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E s war ein bezeichnender Moment: Kurz vor der Uraufführung seiner ersten Oper Die wei e Fürstin nach Rainer Maria Rilke im Rahmen der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2010 wurde Mirton Illes von Biennale-Leiter Peter Ru- zicka in einem Einführungsgespräch gefragt, ob er denn ein weiteres Musiktheater zu schreiben gedenke. Ich muss mich erst ein- mal ausruhen und erholen , bekannte Illes damals. Die Antwort des 1975 geborenen ungarischen Komponisten und Pianisten, der bei Detlev Müller-Siemens in Basel und bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe studiert hat, war ehrlich - und sie war verständlich. Das zeigte sich wenig später, im Februar 2011, bei der Uraufführung von Rajzok für Streichorchester: Mit diesem Werk, das vom Münchener Kammerorchester (MKO) in Auftrag gegeben wurde, ist Illes ein Beitrag gelungen, der zum Besten zählt, was in den vergangenen Jahren in dieser Gattung ent- standen ist. Dabei sind Aufwand und spiel- technischer Anspruch enorm. 24 Streicher schreibt die Partitur vor: 13 Violinen, fünf Bratschen, vier Celli und zwei Kontrabässe, wobei 21 Streicher ihre Instrumente indivi- duell und vollständig umstimmen müssen. Die traditionelle Quinten- bzw. Quarten- stimmung bleibt nur bei der Violine 5, der Viola 3 und dem ersten Cello unverändert. Bei den anderen Streichern füllt die kom- plexe Skordatur die absolute Tonhöhe nach einer Vierteltonskala auf. Um diese Um- 52 stimmung präzise umsetzen zu können, skordierte zwischenwelten MÄRTON ILLES' RAJZOK FÜR STREICHORCHESTER VON MARCO FREI Sinn durchaus nicht verschlie t. Es sind harmonisch-klangliche, auch farbige Zwi- schenwelten, die Illes kunstvoll und mit in- strumentatorischem Geschick verlebendigt. Durch das partielle Spiel mit Flageolett- Tönen wird dieser akustische Eindruck sinnstiftend verstärkt. Wie schon Hector Berlioz in seiner von Richard Strauss er- gänzten und redigierten Instrumentations- lehre schreibt, sei dieser Klang geeignet für Harrnonieeffekte, welche unsere Einbil- dungskraft mit schillernden Träumereien er- füllen, indem sie uns die anmutigsten Ge- bilde einer dichterischen, übernatürlichen Welt vorzaubern. Es gibt genügend Bei- spiele in der Musikgeschichte, wie das Fla- geolett zwar übernatürlich, aber eher im Sinn eines Nicht mehr von dieser Welt ein- gesetzt wird - als Übertragung des Mahler' - sehen Celesta-Ewigkeitsklangs auf die Strei- cher. In Illes' Rajzok wird dieses akustische Bild auch in Verbindung mit der zwischen- weltlichen Vierteltönigkeit verdeutlicht. Das durchgängig geforderte vibratolose Spiel (senza vibrato sempre) ist nicht nur rein har- monisch sinnvoll, weil das Vibrato die Mi- krotonalität aushöhlen und aufheben würde (was bei Interpretationen von neuer Musik häufig vergessen wird). Auch semantisch ist es konsequent, denn vielfach beginnt ein transzendentales Klanglicht zu schimmern. Sonst aber wechseln luzide, sphärenhafte Klangschleier im Diskant und schattenhafte Nachtmusiken mit Bart6k'scher Motorik, explosiven wie implosiven, auch dynamisch Mit Rajzok für 24 Streicher ist dem ungarischen Komponisten Merton lIIes ein gewichtiger Beitrag zu dieser Gattung geglückt. Das rund zwanzig- minütige Werk, das 2010 entstanden ist, wurde vom Münchener Kammer- orchester in Auftrag gegeben und im Februar 2011 uraufgeführt. Bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2010 hatte au erdem die erste Oper des Rihm-Schülers Premiere. liegt dem Aufführungsmaterial eine CD bei. Auf ihr sind die jeweiligen Sinus töne exakt dokumentiert. Gleichwohl benötigen die Spieler bei der Aufführung de facto ein zwei- tes Instrument, um rechtzeitig auf die ver- änderten Verhältnisse reagieren zu können. Was wie eine tour de force anmutet, bleibt nicht Selbstzweck. Da sind zunächst die klanglichen Konsequenzen der Skorda- tur: Die konventionelle Stimmung ist ja nicht für unsere heutige Musik geschaffen, sondern für ein im weiteren Sinne tonales Komponieren, in der diese Töne und Inter- valle eine harmonische Zweckmä igkeit hat- ten , erläutert Illes im Gespräch mit Anselm Cybinski, das seinerzeit im Programmheft zur Uraufführung abgedruckt wurde. Zudem störe ihn bei der herkömmlichen Stimmung der leeren Saiten, dass diese immer herauszuhören sei - da deren Aus- schwingvorgang deutlich länger andauere als der von gegriffenen Tönen. Das ist eine Nebenerscheinung, die ich vermeiden will, weil sie immer nach einem akustischen objet trouue klingt , so Illes. Aus all diesen Grün- den habe er den Wunsch nach einem Or- chester, in dem alle Tonhöhen auf leeren Saiten darstellbar sind . Zudem seien durch die Vierteltonstimmung die Bündelungs- möglichkeiten sehr breit: Schon im Halb- tonraum kann ich einen Cluster unterbrin- gen , erklärt Illes, Was etwas technisch unterkühlt klingt, führt vielfach zu einer fragilen Klangsinn- lichkeit, die sich einer Virtuosität im guten

skordierte zwischenwelten · 2015. 12. 27. · Odeh- Tamimi, Mark Andre oder Georg Friedrich Haas in Auftrag gegeben. In der Spielzeit 2011/12 folgt eine Uraufführung von Miroslav

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Page 1: skordierte zwischenwelten · 2015. 12. 27. · Odeh- Tamimi, Mark Andre oder Georg Friedrich Haas in Auftrag gegeben. In der Spielzeit 2011/12 folgt eine Uraufführung von Miroslav

Es war ein bezeichnender Moment: Kurzvor der Uraufführung seiner erstenOper Die weiße Fürstin nach Rainer

Maria Rilke im Rahmen der MünchenerBiennale für neues Musiktheater 2010 wurdeMirton Illes von Biennale-Leiter Peter Ru-zicka in einem Einführungsgespräch gefragt,ob er denn ein weiteres Musiktheater zuschreiben gedenke. «Ich muss mich erst ein-mal ausruhen und erholen», bekannte Illesdamals. Die Antwort des 1975 geborenenungarischen Komponisten und Pianisten,der bei Detlev Müller-Siemens in Basel undbei Wolfgang Rihm in Karlsruhe studierthat, war ehrlich - und sie war verständlich.

Das zeigte sich wenig später, im Februar2011, bei der Uraufführung von Rajzok fürStreichorchester: Mit diesem Werk, das vomMünchener Kammerorchester (MKO) inAuftrag gegeben wurde, ist Illes ein Beitraggelungen, der zum Besten zählt, was in denvergangenen Jahren in dieser Gattung ent-standen ist. Dabei sind Aufwand und spiel-technischer Anspruch enorm. 24 Streicherschreibt die Partitur vor: 13 Violinen, fünfBratschen, vier Celli und zwei Kontrabässe,wobei 21 Streicher ihre Instrumente indivi-duell und vollständig umstimmen müssen.Die traditionelle Quinten- bzw. Quarten-stimmung bleibt nur bei der Violine 5, derViola 3 und dem ersten Cello unverändert.Bei den anderen Streichern füllt die kom-plexe Skordatur die absolute Tonhöhe nacheiner Vierteltonskala auf. Um diese Um-

52 stimmung präzise umsetzen zu können,

skordierte zwischenweltenMÄRTON ILLES'«RAJZOK» FÜR STREICHORCHESTER

VON MARCO FREI

Sinn durchaus nicht verschließt. Es sindharmonisch-klangliche, auch farbige Zwi-schenwelten, die Illes kunstvoll und mit in-strumentatorischem Geschick verlebendigt.Durch das partielle Spiel mit Flageolett-Tönen wird dieser akustische Eindrucksinnstiftend verstärkt. Wie schon HectorBerlioz in seiner von Richard Strauss er-gänzten und redigierten Instrumentations-lehre schreibt, sei dieser Klang geeignet für«Harrnonieeffekte, welche unsere Einbil-dungskraft mit schillernden Träumereien er-füllen, indem sie uns die anmutigsten Ge-bilde einer dichterischen, übernatürlichenWelt vorzaubern.» Es gibt genügend Bei-spiele in der Musikgeschichte, wie das Fla-geolett zwar übernatürlich, aber eher imSinn eines «Nicht mehr von dieser Welt» ein-gesetzt wird - als Übertragung des Mahler' -sehen Celesta-Ewigkeitsklangs auf die Strei-cher. In Illes' Rajzok wird dieses akustischeBild auch in Verbindung mit der zwischen-weltlichen Vierteltönigkeit verdeutlicht. Dasdurchgängig geforderte vibratolose Spiel(senza vibrato sempre) ist nicht nur rein har-monisch sinnvoll, weil das Vibrato die Mi-krotonalität aushöhlen und aufheben würde(was bei Interpretationen von neuer Musikhäufig vergessen wird). Auch semantisch istes konsequent, denn vielfach beginnt eintranszendentales Klanglicht zu schimmern.

Sonst aber wechseln luzide, sphärenhafteKlangschleier im Diskant und schattenhafteNachtmusiken mit Bart6k'scher Motorik,explosiven wie implosiven, auch dynamisch

Mit Rajzok für 24 Streicher ist dem ungarischen Komponisten Merton lIIesein gewichtiger Beitrag zu dieser Gattung geglückt. Das rund zwanzig-minütige Werk, das 2010 entstanden ist, wurde vom Münchener Kammer-orchester in Auftrag gegeben und im Februar 2011 uraufgeführt. Bei derMünchener Biennale für neues Musiktheater 2010 hatte außerdem dieerste Oper des Rihm-Schülers Premiere.

liegt dem Aufführungsmaterial eine CD bei.Auf ihr sind die jeweiligen Sinus töne exaktdokumentiert. Gleichwohl benötigen dieSpieler bei der Aufführung de facto ein zwei-tes Instrument, um rechtzeitig auf die ver-änderten Verhältnisse reagieren zu können.

Was wie eine tour de force anmutet,bleibt nicht Selbstzweck. Da sind zunächstdie klanglichen Konsequenzen der Skorda-tur: «Die konventionelle Stimmung ist janicht für unsere heutige Musik geschaffen,sondern für ein im weiteren Sinne tonalesKomponieren, in der diese Töne und Inter-valle eine harmonische Zweckmäßigkeit hat-ten», erläutert Illes im Gespräch mit AnselmCybinski, das seinerzeit im Programmheftzur Uraufführung abgedruckt wurde.

Zudem störe ihn bei der herkömmlichenStimmung der leeren Saiten, dass dieseimmer herauszuhören sei - da deren Aus-schwingvorgang deutlich länger andauereals der von gegriffenen Tönen. «Das ist eineNebenerscheinung, die ich vermeiden will,weil sie immer nach einem akustischen objettrouue klingt», so Illes. Aus all diesen Grün-den habe er den Wunsch nach einem Or-chester, «in dem alle Tonhöhen auf leerenSaiten darstellbar sind». Zudem seien durchdie Vierteltonstimmung die «Bündelungs-möglichkeiten» sehr breit: «Schon im Halb-tonraum kann ich einen Cluster unterbrin-gen», erklärt Illes,

Was etwas technisch unterkühlt klingt,führt vielfach zu einer fragilen Klangsinn-lichkeit, die sich einer Virtuosität im guten

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nachvollzogenen Energieentladungen. WennIlles stets betont, in seinen Partituren eine«P~lydimensionalität» zu verfolgen (womiter die Koexistenz von Gesten meint, diezwar unabhängig geführt werden, sich aberdennoch aufeinander beziehen), so erfährtdies in Rajzok eine besonders konsequenteund konzise Ausprägung.

Die drei akustischen Ebenen in diesemWerk sind ein weitgespanntes Legato, dasunmittelbar zu Beginn des Werks erwächst,nervöse 32stel-Repetitionen, Arpeggien undschnelle Sprünge sowie eine «Verflüssigungder Linie» (wie es Illes formuliert). Vor die-sem Hintergrund ist der Werktitel zu ver-

stehen: «Rajzck» ist ein ungarisches Wortund bedeutet Zeichnung. Zugleich weistIlles selber darauf hin, dass in der großenArpeggien-Kulmination ein ungarischesVolkslied aus seiner Heimatregion auftau-che: «Welke, mein Schatz, welke, denn dubist nicht mein. Wärest du die Meine, blüh-test du viel schöner.» Erst beim Komponie-ren sei ihm dies aufgefallen, so Illes. Er habedie Melodie später tatsächlich auch in dermusikethnologischen Sammlung seinesLandsmanns Zoltän Kodaly gefunden.

Doch zurück zur «Polydimensionali-tat»: «Seit Jahren stelle ich immer wiederfest, dass meine intimsten musikalischen

• NEUES WERK

Gedanken zumeist in ein paar Linien er-scheinen, die gleichzeitig oder einzeln inverschiedenen Gruppierungen und forma-len Konzeptionen auftreten», wird Illeshäufig zitiert. «Die linearen Ereignisse be-halten ihre eigenen Spannungsabläufe, sindalso als gleichzeitig auftretende Individuenanwesend.» Diese Worte greifen exempla-risch in Rajzok, und zwar auch noch ineinem anderen Sinn. So verrät schon alleinedie dezidiert individuell geführte Skordatur,dass auch die Streicher selber «als gleichzei-tig auftretende Individuen» behandelt wer-den. Hier gibt es letztlich eine Parallele zuRichard Strauss: Wenn dieser seine Meta-morphosen als «Studie für 23 Solostreichersbezeichnete, so ist Illes' Rajzok gewisserma-ßen eine Studie für 24 Solostreicher. Nichtsanderes sagt Illes selber in einem Interview,das kürzlich in der Kammermusik-Zeit-schrift ensemble veröffentlicht wurde. «Ichbin eigentlich ein kammermusikalischerKomponist», bekennt er dort. «Auch diegroß besetzten Werke wie etwa für Streich-orchester gelten bei mir noch als Kammer-musik, weil eben das solistische Elementauch dort gegeben ist.» Das galt schon fürsein Werk Post Torso für Streichorchester,das 2008 uraufgeführt wurde - ebenfallsvom Münchener Kammerorchester. Undauch bei der Uraufführung von Rajzok hatdas MKO unter seinem Leiter AlexanderLiebreich die Arbeitsweisen und Haltungenvon Illes stringent ausgestaltet.

Tatsächlich hat sich das Ensemble zueinem verdienstvollen, vielfältigen, offenenLaboratorium für Streichorchester-Werkeentwickelt. Neben Illes wurden in der Ver-gangenheit bereits Gattungsbeiträge vonKomponisten wie Nikolaus Brass, SamirOdeh- Tamimi, Mark Andre oder GeorgFriedrich Haas in Auftrag gegeben. In derSpielzeit 2011/12 folgt eine Uraufführungvon Miroslav Srnka, und auch die Planun-gen für ein gemeinsames Projekt mit Salva-tore Sciarrino sind schon fortgeschritten .•

• INFO

Mörton llles (geb. 1975):Rajzok tür 24 Streicher (2010)UA: 10. Februar 2011. MünchenMünchener Kammerorchester,Ltg. Alexander Liebreich