilsform durch die Copula ist selbst berstiegen und negiert. Jede Rose ist farbig; dieser

    Satz ist in keinem Betracht eine Herstellung oder eine Synthese von Rose und Farbigkeit, so als

    wrden zwei Begriffe: Rose und Farbe, die fr sich definiert sind, miteinander zusammengefgt.

    Vielmehr bringt der Verstand Intentionen oder abstrakte Gehalte zusammen, um dabei zu erfah-

    ren, da sein Geschft entweder durch die Gegebenheiten der Erfahrung seinshaft berholt ist und dasvon ihm Getrennte in Wahrheit als Einheit ist, oder aber er erfhrt im Versuch der Trennung den

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    Gegensto des Wesensbestandes, so da in jeder notwendigen oder allgemeinen Aussage sich das

    Widerspruchsprinzip wiederholt (reductio in principia). Der Satz: Jede Rose ist farbig, ist daher als

    Urteil eine reine Intellectio, eine Einsicht in einen unauflsbaren Wesensbestand und besagt zu-

    gleich, da ein auflsender Diskurs des Verstandes gescheitert ist.

    Das Urteil ist daher seiner intuitiven Struktur gem genauer definiert, wenn es lautet: Da eine Rose

    nicht farbig ist, dies ist un-mglich, wobei das mglich auf einen nichtigen, seinslosen Entwurf des

    Verstandes verweist. Der Verstand urteilt daher berhaupt nicht, noch konstituiert seine Synthesis

    das Urteil, sondern er bringt Gegebenheiten der Erscheinung oder des Wissens zusammen, d. h., er stellt

    sie vor, damit die Sicht in einen seinshaften, d. h. immer vorgegebenen und metaphysisch konstitu-

    ierten (synthetisierten) Wesensbestand ermglicht wird. Der Verstand ist der Diener und, Knecht der

    Vernehmungs- und Schaukraft des Geistes, der im Sein und Seienden sein Licht hat. Dies erhellt aus

    dem Satz des Aquinaten: Die Wahrheit folgt unserer Vernunft in ihrer vollkommenen Erkenntnis,wenn diese immer schon zur Synthesis gelangt ist,4d. h. diese hinter sich hat, denn das Wahre ist das

    Un-geschiedene des Seins und dessen was ist. Sent. I. 19. 51.

    Dasselbe Ergebnis zeigt eine Analyse der angeblich synthetischen Urteile apriori in der Naturwissen-

    schaft. Wenn Kant sagt, da in aller Mitteilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung einander

    gleich sein mssen, so ist eine solche Formel in mehr als einer Hinsicht aufschlureich. Denn der Satz

    ist in der Tat eine Synthesis von Begriffen, die als reine Hypothesen und Annahmen unkritisch ge-

    setzt sind. Kant macht nmlich die Voraussetzung, da die Krper passive mechanisch (von auen) aktu-

    alisierte, quantitativ bestimmte Einheiten sind, deren Vernderungen allein durch uere Anste er-

    folgen, dergestalt, da die Wechselwirkungen von Sto und Hemmung (Gegensto) einander genau

    korrespondieren. In diesem Sinne liegt allerdings eine Synthesis aus recht willkrlichen Begriffen,

    nmlich einer mechanistischen Weltkonstruktion, vor, deren Gltigkeit nur soviel Notwendigkeit an sich

    hat, als man die seinslosen Verstandesbegriffe anerkennt. Freilich gibt es auch hier keine Synthesis im

    Sinne einer hervorgebrachten Erkenntnis, da der Satz nur das ausdrckt, was man zuvor schon definito-

    risch als gltig erklrt hat. Mit man diesen Satz aber am substantiellen Sein oder an den Erkennt-

    nissen der modernen Naturwissenschaft, so ist eine solche Korrespondenz nichts als eine wirklichkeitslose

    Schimre, da ich in keinem Sinne die Annahme machen kann, da ein nicht mechanistisch wirkendes A-

    tomgefge auf die gleichen Einflsse gleich reagiert oder da die ausgelste Wirkung (etwa eine

    Kettenreaktion) genau dem auslsenden Sto entspricht.

    Die ganze Bodenlosigkeit des Geschftes der Kritik der reinen Vernunft ist daher schon in der Einleitung

    deutlich zutage getreten. Es ist ein durch und durch dogmatisches Unternehmen, ein groer Versuch, aus

    dem rationalistischen Begriffserbe einer logischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Technik her das

    Wesen der menschlichen Erkenntnis zu erhellen und diese selbst als rationale Technik einer apri-

    orischen Synthesis zu erweisen. Die eigentliche Aufgabe, wie sind synthetische Urteile apriori

    4 G. 1. 59.

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    mglich, ist ein Scheinproblem, das nur deshalb aufgegeben werden konnte, weil ein seinsvergesse-

    nes Zeitalter sich intuitionslos an eine Flle willkrlicher Axiome verloren hatte. Es ist wahrhaft eine

    Tragdie, da ein so groer Denker wie Kant von einem Ansatz ausging, dessen Voraussetzungen zu

    bedenken ihm unmglich war. Wenn er sagt (in Abschnitt 6), da die Metaphysik bisher in einem so

    schwankenden Zustand der Ungewiheit und Widersprche geblieben ist, ist lediglich der Ursache zuzu-

    schreiben, da man sich diese Aufgabe und vielleicht sogar den Unterschied der analytischen und

    synthetischen Urteile nicht frher in Gedanken kommen lie - so zeigt eine Durchdringung seiner

    grundlegenden Ausfhrungen, da es das, was er synthetische Urteile a priori nannte, berhaupt

    nicht gibt, da er vielmehr einer Verwechslung und Verkehrung zum Opfer fiel und in der Tat,

    wie Hegel sagte, die Vernunft unter die Taufe des Verstandes hielt und des Menschen allerhchste

    Kraft (Goethe) in die Knechtschaft eines dienenden Prinzips brachte.

    Schon die antike Philosophie hat den Dogmatismus der Sophisten und das leere Treiben der Skepsis

    berwunden, als sie den nous im waltenden Wesen des Seienden verwurzelte und mit Aristoteles das

    Sein als Sein als das Offenbarste, das Gewisseste und Voraussetzungslose aller Erkenntnis enthllte.

    Von Aristoteles her ergibt sich freilich, da jeder Begriff und jedes Urteil, das nicht im Sein

    seinen Ausgang hat und wieder in es aufgelst werden kann, eine dogmatische Setzung ist. Viel-

    leicht ist unser ganzer spezialisierter Wissenschaftsbetrieb, der, wie Heidegger sagt, in seinen Wur-

    zeln abgestorben ist, nichts als eine Gefangenschaft der Geister im Unbedachten und Unbedenkbaren

    und eine einsichtlose Beirrung durch Begriffe und abgelste Phnomene.

    Kants groe Kritik ist freilich dennoch ein metaphysisches Unternehmen, den verlorenen

    Seinsbestand einerseits wie die Freiheit andererseits im Wesensakt des Geistes zu retten und

    die ratlose Zersplitterung des abendlndischen Geistes zu berwinden. Was durch Descartes'

    wesenlose Zerspaltung der res cogitans und res extensa, durch seine Depotenzierung des Seins

    ins Denken und der Natur in uere Erstreckung grundgelegt wurde, was durch die mechanische

    Naturwissenschaft, durch den englischen nominalistischen Empirismus, durch das technische

    Herstellen einerseits und die begriffliche Logisierung des Seins in der scholastischen Traditi-

    on andererseits unvereinbar auseinanderklaffte, das suchte Kant im Rckgriff auf die Leibniz-

    sche Synthese der appetitiven Apperzeption der apriorisch weltentwerfenden Subjektmonas zur

    Einheit zu fgen. Aber auch dieses Unternehmen vollzog sich im Lichte des vergessenen

    Seins. Wiewohl Kant in strenger Begrifflichkeit durch Verstandeskritik die Vernunft, ihre

    Ideen und ihr Ideal dienend einem endlichen Verstande als Bedingung objektiver Er-

    kenntnis zuordnete, so hielt er freilich dennoch den systematischen Aufri im Lichtkreis einer

    wenn auch blo mglichen archetytischen Seinserkenntnis, deren Macht sich einmal notwendig

    gegen den Verstand und sein wesenloses Tun richten mute. Sofern aber die Vernunftideen

    dem apriorisch, d. h. aus eigenem Grunde synthetisierenden Verstand dienend untergeordnet

    waren, waren auch ihre Ideen dem Wesensbestand der res cogitans oder des denkenden Sub-

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  • 8/2/2019 Siewerth Grundfragen Der Phi Lo Sophie Im Horizont Der Seinsdifferenz

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    jektes eingefgt, so da sich die spekulative Bewegung gegen die Verkehrung Kants nun not-

    wendig in der Dimension des Subjektes vollziehen mute. Einer archetypischen Vernunft aber,

    die notwendig den sinnlichen Empfngnis- wie den rationalen Einigungsproze umfate,

    ermglichte sich dies ungeheure Unterfangen nur, indem der Mensch aus seinem Tatwillen

    nun auch noch die letzte Dimension herstellenden Machens bezog und wie Gott und in Gott al-

    les Seiende aus seinem ideierenden Grunde hervorgehen lie. Was diese systematische Her-

    vorbringung an Wahrheit enthlt und in welchem Mae der Mensch an Gott partizipiert, dies

    von der aristotelisch-thomistischen Seinsenthllung sichtbar zu machen, scheint uns die schwie-

    rigste Aufgabe zu sein, die der Philosophie bisher aufgegeben war. Wir sind berzeugt, da

    ihre Bewltigung nur durch eine Rckbesinnung auf die thomistischen Seinslehren und ihre

    spekulative Vertiefung gelingen wird, deren Grundstrukturen im Thomismus als Identitts-

    system vorgezeichnet worden sind.

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  • 8/2/2019 Siewerth Grundfragen Der Phi Lo Sophie Im Horizont Der Seinsdifferenz

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    DIE TRANSZENDENTALE STRUKTUR DES RAUMES

    1. Die Weltverfassung der Sinne als potentiae propinquae

    Im Bereich der Wahrnehmung gibt es eigentlich keine reine Bewutseinsimmanenz berhaupt.1 Eine

    A-priori-Bestimmung durch die Anschauungsform des Raumes setzt das Subjekt in gar keiner Weise

    einer ueren Welt entgegen, sondern entrckt es umgekehrt in die Sphre der uerlichkeit. Es ist

    daher auch nicht notwendig, die Gegenstndlichkeit durch einen der Willenstiefe des Subjekts

    entspringenden dynamischen Proze zu sichern, der die Bewutseinsphnomene transzendiert und sie

    aus der Immanenz heraushebt. Vielmehr ist das Subjekt durch den Wesensgehalt der Anschauung selbst

    der eigenen Immanenz bereits enthoben, so da es nicht einmal einem knstlichen Versuch einer Sub- jektivierung der Gegebenheiten als reiner Vorstellungen gelnge, die uerlichkeit aufzuheben.

    Denn jeder mgliche vorgestellte Raum ist keinem mglichen wirklichen entgegengesetzt, sondern ent-

    weder ein Ausschnitt des wirklichen oder aber eine Setzung, die sich in einen wirklichen Raum konti-

    nuieren lt. Wrde aber, was unmglich ist, aller Raum vorgestellt, so enthielte er auch den wirkli-

    chen, so da die ideelle Totalitt sich in sich selbst wenigstens der Mglichkeit nach dem ueren

    gegenber ffnete.

    Freilich brche mit der Annahme dieser letzten unmglichen Hypothese (der vorgestellten Raumtotali-

    tt) das Problem der transzendentalen sthetik, das Kant aufgegeben hat, erneut hervor, sofern ebendie gegenstndliche Welt innerhalb der apriorischen Raumganzheit und durch sie ermglicht

    wrde; dann wrde ja gerade erwiesen, da die immanente Form des Vorstellens, der Raum also, so

    etwas wie eine uere Welt gleichsam aus sich selbst hervortriebe. Die Ausgekehrtheit des Wahr-

    nehmens wre dann umschlossen von einer innerlichen Anschauungsform, durch die das Subjekt sich

    selbst gleichsam den Horizont vorhlt und freigibt, in dem eine uere Welt sichtbar werden kann.

    Dann schiene es wiederum, als sei nun doch das uere vllig dem Subjekt verfallen. Und die

    Transzendenz dieses Subjektes knnte nicht aufgezeigt werden von seinen Gegenstnden her.

    Indem wir diese Frage stellen, wird es notwendig, noch tiefer in die Wesensstruktur des von Marchal

    entwickelten Wahrnehmungsverhltnisses einzudringen. Die Frage sei zugleich Anla, die Bedeu-

    tung des Raumes fr die Mglichkeit menschlichen Erkennens in ihren Grundzgen aufzuzeigen,

    ohne frei lic h i n eine syst emat isch e Entw ick lung des Problems berzugehen.2

    Die Frage