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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft 1 Christof Heinz Einführung in die slavische Sprachwissenschaft Skriptum zum Grundkurs Wien 2007

Skript Heinz

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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Christof Heinz

Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

Skriptum zum Grundkurs

Wien 2007

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Inhalt: Teil A: Sprachwissenschaftliche Grundbegriffe Teil B: Slavische Sprachen 1. A Einleitung

1.1. Bedeutungen von „Sprache“ 1.2. Kommunikationsmodelle

1.2.1. Bestandteile des Kommunikationsprozesses 1.2.2. Kommunikative Funktionen

1.3. Das sprachliche Zeichen 1.3.1. Zeichenmodelle 1.3.2. Arten von Zeichen 1.3.3. Dimensionen des Zeichens

1.4. Sprachwissenschaftliche Teilgebiete 1.4.1. Teilgebiete der sprachlichen Bedeutung: Pragmatik, Semantik und

Lexikologie 1.4.2. Teilgebiete des sprachlichen Ausdrucks: Phonetik / Phonologie,

Morphologie und Syntax 1. B Einordnung und Binnengliederung der slavischen Sprachen

1.1. Einteilungskriterien für Sprachen 1.1.1. nach der Entstehung (natürliche und künstliche Sprachen) 1.1.2. nach der Vitalität (lebende und tote Sprachen) 1.1.3. typologische (strukturelle) Einteilung 1.1.4. geographische Einteilung

1.2. Historisch-genetische Einteilung 1.2.1. Sprachfamilien 1.2.2. Sprachzweige des Indoeuropäischen 1.2.3. Binnenklassifizierung der slavischen Sprachen

1.3. Funktionale Einteilung 1.3.1. Standardsprachen und Nichtstandardsprachen 1.3.2. Quantitative Einteilung 1.3.3. Verhältnis Sprachgebiet - Staatsgebiet

1.4. Einige wichtige Gemeinsamkeiten der slavischen Sprachen

2. A Phonetik 2.1. Phonetik und Phonologie 2.2. Teilgebiete der Phonetik 2.3. Artikulationsorgane 2.4. Einteilung der Laute: Vokale und Konsonanten 2.5. Einteilung der Vokale

2.5.1. Inhärente Merkmale: Vokaldreieck, Labialisierung, Nasalität, Diphthongierung

2.5.2. Suprasegmentale Merkmale: Quantität, Intonation und Betonung 2.6. Einteilung der Konsonanten

2.6.1. Artikulationsstelle und -modus, Stimmton und Palatalisierung 2 B Slavischsprachige Schriftsysteme und Alphabete

2.7. Verwendung der Alphabete 2.7.1. Exkurs: Entstehung des kyrillischen Alphabets

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2.8. Transkription – Transliteration 2.9. Sonderzeichen in kyrillischen und lateinischen Alphabeten: Diakritika und

Digraphen (Ligaturen) 2.10. Zur Wiedergabe palatalisierter Konsonanten: die Funktion der jotierten

Vokalbuchstaben im Russischen, Polnischen und Tschechischen 2.11. Orthographiesysteme: historisches, morphologisches und phonetisches

Prinzip 3. A Phonologie

3.1. Definition "Phonem" 3.2. Bestimmung von Phonemen 3.3. Der Begriff Allophon

3.3.1. Freie Allophone 3.3.2. Distributionelle Varianten

3.4. Phonembestimmung in den slavischen Sprachen 3.4.1. Phonemcharakter palatalisierter Konsonanten 3.4.2. Beispiele von Allophonie in den slavischen Sprachen

3.5. Neutralisation des Phonemunterschieds 3.6. Überblick über das Phoneminventar slavischer Sprachen

3 B Slavische Sprachgeschichte: Grundlagen und Beispiele 3.7. Überblick: Periodisierung der Geschichte slavischer Sprachen 3.8. Sprachgeschichte: Drei wichtige Unterscheidungen

3.8.1. Synchrone vs. diachrone Sprachwissenschaft 3.8.2. Innere vs. äußere Sprachgeschichte 3.8.3. Lautgesetze vs. morphologischer Ausgleich

3.9. Ausgewählte Beispiele für Lautentwicklungen in den slavischen Sprachen 3.9.1. Die Palatalisierungen 3.9.2. Die Halbvokal-Entwicklung 3.9.3. Die Liquida-Metathese

4. A Morphologie

4.1. Definition Morphem 4.2. Ermittlung von Morphemen 4.3. Grammatische und lexikalische Morphologie 4.4. Arten von Morphemen

4.4.1. Wurzeln 4.4.2. Affixe 4.4.3. Endungen

4.5. Allomorphie 4.6. Wortarten

4.6.1. Einteilung der Wortarten 4.6.2. Definitionsmöglichkeiten

4.7. Grammatische Kategorien 4.7.1. Nominale Kategorien 4.7.2. Verbale Kategorien

4 B Die einzelsprachliche historische Entwicklung des Russischen, Polnischen und Tschechischen

4.8. Russisch

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4.8.1. Altostlavische Periode: 9. – 13. Jh. 4.8.2. Altrussische Periode: 14. – 17. Jh. 4.8.3. Beginn der modernen russischen Literatursprache: ab dem 18. Jh.

4.9. Polnisch 4.9.1. Vorschriftliche und altpolnische Periode: bis zum 16. Jh. 4.9.2. Mittelpolnische Periode: 17. – Mitte 18. Jh. 4.9.3. Neupolnische Periode: ab Mitte des 18. Jh.

4.10. Tschechisch 4.10.1. Urtschechisch: Ende 10. – Mitte des 12. Jh. 4.10.2. Alttschechisch: Mitte 12. – Ende des 15. Jh. 4.10.3. Mitteltschechisch: 16. – 18. Jh. 4.10.4. Neutschechisch: ab dem 19. Jh.

5. Wortbildung und Lexikologie

5.1. Wortbildung 5.1.1. Onomasiologie und Semasiologie 5.1.2. Möglichkeiten zur Wortschatzerweiterung 5.1.3. Zentrale Begriffe der Wortbildung

5.1.3.1. Formale Einteilung der Wortbildunsverfahren 5.1.3.2. Semantische Einteilung der Wortbildungsverfahren 5.1.3.3. Beispiele für Wortbildungsverfahren

5.1.4. Entlehnung 5.1.4.1. Unterscheidung Lehnwort / Fremdwort 5.1.4.2. Begriffe Entlehnung, Lehnbedeutung, Lehnübersetzung

5.2. Lexikologie 5.2.1. Einteilung des Wortschatzes 5.2.2. Inhaltliche Beziehungen zwischen Lexemen

5.2.2.1. Homonymie und Polysemie 5.2.2.2. Synonymie und Antonymie

6. Syntax 6.1. Definition

6.1.1. Syntax: Definition und Aufgaben 6.1.2. Der Satzbegriff

6.2. Einteilung von Sätzen 6.2.1. Satztypen nach der Struktur 6.2.2. Satztypen nach der Illokution

6.3. Satzglieder 6.3.1. Ermittlung von Satzgliedern 6.3.2. Arten der Zusammengehörigkeit

6.3.2.1. Kongruenz 6.3.2.2. Rektion 6.3.2.3. Adjunktion

6.4. Syntaxtheorien 6.4.1. Traditionelle Grammatik 6.4.2. Generative Grammatik (Konstituentenstruktur) 6.4.3. Valenzgrammatik 6.4.4. Kasusgrammatik: Thematische Rollen 6.4.5. Funktionale Satzperspektive

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Auswahlbibliographie zur Einführung: I Sprachwissenschaft allgemein Crystal, David: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Übersetzung und Bearbeitung der

deutschen Ausgabe von Stefan Röhrig, Ariane Böckler und Manfred Jansen. Frankfurt a. M. - New York: Campus, 1995. (interessantes Buch rund um linguistische Fragestellungen, zum Nachlesen auch für NichtwissenschaftlerInnen)

Ehlich, Konrad et al. [Hg.]: Hochsprachen in Europa: Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg 2001.

Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas, 2004. (grundlegende Einführung in die sprachwissenschaftlichen Grundbegriffe, richtet sich in erster Linie an Germanisten, aber auch von allgemeinem Interesse)

Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Band I und II. Frankfurt: Fischer, 1973.

Geier, Manfred: Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt. 1998.

Hentschel, Elke – Weydt, Harald: Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin, New York: de Gruyter, 2003.

Hentschel, Gerd (Hg.): Über Muttersprachen und Vaterländer. Frankfurt: Lang, 1997. (interessanter Sammelband über den Zusammenhang Sprache - Nation und verwandte Probleme. Darin einige Artikel zu den slavischen Sprachen)

Römer, Christine: Morphologie der deutschen Sprache. Tübingen: UTB, 2006.

Vater, Heinz: Einführung in die Sprachwissenschaft. München: UTB, 1996. (gut lesbare Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft mit theoretischem Anspruch, für SprachwissenschaftlerInnen)

II Slavische Sprachwissenschaft allgemein Comrie, Bernard – Corbett, Greville G. [Hg.]: The Slavonic Languages. London - New York:

Routledge, 1993 (derzeit bestes Handbuch der slavischen Sprachen, ausführliche Beschreibungen jeder einzelnen Sprache auf allen linguistischen Ebenen)

Franz, Norbert: Einführung in die slavische Philologie. S. –

Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto Sagner, 1996 (am besten zum Thema passendes Einführungsbuch, in erster Linie für Slavistlnnen bestimmt)

Panzer, Baldur: Die slavischen Sprachen in Gegenwart und Geschichte. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1991.

Rehder, Peter [Hg.]: Einführung in die slavischen Sprachen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998 (Enthält Charakterisierungen aller lebenden slavischen Sprachen, darunter auch der Kleinschriftsprachen, sowie des Urslavischen und des Altkirchenslavischen. Ähnlich Comrie/Corbett, aber auf Deutsch und kürzer)

Townsend, Charles; Janda, Laura: Gemeinslavisch und Slavisch im Vergleich. München 2002.

III Zu den einzelnen slavischen Sprachen: a) Russisch Andrews, A.: Russian. SEELRC 2001. Im Netz unter:

http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=6

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Isačenko, A.V.: Die russische Sprache der Gegenwart. Teil I Formenlehre. München 1968. (Ausführliche, grundlegende Beschreibung der russischen Sprache. Für SlawistInnen, dennoch gut lesbar)

Lehmann, Volkmar: Linguistik des Russischen. Einführung in die formal-funktionale Beschreibung. Hamburg 2007. Im Netz unter: http://www.agoracommsy.uni-hamburg.de/homepage.php?cid=972134&fct=detail

Mulisch, Herbert: Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig – Berlin - München 1993 (Sehr übersichtliche Darstellung der russischen Grammatik, z.T. in tabellarischer Form).

Panzer, Baldur: Das Russische. Tübingen: UTB, 1991.

b) Polnisch Bartnicka, B. / Hansen, B. / Klemm, W. / Lehmann, V. / Satkiewicz, H.: Grammatik des

Polnischen. München: Sagner 2004. (Ausführliche Beschreibung der polnischen Grammatik mit wissenschaftlichem Anspruch)

Feldstein, R. F.: A Concise Polish Grammar. SEELRC 2001. Im Netz unter: http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=4

Kotyczka, Josef: Kurze polnische Sprachlehre. Berlin: Volk und Wissen 1976. (Übersichtliche Kurzgrammatik, vorwiegend in tabellarischer Form)

c) Tschechisch Janda, L.A. - Townsend, C.E.: Czech. SEELRC 2002. Im Netz unter:

http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=2

Lommatzsch, Bohdana; Adam, Hana: Kurze tschechische Sprachlehre. Leipzig: Volk und Wissen 1996. (Übersichtliche Kurzgrammatik, vorwiegend in tabellarischer Form)

Vintr, Josef. Das Tschechische. Hauptzüge seiner Sprachstruktur in Gegenwart und Geschichte. München: Sagner. 2001. (Derzeit einzige grundlegende Beschreibung der tschechischen Sprache auf deutsch, vorwiegend für SlavistInnen bestimmt)

Lektüreliste: • Geier, Manfred: Wie Ferdinand des Saussure die Linguistik begründet hat. In: ders.:

Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt, 1998. S. 29-51.

• de Vincenz, Andrzej: Völker, Nationen und Nationalsprachen: Frankreich, Deutschland und Polen im Zentrum Europas. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen und Vaterländer. Frankfurt/M. 1997.

• Hentschel, Gerd: Rußland, Weißrußland, Ukraine: Sprachen und Staaten der "slavischen Nachfolge" von Zarenreich und Sowjetunion. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen und Vaterländer. Frankfurt/M. 1997. S. 211-240.

• Hentschel, Gerd: Das Polnische – eine sichere Bastion unter den slavischen Standardsprachen? In: Ehlich, Konrad, Ossner, Jakob, Stammerjohann, Harro (Hgg.): Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg 2001. S. 209-222.

• Berger, Tilman: Tschechen und Slowaken: Zum Scheitern einer gemeinsamen, tschechoslowakischen Schriftsprache. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen und Vaterländer. Frankfurt/M. 1997. S. 223-240.

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Teil 1 A: Sprachwissenschaftliche Grundbegriffe 1. Bedeutungen von „Sprache“ 2. Kommunikationsmodelle

2.1. Bestandteile des Kommunikationsprozesses 2.2. Kommunikative Funktionen

3. Das sprachliche Zeichen 3.1. Zeichenmodelle 3.2. Arten von Zeichen 3.3. Dimensionen des Zeichens

4. Sprachwissenschaftliche Teilgebiete 4.1. Teilgebiete der sprachlichen Bedeutung: Pragmatik, Semantik und

Lexikologie 4.2. Teilgebiete des sprachlichen Ausdrucks: Phonetik/Phonologie,

Morphologie und Syntax

Sprachwissenschaft (Linguistik) ist die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der menschlichen Sprache beschäftigt. Diese stellt den Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung dar. Sprachwissenschaftler (Linguisten) versuchen daher Antworten auf folgende Fragen zu finden: • Was ist Sprache? Wie kann der Begriff definiert werden? Welche Art von

Phänomenen versteht man darunter? Womit hat sich die Linguistik zu beschäftigen – und womit nicht?

• Wozu dient Sprache? Wozu brauchen wir Sprache, wie benutzen wir sie?

Welche Funktionen erfüllt sie? • Wie funktioniert Sprache? Auf welche Art kann Sprache ihre Aufgaben erfüllen

kann? Welche Voraussetzungen sind dazu nötig?

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1. Bedeutungen von „Sprache“ Beginnen wir mit der ersten Frage: „Was ist Sprache?“ Um das Arbeitsgebiet der Linguistik abzugrenzen, müssen wir uns erst einmal darüber verständigen, was unser Untersuchungsgebiet sein soll, d.h. welche Erscheinungen wir unter dem Begriff „Sprache“ fassen wollen und welche nicht. Die allgemeinste Definition für Sprache lautet: Sprache ist ein Mittel der menschlichen Kommunikation auf lautlicher Grundlage. In der alltagssprachlichen Verwendung werden mit dem Wort „Sprache“ jedoch oft ganz unterschiedliche Erscheinungen benannt. Vergleichen wir etwa die folgenden Äußerungen (vgl. dazu auch die Bsp. in Vater: S. xxx)

Wir stellen fest, dass mit dem Wort „Sprache“ folgendes gemeint sein kann: 1. Die menschliche Kommunikationsfähigkeit schlechthin (Satz A). 2. Eine bestimmte Einzelsprache, etwa Deutsch, Englisch, Russisch, Polnisch,

Tschechisch, Chinesisch, usw… (Satz B) 3. Eine ganz bestimmte Art der Sprachverwendung (Satz C) 4. Andere Arten von Kommunikationsmitteln: nichtsprachliche Kommunikationsmittel

(Satz E) oder künstliche Sprachen (Satz D). 5. Metaphorische Verwendungen des Wortes „Sprache“ für das kommunikative

Potenzial von Gegenständen (Satz F) Gegenstand der wissenschaftlichen Beschreibung sind nur die ersten 3 Bedeutungen (Sätze A, B und C). Bei den übrigen handelt es sich nicht um „Sprache“ im Sinne der Sprachwissenschaft, sondern um übertragene Bedeutungen: Im Satz D wird zwar kommuniziert, jedoch nicht mit Hilfe lautlicher Äußerungen. In den Sätzen E und F ist zumindest ein Kommunikationsteilnehmer kein Mensch, sondern eine Maschine (Satz E) bzw. Bilder (Satz F). Die drei Verwendungen, mit denen sich Linguisten befassen, kann man auch begrifflich unterscheiden: Der Begriff „langage“ bezeichnet die universale Fähigkeit des Menschen, Sprache zu verwenden (auch: „Sprachkompetenz“). Unter „langue“ versteht man die Sprache als ein System von Einheiten, die untereinander in regelhaften Beziehungen stehen. Unter „parole“ schließlich versteht man den tatsächlichen Sprachgebrauch, d.h. konkrete sprachliche Äußerungen, das eigentliche „Sprechen“ (auch: Performanz).

A "Unser Nachbar hat die Sprache verloren."

B "Sie kann sich in über sieben Sprachen verständigen."

C "In dieser Sprache spricht man nicht mit seinem Vater"

D "Er verrät sich durch seine Körpersprache."

E "In welcher Sprache ist der Computer programmiert."

F "Diese Bilder sprechen eine deutliche Sprache."

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Langage = Sprachfähigkeit / Kompetenz: Die universale für alle Menschen kennzeichnende Fähigkeit zu sprechen.

Langue = Sprachsystem: Die jeder einzelnen Sprache zugrunde liegenden Regeln, die für alle Sprecher einer Sprache bindend sind. Diese unterscheiden sich jedoch von Sprache zu Sprache. Die langue ist daher einzelsprachlich verschieden aber überindividuell.

Parole = Sprachgebrauch / konkrete Sprechäußerung / Performanz: Das, was wir tatsächlich sprechen und schreiben bzw. zu hören und zu lesen kriegen (Laute, Texte). Diese sind individuell von Person zu Person verschieden und können auch von Situation zu Situation wechseln.

Abb. 1: Die drei Bedeutungen von Sprache Die Unterscheidung langue – parole geht auf Ferdinand de Saussure zurück, den Begründer der sprachwissenschaftlichen Richtung des Strukturalismus (Anfang des 20. Jahrhunderts). Die Unterscheidng zwischen Kompetenz und Performanz stammt von Noam Chomsky, dem Begründer des Generativismus in den 1950er Jahren. (vgl. Ernst 2004: 51) Womit beschäftigt sich nun eigentlich die Linguistik? Linguistik im weitesten Sinne beschäftigt sich mit allen drei oben skizzierten Bedeutungen von Sprache, allerdings sind nicht alle dem "Kernbereich" der Linguistik zuzurechnen. Einige Fragestellungen grenzen an Untersuchungsgebiete anderer Wissenschaften und überschneiden sich mit diesen. Man nennt diese Teilbereiche der Linguistik "Bindestrichlinguistik", da sie in den Bereich von anderen Wissenschaften übergreifen. Mit der Fähigkeit zu sprechen beschäftigen sich Bereiche der Linguistik, die die körperlichen (physiologischen und neurologischen) und geistigen (psychologischen und kognitiven) Voraussetzungen für das Beherrschen von Sprache untersuchen. Diese sind an der Grenze zur Neurophysiologie, zur Gehirnforschung, zur Kognitionswissenschaft und zur Psychologie angesiedelt. Diese linguistischen Teildisziplinen nennen sich daher Neurolinguistik, kognitive Linguistik,

SPRACHE

LANGAGE

Sprachfähigkeit

KOMPETENZ

universal

LANGUE

Sprachsystem

einzelsprachlich überindividuell

PAROLE

Sprachgebrauch „Sprechen“

PERFORMANZ

situationsabhängig individuell

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Psycholinguistik, usw. Hierher gehört etwa auch die Spracherwerbsforschung, die erforscht, wie Kinder sprechen lernen, aber auch Erwachsene etwa beim Erlernen einer Fremdsprache. Praktische Anwendungen dieser Gebiete sind etwa die Logopädie, die Sprachlehr- und Sprachlernforschung und die Sprachdidaktik, die beim Fremdsprachenunterricht Verwendung finden. Die Beschäftigung mit der tatsächlichen Verwendung von Sprache und ihrem Zusammenhang mit der kulturellen und sozialen Umgebung ihrer Verwender bildet den Übergang von der Linguistik zu Fächern wie Soziologie, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Politologie u.a. Die Soziolinguistik beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft. Sie untersucht den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Sprachgebrauch. Zur Soziolinguistik gehört u.a. auch die Dialektologie. Daneben untersucht die Soziolinguistik auch, wie sich der Sprachgebrauch in verschiedenen Sprechsituationen und -anlässen ändert. Hierin bildet sie auch den Übergang zur linguistischen Pragmatik, die die Bedingungen für das Gelingen von sprachlichen Handlungen (Sprechakten) untersucht. Ein relativ junger Zweig der Sprachwissenschaft ist die Diskursanalyse, die versucht, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Diskurs und Sprachgebrauch zu erklären und dabei Phänomene wie sprachliche Diskriminierung, den Zusammenhang zwischen Sprache und Macht, etc. untersucht. Praktische Anwendung dieser linguistischen Teildisziplinen sind etwa die Stilistik, die Sprachberatung, die Rhetorik, aber auch Sprachpflege und Sprachpolitik. Die Untersuchung des Sprachsystems schließlich stellt den eigentlichen Kernbereich der Linguistik dar. Hier spricht man daher von der Linguistik im engeren Sinne oder von „Systemlinguistik“ (in etwa das, was man gemeinhin mit dem Begriff "Grammatik" verbindet). Sie versucht zu erklären, wie Sprache eigentlich funktioniert. Dazu untersucht sie die systematischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen der Sprache: Welche Gesetzmäßigkeiten müssen zwischen diesen bestehen, damit Sprache ihren Zweck, als Mittel der Kommunikation zu dienen, überhaupt erfüllen kann. Dabei blendet die Systemlinguistik alle außersprachlichen Elemente aus und betrachtet Sprache als eine abstrakte Struktur. Dies geschieht jedoch nicht, weil die Existenz außersprachlicher Faktoren von der Systemlinguisitk geleugnet würde, sondern weil sich ihr Erkenntnisinteresse in erster Linie auf diese innersprachlichen Gesetzmäßigkeiten richtet. Die Kenntnis dieser regelmäßigen Beziehungen innerhalb der Sprache ist die Voraussetzung, um alle anderen Bereiche adäquat beschreiben zu können.

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2. Kommunikationsmodelle Kommen wir nun zur zweiten Frage: „Wozu dient Sprache? Welches sind ihre Funktionen?“ Die wichtigste Funktion der Sprache ist die kommunikative Funktion, d.h. die Funktion, Nachrichten zu übermitteln. Sprache ist ein Mittel, mit dessen Hilfe Kommunikation möglich wird, jedoch nicht das einzige. Es existieren auch nichtsprachliche Mittel der Kommunikation (man denke etwa an Piktogramme, Verkehrszeichen, Gesten, usw.) Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich daher nicht nur mit Sprache sondern auch mit nichtsprachlicher Kommunikation (Film, Bild, Körpersprache, nichtsprachliche Lautäußerungen etc.). 2.1 Bestandteile des Kommunikationsaktes Sehen wir uns zunächst einige einfache Modelle der Kommunikation im Allgemeinen an: Welche Einheiten sind an einem Kommunikationsakt beteiligt? Dies sind zum einen die Kommunikationsteilnehmer (Sender und Empfänger), eine Verbindung zwischen beiden (Kanal, Signal, Medium), die zu übermittelnde Nachricht und ein gemeinsamer Kode.

Abb. 2: Modell der Sprachlichen Kommunikation, nach: Herrlitz, in Funk-Kolleg(1973): 45f. bearbeitet.

Kommunikationsteilnehmer: An einem Kommunikationsakt sind immer mindestens zwei Individuen beteiligt. (Selbstgespräche sind daher also keine Kommunikation): Der Sender: Er setzt die vorsprachliche Information in sprachliche Form um (= Encodieren) und schickt sie auf den Weg zum Empfänger. Der Empfänger: Er nimmt die sprachliche Äußerung wahr und verarbeitet sie, d.h. er setzt das sprachliche Signal wieder in nichtsprachliche Information um (= Decodieren) und reagiert darauf. Diese Reaktion kann wiederum in einem Kommunikationsakt bestehen. Daher ist klar, dass die Rollen von Sender und Empfänger prinzipiell zwischen den beiden Kommunikationsteilnehmern wechseln können.

Quelle vorsprachliche Information

Verarbeitung nachsprachliche Reaktion

Sender Encodieren

Empfänger Decodieren

SIGNAL

KANAL

KODE

Nachricht sachlicher Kommunikationsinhalt

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Nachricht (auch: Message, Botschaft, Inhalt): Die Nachricht ist der sachliche Gegenstand der Kommunikation, die zu übermittelnde Information, das, was kommuniziert werden soll. Sie wird auch als Denotat (denotative Bedeutung) bezeichnet. Dieses ist zunächst außersprachlich, d.h. es existiert unabhängig von der sprachlichen Umsetzung. Kanal: Der Kanal verbindet Sender und Empfänger. Damit Sender und Empfänger Nachrichten austauschen können, muss zwischen beiden eine materielle Verbindung bestehen. Diese kann unterschiedlicher Art sein: Sie kann aus Schallwellen, Funkwellen, Lichtwellen, einer elektronischen Verbindung, einem Seil, usw. bestehen. Signal: Das Signal ist eine materielle Veränderung des Kanals. Damit über den Kanal Nachrichten gesendet werden können, muss dieser veränderbar sein, d.h. er muss verschiedene Zustände zulassen. Die verschiedenen materiellen Zustände des Kanals bezeichnet man als Signal, d.h. die charakteristischen Veränderung der Schallwellen, der Lichtwellen, der Seilspannung, usw. Medium: Das Medium ist eine bestimmte konventionalisierte Form von Signalen: man unterscheidet grundsätzlich zwischen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsmedien. Diese können weiter unterteilt werden in direktes persönliches Gespräch, Telefongespräch, Briefverkehr, E-mail, Radio, Fernsehen, Printmedien, Internet usw. Kode: Ein Kode ist ein Vorrat an Zeichen, über den sowohl Sender als auch Empfänger verfügen müssen, um Information austauschen zu können. Jedes Zeichen ist eine konventionalisierte Verbindung eines Signals (Ausdruck) mit einem Teil der Nachricht (Inhalt). Der Kode legt also fest, welche Bedeutung die materiellen Veränderungen des Kanals haben, z.B. bestimmte Kombinationen von Lauten, eine Abfolge von Lichtblitzen, eine Kolonne von Einsen und Nullen, Straffung und Lockerung des Seils. Daneben ist zu berücksichtigen, dass jede Kommunikation in einem bestimmten (situativen, sozialen und kulturellen) Kontext stattfindet, dass beide Kommunikationsteilnehmer über ihren je eigenen Erfahrungshintergrund (Sprachwissen, Weltwissen, Situationswissen etc.) verfügen. Dies bedingt Konnotat: Das Konnotat ist die über die sachliche Nachricht hinausgehende Information. Im Gegensatz zum überindividuellen Inhalt des Denotats, ist das Konnotat vom Erfahrungshintergrund und vom Weltwissen der Kommunikationsteilnehmer abhängig. Meist verknüpfen die Kommunikationsteilnehmer mit den verwendeten Zeichen auch individuelle Bedeutungen (Erfahrungen, Empfindungen). Diese mit Zeichen verbundenen nichtkonventionalisierten Assoziationen, die nennt man Konnotationen.

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Kontakt: Unter Kontakt versteht man die (meist nicht explizit gemachte) soziale Komponente der Kommunikation, die aus dem sozialen und emotionalen Verhältnis der beiden Kommunikationspartner zueinander besteht (etwa ob sie einander bekannt oder unbekannt, sympathisch oder unsympathisch sind, ob sie gleichberechtigt sind oder in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, ob die Situation der Kommunikation symmetrisch oder asymmetrisch ist usw.). Kontext: Der Kontext ist die konkrete Situation, in der der Kommunikationsakt stattfindet. Der Kontext bezieht alle Arten von Umständen ein, die den Kommunikationsprozess beeinflussen können, die Konsituation (wie Störungen des Kanals, physische und psychische Voraussetzung der Kommunikationsteilnehmer, wie Müdigkeit, Unkonzentiertheit, Nervosität) aber auch das Vorher und Nachher der Kommunikation (den sogenannten Ko-Text). 2.2 Kommunikative Funktionen Die Äußerung kann mit allen am Kommunikationsakt beteiligten Sphären in Beziehung stehen, oft sogar mit mehreren gleichzeitig. Man unterscheidet demnach verschiedene Äußerungsfunktionen. Diese sind in jeder Äußerung gleichzeitig präsent, können jedoch unterschiedlich gewichtet sein. Die drei grundlegenden Funktionen sprachlicher Äußerungen können sein:

• sachlicher Art (Mitteilung, Information): Sie betreffen die Beziehung Zeichen – Kontext = Darstellungsfunktion bei Bühler, = referentielle Funktion bei Jakobson

• expressiver Art (Emotionen, Gedanken): Sie betreffen die Beziehung Zeichen – Sender = Ausdrucksfunktion bei Bühler, = emotive Funktion bei Jakobson.

• appellativer Art (Wünsche, Aufforderungen): Sie betreffen die Beziehung Zeichen – Empfänger = Appellfunktion bei Bühler, = konative Funktion bei Jakobson.

Abb. 3: Das Bühler’sche Organonmodell, nach: Bühler (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache.

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Im Modell von Jakobson kommen daneben noch 3 weitere Funktionen vor:

• die phatische Funktion: betrifft die Beziehung Zeichen – Kontakt und dient der Aufrechterhaltung der Kommunikation als solches. Phatische Äußerungen thematisieren somit das Stattfindens von Kommunikation selbst. (z.B. Äußerungen vom Typ „Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit“)

• die metasprachliche Funktion: betrifft die Beziehung Zeichen – Kode und dient der Verständigung über die Bedeutung der verwendeten Zeichen. Metasprachliche Äußerungen thematisieren so den Inhalt sprachlicher Zeichen.

• die ästhetische (auch: poetische) Funktion: betrifft die Beziehung Zeichen – Mitteilung. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise des sprachlichen Ausdrucks und ist damit laut Jakobson selbstreferentiell, d.h. das Zeichen thematisiert sich selbst und die Art seiner materiellen Beschaffenheit.

Abb. 4: Erweiterung des Bühlerschen Modells; nach: Roman Jakobson (1960): Linguistik und Poetik Weitere Funktionen von Sprache Neben der kommunikativen Funktion erfüllt Sprache daneben auch andere Funktionen: So dient sie als Medium, in dem Wissen erworben und gespeichert wird. Durch Sprache wird das Verstehen und Verarbeiten von Information erst ermöglicht. Sprache erfüllt also eine wichtige Funktion im menschlichen Denken, hat also eine kognitive (epistemische) Funktion. Im gesellschaftlichen Zusammenhang ist Sprache ein wichtiger Faktor für die Selbstdefinition und Identitätsbildung von Individuen. Die Verwendung der eigenen Sprache ist bis zu einem gewissen Sinne auch ein menschliches Grundrecht. Sprache hat in diesem Sinne auch eine wichtige symbolische und politische Funktion.

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3. Das sprachliche Zeichen 3.1 Zeichenmodelle Wir haben den Kode als einen Vorrat an Zeichen definiert, über den sowohl Sender als auch Empfänger verfügen müssen, um kommunizieren zu können. Sehen wir uns nun den Begriff des Zeichens näher an. Mit den Zeichen (auch nichtsprachlichen) beschäftigt sich eine eigene Wissenschaft, die Semiotik. In der Semiotik versteht man unter einem Zeichen die Verbindung eines Signals (Ausdruck) mit einem Teil der Nachricht (Inhalt). Jedes Zeichen vereinigt also zwei Seiten in sich: eine Ausdrucksseite und eine Inhaltsseite. Der Ausdruck ist die materielle Seite des Zeichens und hängt vom jeweiligen Kanal ab: er kann optischer, akustischer oder auch anderer Art sein (etwa in der Art der Seilspannung bestehen). Beim sprachlichen Zeichen ist der Ausdruck stets eine Lautverbindung, etwa die Kombination der Laute [b]-[a]-[u]-[m]. Dies gilt auch beim schriftlichen Gebrauch der Sprache: bei Lautschriften steht die optische Form stellvertretend für eine Kombination von Lauten. Diese Laute wiederum sind mit Bedeutung verbunden. Eine direkte Verbindung von optischem Signal und Bedeutung (etwa eine rote Ampel) ist daher kein sprachliches Zeichen. Doch auch eine bestimmte Folge von gesprochenen Lauten allein ist für sich betrachtet noch kein "Zeichen". Dazu wird sie erst, wenn ihr eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist, hier mit dem Inhalt „Baum“. Der Inhalt ist die immaterielle Seite des Zeichens, sein Bedeutungsgehalt. Die sprachliche Bedeutung besteht aus einer gedanklichen Vorstellung: mit der Lautverbindung [b-a-u-m] ist also nicht notwendigerweise ein bestimmter Baum gemeint, sondern u.U. alle Bäume bzw. nur das gedankliche Konzept „Baum“ im allgemeinen.

Abb. 5: Die zwei Seiten des sprachlichen Zeichens

Ausdruck

(materiell)Bezeichnendes

Signifikantsignifié

ZeichenträgerLautkörper

[ b – a – u – m ]

Inhalt

(immateriell) Bezeichnetes Signifikat signifiant Bedeutungsgehalt Konzept

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Wenn der Sprecher jedoch über einen ganz bestimmten Baum in der Wirklichkeit spricht, kommt noch eine dritte Seite des Zeichens hinzu. Dies ist die tatsächliche Entsprechung der gedanklichen Vorstellung in der außersprachlichen Realität, auf die sich das Zeichen bezieht. Diese Beziehung zwischen Zeichen und außersprachlicher Realität nennt man Referenz. Das Zeichen „referiert“ auf etwas in der Wirklichkeit. Die Entsprechung des sprachlichen Inhalts in der Wirklichkeit nennt man daher auch den Referenten. Die drei Seiten des Zeichens: sprachlicher Ausdruck, sprachlicher Inhalt und Referent bilden das semiotische Dreieck.

Abb. 6: Das semiotische Dreieck 3.2 Drei Arten von Zeichen Die Verbindung zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite des Zeichens kann unterschiedlicher Art sein. Auf der Grundlage dieser Beziehung unterscheidet Peirce drei Arten von Zeichen:

• Ikonische Zeichen: Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt beruht auf äußerer Ähnlichkeit. Der Ausdruck bildet den Inhalt ab, er macht eine Kopie der außersprachlichen Realität. Diese Art der Verbindung nennt man bildlich oder ikonisch.

• Indexikalische Zeichen: Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt beruht auf einer inneren Notwendigkeit: Der Ausdruck ist hier nicht Abbild sondern die notwendige Folge des Inhalts. Die äußere Form des Zeichens ist somit infolge ihres Inhalts entstanden, sie verweist daher auf ihn oder indiziert ihn.

• Symbolische Zeichen: Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt ist rein willkürlich festgelegt. Es besteht weder äußerliche Ähnlichkeit noch innere Notwendigkeit. Im Prinzip könnte daher für denselben Inhalt auch ein völlig anderer Ausdruck stehen.

Sprachlicher Ausdruck Sprachliche Bedeutung

Referent = Entsprechung in der außersprachlichen Realität

[ b – a – u – m ]

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Drei Arten von Zeichen (Charles S. Peirce)

Ikonisches Zeichen

Verbindung

Ausdruck –Inhalt:

Äußere Ähnlichkeit (Abbildhaftigkeit)

Indexikalisches Zeichen

Verbindung

Ausdruck –Inhalt:

Innere Notwendigkeit (Kausalität)

Symbolisches Zeichen

Verbindung

Ausdruck –Inhalt:

Willkürlich gewählt (Arbitrarität)

beruht auf Konvention

Die Verbindung zwischen beiden ist frei wählbar, d.h. arbiträr. Sender und Empfänger müssen aber diese Verbindung kennen, um miteinander kommunizieren zu können. Sie müssen sich also auf diese Verbindung geeinigt haben, die Verbindung ist daher konventionell. Zeichen, die auf diesem Prinzip beruhen, nennt man symbolische Zeichen (oder Symbole). Die überwiegende Mehrzahl der sprachlichen Zeichen beruht auf Konvention. Sprachliche Zeichen sind daher im semiotischen Sinne Symbole.

Abb. 7: Beispiele für ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3.3 Drei Dimensionen von Zeichen Das Zeichen kennt nach Morris drei Dimensionen:

• Die pragmatische Dimension tritt in der Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem Benutzer (Interpretant) auf. Pragmatik ist also der Bereich der Zeichenverwendung, die linguistische Pragmatik beschäftigt sich mit der Sprachverwendung.

• Die semantische Dimension betrifft das Verhältnis zwischen dem Zeichen

und seinem Designat (seinem Inhalt). Die Semantik ist also der Bereich, der sich mit dem Inhalt des sprachlichen Zeichens beschäftigt.

• Die syntaktische Dimension betrifft das Verhältnis von Zeichen zu anderen

Zeichen (Zeichenträgern). Die Syntax im weitesten Sinne ist also der Bereich der Verknüpfung von Zeichen.

Abb.8: Dimensionen des Zeichens, nach: Charles Morris (1938): Foundations of a Theory of Signs

Nach diesen 3 Dimensionen des Zeichens kann man auch die drei Hauptgebiete der Linguistik unterscheiden: Pragmatik, Semantik und Syntaktik.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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4. Teilgebiete der Linguistik 4.1 Teilgebiete der sprachlichen Bedeutung Pragmatik Vergleichen wir die Äußerungen "Darf ich dich etwas fragen, Herr Professor?" Oder die "Ich erkläre euch zu Mann und Frau" (wenn der Sprecher kein Priester oder Standesbeamter ist). Wir stellen fest, dass diese Äußerungen weder formal noch inhaltlich „falsch“ sind. Der Fehler besteht eher in der Äußerungssituation, in der inadäquaten Verwendung von Sprache. Die Äußerungen sind daher nicht „falsch“ im grammatischen oder im semantischen Sinn, sondern "pragmatisch falsch", d.h. falsch gebraucht. Die Pragmatik beschäftigt sich also mit dem Zusammenhang von Sprache und Äußerungssituation. Ein und dieselbe Äußerung kann in einer Situation angebracht ("richtig") sein, in einer anderen Situation nicht. Dieser Zusammenhang ist aber nicht willkürlich, sondern unterliegt auch bestimmten Regeln. (Regeln für Höflichkeit, Sprecherwechsel, Rückfragen, Glückensbedingungen für Sprechakte etc.…). Semantik Betrachten wir Äußerungen wie Chomskys berühmten Satz Colourful green ideas sleep furiously oder das Gedicht Dunkel war's, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr, so stellen wir fest, dass auch hier „grammatisch“ betrachtet alles richtig ist, sofern man unter Grammatik nur den sprachlichen Ausdruck versteht. Der Fehler besteht jedoch nicht im Ausdruck, sondern im Inhalt der sprachlichen Äußerung. Sie ist daher nicht "grammatisch falsch", sondern "semantisch falsch". Syntaktik: Lexikon und Grammatik Die syntaktische Dimension beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen den Zeichenträgern. Man unterscheidet zwei Arten von Beziehungen: paradigmatische und syntagmatische Beziehungen. Diese werden zwei Teilbereichen der Sprache zugeordnet: dem Lexikon und der Grammatik. Das Lexikon (der Wortschatz) enthält eine offene (unendliche) Menge von lexikalischen Einheiten. Einheiten des Wortschatzes stehen zueinander in paradigmatischer Beziehung. Es sind Einheiten, die in einem Satz gegeneinander ausgetauscht werden können, die an die selbe Stelle gesetzt werden können = Ersetzungsrelation. Mit dem Wortschatz der Sprache beschäftigt sich die Lexikologie. Die Grammatik enthält demgegenüber eine geschlossene (endliche) Menge von Regeln zum Aufbau, zur Veränderung und zur Verbindung dieser Einheiten. Die Grammatik stellt also zwischen den Einheiten des Wortschatzes eine syntagmatische Beziehung her: Verknüpfung von Einheiten zu einer Äußerung (einem Satz). = Verknüpfungsrelation.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Peter half die Bücher drucken Syntagma

Verknüpfung von Anna kam die Hefte holen Einheiten Das Kind sah eine Kerze brennen ↓ Paradigma Ersetzung von Einheiten

Abb.9: Syntagmatische und paradigmatische Relatinonen nach: Baumgärtner, Klaus – Fritz, Gerd, in: Funk-Kolleg (1973): 123.

4.2 Teilgebiete des sprachlichen Ausdrucks: Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax Sprachliche Einheiten und linguistische Beschreibungsebenen: Sprachliche Äußerungen sind in Bestandteile zerlegbar (= segmentierbar oder analysierbar). Durch Analyse oder Kombination dieser Bestandteile erhält man die jeweiligen linguistischen Beschreibungsebenen. Die kleinsten Einheiten erhält man durch Teilung (Analyse) von größeren Einheiten. Sie bilden die Mikroebene der linguistischen Beschreibung. Die größeren Einheiten erhält man durch Kombination von kleineren Einheiten. Sie befinden sich auf der Makroebene der linguistischen Beschreibung. Die Ebenen der sprachlichen Beschreibung im einzelnen sind: • Laut (Phon/Phonem): Der Sprachlaut ist die kleinste sprachliche Einheit und

nicht weiter zerlegbar, vereinigt in sich aber "Bündel" von Merkmalen, die ihn von anderen Lauten unterscheidbar machen.

• Morphem: Ein Morphem besteht aus (keinem), einem oder mehreren Lauten. • Wort: Ein Wort besteht aus einem oder mehreren Morphemen. • Satzglied (Syntagma): Ein Satzglied besteht aus einem oder mehreren Wörtern. • Satz: ein Satz besteht aus einem oder mehreren Satzgliedern. • Text: ein Text besteht aus einem oder mehreren Sätzen. • Diskurs: ein Diskurs besteht aus einem oder mehreren Texten. Teilgebiete der Sprachwissenschaft: Nach diesen Beschreibungsebenen werden die einzelnen Teilgebiete der Sprachwissenschaft (linguistische Teildisziplinen) eingeteilt. Sie beschäftigen sich mit den entsprechenden Bestandteilen der sprachlichen Äußerung: • Phonetik: beschäftigt sich mit den Lauten der Sprache, d.h. mit ihrer Erzeugung

(der Artikulation) und mit ihren physikalischen Eigenschaften • Phonologie: beschäftigt sich mit der Funktion der Laute im System der Sprache,

d.h. welche Lautunterschiede können Bedeutungsunterschiede nach sich ziehen • Morphologie (Formbildung, Wortbildung): beschäftigt sich mit den

Bestandteilen des Wortes und ihrer Funktion • Syntax: beschäftigt sich mit der Verbindung von Wörtern zu größeren Einheiten:

Wortverbindungen (Syntagmen) bis zur Ebene des Satzes. • Textlinguistik / Textsyntax: beschäftigt sich mit der Verbindung von Sätzen zu

größeren Einheiten (Satzverbindungen bis zur Ebene des Textes) • Diskursanalyse: beschäftigt sich mit der inhaltlichen und sprachlichen Analyse

gesellschaftlicher Diskurse

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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• Lexikologie: beschäftigt sich mit den regelmäßigen Beziehungen zwischen den Wörtern

• Lexikographie: Lehre von der Erstellung von Wörterbüchern • Semantik: Lehre von der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke (von Morphemen,

Wörtern, Sätzen) • Pragmatik: Lehre von der Beziehung der Sprache zum außersprachlichen

Kontext (Situation, soziales Umfeld, "Diskurs", "Sprechhandlung")

Abb. 10: Sprachliche Ebenen und Teilgebiete der Sprachwissenschaft, nach: Jana Kubišta, Holger Kuße.

Weiterführende Literatur: Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas, 2004.

Grundlagen: Der Mensch und seine Sprache. S. 11-58. Funk-Kolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Band I. Frankfurt a.

M.: Fischer, 1973. Teil I: Kommunikation und Sprache. S. 27-102. Geier, Manfred: Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek:

Rowohlt, 1998. Kubišta, Jana – Kuße, Holger: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slawisten.

Im Netz unter: http://www.tu-dresden.de/slk/slav0.htm Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto

Sagner, 1996. Vater, Heinz: Einführung in die Sprachwissenschaft.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Teil 1 B: Einteilung der slavischen Sprachen: 5. Einteilungskriterien für Sprachen

5.1. nach der Entstehung (natürliche und künstliche Sprachen) 5.2. nach der Vitalität (lebende und tote Sprachen) 5.3. typologische (strukturelle) Einteilung 5.4. geographische Einteilung

6. Historisch-genetische Einteilung 6.1. Sprachfamilien 6.2. Sprachzweige des Indoeuropäischen 6.3. Binnenklassifizierung der slavischen Sprachen

7. Funktionale Einteilung 7.1. Standardsprachen und Nichtstandardsprachen 7.2. Quantitative Einteilung 7.3. Verhältnis Sprachgebiet - Staatsgebiet

8. Grammatische Gemeinsamkeiten slavischer Sprachen

1. Einteilungskriterien für Sprachen Die slavische Sprachwissenschaft (Slavistik) beschäftigt sich nur mit einem bestimmten Ausschnitt von Einzelsprachen, die gemeinsame Abstammung aufweisen, also miteinander „verwandt“ sind und somit auch über eine Reihe gemeinsamer Merkmale verfügen. "Slavische" Sprachen sind also das Ergebnis einer Einteilung der Sprachen nach dem Kriterium der Verwandtschaft. Es gibt aber auch andere Kriterien, nach denen Sprachen eingeteilt werden können. Dazu zählen u.a.: • Nach der Art der Entstehung: natürliche vs. künstliche Sprachen: Natürliche

Sprachen haben sich im Laufe der Geschichte gewissermaßen selbstständig, weitgehend ohne planende Eingriffe entwickelt. Künstliche Sprachen dagegen sind willentlich geschaffene und geplante Sprachen (man spricht daher auch von Plansprachen). Kunstsprachen sind etwa Esperanto, Programmiersprachen wie Java, C++, aber auch für bestimmte Fächer geschaffene Notationen (etwa in der Mathematik in der Logik, Musik, Chemie, ...) Aber auch moderne Standardsprachen sind das Ergebnis von geplanten Eingriffen und daher bis zu einem gewissen Grad ebenfalls „künstlich“.

• Nach der aktuellen Verwendung: lebende vs. tote Sprachen: Lebende Sprachen werden in der Gegenwart von mindestens einem Menschen als Muttersprache gesprochen. Tote Sprachen können zwar noch im Gebrauch sein (zu bestimmten Funktionen, wie etwa in der Liturgie oder der Wissenschaft) werden aber im Alltag nicht mehr verwendet und sind niemandes Muttersprache. Zu den toten Sprachen zählen ausgestorbene Sprachen, wie Hethitisch, Awestisch, Gotisch, keltische Sprachen wie Cornish und Manx, im Bereich der slawischen Sprachen etwa das Elb- und Ostseeslavische (Polabisch, Slovinzisch,

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Polabisch), daneben aber auch die historischen Vorläufer der heutigen Standardsprachen, etwa Latein, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Altenglisch, bei den slawischen Sprachen Altkirchenslavisch, Altrussisch, Alttschechisch, Altpolnisch usw.

• Typologische (strukturelle) Einteilung: Die typologische oder strukturelle Einteilung teilt Sprachen nach der Art und Weise wie sie bestimmte, v.a. abstrakte grammatische Bedeutungen ausdrücken: sie teilt dabei die Sprachen der Welt in 3 große Haupttypen ein: o flektierende Sprachen: In flektierenden Sprachen verändern die Wörter ihre

Form, etwa durch das Anfügen von Endungen. Charakteristisch für flektierende Sprachen ist, dass Endungen meist mehrere grammatische Bedeutungen auf einmal ausdrücken (vgl. etwa -ам in russ. книгам: drückt Dativ + Plural aus; -m in tsch. vidím: drückt 1.Person + Singular + Präsens + Indikativ + Aktiv aus). Zu den flektierenden Sprachen gehören die meisten uns bekannten Sprachen, etwa Latein, Deutsch, und v.a. die slavischen Sprachen.

o agglutinierende Sprachen: Auch in den agglutinierenden Sprachen verändern die Wörter ihre Form, meist durch das Anhängen von Suffixen. Dabei entspricht jedoch jedes Suffix genau einer grammatischen Kategorie: vgl. etwa das Ungarische: ünnepeket „Feiertage (Akk.)“, wo -k- das Zeichen für den Plural darstellt, -t dagegen das Zeichen für Akkusativ. Agglutinierende Sprachen sind etwas das Ungarische oder das Türkische. Agglutinierende Elemente gibt es auch im Deutschen, etwa beim Dativ Plural, den Kindern, wo -er- den Plural anzeigt, -n den Dativ.

o isolierende Sprachen: In isolierenden Sprachen bleiben die Wörter unverändert, ihre Bedeutung erhalten sie erst im Satzzusammenhang. Isolierende Sprachen verfügen daher über grammatische Wörter, die nur zum Ausdruck grammatischer Kategorien dienen, etwa das engl. of für den Genitiv. Beispiele für isolierende Sprachen sind das Chinesisch, aber auch das Englische entwickelt sich durch den Verlust der Flexion in Richtung einer isolierenden Sprache.

o introflektivische / polysynthetische Sprachen: In introflektivischen Sprachen können sich die Wörter sehr stark verändern und drücken dadurch komplexe Sachverhalte wie etwa syntaktische Bezüge sehr kondensiert aus. Beispiele sind etwa die Sprachen der nordamerikanischen Indianer, aber auch in den indoeuropäischen Sprachen gibt es introflektivische Elemente, etwa Vokalwechsel im Stamm zum Ausdruck von Tempus und Modus (engl. sing, sang, sung; dt. gebe, gäbe, gab, gib).

• Daneben kann man Sprachen typologisch auch nach dem Vorkommen bestimmter grammatischer Erscheinungen klassifizieren, etwa nach dem Vorkommen einer bestimmten Wortart, wie Artikel (Artikelsprachen verfügen über die Wortart Artikel im Gegensatz zu artikellosen Sprachen) oder einer grammatischen Kategorie (Aspektsprachen drücken die Kategorie Aspekt grammatisch aus; Tempussprachen drücken die Kategorie Tempus grammatisch aus, usw.)

• Geographische Einteilung: • Nach geographischen Kriterien kann man Sprachen in benachbarte und entfernte

Sprachen einteilen. Mit der geographischen Verteilung von Sprachen beschäftigt sich die sog. Areallinguistik. Häufig ist dabei das Phänomen zu beobachten, dass benachbarte Sprachen sich gegenseitig beeinflussen und somit bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, obwohl sie genetisch nicht miteinander verwandt

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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sind. In diesem Fall spricht man von einem „Sprachbund“. Der bekannteste derartige Fall in Europa ist der sog. „Balkansprachbund“: zu ihm gehören Sprachen unterschiedlicher Abstammung wie, Rumänisch, Albanisch, Griechisch, Türkisch, Bulgarisch, Mazedonisch und einige ostserbische Dialekte, die durch jahrhundertelangen Sprachkontakt eine Reihe von typologischen Phänomenen gemeinsam haben (etwa einen nachgestellten Artikel, den Modus Narrativ u.a.)

In unserer Betrachtung der slavischen Sprachen wollen wir uns auf zwei Einteilungskriterien konzentrieren: auf die genetische Einteilung und die funktionale Einteilung. 2. Genetische (historische) Einteilung der Sprachen: 2.1 Sprachfamilien Diese Klassifikation folgt genetischen und historischen Kriterien, d.h. sie berücksichtigt die gemeinsame Abstammung und die geschichtliche Entwicklung von Sprachen. Sie gruppiert Sprachen also nach dem Grad ihrer Verwandtschaft zueinander. Man spricht daher von Sprachfamilien. Zu einer Familie gehören Sprachen, die sich historisch aus einer gemeinsamen Ursprache entwickelt haben. Innerhalb der Sprachfamilien kann man weiter in Sprachzweige und Sprachgruppen und schließlich in einzelne Sprachen teilen.

Doch auch innerhalb der heutigen Einzelsprachen kann man nach historischen Gesichtspunkten weiter unterteilen, in historisch verwandte Dialektgruppen und schließlich bis hin zu den einzelnen Dialekten.

Die slawischen Sprachen gehören zur Sprachfamilie des Indoeuropäischen (oder Indogermanischen). Diese Sprachen lassen sich auf eine gemeinsame Ursprache, das Indoeuropäische (oder Indogermanische) zurückführen. Da diese Sprache vorhistorisch ist, also nicht durch schrifltiche Denkmäler belegt ist, kann sie nur rekonstruiert werden, d.h. man schließt durch den Vergleich der heutigen Sprachen (oder ihrer historischen Vorläufer) auf die allen zugrunde liegende gemeinsame Ursprache zurück. Diese sprachwissenschaftliche Methode nennt man historisch-vergleichende Methode, die zugehörige Disziplin historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Sie war v.a. im 19. Jahrhundert die vorherrschende Richtung der Sprachwissenschaft, als man Sprache vorwiegend als das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung betrachtete und sich hauptsächlich für historische Fragestellungen interessierte. Nach dem historisch-genetischen Prinzip werden aber bis heute die philologischen Fächer Germanistik, Anglistik, Romanistik, Gräzistik, Slawistik, Keltistik, Baltistik usw. eingeteilt.

Neben der indoeuropäischen Sprachfamilie gibt es in Europa nur noch wenige Sprachen die anderen Sprachfamilien angehören.

• Finnisch, Ungarisch, Estnisch und einige kleinere Sprachen auf dem Territorium der russischen Föderation gehören zur uralischen (oder finno-ugrischen) Sprachfamilie.

• Türkisch gehört wie Turkmenisch, Aserbaidschanisch, Mongolisch zur altaischen Sprachfamilie (auch Turksprachen)

• Das Baskische bildet eine eigene Sprachfamilie. • Zur hamito-semitischen (afro-asiatischen) Sprachfamilie gehören u.a.

Hebräisch, Aramäisch, Arabisch, Ägyptisch, und Maltesisch. • Eine eigene Sprachfamilie bilden die kaukasischen Sprachen (u.a. Georgisch,

Tschetschenisch, Inguschisch, Abchasisch)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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• Eine Reihe von Sprachen in der Russischen Föderation gehören zur paläosibirischen Sprachfamilie (u.a. Tschuktschisch, Tschuwaschisch)

Die meisten Sprachfamilien sind jedoch außerhalb Europas verbreitet: u.a. die drawidischen Sprachen im Süden der indischen Halbinsel, austro-asiatische Sprachen, Tai-Sprachen, sino-tibetische Sprachen, nilo-saharische Sprachen, Niger-Kongo-Sprachen, indopazifische Sprachen, und verschiedene Sprachfamilien auf dem amerikansichen Kontinent (u.a. Indianersprachen)

Sprachfamilien in Europa

Quelle: Matthew Dryer, http://linguistics.buffalo.edu/people/faculty/dryer/dryer/map.europe.gif

Indoeuropäische Sprachfamilie Finno-ugrische (uralische) Sprachfamilie Altaische Sprachfamilie (Turksprachen) Baskisch Hemito-semitische Sprachfamilie

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2.2 Sprachzweige des Indoeuropäischen Innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie unterscheidet man die folgenden Sprachzweige: • Slavische Sprachen (siehe genauer nächste Seite )

• Baltische Sprachen: Litauisch, Lettisch (historisch: Altpreußisch)

• Germanische Sprachen: drei Untergruppen: o ostgermanisch: Gotisch (historisch) o nordgermanisch: skandinavische Sprachen:

Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch, Färöisch o westgermanisch:

Englisch, Deutsch, Niederländisch, Friesisch, Jiddisch, Afrikaans

• Keltische Sprachen: Irisch, Schottisch (Gälisch), Walisisch, Bretonisch (historisch: Manx und Kornisch)

• Italische (romanische) Sprachen: Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Rumänisch, Katalanisch, Galizisch, Sardisch, Korsisch, Okzitanisch, Rätoromanisch, Ladinisch (historisch: Latein, Dalmatinisch)

• Indo-iranische Sprachen: zwei große Gruppen: o indo-arische Sprachen mit über 500 Sprachen, darunter:

Hindi (Urdu), Pandschabi, Bengali, Singhalesisch, Romani (Sprache der Roma) (historisch: Sanskrit).

o iranische Sprachen: Persisch, Tadschikisch, Paschto, Ossetisch, Kurdisch; historisch: Awestisch

• Griechisch: bildet einen eigenen Zweig innerhalb des Indoeuropäischen; seit dem 14. Jh. v. Chr. belegt

• Albanisch: eigener Zweig innerhalb des Indoeuropäischen.

• Armenisch: die älteste bis heute gesprochene Schriftsprache

• Anatolische Sprachen: eine Gruppe ausgestorbener Sprachen, zu denen u.a. Hethitisch gehört, die Sprache, in der die ältesten bekannten indoeuropäischen Schriftbelege verfasst sind.

• Tocharisch: historische Sprache, die bis ca. 1000 n.Chr. in Chinesisch-Turkestan gesprochen. und erst um das Jahr 1890 wiederentdeckt wurde.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Indoeuroäische Sprachzweige in Europa

Quelle: Matthew Dryer, http://linguistics.buffalo.edu/people/faculty/dryer/dryer/map.euro.ie.GIF

Slavische Sprachen Germanische Sprachen Romanische Sprachen Keltische Sprachen Baltische Sprachen Griechisch Albanisch Nicht-indoeuropäische Sprachen

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2.3 Binnengliederung der slavischen Sprachen: Die slavischen Sprachen stellen einen eigenen Zweig innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie dar. Sie sind also mit den germanischen Sprachen "urverwandt". Innerhalb der indoeuropäischen Sprachen sind die slavischen am nächsten mit den baltischen Sprachen verwandt. Man nimmt an, dass es bei der Entwicklung vom Indogermanischen zum Urlavischen eine gemeinsame "baltoslawische" Entwicklungsstufe gab. Die älteste slawische Sprache ist das "Urslavische". Diese ist jedoch ebenfalls nicht schriftlich belegt, kann also ebenso wie das Indogermanische nur erschlossen (rekonstruiert) werden. Die älteste durch schriftliche Denkmäler belegte Sprache ist das Altkirchenslawische (oder Altbulgarische). Innerhalb der slavischen Sprachen werden 3 große Untergruppen unterschieden: • ostslavische Sprachen:

Die drei heutigen ostslavischen Standardsprachen sind: Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch (Belorussisch). Daneben gibt es einige kleinere ostslavische Sprachen: Westpolessisch wird im Grenzgebiet zwischen Weißrussland, der Ukraine und Polen gesprochen. Vom Russinischen existieren zwei räumlich getrennte Varianten: das Karpato-Russinisch oder Ruthenisch wird von einer Minderheit in der Westukraine, der Ostslowakei und im Nordosten Ungarns gesprochen, das Jugoslavo-Russinische ist ein sprachliche Minderheit im Norden Serbiens (in der Vojvodina).

• westslavische Sprachen: Die drei westslavischen Standardprachen sind: Polnisch, Tschechisch und Slovakisch. Zu den westslavischen Kleinschriftsprachen gehört Sorbisch im Osten Deutschlands, das zwei Sprachen bildet: Obersorbisch in der Lausitz rund um Bautzen, und Niedersorbisch im Spreewald nahe Cottbus. Daneben kann auch das an der Ostsee in der Gegend von Danzig gesprochene Kaschubische als eigene Sprachen gelten, obwohl es Tendenen zeigt, den Status eines polnischen Dialekts anzunehmen. Ausgestorbene westslavische Sprachen sind das sogenannte Elb- und Ostseeslavisch: Polabischan der Elbe im heutigen Wendland, Pomoranisch in Pommern und Slovinzisch südlich von Danzig.

• südslavische Sprachen: Zu den südslavischen Standardsprachen zählen heute Bulgarisch, Slovenisch, Mazedonisch, sowie die drei Nachfolgesprachen, des Serbokroatischen: Serbisch, Kroatisch und Bosnisch, die sich erst seit ca. 15 Jahren zu eigenständigen Standardsprachen entwickeln. Daneben gibt es außerhalb des slavischsprachigen Territoriums eine Reihe von südslavischen Kleinschriftsprachen. Dazu gehören das Burgenländer Kroatisch und das Kärntner Slovenisch in Österreich, auf dem Gebiet Italiens das Resianische in Friaul und das Moliseslavische in Süditalien, sowie das Banater Bulgarische in Rumänien. Die wichtigste historische südslavische Sprache ist Altkirchenslavisch (oft auch als Altbulgarisch bezeichnet), die slavische Sprache, die als erste schriftlich fixiert wurde und für die ein eigenes slavisches Alphabet geschaffen wurde. Sie wurde v.a. im byzanthinisch-orthodoxen Raum jahrhundertelang in der Liturgie weiterverwendet und übte großen Einfluss auf die Entwicklung auch der anderen slavischen Sprachen aus.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Die slavischen Sprachen (Einteilung nach: Reder (Hg.) 1993)

Ostslavische Sprachen Westslavische Sprachen Südslavische Sprachen Slavische Standardsprachen Slavische Kleinschriftsprachen (Mikroliteratursprachen)

Russisch

Weißrussisch

Ukrainisch

Polnisch

Tschechisch

Slovakisch

Slovenisch

Kroatisch

Bosnisch Serbisch

Bulgarisch

Makedonisch

Kaschubisch

Westpolessisch

Karpato-Russinisch / Ruthenisch

Niedersorbisch

Obersorbisch

Burgenländer Kroatisch

Resianisch Banater Bulgarisch

Moliseslawisch

Jugoslavo-Russinisch

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3. Funktionale Einteilung: Nach funktionalen Kriterien werden Sprachen klassifiziert, je nachdem welche kommunikationen Funktionen sie in den staatlichen Gebilden, in denen sie gesprochen werden, erfüllen können Die wichtigste Unterscheidungen ist die zwischen Standardsprachen und Nichtstandardsprachen. Unter Standardsprachen versteht man voll funktionsfähige, „ausgebaute“ Sprachen (andere Begriffe sind Hochsprache, Schriftsprache, Literatursprache). Standardsprachen verfügen über eine festgelgte Form ihrer schriftlichen Wiedergabe, sie sind in Schreibung und Aussprache normiert und können in wichtigen offiziellen Funktionen verwendet werden (z.B. für Verträge, Gesetzestexte, in der Wissenschaft, der Literatur, in den Massenmedien, usw.). Als Standardsprachen sind heute die in der Karte auf S. 8 fett gedruckten 12 slavischen Sprachen anerkannt. Sie können heute in den Ländern, in denen sie gesprochen werden, offizielle Funktionen übernehmen, sind offiziell als Staatssprache anerkannt, bzw. als Amtssprache zugelassen. Daneben gibt es jedoch eine Reihe von slavischen Sprachen, für die zwar eine schriftliche Form existiert, die jedoch nicht in der Funktion von Staats- oder Amtssprachen gebraucht werden, sondern die lediglich von Minderheiten auf dem Territorium anderer Sprachen gebraucht werden. Sie werden daher als Kleinschriftsprachen (oder Mikroliteratursprachen) bezeichnet. Daneben gibt es eine Gruppe von Sprachen, die in ihrer Geschichte eine gewisse sprachliche Eigenständigkeit, z.T. sogar eine schritliche Tradition aufwiesen, diese mittlerweile jedoch verloren haben und daher heute nur noch als Dialekte der sie umgebenden Standardsprachen betrachtet werden können. Dazu zählen das Schlesische (oder Lachische), das heute ein polnischer Dialekt ist, das Prekmurische im Osten Sloweniens, sowie die kroatischen Dialekte Kajkavisch (im Norden Kroatiens um Zagreb) und Čakavisch (an der dalmatinischen Küste), die früher eigene Schriftsprachen darstellten. Schließlich gibt es die bereits erwähnten ausgestorbenen und historischen Sprachen. Quantitative Einteilung: Man kann Sprachen nach der Zahl ihrer Sprecher einteilen und gelangt so zu einer Reihenfolge der am meisten gesprochenen Sprachen. Dabei kann man noch einmal unterscheiden zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Sprechern. Tabelle der slavischen Standardsprachen nach Sprecherzahl: (ungefähre Angaben lt. Rehder 1993)

1. Russisch ca. 150,0 Millionen2. Ukrainisch ca. 40 Millionen3. Polnisch ca. 38 Millionen4. Serbisch ca. 12 Millionen5. Tschechisch ca. 10,5 Millionen6. Bulgarisch ca. 9 Millionen7. Weißrussisch ca. 7,9 Milliondn8. Slovakisch ca. 5 Millionen9. Kroatisch ca. 4,7 Millionen10. Slovenisch ca. 2,2 Millionen11. Makedonisch ca. 2 Millionen12. Bosnisch keine Angaben

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Slavische Sprachen

Ostslavische Sprachen

Westslavische Sprachen

Südslavische Sprachen

Russisch Ukrainisch

Weißrussisch

Polnisch Tschechisch Slovakisch

Slovenisch Kroatisch Bosnisch Serbisch

Makedonisch Bulgarisch

Obersorbisch Niedersorbisch Kaschubisch

Standardsprachen

Lachisch (Schlesisch)

Drawäno-Polabisch Pomoranisch Slovinzisch

Resianisch Moliseslavisch

Burgenländisch-KroatischBanater Bulgarisch

Prekmurisch Kajkavisch Čakavisch

Bessarabisches Bulgarisch

Altkirchenslavisch

Jugoslavo-Rusinisch Karpato-Rusinisch

(Ruthenisch) Westpolessisch

Lipovenisch

Kleinschriftsprachen (Mikroliteratursprachen)

nicht mehr selbständige Sprachen (heute Dialekte)

Historische (ausgestorbene) Sprachen

Slavische Standard- und Kleinschriftsprachen (nach Rehder: 1993)

Eine Kombination der geografischen und funktionalen Einteilung der slavischen Sprachen ergibt in etwa das folgende Bild:

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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4. Verhältnis Staatsgebiet / Sprachgebiet: Das Verhältnis von Sprachgebiet (geographische Verbreitung der Sprache) und Staatsgebiet (Grenzen des Staates, innerhalb dessen die Sprache gesprochen wird) sind nicht immer deckungsgleich. Je nach Art des Verhältnisses kann man folgende Formen annehmen: o "Nationalsprachen": Sprachen, die von der überwiegenden Mehrheit der

Einwohner eines Staates gesprochen werden: Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Slowenisch, Bulgarisch, Makedonisch

o Status als eigene Sprache ungeklärt: lange Zeit im Falle des Makedonischen, das als Dialekt des Bulgarischen betrachtet wurde. Derzeit ist der Übergang des Bosnischen, Kroatischen und Serbischen von regionale Varianten des Serbokroatischen hin zu eigenen Standardsprachen zu beobachten. Die umgekehrte Entwicklung ist beim Weißrussischen zu beobachten, dessen standardsprachlicher Charakter aufgrund des starken Einflusses des Russischen sowie aufgrund von Kontrastmangel mehr und mehr gefährdet erscheint.

o Einige slavischer Sprachen sind "Minderheitensprachen" (Sorbisch, Kaschubisch, Polessisch, Russinisch, Burgenländer Kroatisch, Resianisch), d.h. sie werden innerhalb eines mehrheitlich anderssprachigen Staatsgebiets gesprochen

o Einige slavischsprachige Länder haben auf dem eigenen Staatsgebiet eine beträchtliche Anzahl von Sprechern anderer Sprachen. Dies sind v.a. die zahlreichen sprachlichen Minderheiten im staatlichen Territiorium der Russischen Föderation, daneben gibt es albanische Minderheiten in Serbien und Mazedonien; Roma in Tschechien und der Slowakei; Ungarn in der Slowakei; z.T. auch Sprecher anderer slawischer Sprachen: russisch Sprechende in der Ukraine und Weißrussland, Kaschuben in Polen, Slovaken und Rusinen in der Vojvodina, u.a.

o Schließlich kann sich das Sprachgebiet einer Sprache auch über das staatliche Territorium hinaus erstrecken. Das der Fall bei der russischsprechenden Bevölkerung in ehemaligen Sowjetrepubliken (in der Ukraine, Weißrussland und in den balitschen Staaten), aber auch im Falle von Auswanderern, in Westeuropa (russischsprachige Minderheiten in Deutschland, jugoslawische Gastarbeiter in Deutschland und Österreich, slowenische und kroatische Minderheiten in Österreich, tschechische Exilanten etc.) und Nordamerika (große russisch-, tschechisch- und polnischsprachige Communities in den USA und Kanada).

5. Grammatische Gemeinsamkeiten slawischer Sprachen Aufgrund ihrer genetischen Verwandtschaft weisen die slavischen Sprachen auf verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen charakteristische Gemeinsamkeiten auf, die wir im folgenden kurz skizzieren wollen(nach Comrie/Corbett). Auf Einzelheiten wird in den Kapiteln zu den jeweiligen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen näher eingegangen. • Lautlehre:

Auf lautlicher Ebene ist für die slavischen Sprachen v.a. das Vorhandensein sogenannter "weicher" d.h. palataler Konsonanten. Oft ist die Unterscheidung von weichen (palatalen) und harten (nichtpalatalen) Konsonanten bedeutungsunterscheidend. Am konsequentesten ausgebaut ist diese Opposition im Russischen.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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• Regelmäßige Lautwechsel: Auch im Bereich der regelmäßigen (morphonoloigschen) Lautwechsel weisen die slavischen Sprachen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Häufig sind hier v.a. Konsonantenwechsel, die bei der Bildung von Wortformen ebenso wie bei der Ableitung neuer Wörter auftreten (bedingt meist durch historische Palatalisierungen), vgl. tsch.: kniha-knize; russ. крик – кричать; polnisch: ręka – rączka.

• Grammatische Morphologie: Die meisten slavischen Sprachen verfügen über großen Formenreichtum der einzelnen Wortarten. Sie gelten daher als stark flektierende Sprachen, d.h. sie besitzen viele unterschiedliche grammatische Formen für ein Wort. Dieser Formenreichtum ist aus dem Indoeuropäischen ererbt, die slavischen Sprachen haben ihn weitgehend beibehalten und gelten daher als konservierende Sprachen. Der Formenreichtum wirkt sich in der Vielzahl an Kasusendungen aus (Ausnahmen sind Bulgarisch und Mazedonisch), aber auch in der Vielzahl von Deklinations- und Konjugationsklassen. Die slavischen Sprachen gehören dabei weitgehend dem flektierenden Sprachtyp an, d.h. die Endung drückt mehrere grammatische Kategorien aus.

• Grammatische Kategorien: Im Bereich der grammatischen Kategorien verfügen die slavischen Sprachen gegenüber dem Deutschen über zwei Besdonderheiten: o Nominale Kategorie der Belebtheit: Die slavischen Sprachen weisen einen

unterschiedlicher Formenbestand bei Bezeichnungen für Lebewesen und unbelebte Gegenstände auf.

o Verbale Kategorie des Aspekts: Alle slavische Sprachen kennen verschiedene Wörter (Wortformen) zur Unterscheidung von zeitlicher Begrenztheit und Unbegrenztheit der Handlung.

• Satzbau: o Starke Kongruenz zwischen den Satzgliedern: die Form der Wörter zeigt die

Zusammengehörigkeit von Attribut und zugehörigem Substantiv und von Prädikat und Subjekt an. Als Folge davon können im Tschechischen und Polnischen die Personalpronomen, wenn sie nicht besonders betont sind, weggelassen werden (pro-drop), im Russischen kann dagegen die Kopula (das Verb „sein“) wegfallen.

o Freie Wortstellung: Die Wortstellung ist in den slavischen Sprachen weitgehend frei, d.h. sie drückt keine syntaktischen Bezüge zwischen den Wörtern aus (wie etwa die feste Wortstellung des Englischen), sondern ist von anderen Faktoren (wie Fokussierung, Thematik) bestimmt.

Weiterführende Literatur: Comrie, Bernard; Corbett, Greville G. [Hg.]: The Slavonic Languages. London - New

York: Routledge, 1993. Rehder, Peter [Hg.]: Einführung in die slavischen Sprachen. Darmstadt:

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998 . Panzer, Baldur: Die slavischen Sprachen in Gegenwart und Geschichte. Frankfurt

a.M.: Peter Lang, 1991. Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto

Sagner, 1996.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

34

Skriptum Teil 2 A: Phonetik 1. Phonetik und Phonologie 2. Teilgebiete der Phonetik 3. Artikulationsorgane 4. Einteilung der Laute: Vokale und Konsonanten 5. Einteilung der Vokale

5.1. Inhärente Merkmale: Vokaldreieck, Labialisierung, Nasalität, Diphthongierung

5.2. Suprasegmentale Merkmale: Quantität, Intonation und Betonung 6. Einteilung der Konsonanten

6.1. Artikulationsstelle und -modus 6.2. Stimmton und Palatalisierung

1. Phonetik und Phonologie Gegenstand von Phonetik und Phonologie sind die Sprachlaute. Sie sind die kleinsten Einheiten der Sprache und nicht mehr weiter in Untereinheiten zerlegbar. Sie sind aber als Bündel von Merkmalen beschreibbar, mittels derer sie sich von einander unterscheiden. Mit den Sprachlauten beschäftigen sich zwei linguistische Disziplinen: Phonetik und Phonologie. Worin besteht der Unterschied zwischen beiden? In Teil 1 A haben wir zwischen zwei Bedeutungen von "Sprache" unterschieden: Sprache als System (langue) und Sprache als konkreter Äußerung in einer bestimmten Situation (parole). Grob gesprochen kann man sagen, dass sich die Phonetik mit den Lauten der parole beschäftigt, die Phonologie mit den Lauten der langue. Wir können sprachliche Laute unter zweierlei Gesichtspunkten betrachten: einmal im Hinblick auf ihre „realen" lautlichen Eigenschaften, einmal im Hinblick auf ihre "sprachlichen" Eigenschaften. Sprachlaute haben also einen "realen" und einen "systemischen" Charakter. Die Laute als reale (physikalische / akustische) Phänomene nennen wir Phone, die Laute als Einheiten im Sprachsystem Phoneme. Als Phoneme gelten Laute nur, wenn sie im Sprachsystem bei der Unterscheidung von Bedeutungen eine Rolle spielen. Nicht alle Phone haben aber im Sprachsystem auch tatsächlich diese Funktion (siehe dazu genauer Teil 3 A: Phonologie). Auch in der wissenschaftlichen Schreibweise unterscheidet man Phone und Phoneme: Phone werden in eckigen Klammern geschrieben, Phoneme zwischen Schrägstriche.

parole - Ebene langue - Ebene Phone Phoneme

materielle Seite der Laute funktionelle Seite der Laute = beim Sprechen erzeugte reale Laute:

messbare, akustische Phänomene = abstrakte, systematische Laute:

bedeutungsunterscheidene Funktion Gegenstand der Phonetik Gegenstand der Phonologie

Schreibweise: [ a ] Schreibweise: / a /

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Teilgebiete der Phonetik Mit den beim Sprechen erzeugten realen Lautphänomenen, den Phonen, beschäftigt sich die Phonetik. Der Untersuchungsgegendstand der Phonetik sind also objektiv beobachtbare Phänomene der Realität. Sie überschneidet sich mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, v.a. mit der Physik (Akustik) und der Biologie (Physiologie). Es gibt drei große Teilgebiete der Phonetik, die sich drei verschiedene Fragen stellen:

• Wie werden die Sprachlaute produziert? = artikulatorische Phonetik (1)

• Welche (physikalischen / akustischen) Eigenschaften haben die Sprachlaute? = akustische Phonetik (2)

• Wie werden die Sprachlaute wahrgenommen (verarbeitet)? = auditive Phonetik (3)

Abb. 1: Die drei Teilbereiche der Phonetik (Quelle: Ernst 2004: 32)

Am besten erforscht ist bisher die artikulatorische Phonetik. Mit ihr werden wir uns hier auch am intensivsten beschäftigen. Die artikulatorische Phonetik spielt eine wichtige Rolle im Fremdsprachenunterricht. Beim Erlernen einer fremden Sprache ist man meist auch mit Lauten konfrontiert, die in der Muttersprache nicht vorkommen. Diese „fremdartigen“ Laute stellen für die Lernenden ein doppeltes Problem dar: zum einen bei der Produktion der Laute: für das Nachahmen dieser Laute sind Einstellungen und Bewegungen der Artikulationsorgane notwendig, an die die Sprechenden aus ihrer Muttersprache nicht gewöhnt sind, und deren Artikulation ihnen daher schwer fällt. Zum anderen können fremde Laute aber auch bei der Sprachrezeption Schwierigkeiten bereiten: sie entsprechen nicht den aus der Muttersprache bekannten „Hörgewohnheiten“ und werden daher oft nicht richtig identifiziert und mit anderen Lauten verwechselt. Vergleichen wir den Bestand an deutschen und russischen Phonen, so sehen wir, dass zwar viele Laute in beiden Sprachen vorkommen (oder zumindest in beiden Sprachen sehr ähnlich artikuliert werden). Daneben gibt es aber einige Laute, die nur dem Russischen eigen sind, und daher deutschen Lernenden Schwierigkeiten bereiten (etwa stimmhaftes sch, der Vokal ы, die palatalisierten Konsonanten). Umgekehrt treten im Deutschen Laute auf, die das Russische nicht kennt, und die für russischsprachige Lerner des Deutschen problematisch sind (die Umlaute ö und ü, sowie der Konsonant h). Im Tschechischen bereiten ebenfalls die palataliserten Konsonanten (ď, ť, ň), vor allem aber der Konsonant ř Ausspracheprobleme, im Polnischen neben den palatalen Konsonanten (ć, ś, ź), der Gleitlaut ł und die Nasalvokale ą und ę.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Abb. 2: Vergleichender Lautbestand des Deutschen und des Russischen

Die akustische Phonetik untersucht die physikalischen Eigenschaften von Sprachlauten: sogenannte Oszillographen machen die Schallwellen sichtbar, die bei der Artikulation der Sprachlaute entstehen. Praktische Anwendung findet die akustische Phonetik u.a. im Bereich der automatischen Spracherkennung.

Abb. 3: Oszillographen russischer, tschechischer und polnischer Begrüßungen.

Die auditive Phonetik untersucht, wie Sprachlaute vom menschlichen Ohr wahrgenommen und weiterverarbeitet werden. Dabei ist u.a. von Interesse, wie vom

Lautbestand des Russischen

Lautbestand des Deutschen

d

m

r

щ

ö

ж

ü

ыn t

p

b

h

a

e

i o u

ньрь

льл

дь

Oszillographen ausgewählter Sätze

Здравствуйте!

Dobrý den!

Dzień dobry!

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

37

menschlichen Gehirn trotz der oft sehr unterschiedlicher Realisierung dennoch einheitliche Sprachlaute wahrgenommen werden können. 3. Artikulationsorgane Die artikulatorische Phonetik teilt die Laute nach der Art ihrer Erzeugung ein. Diese geschieht mit Hilfe der Sprechwerkzeuge (Artikulationsorgane). Die Organe, die an der Erzeugung von Sprachlauten beteiligt sind, sind:

• Luftröhre: erzeugt den Luftstrom (Phonationsstrom) • Stimmbänder (Stimmlippen): erzeugen den Stimmton (bei Vokalen und

stimmhaften Konsonanten) • Stimmritze / Kehlkopfdeckel (Glottis): erzeugt den sogenannten „Knacklaut“

(im Deutschen etwa bei Vokalen im Anlaut) • Mundraum und Nasenraum: dienen als Resonanzraum: dort wird der

Phonationsstrom wird auf bestimmte Art verändert und erhält dadurch die für jeden Laut charakteristischen akustischen Eigenschaften.

Für die Artikulation unterscheidet man danach bewegliche (aktive) und unbewegliche (passive) Artikulationsorgane. Aktiv am Artikulationsvorgang beteiligt sind:

• Zunge • Lippen

Alle anderen Artikulationsorgane sind passiv: sie bleiben unbeweglich und werden lediglich von der Zunge berührt:

• Zähne • Gaumen • Gaumenzäpfchen

Abb. 4: Die Sprechwerkzeuge (Quelle: Ernst 2004: 69)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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4. Unterscheidung: Vokale – Konsonanten Die Sprachlaute lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: in Vokale und Konsonanten. Zur Definition von Vokalen und Konsonanten existieren drei verschiedene Definitionsmöglichkeit: artikulatorisch, akustisch und phonologisch:

Artikulatorische Definition: nach der Art ihrer Erzeugung Vokale sind Öffnungslaute: Der Phonationsstrom kann ungehindert passieren und erhält seine Färbung durch Formung des Mundraums / bzw. Nasenraums. Konsonanten sind Hemmlaute: Der Phonationsstrom wird durch die Artikulationsorgane behindert (gehemmt) oder unterbrochen. Akustische Definition: nach ihren akustischen Eigenschaften Vokale sind Klanglaute: Sie weisen ein periodisch wiederkehrendes Frequenzmuster auf. Konsonanten sind Geräuschlaute:

Sie weisen kein periodisches Frequenzmuster auf.

Abb. 5: Klang- und Geräuschlaute (Quelle: Ernst 2004: 85)

Phonologische Definition: anhand ihrer Verwendung in der Silbenstruktur Vokale sind silbenbildend (silbisch):

Sie bilden innerhalb der Silbenstruktur das Zentrum (Silbenmitte / Silbengipfel) Konsonanten sind unsilbisch: Ihre typische Verwendung ist am Silbenrand (Anfang oder Ende) Die prototypische Silbe hat also die Struktur: CVC (C = consonant; V = vowel)

Diese 3 Definitionen können dabei bei bestimmten Lauten in Widerspruch zueinander geraten: So sind etwa die Laute r und l nach artikulatorischer Definition Konsonanten (Hemmlaute), da bei ihrer Erzeugung ein Hindernis gebildet wird. Nach akustischer Definition hingegen sind sie Vokale, da sie – wie Klanglaute – einen periodischen Schwingungsverlauf aufweisen). Auch nach der phonologischer Definition können sie als Vokale betrachtet werden: in manchen Sprachen Silben können sie den Silbengipfel bilden: (vgl. etwa im Tschechischen: prst, vlk, bratr, mohl).

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Demgegenüber können auch Vokale unsilbisch werden und gehen dann in den Bereich der Konsonanten über. Unsilbische Vokale bezeichnet man auch als Gleitlaute (glides) oder Halbvokale. Die Grenze zwischen Vokalen und Konsonanten ist also weniger eindeutig als zunächst angenommen. Man kann zwischen beiden Bereichen einen Übergangsbereich feststellen. Man teilt daher die Konsonanten (nach artikulatorischer Definition) noch einmal in zwei Gruppen: • Sonoranten sind der akustischen Definition nach Vokale. Sie können u.U.

silbisch werden. Sie kommen nur in einer stimmhaft vor. • Obstruenten gelten auch nach der akustischen Definition als Konsonanten. Sie

sind immer unsilbisch. Sie können stimmhaft oder stimmlos sein.

Vokale, Sonoranten und Obstruenten: artikulatorische

Definition akustische Definition

phonologische Definition

Laute

silbenbildend Vokale (Vollvokale): a, e, i, o, u, … Öffnungslaute unsilbisch Gleitlaute (Halbvokale): j, poln. ł

Klanglaute manchmal silbenbildend

Sonoranten: Nasale: m, n, ň Liquide (Laterale und Vibranten): r, l kommen nur stimmhaft vor Hemmlaute

Geräuschlaute unsilbisch

Obstruenten: kommen stimmhaft oder stimmlos vor: p, b, t, d, k, g, v, f, s, ch,….

5. Einteilung der Vokale: Vokale sind artikulatorisch Öffnungslaute und akustisch Klanglaute. Sie werden durch den ausströmenden Phonationsstrom (= expiratorische Laute) und mit Beteiligung der Stimmbändder (stimmhaft) erzeugt. Bei der Einteilung der Vokale unterscheidet man zwischen inhärenten Merkmalen, die die Eigenschaften des Lautes selbst bestimmen, und sogenannten suprasegmentalen (oder prosodischen) Merkmalen, die erst im Vergleich zweier Laute im Redefluss deutlich werden. Die inhärenten Merkmale zur Einteilung der Vokale sind:

• Horizontale Zungenstellung • Vertikale Zungenstellung • Lippenrundung • Nasalität • Gespanntheit • Zungenbewegung

Horizontale Zungenstellung Je nachdem, welcher Teil der Zunge beim Sprechen gehoben wird unterscheiden wir vordere, mittlere und hintere Vokale. Vordere Vokale sind i und e, ein mittlere Vokal ist a, hintere Vokale sind o und u. Vertikale Zungenstellung Je nach dem Grad der Zungenhebung erhält man hohe, mittlere und tiefe Vokale. Hohe Vokale sind i und u, mittlere Vokale sind e und o, ein tiefer Vokal ist a. Mit der vertikalen Zungenstellung hängt auch der Öffnungsgrad des Mundes (Kieferwinkel)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

40

i

e

ä

ъ

ы

a å

u

о

zusammen: der Kieferwinkel ist bei tiefen Vokalen am größten (man spricht daher auch von „offenen“ oder „breiten“ Vokalen), bei hohen Vokalen am geringsten (man spricht auch von „engen“ Vokalen). Nach der Zungenstellung kann man die Vokale in einem sogenannten Vokaldreieck anordnen. Man spricht von den 5 sogenannten Kardinalvokalen.

Horizontale Zungenstellung vorne mittel hinten

hoch i u mittel e o

Vertikale Zungenstellung

tief a

Abb. 5: Vokaldreieck Die 5 Kardinalvokale kommen in vielen Sprachen vor. Manche Sprachen verfügen darüberhinaus noch über andere Vokale: so ist etwa das deutsche ä ein tiefer Vorderzungenvokal, das russische ы ein hoher Mittelzungenvokal, das å in skandinavischen Sprachen ein tiefer Hinterzungenvokal, usw. Einen mittleren Mittelzungenvokal bezeichnet man als Murmelllaut (oder „Schwa“). Er wird ohne jede Zungenbewegung erzeugt und tritt oft in unbetonten (reduzierten) Silben auf (etwa in dt. Vorsilben wie ver-, be- u.ä.). Im Bulgarischen kommt er auch in betonten Silben vor und wird mit dem Buchstaben ъ bezeichnet. Bezieht man diese Vokale in das Bild mit ein, so kann man das Vokaldreieck zu einem Vokaltrapez erweitern.

Horizontale Zungenstellung vorne mittel hinten

hoch i russ. ы u mittel e „Schwa“ o

Vertikale Zungenstellung

tief ä a dunkles å

e

a

u

о

Vokaldreieck (Kardinalvokale)

i

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Abb. 5: Vokaltrapez

Dabei ist zu beachten, dass der Übergang zwischen den einzelnen Vokalen fließend ist. Theoretisch wären daher unendlich feine Abstufungen und damit unendlich viele Vokale möglich. Zur besseren Unterscheidbarkeit werden jedoch zur Bedeutungsdifferenzierung v.a die weit voneinander entfernten Vokale gebraucht (Vokalstreuung). Der stufenlose Übergang zwischen den Vokallauten wird in der folgenden Abbildung anhand der deutschen Wörter Wild, Welt und Wald demonstriert:

Abb. 6: stufenloser Übergang zwischen den Vokalen (Quelle: Veith 2002:39) Weitere Kriterien zur Einteilung von Vokalen: Lippenrundung (Labilalisierung): Nach der Lippenrundung unterscheidet man gerundete (labialisierte) und nichtgerundete (nicht labialisierte) Vokale: gerundet sind etwa die Vokale o und u. In den slavischen Sprachen besteht eine feste Korrelation zwischen den Merkmalen „Hinterzungenvokal“ und „gerundet“. Hintere Vokale kommen nur gerundet vor, vordere Vokale nur ungerundet. Man spricht in diesem Fall von einem „ko-okurrenten Merkmal“, d.h. das Merkmal kommt nicht selbstständig vor, sondern ist an ein weiteres Merkmal gekoppelt. Im Deutschen hingegen können auch vordere Vokale gerundet sein: ü (hoch-vorne gerundet) und ö (mittel-vorne gerundet). Nasal- und Oralvokale: Bei den Oralvokalen dient als Resonanzraum der Mundraum, bei den Nasalvokalen hingegen der Nasenraum. Bei der Artikulation von Nasalvokalen wird im Rachen das Gaumensegel gesenkt und damit der Phonationsstrom in den Nasenraum umgeleitet. Nasalvokale gab es im Urlsavischen, die jedoch in den meisten heutigen slavischen Sprachen durch Oralvokale ersetzt wurden. Von den lebenden slavischen Sprachen verfügt nur das Polnische über Nasalvokale: ę und ą (gesprochen wie nasales o). Gespanntheit: Das Deutsche kennt den Unterschied zwischen gespannten und ungespannten Vokalen. Das Merkmal ist jedoch an die Quantität (Länge/Kürze) gekoppelt: im Deutschen sind lange Vokale stets gespannt (biete, Ofen, beten), kurze Vokale dagegen ungespannt (bitte, offen, betten). Zungenbewegung: Monophthonge und Diphthonge: Vokale, bei denen die Zungenstellung während der Artikulation stabil bleibt, heißen Monophthonge, bewegt sich die Zunge während der Artikulation, so spricht man von Diphthongen. Das Deutsche kennt drei Diphthonge: au (a o), ei (a e), eu (o e). In

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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i

e

a

u

о

tsch.: ou tsch.: ej

dt.: au dt.: ei

dt.: eu

den slavischen Sprachen treten Diphthonge vor allem im Tschechischen auf: ou (offenes o u) und ej (neben den nur in Fremdwörtern auftretenden eu, au).

Abb. 7: Tschechische und deutsche Diphthonge im Vokaltrapez Suprasegmentale (prosodische) Merkmale Der Begriff Segment bezeichnet einen aus dem Redefluss isolierbaren Sprachlaut. Merkmale, die sich an einem einzelnen Segment zeigen, heißen inhärente Merkmale. Merkmale, die sich erst an einem größeren, über das Segment hinausgehenden Sprechabschnitt zeigen, nennt man suprasegmentale (oder prosodische) Merkmale. Die prosodischen Merkmale lassen sich nach den akustischen Eigenschaften der gesprochenen Äußerung einteilen. Diese sind:

• Dauer: Die zeitliche Dauer der Schwingung ist für die Länge der Vokale (ihre Quantität) verantwortlich.

• Frequenz: die Frequenz (Zahl der Schwingungen pro Zeiteinheit) verändert die Tonhöhe.

• Amplitude: die Intensität des Schwingungsausschlags verändert die Lautstärke.

Abb.8: akustische Eigenschaften der gesprochenen Sprache (Quelle: Ernst 2004: 84 ) Länge (Quantität): Die bisher behandelten vokalischen Merkmale verändern stets die klanglichen Eigenschaften des Lautes selbst, seine Qualität. Das Merkmal Quantität dagegen verändert die Dauer der Artikulation eines Vokals, dessen Qualität für die Dauer der Artikulation unverändert bleibt. Entscheidend ist dabei natürlich nicht die absolute, sondern die relative Artikulationsdauer im Verhältnis zu anderen Vokalen. Bedeutungsunterscheidung durch Quantität gibt es im Deutschen (vgl .etwa kam – Kamm; Mus – muss), in den slavischen Sprachen gibt es diese Unterscheidung im

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Tschechischen: ráda „gern (weibl. Form)“ – rada „der Rat“; dál „weiter“ - dal „er gab“, můžu „ich kann“ – mužů „der Männer (Genitiv Plural)“, daneben auch im Slovakischen und im Bosnischen / Kroatischen / Serbischen. Tonhöhe (musikalischer Akzent): Die Veränderung der physikalischen Eigenschaft Frequenz bewirkt eine Änderung der Tonhöhe. Auch die Tonhöhe kann im Sprachsystem eine Rolle spielen. Im Deutschen wird sie v.a. zur Unterscheidung von Satztypen (Fragesatz, Aussagesatz, Befehlssatz) eingesetzt, zum Ausdruck von Emotion (Überraschung, Empörung, Nachdruck), oder zur Hervorhebung (Das blaue Auto vs. Das blaue Auto). Den Tonhöhenverlauf in einer längeren Sequenz von Lauten, etwa einem ganzen Satz bezeichnet man als Intonation (Satzintonation). Manche Sprachen nutzen jedoch die Tonhöhe auch zur Unterscheidung von Wortbedeutungen (= Wortintonation, Silbenintonation), etwa das Chinesische, aber auch einige skandinavische Sprachen. Unter den slavischen Sprachen gehören dazu das Bosnische, Kroatische, Serbische sowie das Slovenische. Sie unterscheiden zwei Arten von Intonation: steigende und fallende. Im Bosnisch-Kroatisch-Serbischen ist die Tonhöhe darüber hinaus gekoppelt mit der Quantität. So ergeben sich 4 Kombinationsmöglichkeiten: kurz-fallend, kurz-steigend, lang- fallend und lang-steigend:

Tonhöhe steigend fallend

lang á (rúka) â (môre) Quantität kurz à ( žè na) ȁ (sȍba)

Sowohl Tonhöhe als auch Quantität können Bedeutungen unterscheiden kann, vgl. die Wörter grâd (lang-fallend) "Stadt" – grȁd (kurz-fallend) "Hagel" / kȕpiti (kurz fallend) "sammeln"– kúpiti (lang steigend) "kaufen". Beide Merkmale bleiben jedoch normalerweise im Schriftbild unbezeichnet (die Akzentzeichen werden nur in Wörterbüchern, Lehrbüchern, Grammatiken verwendet). Betonung (Druckakzent, Intensität): Das Merkmal Betonung ist mit der physikalischen Eigenschaft der Amplitude gekoppelt. Die betonte Silbe wird mit stärkerer Intensität (größerem Druck) gesprochen und weist daher gegenüber den umgebenden Silben eine höhere Lautstärke auf. Man spricht daher auch von „Druckakzent“. Die slavischen Sprachen kennen unterschiedliche Regelungen zur Verteilung des Druckakzents (der Betonung) innerhalb des Wortes. Feste Betonung (fester Akzent): Bei fester Betonung ist immer dieselbe Silbe innerhalb eines Wortes (oder einer engen Wortverbindung wie zwischen Präposition und nachfolgendem Substantiv) betont. Feste Betonung haben die westslavischen Sprachen:

• Tschechisch und Slovakisch: es ist immer die 1. Silbe im Wort betont. Bei der Kombination Präposition + Substantiv liegt die Betonung auf der Präposition: na shledanou, do Prahy.

• Polnisch: es ist immer die vorletzte Silbe im Wort betont (Penultimabetonung). Ausgenommen sind nur einige zusammengesetzte Verbformen im Präteritum und Konditional (chciałbysmy, chciałbyscie u.ä.)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Freie und bewegliche Betonung (freier und beweglicher Akzent): Das Russische verfügt dagegen über einen freien und beweglichen Akzent. Dabei bedeutet freie Betonung, dass prinzipiell jede Silbe im Wort betont sein kann. Die Betonungsstelle kann dabei auch verschiedene Bedeutungen unterscheiden, vgl. мукá „Mehl“ - мýка „Qual“, замóк „Türschloss“ зáмок „Schloss (Gebäude)“. Mit beweglicher Betonung ist meint, dass die Betonungsstelle auch innerhalb der verschiedenen Formen eines Wortes wechseln kann, vgl. etwa:

рукá, (Nom. Sg.), рýку (Akk.Sg.); рýки (Nom. Pl.), рукáм (Dat. Pl.) пишý (1.Pers. Sg.), пи́шешь (2. Pers. Sg.) былá (Präteritum fem.), бы́ло (neutr.), бы́ли (Plural)

Die Betonung bleibt in russischen Texten normalerweise unbezeichnet (die Betonungszeichen werden nur in Wörterbüchern, Lehrbüchern, Grammatiken verwendet). Daher stellt das Erlernen der Betonungsregeln für Lernende ein beträchtliches Problem dar, v.a. da unbetonte Vokale auch der Reduktion unterliegen. Reduktion: Zusätzlich zur freien und beweglichen Betonung kennt das Russische das Phänomen der Reduktion. Damit wird das Phänomen bezeichnet, dass die Betonungsstelle nicht nur die Lautstärke (Intensität) der Vokale beeinflusst, sondern auch deren Qualität. Unbetonte Vokale werden „reduziert“ gesprochen, d.h. sie verändern ihre Qualität. Im Russischen gelten folgende Regeln für die Reduktion der unbetonten Vokale: • Akanje: unbetontes o wird wie a ausgesprochen: мáло [mala], городóк

[garadok], разговóр [razgavor]. • Ikanje: unbetontes e wird wie i ausgesprochen: переговóр [pirigavor], сейчáс

[s’ijtšas], десяти [d’is’iti]. • nach palatalen Konsonanten wird аuch unbetontes a wie i ausgesprochen: часóв

[tš’isof], пятóй [p’itoj], лягýшка [l’iguška]. Diese Veränderungen werden im Russischen jedoch im Schriftbild nicht wiedergegeben, so dass Schreibung und Aussprache oft erheblich voneinander abweichen können. Die abschließende Tabelle gibt eine Übersicht über das Auftreten der prosodischen Merkmale in den slavischen Sprachen: + heißt, das betreffende Merkmal tritt auf und kann verschiedene Bedeutungen unterscheiden – heißt das betreffende Merkmal tritt nicht auf und unterscheidet keine Bedeutungen).

Russisch Tschechisch Polnisch BKS Bulgarisch

Quantität – + – + – Tonhöhe – – – + – Betonung + –

(erste Silbe) –

(vorletzte Silbe) + + Reduktion + – – – +

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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6. Einteilung der Konsonanten: Konsonanten sind nach artikulatorischer Definition Hemmlaute und nach akustischer Geräuschlaute. Sie werden erzeugt, indem für den ausströmenden Phonationsstrom ein Hindernis gebildet wird. Dabei können die Stimmbänder beteiligt sein (stimmhafte Konsonanten) oder nicht (stimmlose Konsonanten). Die Einteilung der Konsonanten erfolgt nach:

• Artikulationsort (beteiligte Sprechwerkzeuge) • Artikulationsart (Artkulationsmodus) • Stimmbeteiligung • Palatalität

Artikulationsort (Artikulationsstelle): Einteilung nach beteiligten Organen Dieses Kriterium unterteilt die Laute je nach dem Sprechwerkzeug, mit dessen Hilfe das Hindernis für den Phonationsstrom gebildet wird (vgl. die Darstellung der Sprechwerkzeuge in Abb. 4). • Lippen (labia):

Die mit den Lippen gebildeten Laute heißen Labiale. Man unterscheidet Bilabiale (mit beiden Lippen gebildet) und Labiodentale (gebildet mit Zähnen und Unterlippe). Zu den Labialen gehören: b, p, m, v, f.

• Zähne (dentes): Mit Zähnen und Zunge gebildete Laute heißen Dentale. Man unterscheidet Interdentale (etwa das engl. th) und Alveodentale (eher etwas hinter den Zähnen). Zu den Alveodentalen zählen: d, t, n, (stimmhaftes und stimmloses) s.

• Vorderer Gaumen (Zahndamm/Alveol): Am vorderen Gaumen mit der Zunge gebildete Laute heißen Alveolare. Dazu gehören: l und r.

• Mittlerer Gaumen (harter Gaumen / Palatum): Mit der Zunge am harten Gaumen gebildete Laute heißen Palatale. Zwischen vorderem und mittlerem Gaumen gebildete Laute heißen Alveopalatale. Alveopalatal sind etwa die Zischlaute sch, tsch, reine Palatale sind j und ch (ich-Laut).

• hinterer Gaumen (weicher Gaumen / Velum): Am weichen Gaumen gebildete Laute heißen Velare. Zu den Velaren zählen: g, k, ch, ng.

• Gaumenzäpfchen (Uvula): Mit dem Gaumenzäpfchen gebildete Laute heißen Uvulare (im Deutschen das „Zäpfchen-R“)

• Rachen (Pharynx): Im Rachen gebildete Laute (Hauchlaute) heißen Pharyngale. Dazu gehört etwa der Laut h.

• Stimmritze (Kehlkopfdeckel / Glottis): Mit dem Kehlkopfdeckel gebildete Laute nennt man Glottale (etwa der sogenannte „Knacklaut“). Man kann die Laute auch nach dem Teil der Zunge benennen, der an der Artikulation beteiligt ist. Die Teile der Zunge sind: • Zungenspitze (Apex): mit der Zungenspitze gebildete Laute heißen Apikale

oder Vorderzungenlaute.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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• Zungenrücken (Zungenblatt, Corona): mit dem Zungenblatt gebildete Laute heißen Koronale oder Mittelzungenlaute.

• Zungenwurzel (Hinterzunge, Dorsum): Mit der Zungenwurzel gebildete Laute heißen Dorsale oder Hinterzungenlaute.

Artikulationsart (Artikulationsmodus): Einteilung nach Art der Erzeugung Hier werden die Konsonanten nach der Art ihrer Erzeugung werden eingeteilt. Man unterscheidet Verschlusslaute (Klusile), bei denen Zunge und beteiligtes Artikulationsorgan einen vollständigen Verschluss bilden, und Engelaute, bei denen nur eine Engstelle für den Luftstrom gebildet wird. Eine weitergehende Einteilung ergibt folgendes Bild: • Plosive:

Plosive sind Verschlusslaute. Es wird ein vollständiges Hindernis für den Phonationsstrom gebildet, das plötzlich gelöst („gesprengt“) wird. Zu den Plosiven zählen: b, p, d, t, k, g.

• Frikative (Reibelaute): Frikative sind Engelaute. Das Hindernis für den Phonationsstrom, wird nicht gelöst, die Luft kann vielmehr durch eine Engstelle entweichen. Frikative sind f, v, (stimmhaftes und stimmloses) s, (stimmhaftes und stimmloses) sch, j, ch.

• Affrikaten: Eine Kombination aus Plosiv und Frikativ stellen die Affrikaten dar. Es wird zuerst ein Verschluss gebildet, der in einen Reibelaut übergeht. Beispiele: ts, tsch, pf.

• Laterale (Approximanten): Es wird ein teilweiser Verschluss gebildet, bei dem die Luft seitlich entweichen kann. Beispiel: l.

• Vibranten (Intermittierende): Es werden mehrere Verschlüsse nacheinander gebildet und wieder gelöst. Beispiel: r. Vibranten und Laterale zusammen nennt man Liquide.

• Nasale: Die Nasale gehören zu den Verschlusslauten. Der Verschluss wird jedoch nicht gesprengt, der Luftstrom entweicht durch den Nasenraum. Beispiele: m, n, ng.

• Gleitlaute (Glides, oder Halbvokale): Bei den Gleitlauten (oder Halböffnungslauten) wird kein Hindernis gebildet, sondern lediglich eine Enge, die der Phonationsstrom passieren muss. Gleitlaute bilden den Übergang zwischen Vokalen und Konsonanten. Beispiele: j und polnisches ł.

Stimmbeteiligung (Stimmton, Stimmhaftigkeit): Nach der Beteiligung der Stimmbänder werden stimmhafte und stimmlose Konsonanten unterschieden. Stimmhaft sind: b, d, g, v, j, h, stimmhaftes s, sch, ts und tsch (in tschechischer Orthographie: z, ž, dz und dž). Stimmlos sind demgegenüber p, t, k, f, ch, stimmloses s, sch, ds und tsch (in tschechischer Orthographie: s, š, c und č). Das Merkmal Stimmhaftigkeit tritt nur bei Obstruenten auf. Sonoranten (Nasale, Liquide, Gleitlaute) sind wie Vokale immer stimmhaft. Überblick über stimmlose und stimmhafte Entsprechungen bei den Obstruenten: stimmhafte Konsonanten b v d ď dz z dž ž k ch stimmlose Konsonanten p f t ť c s č š g h

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Behauchung (Aspiration): Im Deutschen tritt bei stimmlosen Plosiven zusätzlich das Merkmal der Behauchung auf. P, t und k werden demnach am Wortanfang „behaucht“, d.h. gefolgt von h ausgesprochen. In den slawischen Sprachen sind diese Laute dagegen unbehaucht. Stimmlose Konsonanten klingen daher für „deutsche Ohren“ häufig wie stimmhafte und werden deshalb gerne verwechselt. Palatalität (Palatalisierung): In den slavischen Sprachen tritt bei einer Reihe von Konsonanten das Merkmal der Palatalität auf. Dies bedeutet, dass die Konsonanten in "J-Stellung" ausgesprochen werden. Die Artikulationsstelle ist also zum harten Gaumen hin verschoben. Man spricht auch von "Erweichung" der Konsonanten.

!!! nicht verwechseln: Unter den Bezeichnungen "weich" und "hart" versteht man in den slavischen Sprachen meist die Korrelation palatalisierte / nichtpalatalisierte Konsonanten. Dies darf nicht mit dem Unterschied "stimmhaft" / "stimmlos" verwechselt werden, für den im Deutschen manchmal auch "weich" und "hart" gebraucht wird.

Das Russische hat eine beinahe vollständige Palatalitätskorrelation, d.h. fast alle Konsonanten kommen sowohl nichtpalatalisiert („hart“) oder palatalisiert („weich“) vor. Die Palatalität des Konsonanten wird graphisch entweder durch das sogenannte „weiche Zeichen“ ( ь ) oder durch den nachfolgenden Vokalbuchstaben ausgedrückt (vgl. zur graphischen Wiedergabe palataler Konsonanten genauer: Teil 2B, S. 8ff. Die Palatalitätskorrelation im Russischen: nichtpalatalisierte Konsonanten б п м в ф л р д т с з н к г х

palatalisierte Konsonanten б’ п’ м’ в’ ф’ л’ р’ д’ т’ с’ з’ н’ к’ г’ х’

Außerhalb der Palatalitätskorrelation stehen im Russischen nur 5 Konsonanten: ш, ж und ц: kommen nur nichtpalatal vor щ und ч: kommen nur palatal vor

Im Polnischen tritt die Palatalitätskorrelation bei folgenden Konsonanten auf: • bei l: Hier fungiert der Gleitlaut ł als „harte“ und l als „weiche“ Entsprechung). • bei den Labialen b, p, m, w und dem Dental n. Sie fehlt lediglich beim r. • Bei den alveodentalen d, t, s und z sind die „weichen“ Entsprechungen dź, ć, ś

und ź tatsächliche palatale (nicht nur palatalisierte) Laute. Graphisch wird die Palatalität entweder durch einen Strich über dem Buchstaben oder durch nachfolgendes i ausgedrückt. Die Palatalitätskorrelation im Polnischen: nichtpalatale Konsonanten b p m w f ł d t n s z k g ch palatalisierte Konsonanten b’ p’ m’ w’ f’ l ń k’ g’ ch’palatale Konsonanten dź ć ś ź

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Im Tschechischen schließlich tritt die Palatalitätskorrelation nur noch bei den drei Dentalen d, t und n auf, die palatalisierten Entsprechungen sind ď, ť und ň. Graphisch wird die Palatalität entweder durch einen Haken („háček“) über dem Buchstaben oder durch nachfolgendes ě bzw. i / í ausgedrückt. Die Palatalitätskorrelation im Tschechischen: nichtpalatale Konsonanten d t n

palatalisierte Konsonanten ď ť ň Da es im Deutschen keine Palatalitätskorrelation gibt, gehören die palatalisierten Konsonanten zu den schwierigsten Bereichen der Phonetik slavischer Sprachen und bereiten nichtslavischen Muttersprachlern beim Erlernen der Fremdsprache daher vielfach Probleme. Konsonantenschema Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt die in den slavischen Sprachen vorkommenden Konsonanten in einer Tabelle (einem sogenannten Konsonantenschema). Dabei wird auf der horizontaler Achse die Artikulationsstelle angetragen, wobei jeweils noch in nichtpalatalisiert (-p) und palatalisiert (+p) unterteilt wird. Auf der vertikalen Achse ist die Artikulationsart verzeichnet: zunächst die Obstruenten gefolgt von den Sonoranten und Gleitlauten. Bei den Obstruenten wird zusätzlich nach dem Merkmal Stimmbeteiligung differenziert. (vgl. eine ähnliche Konsonantentabelle für das Deutsche bei Ernst 2004:75 bzw. Vater 1994:18).. Weiterführende Literatur: Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas, 2004.

Grundlagen: Der Mensch und seine Sprache. S. 11-58. Mulisch, Herbert: Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig, Berlin,

München: Langenscheidt, 1993. S. 23-59. Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto

Sagner, 1996. S. 53-66. Vater, Heinz: Einführung in die Sprachwissenschaft. Vintr, Josef: Das Tschechische.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Konsonantenschema slavischer Sprachen

Lippenlaute Labiale

Vorderzungenlaute Apikale

Mittelzungenlaute Koronale

Hinterzungenlaute Dorsale

bilabial labiodental alveo-dental alveo-palatal palatal velar uvular pharyngal

Artikulationsstelle

Artikulations- art ↓

-p +p -p +p – palatalisiert

+ palatalisiert -p +p +p -p +p -p -p

stimmhaft b b' d ď g g' Plosive

stimmlos p p' t ť k k' stimmhaf

t dz dž dź Affrikaten stimmlos c č č’ ć stimmhaf

t v v' z z' ž ź h ś

Obs

truen

ten

Frikative stimmlos f f' s s' š ch

(„ich- Laut”)

ch („ach-Laut”)

ch’

Nasale stimmhaft m m' n ň

Laterale stimmhaft l ľ

Vibranten stimmhaft r r' ř R

Son

oran

ten

Gleitlaute / Halbvokale

stimmhaft ł j

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Slavische Sprachen

Ostslavische Sprachen

Westslavische Sprachen

Südslavische Sprachen

Russisch Ukrainisch

Weißrussich

Polnisch Tschechisch Slovakisch

Slovenisch Kroatisch Bosnisch

Mazedonisch Bulgarisch

lateinische Schrift

kyrillische Schrift Serbisch

Teil 2 B: Schrift- und Orthographiesysteme in den slavischen Sprachen

1. Schriftsysteme Exkurs: die historische Entwicklung der kyrillischen Schrift 2. Transliteration und Transkription 3. Sonderzeichen in den lateinischen und kyrillischen Alphabeten:

Diakritika und Ligaturen (Digraphen) 4. Zur Wiedergabe palatalisierter Konsonanten: die Funktion der jotierten

Vokalbuchstaben im Russischen, Polnsichen und Tschechischen 5. Orthografiesysteme: historisches, morphologisches und phonetisches

Prinzip

1. Slavische Sprachen und Schriftsysteme In den slavischen Sprachen verwenden zwei grundsätzlich verschiedene Schriftsysteme verwendet:

• Die lateinische Schrift verwenden: Alle westslavische Sprachen und Slovenisch.

• Die kyrillische Schrift verwenden: Alle ostslavischen Sprachen, Bulgarisch, Mazedonisch.

Ein Sonderfall ist das ehemalige Serbokroatische: Es konnte (und kann) sowohl in lateinischer als auch in kyrillischer Schrift wiedergegeben werden. Heute verwenden die Nachfolgesprachen Kroatisch und Bosnisch beinahe ausschließlich die lateinische Schrift. Das Serbische hingegen kann weiterhin in beiden Schriftsystemen, lateinisch und kyrillisch wiedergegeben werden.

Abb. 1: Die slavischen Sprachen und die in ihnen verwendeten Schriftsysteme

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Slavische Sprachen

Ostslavische Sprachen

Westslavische Sprachen

Südslavische Sprachen

Russisch Ukrainisch

Weißrussich

Polnisch Tschechisch Slovakisch

Slovenisch Kroatisch Bosnisch

Mazedonisch Bulgarisch

lateinische Schrift

kyrillische Schrift Serbisch

Abb. 2: Verschiedene Versionen der Glagolica, ihre Zahl- und Lautwerte (nur zur Illustration)

Exkurs: Historische Entwicklung der kyrillischen Schrift • Slavenmission: Im Jahr 862 bittet der Fürst Rastislav des Großmährischen Reiches (in etwa auf dem

Gebiet des heutigen Ungarn, der westlichen Slovakei, südöstliches Tschechien) den byzantinischen Kaiser um Entsendung von Gelehrten, die den christlichen Glauben in slavischer Sprache lehren.

• Die Slavenapostel Hl. Kyrill und Method (zwei griechische Mönche) entwickeln zur Wiedergabe der slavischen Laute ein eigenes Schriftsystem: Die glagolitische Schrift (Glagolica) (nicht die kyrillische Schrift !!!) Sie basiert auf einer griechischen Minuskelschrift (= Kleinbuchstabenschrift).

• Die Glagolica wurde noch eine gewisse Zeit auf heute tschechischem Gebiet (im Sázava-Kloster), im heutigen Kroatien (eckige Variante) und im heutigen Mazedonien und Westbulgarien (Ochrid: runde Variante) verwendet.

• Grundlage der heutigen kyrillische Schrift ist dagegen die Kyrillica, die in Ostbulgarien (Preslav) entwickelt und zu Ehren des Hl. Kyrill nach diesem benannt wurde. Sie basiert auf einer griechischen Majuskelschrift (= Großbuchstabenschrift).

• Diese Schrift gelangt im 10. Jh. im Zuge der Christianisierung des Kiever Reichs aus dem südslavischen Bereich nach Russland und erfuhr dort im 10.-14. Jh. einige Anpassungen an die ostslavische Aussprache.

• Diese Änderungen wurden jedoch im 14. und 15. Jh. durch den sogenannten „Zweiten südslavischen Einfluss“ wieder rückgängig gemacht.

• Die moderne kyrillische Schrift entstand erst durch mehrere Reformen ab dem 18 Jahrhundert: • Die Orthographiereform Peters des Großen: (1708-10): Angleichung der Buchstaben an westliche

Alphabete: sogenannte Bürgerschrift (гражданский шрифт) • Die endgültige heutige Form erhielt das kyrillische Alphabet erst 1918 durch die Orthographiereform nach

der Oktoberrevolution. Sie beinhaltete u.a. die Abschaffung "überflüssiger" Buchstaben (i und v и; ѣ e; Ө ф; ω o) und die Abschaffung des harten Zeichens am Wortende.

• Die kyrillische Schrift wurde und wird auch für einige nichtslavische Sprachen verwendet: im 19. Jahrhundert z.B. für das Rumänische, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Alphabetisierung nichtslavischer (kaukasischer, mittelasiatischer, sibirischer Sprachen) Sprachen z.T. auf der Grundlage der kyrillischen Schrift durchgeführt.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Transliteration und Transkription Für die Wiedergabe der kyrillischen Schrift mit lateinischen Buchstaben gibt es prinzipiell zwei verschiedene Regelungen (Wiedergabesysteme): die Transliteration und Transkription. Transliteration: dient zur wissenschaftlich exakten Wiedergabe kyrillisch geschriebener Texte (Wörter, Buchstaben). Wird v.a in Werken mit wissenschaftlichem Anspruch (v.a. in der Slavistik) verwendet. Ziel der Transliteration ist die Eindeutigkeit der Entsprechung. Jedem kyrillischen Buchstaben ist daher genau ein lateinischer Buchstabe zugeordnet. Bei der Rückübertragung aus dem Lateinischen kommt so wieder der kyrillische Originaltext zustande. Die wissenschaftliche Transliteration verwendet ein System von diakritischen Zeichen, das v.a aus dem tschechischem Alphabet übernommen ist. Die Transliteration ist im Duden festgelegt (Duden-Transliteration), daneben gibt es eine geringfügig abweichende Transliteration für bibliothekarische Zwecke (sog. ISO-Transliteration). Transkription: dient zur ungefähren Wiedergabe der Lautung in "unwissenschaftlichen", populären Kontexten. Ziel ist es, dem Leser, der der kyrillisch schreibenden Sprache nicht mächtig ist, eine ungefähre Vorstellung von der originalen Lautung zu geben. Die Wiedergabe geschieht daher durch "lautähnliche" lateinische Buchstaben. Dabei werden nicht alle lautlichen Unterschiede der Originalsprache auch tatsächlich wiedergegeben. So wird etwa der Unterschied zwischen den kyrillischen Buchstaben с und з ignoriert (beides wird mit lat. s wiedergegeben), ebenso der Unterschied zwischen ш und ж (beides mit sch). Die Transkription ist darüberhinaus nicht international. Einige markante Unterschiede in den nationalen Transkriptionen sind etwa:

kyrillische Originalschreibung

deutschsprachige Transkription

englischsprachige Transkription

französischsprachige Transkription

х ch kh h ч tsch ch tch ж sch sh

я, ю ja, ju ya, yu Durch die unterschiedliche Traditionen der Transkription in verschiedenen Sprachen erklären sich auch die oft abweichenden Schreibungen russischer Namen, vgl. etwa:

kyrillische Originalschreibung

deutschsprachige Transkription

englischsprachige Transkription

französischsprachige Transkription

Горбачёв Gorbatschow Gorbachev Gorbatchev Чехов Tschechow Chekhov Tchehov

Достоевский Dostojewski Dostoyevsky Жуков Schukow Zhukov

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Transliteration und Transkription des russischen Alphabets

Russisches Alphabet

wissenschaftliche Transliteration

deutsche (populäre) Transkription

А а a a Б б b b В в v w Г г g g (in den Endungen -ogo und ego: w)

Д д d d Е е e e (am Wortanfang,

nach Vokal, ь und ъ: je) Ё ё ё jo З з z s Ж ж ž sch И и i i Й й j i (vor Vokal: j;

am Wortende nach i nicht transkribiertК к k k Л л l l М м m m Н н n n О о o o П п p p Р р r r С с s s (zwischen zwei Vokalen: ss) Т т t t У у u u Ф ф f f Х х ch ch Ц ц c z (oder ts) Ч ч č tsch Ш ш š sch Щ щ šč schtsch ъ - nicht transkribiert ы y y ь ' nur vor o, sonst nicht transkribiert

Э э ė e Ю ю ju ju Я я ja ja

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3. Sonderzeichen in slavischen Alphabeten: Diakritika und Ligaturen Lateinische Schrift Um das lateinische Alphabet für die Wiedergabe des slavischsprachigen Lautsystems geeignet zu machen, mussten einige Anpassungen erfolgen. V.a. mussten Schriftzeichen (Grapheme) für die im Lateinischen und anderen Sprachen nicht existierenden Laute gefunden werden. Zur schriftlichen Wiedergabe von zusätzlichen Lauten gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten:

• Erfindung eines völlig neuen Schriftzeichens: z.B. das deutsche ß, serbisch ђ und ћ.

• Modifizierung (Veränderung) eines vorhandenen Buchstabens durch diakritische Zeichen: z.B. die deutschen Umlaute ä, ö, ü; die tschechischen Buchstaben: č, á, ů usw.; die polnischen ł, ć, ż, ą, usw.

• Kombination von zwei oder mehreren Buchstaben: Digraphen oder Ligaturen: z.B. die deutschen sch, tz, ch; im tschechischen Alphabet ch, im polnischen cz, sz, dż

Innerhalb der slavischen Sprachen, die lateinisches Alphabet verwenden, existiert kein einheitliches Schriftsystem, die Wiedergabe der Laute unterscheidet sich in den lateinisch schreibenden slavischen Sprachen mitunter sehr stark. Diakritische Zeichen (Diakritika): Modifikationen der lateinischen Buchstaben durch diakritische Zeichen verwenden v.a. das tschechische und slovakische Alphabet, daneben aber auch das slovenische sowie die lateinische Schreibung des Serbokroatischen. Aber auch das Polnische weist einige durch diakritische Zeichen modifizierte Buchstaben auf. Die wichtigsten diakritischen Zeichen in den lateinisch schreibenden slavischen Sprachen sind:

• Der Haken ˇ (tschechisch: háček):

Er bezeichnet im Tschechischen, Slovakischen, Slovenischen und im Kroatischen/Bosnischen zu den alveodentalen Frikativen s, z (stimmhaftes s) und c (Lautwert: ts) die jeweiligen alveopalatalen Entsprechungen: š (stimmloses sch), ž (stimmhaftes sch) und č (tsch). Im Tschechischen und Slovakischen tritt er darüberhinaus bei den alveodentalen Verschlusslauten d, t und n auf und bezeichnet deren palatalisierte Entsprechungen ď, ť und ň. Im Tschechischen bezeichnet er bei r das sogenannte aspirierte ř, einen palatalen Vibranten (gesprochen wie r und sch gleichzeitig). Das tschechische ě hat die Funktion, die Palatalität des vorangehenden Konsonanten zu bezeichnen (vgl. S. 10). Statt einem Haken auf dem Graphem, kann bei d und t auch ein Apostroph nach dem Graphem stehen. Dieser Apostroph bezeichnet im Slovakischen auch die Palatalität von L.

• der Strick ´ (tschechisch čárka): Er hat im Tschechischen und Slovakischen die Funktion, lange Vokale zu bezeichnen. Im Slovakischen bezeichnet er die Länge auch bei silbischen l und r ( ĺ, ŕ). Im Polnischen (und bei c auch im Kroatischen/Bosnischen) steht der Strich dagegen über Konsonantenbuchstaben. Er bezeichnet hier die palatalen Entsprechungen ń, ć, ś und ź zu den alveodentalen n, t, s und z. Lediglich beim Vokalbuchstaben o bezeichnet er im Polnischen den Laut u.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Weitere (seltenere) Diakritika in lateinisch schreibenden slavischen Sprachen sind: - Das Ringlein (kroužek) auf dem u (ů): bezeichnet im Tschechischen langes u. - Das Trema (zwei Punkte): kennzeichnet im Slovakischen den Laut ä. - Das Dach auf dem o (ô): kennzeichnet im Slovakischen den Diphthong uo. - Der Punkt auf dem z (ż): kennzeichnet im Polnischen das stimmhafte sch. - Die Welle durch das L (Ł ł): kennzeichnet im Polnischen einen biliabialen Gleitlaut. - Das Häkchen unter den Buchstaben a und e (ą und ę): signalisiert im Polnischen die

Nasalität des entsprechenden Vokals. - Der Strich durch d (Đ đ): kennzeichnet im Kroatischen/Bosnischen das palatalisierte

D. Überblick über die in den lateinisch schreibenden Sprachen verwendeten Buchstaben mit diakritischen Zeichen:

Buchstabe Lautwert Sprachen č tsch š stimmloses sch ž stimmhaftes sch

Tschechisch, Slovakisch, Slovenisch und Kroatisch / Bosnisch

ň, ť, ď palatalisiertes d, t und n á, é, í, ó, ú, ý lange Vokale Tschechisch und Slovakisch

ř r und sch gleichzeitig ů langes u

ě bezeichnet Palatalität des vorangehenden Konsonanten

Tschechisch

ľ palatales L ĺ, ŕ lange silbische L und R ä ähnlich deutschem ä ô Diphthong uo

Slovakisch

ć, đ, palatales T und D Kroatisch / Bosnisch ż stimmhaftes sch, wie tsch. ž

ć, ń, ś, ź palatales tsch, n, stimmloses sch und stimmhaftes sch

ł bilabiales, unsilbisches u ą, ę Nasalvokale ó wie u gesprochen

Polnisch

Tschechisch ě, ř, ů Slovakisch

ň, ť, ď á, é, í, ó, ú, ý ľ, ĺ, ŕ, ä, ô

Kroatisch ć, đ Slovenisch

č, š, ž

Polnisch ć, ń, ś, ź, ż, ł, ą, ę, ó Buchstabenverbindungen (Ligaturen oder Digraphen): Buchstabenverbindungen kennt v.a. das polnische Alphabet, vereinzelt kommen Digraphen jedoch auch im Bosnischen / Kroatischen und selten im Tschechischen und Slovakischen vor.

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Buchstaben-verbindung

Lautwert Sprachen

ch wie im Deutschen Tschechisch, Slovakisch und Polnisch

dz stimmhaftes ds alle lateinisch schreibenden

dž stimmhaftes dsch Tschechisch, Slovakisch und Kroatisch / Bosnisch

lj, nj palatalisierte L und N Kroatisch / Bosnisch dź palatales dsch dż stimmhaftes alveopalatales dsch cz stimmloses tsch, wie tsch. č sz stimmloses sch, wie tsch. š

szcz Kombination aus sz und cz rz wie stimmhaftes sch gesprochen

Polnisch

Überblick über die in den lateinisch schreibenden Sprachen verwendeten Buchstabenverbindungen: Tschechisch Slovakisch dž Polnisch

ch dź, dż, cz, sz, szcz, rz

Kroatisch dž, lj, nj

Einige wichtige Ausspracheunterschiede: Einige Grapheme kommen in den lateinischen Alphabeten mehrerer slavischen Sprachen vor, haben aber in den einzelnen Sprachen unterschiedliche Lautwerte. Diese sind: ó: Wird im Tschechischen und Slovakischen als langes o im Polnischen hingegen als (kurzes) u. y: Ist im Tschechsichen und Slovakischen mit i identisch, im Polnischen hingegen ein Zwischenlaut zwischen i und e. h: Wird im Tschechischen, Slovakischen und Polnischen wie das Deutsche h ausgesprochen, im Slovenischen und Kroatischen/Bosnischen dagegen wie ch. Kyrillische Schrift Auch innerhalb der slavischen Sprachen, die kyrillisches Alphabet verwenden, gibt es leichte Abweichungen: in einzelnen Sprachen werden zusätzliche Schriftzeichen verwendet. Überblick über die in den kyrillisch schreibenden Sprachen verwendeten gegenüber dem Russischen abweichenden Buchstaben:

Buchstabe Lautwert Sprachen

i i (Das kyrillische и wird im Ukrainischen wie russ. ы gesprochen) Ukrainisch und Weißrussisch

ї ji є je

ґ g (Das г wird im Ukrainischen wie h gesprochen)

Ukrainisch

ў (unsilbisches) u Weißrussisch

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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ј j (vor Vokalen) љ, њ palatales L, N џ stimmhaftes dsch

Serbisch und Mazedonisch

ђ, ћ palatales D und T Serbisch ѓ, ќ palatales D und T ѕ stimmhaftes ds Mazedonisch

ъ "Schwa-Laut" Bulgarisch

Einige wichtige Ausspracheunterschiede: Auch in den kyrillischen Alphabeten kommen einige Grapheme in mehreren Sprachen vor, haben aber in den einzelnen Sprachen unterschiedliche Lautwerte. Diese sind: и: Wird im Russischen wie i ausgesprochen, im Ukrainischen dagegen wie russisches

ы. е: Wird im Russichen wie je ausgesprochen, in allen anderen kyrillisch schreibenden

Sprachen dagegen wie e. г: Wird im Russischen (und Bulgarischen) wie g ausgesprochen, im Ukrainischen und

Weißrussischen dagegen wie h (stimmhafter Velarer Reibelaut, ähnlich dem g im Niederländischen).

щ: Wird im Russischen als langes palatalisiertes s ausgesprochen (ähnlich einem langen polnischen śś), im Bulgarischen dagegen als št.

Ukrainisch ї, є, ґ Weißrussisch

i ў

Serbisch ђ, ћ Mazedonisch ј, љ, њ, џ,

ѓ, ќ, ѕ

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4. „Weiche“ (palatalisierte) Laute und ihre Wiedergabe

Zur Wiedergabe der palatalisierten (sogenannten „weichen“) Laute haben die slavischen Sprachen unterschiedliche Regelungen. Meist signalisiert der nachfolgende Vokalbuchstabe, ob der vorangehende Konsonant hart oder weich gesprochen werden muss. Dies „erweichenden“ oder „palatalisierenden“ Buchstaben sind: Im Russischen: е, ё, и, ю, я Im Tschechischen: ě, i Im Polnischen: i Nur vor Konsonanten und am Wortende gibt es im Tschechischen und Polnischen eigene Buchstaben, im Russischen dient dann das „weiche Zeichen“ ( ь ) zum Ausdruck der Palatalität. Beispiele für die Wiedergabe palatalisierter Konsonanten:

Russisch Tschechisch Polnisch

vor Vokal дя, дю, де, ди, дё dě, di dzi palatalisiertes D am

Wortende дь Ď ď dź vor Vokal тя, тю, те, ти, тё tě, ti ci palatalisiertes

T am Wortende ть Ť ť Ć ć vor Vokal ня, ню, не, ни, нё ně, ni ni palatalisiertes

N am Wortende нь Ň ň Ń ń vor Vokal ля, лю, ле, ли, лё palatalisiertes

L am Wortende ль

ebenso bei: б, п, в, м, с, з, р si / Ś ś zi / Ź ź

Funktion der jotierten Vokale Russisch: Im Russischen gibt es nur 5 Vokalphoneme, aber 10 Vokalgrapheme. Dabei entsprechen einander: a – я / э – е / ы – и / о – ё und у – ю. Die sogenannten jotierten Vokalbuchstaben я, е, и, ё und ю bezeichnen dabei dasselbe Vokalphonem wie die nichtjotierten, sie haben darüberhinaus aber noch folgende Funktionen: • Nach Konsonanten kennzeichnen sie die Palatalität des vorausgehenden

Konsonanten. Die graphische Verbindung д + я bezeichnet also die Phonemkombination /d'/ + /a/.

• Am Wortanfang, nach Vokal und nach weichem oder hartem Zeichen (ь oder ъ) bezeichnen sie die Phonemkombination /j/ + Vokal: Wortanfang: есть [jest'], ёлка [jolka], ясно [jasna], юбка [jubka]. Lediglich и wird am Wortanfang unjotiert gesprochen: игра [igra]. nach Vokal: читаем, даёт, стоять, читаю. Auch hier wird и nur leicht jotiert: стоим. nach ъ: Kombination harter Konsonant + j: отъехать, объём, изъявить; statt der Kombination ъ + и wird ы geschrieben: отыскать. nach ь: Kombination weicher Konsonant + j: бельё [bil’jo], пью [p’ju]

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Polnisch: Im Polnischen zeigt der Buchstabe i die Palatalität des vorausgehenden Konsonanten an. Dabei wird die Kombination t+i graphisch zu ci die Kombination d+i graphisch zu dzi. Steht nur der Buchstabe i allein, so erfüllt er eine Doppelfunktion: er bezeichnet die Palatalität des vorangehenden Konsonanten und gleichzeitig den Laut [ i ]:

ci = ć + i : cicho dzi = dź + i : dziśaj zi = ź + i: zima si = ś + i : siła ni = ń + i: niski

Steht der Buchstabe i vor einem anderen Vokal, so bezeichnet er nur die Palatalität ohne eigenen Lautwert:

cia = ć + a: ciało dzie = dź + e: dziecko zie = ź + e: zielony się = ś + ę nie = ń + e: nie.

Tschechisch: Im Tschechischen zeigen die Buchstaben ě und i (í) die Palatalität der vorangehenden Konsonanten d, t und n an:

dě = ď + e: děti tě = ť + e: tělo ně = ň + e: něco di = ď + i: dítě ti = ť + i: tisíc ni = ň + i: nikdo

Nach den Buchstaben b, p, f, v zeigt der Buchstabe ě den Einschub des Phonems "j" an: běžet [bježеt] pěkný [pjekn’i:], věnovat [vjenovat]. Nach m zeigt der Buchstabe ě den Einschub des Phonems ň an: město [mňesto] Die Schreibung von i oder y nach den Buchstaben b, p, f, v, m und nach l, s und z ist im Tschechischen nurmehr eine rein orthographische Norm, die keinen Ausspracheunterschied mehr bezeichnet, vgl. bílý - byli, mít - mýt, síla – sýr 5. Orthographiesysteme Die Orthographie regelt die einheitliche schrifltliche Wiedergabe einer Sprache. Es existieren 3 Hauptprinzipien für die Festlegung von orthographischen Regeln, die jedoch in keiner Sprache konsequent durchgehalten werden können. In den meisten Orthographiesystemen sind daher alle drei Prinzipien vermischt. Das phonetisches Prinzip: Die Orthographie gibt Laute genau so wieder, wie sie gesprochen werden. Das morphologisches Prinzip:

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Die Orthographie gibt gleiche Morpheme auf dieselbe Art wieder, auch wenn diese unterschiedlich gesprochen werden. Das historisches Prinzip: Die Orthographie orientiert sich an der traditionellen Schreibweise, auch wenn sich die Aussprache oder die morphologischen Gegebenheiten mittlerweile geändert haben. Beispiele für das Vorhandensein einzelner Prinzipien in den slavischen Sprachen: Phonetisches Prinzip: Im Russischen: Schreibung von рас-, вос-, ис- vor stimmlosen Konsonanten: раскричать, восклицать, исписать; аber: разрешить, возвести, извинить Phonetische Schreibung von engl./frz. sprachigen Fremdwörtern/Namen: гоган, уошингтон, u.ä. Im Tschechischen: Schreibung von Fremdwörtern: v kurzu, univerzita Im Polnischen: Phonetische Schreibung von z bzw. s: nisky; Vereinheitlichung von s und z zu einer Präposition. Vorteile des phonetischen Prinzips ist die genaue Phonem-Graphementsprechung, die zu Ausspracheerleichterungen führt. Nachteil ist die große Zahl von notwendigen Graphemen, um die tatsächlichen phonetischen Unterschiede kennzeichnen zu können. Daneben auch der häufige graphische Wechsel bei morphologisch zusammengehörigen Wörtern (vgl. etwa die Schreibung der Stimmtonassimilation im BKS: Srbija aber: srpski). Morphologisches Prinzip: Im Russischen: Nichtberücksichtigung der Vokalreduktion in der Schreibung: окно statt акно; мало statt мала; очень очинь usw. (vgl. dagegen die Schreibung des Аkanje im Weißrussischen) Im Tschechischen: keine Assimilation bei Vorsilben z- und s-: sbírat (sprich: zbírat), zpracovat (sprich: spracovat) Vorteil des morphologischen Prinzips: Durchsichtigkeit für Wortbildungsprozesse / Erkennbarkeit von Wurzeln / Morphemen, auch bei Ausspracheänderung Nachteil: Aussprache weicht in best. Fällen von Schreibung ab Historisches Prinzip: im Russischen: Schreibung der Genitivendung –ого trotz Aussprache -ovo im Polnischen: Differenzierung von rz und ż trotz identischer Aussprache im Tschechischen: Schreibung von i in Fremdwörtern: titul, diskuse obwohl "harte Aussprache von d / t. Beihaltung der Differenzierung von i und y in der Schreibung, obwohl kein Ausspracheunterschied. Vorteil des historischen Prinzips: Gewöhnung und Tradition bringen Sicherheit Nachteil: u.U. extremes Auseinanderklaffen von lautlicher und graphischer Wiedergabe (etwa im Englischen oder Französischen.

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Teil 3 A: Phonologie 1. Definition "Phonem" 2. Bestimmung von Phonemen 3. Der Begriff Allophon

3.1. Freie Allophone 3.2. Distributionelle Varianten

4. Phonembestimmung in den slavischen Sprachen 4.1. Phonemcharakter palatalisierter Konsonanten 4.2. Beispiele von Allophonie in den slavischen Sprachen

5. Neutralisation des Phonemunterschieds 6. Überblick über das Phoneminventar slavischer Sprachen 1. Definition „Phonem“ Im Gegensatz zur Phonetik untersucht die Phonologie nicht die beim Sprechen erzeugten Laute an sich, sondern die ihre Funktion im System der Sprache. Die Phonologie beschäftigt sich also mit "abstrakten" Eigenschaften der Laute, vor allem mit ihrem Verhältnis zueinander. Als "Phoneme" haben die beim Sprechen erzeugten Laute eine bestimmte Funktion innerhalb des Systems Sprache. In Kapitel 1 A wurde festgestellt, dass bei der sprachlichen Kommunikation durch Laute bestimmte Inhalte übermittelt werden. Durch verschiedene Laute werden also auch verschiedene Inhalte übermittelt. Die einzige Art, in der Sprache einen Unterschied im Inhalt deutlich zu machen, ist verschiedene Laute zu benutzen. Die Laute haben im System Sprache also eine ganz wichtige Funktion: sie unterscheiden Bedeutungen. Die Laute, die in der Lage sind, im Sprachsystem verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden, nennt man PHONEME:

Definition Phonem: Ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit auf der Ebene des Sprachsystems (langue).

2. Bestimmung von Phonemen Um zu bestimmen, welche Laute in einer Sprache als Phoneme gelten, also tatsächlich zur Unterscheidung von Bedeutungen genutzt werden, bedient man sich der Methode der Minimalpaarbildung. Als Minimalpaare bezeichnet man eine unveränderte lautliche Umgebung, in denen zwei artikulatorisch unterschiedliche Laute gegeneinander ausgetauscht werden. Ändert sich dabei die Bedeutung, so kann man den lautlichen Unterschied als bedeutungsunterscheidend ansehen: die Unterscheidung der beiden Laute hat "Phonemcharakter". Man spricht dann von phonologischer Opposition.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Beispiel: Opposition lautliche Umgebung Minimalpaar Bedeutungsveränderung

Baum – Raum ____ aum B – R +

Baum – beim B ____ m Au – Ei +

Baum – Bauch Bau _____ M – Ch + Als distinktive Merkmale bezeichnet man die artikulatorischen Merkmale, die bei der Unterscheidung von Phonemen relevant sind. Im ersten Beispiel sind dies etwa Artikulationsstelle (labial vs. alveolar), Artikulationsart (Plosiv vs. Vibrant) usw. Zur Ermittlung der distinktiven Merkmale werden Minimalpaare gebildet, die sich nur durch ein einziges artikulatorisches Merkmal unterscheiden: Bei Konsonanten sind dies:

• Bach – Dach: Artikulationsort • Teil – Seil: Artikulationsart • backen – packen: Stimmbeteiligung • russ.: рад – ряд: Palatalität

Bei Vokalen sind dies: • Mond – Mund: vertikale Zungenstellung • Tochter – Töchter: horizontale Zungenstellung • Züge – Ziege: Lippenrundung • Poln.: piszę – pisze: Nasalität • Tsch.: rada – ráda: Vokalquantität • Russ.: мукá – мýка: Betonung

3. Der Begriff „Allophon“ 3.1 Freie Allophone Nicht alle Unterschiede zwischen realen Lauten (Phonen) führen jedoch zu Bedeutungsveränderungen. So kann etwa im Deutschen das Phonem /r/ (z.B. in dem Wort Rasen) auf unterschiedliche Art ausgesprochen werden:

• als alveodentaler Vibrant (= sog. „Zungenspitzen-R“) • als uvularer Vibrant (= sog. „Zäpfchen-R“)

Dabei handelt es sich bei beiden Aussprachevarianten um verschiedene Phone: sie werden auf unterschiedliche Art artikuliert (sie unterscheiden sich im Artikulationsort), sie haben unterschiedliche akustische Eigenschaften und können auch beim Hören voneinander unterschieden werden. Die Bedeutung des Wortes Rasen ändert sich jedoch nicht, wenn statt des Zungenspitzen- ein Zäpfchen-R gesprochen wird. Die unterschiedlichen phonetischen Realisierungen von /r/ sind hier also nicht bedeutungsunterscheidend. Der Unterschied zwischen den beiden Phonen ist also für das Sprachsystem (zumindest das deutsche) nicht relevant. Zungenspitzen- und Zäpfchen-R sind also im Deutschen keine verschiedenen Phoneme, der Unterschied ist nicht phonologisch relevant. Man bezeichnet sie daher als Realisierungen (Varianten) eines Phonems oder als Allophone.

Definition Allophon: Allophone sind verschiedenen Aussprachevarianten eines Phonems, die nicht bedeutungsrelevant sind.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Im oben skizzierten Fall können die beiden Allophone in allen Positionen gegeneinander ausgetauscht werden, nie wird die Bedeutung geändert. Laute, die in allen Positionen durch einander ersetzbar sind heißen freie Allophone. Die Tatsache, dass Allphone keine (lexikalischen oder grammatischen) Bedeutungen unterscheiden, heißt nicht, dass sie keinerlei Informationswert besitzen: ob ein Sprecher das Wort Rasen mit Zungenspitzen- oder Zäpfchen-R artikuliert, kann u.U. etwas über ihn aussagen (etwa über seine Herkunft, seinen Beruf, seine Sprechgewohnheiten). Diese Unterschiede betreffen aber nicht das Sprachsystem, sondern unterscheiden vielmehr verschiedenen Varietäten (Stilebenen, Dialekte,...). Freie Allophone können also stilistisch relevant sein. 3.2 Distributionelle Varianten Betrachten wir nun die Realisierungen der im Deutschen durch die Buchstabenkombination ch wiedergegebenen Laute. Dieser tritt in zwei Varianten auf: • am harten Gaumen artikuliert = palatal: dichten, weichen,sprechen, köcheln,

Küche, ächzen ( = sogenannter „Ich-Laut“) • am weichen Gaumen artikuliert = velar: Buch, Koch, lachen (= sogenannter „Ach-

Laut“) Diese beiden Laute können schon allein deshalb keine Bedeutungen unterscheiden, weil sie nie in derselben Position vorkommen. Es lässt sich also keine identische Umgebung finden, in denen die beiden Laute gegeneinander austauschbar wären. Man spricht in diesem Fall von komplementärer Distribution, die beiden Laute sind komplementär (sich gegenseitig ausschließend) verteilt (distribuiert).

• der Ich-Laut tritt auf, wenn ihm ein vorderer Vokal (i, ü, e, ö, ä, ei) vorausgeht. • der Ach-Laut tritt auf, wenn ihm ein hinterer Vokal (a, o, u) vorausgeht.

Die beiden unterschiedlichen Phone „Ich-„ und „Ach-Laut“ sind also ebenfalls Varianten eines Phonems. Das Phonem /ch/ wird je nach seiner Distribution (= lautlichen Umgebung) unterschiedlich realisiert. Ich- und Achlaut sind also sogenannte "distributionelle Varianten" eines Phonems.

Definition Distributionelle Variante: Distributionelle Varianten sind Aussprachevarianten eines Phonems, die nicht in identischer lautlicher Umgebung auftreten und daher nicht bedeutungsrelevant sind.

Wir können also drei verschiedene Verhältnisse zwischen zwei Phonen unterscheiden:

• zwei Phone kommen in derselben lautlichen Umgebung vor und unterscheiden verschiedene Bedeutungen = Phoneme

• zwei Phone kommen in derselben lautlichen Umgebung vor und unterscheiden keine Bedeutungen = freie Allophone eines Phonems

• zwei Phone kommen nur in unterschiedlicher lautlicher Umgebung vor und können deshalb keine Bedeutungen unterscheiden = distributionelle Varianten eines Phonems

unterschiedliche

Phone Vorkommen in derselben

lautlichen Umgebung Bedeutungsunterscheidung

Phoneme + + freie Allophone + – distributionelle Varianten – –

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Die Frage, ob der Unterschied zwischen zwei Lauten Phonemcharakter hat, ob es sich bei ihnen um freie Allophone oder um distributionelle Varianten handelt, kann nicht universal sondern nur für jede Einzelsprache extra beantwortet werden. Jede Sprache hat somit ein eigenes Inventar an Phonemen und deren Realisierung und Verteilung. Die phonologische Beschreibung einer Sprache beinhaltet also die Aufzählung der für die Bedeutungsunterscheidung relevanten Laute, d.h ihren Phonembestand (Phoneminventar), daneben auch die Kombinationsmöglichkeiten von Phonemen (suprasegmentale Phonologie). Die korrekte Realisierung von Allophonen in ihrer jeweiligen lautlichen Umgebung ist dagegen Teil der phonetischen (genauer: der artikulatorischen) Beschreibung der Sprache. 4. Phonembestimmung in den slavischen Sprachen Die phonologischen Systeme der slavischen Sprachen werden wir nun genauer betrachten. Insbesondere gilt es dabei zwischen Phonemen, freien Allophonen und distributionellen Varianten eines Phonems zu unterscheiden. Wir haben gesehen, dass wir durch die Bildung von Minimalpaaren den Phonembestand einer Sprache ermitteln können. Auf diese Weise wollen wir nun den phonematischen Charakter folgender Laute ermitteln:

• Status der palatalisierten Konsonanten im Russischen, Tschechischen • Status der palatalisierten Velare (k‘, g‘, ch‘) im Russischen • Status der Vokale и und ы im Russischen und i und y im Polnischen

4.1 Phonemcharakter palatalisierter Konsonanten Um den Phonemstatus des Merkmals palatalisiert-nichtpalatalisiert überpüfen zu können, müssen wir Minimalpaare finden, in denen lediglich ein palatalisierter und ein nichtpalatalisierter Konsonant gegeneinander ausgetauscht werden, während die lautliche Umgebung unverändert bleibt. Beispiele im Russischen:

Minimalpaar in russischer

Orthographie

Minimalpaar in Lautschrift lautliche Umgebung

Phonem-opposition

рад ряд [r a d] [r' a d] ___ ad r - r' мать мять [m a t'] [m' a t'] ___ at' m – m' саду сяду [s a d u] [s' a d u] ___ adu s - s' лук люк [l u k] [l' u k] ___ uk l – l' вол вёл [v o l] [v' o l] ___ ol v – v' вaрит вaрить [v a r ' i t ] [v a r ' i t' ] var'i ___ t – t' вон вонь [v o n] [v o n'] vo___ n – n'

In all diesen Fällen ist die lautliche Umgebung tatsächlich identisch, da die Vokalbuchstaben я, ю, ё usw. nur die Palatalität des vorausgehenden Konsonanten anzeigen. Bedeutungsunterscheidende Funktion hat in bei diesen Minimalpaaren also nur durch die unterschiedliche Palatalität der Konsonanten. Das Merkmal Palatalität Nichtpalatalität kann im Russischen also Bedeutungen unterscheiden, palatale und nichtpalatale Konsonanten sind im Russischen daher verschiedene Phoneme.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Beispiele im Tschechischen: Minimalpaar in tschechischer

Orthografie

Minimalpaar in Lautschrift lautliche Umgebung

Phonem-opposition

dej děj [d e j] [d' e j] ____ej d – ď nemá němá [n e m a:] [n' e m a:] ___ emá n – ň tele těle [t e l e] [t' e l e] ___ ele t – ť ty ti [t i ] [t' i ] ___ i t – ť tykat tikat [t i k a t] [t' i k a t] ___ ikat t – ť dýky díky [d i: k i] [d' i: k i] ___ i:ky d – ď krásný krásní [k r a: s n i:] [k r a: s n' i:] kras i: n – ň Auch hier ist die lautliche Umgebung in allen Fällen identisch, da die Vokalbuchstaben ě und i (bzw. í) lediglich die Palatalität des vorausgehenden Konsonanten anzeigen. Das Merkmal Palatalität weist also auch im Tschechischen Phonemcharakter auf, tritt allerdings nur bei den alveolar-dentalen Konsonanten d/ď, t/ť und n/ň auf. Beispiele im Polnischen:

Minimalpaar in polnischer Orthografie

Minimalpaar in Lautschrift lautliche Umgebung

Phonem-opposition

pasek piasek [p a s e k] [p’ a s e k] ____ asek p - p‘ syna sina [s i n a] [ś i n a ] ____ ina s - ś ładny ładni [l a d n i] [l a d n’ i] lad ___ i n - ń młody młodzi [m ł o d i] [m ł o dź i] mło ___ i d - dź bogaty bogaci [b o g a t i] [b o g a ć i] boga ___i t - ć mały mali [m a ł i] [m a l i] ma i ł - l 4.2 Beispiele für Allophonie in den slavischen Sprachen • Palatalität velarer Konsonanten Auch die velaren Konsonanten к, г, х treten im Russischen in 2 Allophonen auf:

o Palatale Allophone [g'], [k'], [x‘] : книги, книге, руки, руке, мухи, мухе o Velare Allophone [g], [k], [x]: книга, книгу, книгой, книгам, книгах,

книгами, рука, руку, рукой, рукам, руками, руках, муха, муху, мухой, мухам, мухах, мухами

Es gibt jedoch keine lautliche Umgebung, in der man k und k’, g und g’, x und x’ gegenseitig ersetzen könnte. Die velaren Allophone treten vor hinteren Vokalen (a, o, u), die palatalen dagegen vor vorderen Vokale (e, i) auf. Die Verteilung ist also komplementär. Das Merkmal Palatalität ist bei den velaren Konsonanten also nicht bedeutungsunterscheidend sondern hängt von der lautlichen Umgebung ab. • Allophoncharakter von russ. ы - и / poln. y und i Nachdem wir vorhin den Phonemcharakter von palatalen und nichtpalatalen Konsonanten im Russischen festgestellt haben, d.h. die bedeutungsunterscheidende Funktion der Palatalität, betrachten wir nun folgende Minimalpaare:

Minimalpaar in russischer Orthographie

Minimalpaar in Lautschrift

быть бить [b y t'] [b' i t'] мыл мил [m y l] [m' i l] вила выла [v y l a] [v' i l a] тикать тыкать [t' i k a t'] [t y k a t']

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Wir stellen fest, dass и und ы nie in identischer lautlicher Umgebung auftreten:

o ы: tritt nur nach nichtpalatalen Konsonanten ([b], m, v , t) auf o и: tritt nur nach palatalen Konsonanten (b', m', v', t') auf

Es gibt also keine lautliche Umgebung, in der sowohl ы als auch и stehen können und der Ausspracheunterschied bedeutungsunterscheidend wäre. Damit sind die Phone и und ы lediglich distributionelle Varianten eines Phonems /i/. Dieses wird jedoch je nach lautlicher Umgebung unterschiedlich realisiert:

o als [ы] nach nichtpalatalebn Konsonanten o als [и] in allen anderen Positionen: am Wortanfang: играть, nach Vokal

стоит und palatalem Konsonanten: вить Das bestätigt sich, wenn wir folgende Beispiele betrachten: • in manchen Fällen wird auch graphisches и wie ы ausgesprochen, und zwar,

wenn es (aus orthographischer Konvention) nach nichtpalatalen (harten) Konsonanten steht:

o nach den "unpaarigen" harten Konsonanten ж und ш: жизнь, хороший o Wenn Wörtern, die mit и beginnen, eine Präposition vorausgeht, die auf

harten Konsonanten endet: в институте [v ynst'itut'e] , в Италии [v Ytal'ii], из Испании [iz Yspan'ii], с интересом [s ynt'ir'esam]

• Bei der Präfigierung wird dies sogar in der Schreibung wiedergegeben, vgl.: с+играть сыграть; без+имя безымённый

Ähnlich verhält es sich im Polnischen mit den Allophonen i und y: "y" wird im Polnischen „zentralisiert“ (als ungespanntes "e") ausgesprochen. Es tritt ebenfalls nur nach nichtpalatalen Konsonanten auf, i dagegen nur nach palatalen. Bedeutungsunterscheidend ist also wiederum allein die Palatalität der Konsonanten. Im Tschechischen hingegen werden i und y identisch ausgesprochen, die beiden Grapheme i und y sind also ledichglich verschiedene Schreibweisen für dasselbe Phon. Man spricht daher von Allographen. Nach vorausgehendem d, t, n bezeichnen sie die Palatalität der Konsonanten. Nach den übrigen Konsonanten ist die Schreibung von i oder y eine reine orthographische Konvention, die keinerlei Ausspracheunterschied nach sich zieht, vgl. etwa die "Homophone" být – bít / mýt – mít. 5. Neutralisierung des Phonemunterschieds Koartikulation / Assimilation: Wir haben gesehen, dass Phoneme in Abhängigkeit von ihrer lautlichen Umgebung unterschiedlich realisiert werden können. Der Grund für diese Veränderungen der Aussprache liegt in der gegenseitigen Beeinflussung zweier benachbarter Laute der sogenannten Koartikulation. Folgen der Koartikulation können sein. • die Angleichung der Laute oder ihrer artikulatorischen Eigenschaften sein =

Assimilation. • Die Differenzierung zweier ähnlicher benachbarter Laute mit dem Ziel der

besseren Unterscheidbarkeit sein = Dissimilation. Je nach Richtung, in der die Anpassung wirkt unterscheidet man: • progressive Wirkung: der vorausgehende beeinflusst den nachfolgenden Laut. • regressive Wirkung: der nachfolgende beeinflusst den vorausgehenden Laut.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Durch die Koartikulation entstehen also Allophone (distributionelle Varianten) von Phonemen. Diese Allophone können mit anderen Phonemen identisch sein, die normalerweise durch die Artikulation unterschieden werden. Der Unterschied zwischen zwei Phonemen kann an also in bestimmten lautlichen Umgebungen aufgehoben sein. Man spricht in diesem Fall von der Neutralisierung des Phonemunterschieds. Beispiele hierfür sind v.a. der Wechsel von stimmhaften Konsonanten und ihren stimmlosen Entsprechungen. Der Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten tritt in den meisten slawischen Sprachen nur in bestimmten Positionen auf:

wenn ein Vokal nachfolgt (am Wortanfang oder in der Wortmitte): russ. дом - том tsch.: body - boty poln.: bas - pas

In anderen Positionen hingegen ist der Unterschied neutralisiert, d.h. es tritt nur die stimmlose Variante auf. Die stimmhaften Konsonanten b, v, d, z, ž, g, h haben also in diesen Positionen distributionelle Varianten, die mit den jeweiligen stimmlosen Entsprechungen identisch sind. Man spricht von der Neutralisierung des Merkmals Stimmhaftigkeit oder von der Stimmtonassimilation. Diese tritt auf:

• am Wortende: man spricht vom Stimmtonverlust im Auslaut • vor stimmlosen Konsonanten: dies ist ein Fall von regressiver Assimilation,

d.h. der vorangehende Konsonant gleicht sich im Merkmal Stimmhaftigkeit an den nachfolgenden an.

• Im Polnischen gibt es auch Beispiele progressiver Assimilation, in denen der vorausgehende Konsonant auf den nachfolgenden wirkt.

Assimilation: stimmhaft stimmlos am Wortende

Russisch Tschechisch Polnisch рад rád sad глаз obraz głaz нож muž piar гриб chyb chleb слов slov rów

книг / бог knih / bůh

regressive Assimilation: stimmhaft stimmlos vor stimmlosem Konsonanten

Russisch Tschechisch Polnisch редко prohlídka nadpsuty

procházka zszyć книжка tužka świeższy трубка obchod babka входить завтра

dívka přestávka

wkopać

lehký

progressive Assimilation stimmhaft stimmlos nach stimmlosem Konsonanten Russisch Tschechisch Polnisch

twardy sprzedawać

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Im Russischen, Tschechischen und in bestimmten Fällen auch im Polnischen kommt es bei der regressiven Assimilation zum umgekehrten Fall, dass sich stimmlose Konsonanten an den vorausgehenden stimmhaften angleichen:

regressive Assimilation: stimmlos stimmhaft vor stimmhaftem Konsonanten Russisch Tschechisch Polnisch сдача sbírat prośba также kdo także

от города s dědečkem Ein Beispiel für die Dissimilation benachbarter Laute ist die Kombination [-gk-] im Russischen. Durch Stimmtonassimilation träfen zwei identische Laute [-kk-] aufeinander. Zur besseren Unterscheidbarkeit wird daher beim ersten die Artikulationsart von plosiv zu frikativ dissimiliert [-chk-].

regressive Dissimilation der Artikulationsart: Russisch Tschechisch Polnisch лёгкий

Ausbleiben der Assimilation kann am Beispiel des Verhaltens von v im Tschechischen beobachtet werden. Dieser Laut unterliegt zwar der Assimilation (chov, dívka), bewirkt sie aber nicht selbst: svět, kvůli.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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6. Überblick über das Phoneminventar in den slavischen Sprachen Zum Abschluss betrachten wir den Phonembestand der drei von uns behandelten slawischen Sprachen im Überblick: Wenn wir die Phonembestände der drei slawischen Sprachen vergleichen, so fällt auf, dass das Russische die meisten Konsonantenphoneme aufweist, gefolgt vom Polnischen, das Tschechische die wenigsten. Das hat mit der Palatalitätskorrelation zu tun: im Russischen kommen (bis auf die 7 unpaarigen Konsonanten) alle Konsonanten als palatale und nichtpalatale Entsprechung vor, die Phonemcharakter hat. Ähnlich im Polnischen, wo lediglich bei die Palatalitätskorrelation bei r fehlt. Etwas abweichend ist die Palatalität bei den dentalen Frikativen und Affrikaten (s, z, c, dz) und bei den dentalen Plosiven (werden stärker palatalisiert: ć, dź). Im Tschechischen hingegen gibt es die Palatalitätskorrelation nur bei drei Konsonanten: den Dentalen: d, t und n (ď, ť und ň). Alle anderen Konsonanten kommen nur in nichtpalataler Form vor. Umgekehrt verhält es sich bei der Zahl der Vokalphoneme. Hier hat das Russische mit 5 die wenigsten Phoneme, das Polnische in der Mitte mit 7 Phonemen, die meisten (11) weist das Tschechische auf. Das hängt mit der Quantitätsopposition zusammen, die im Tschechischen phonematischen Charakter hat. Alle 5 Vokale treten im Tschechischen in kurzer und langer Form auf, so dass sich die Zahl der Vokalphoneme verdoppelt. Im Russischen sind hingegen nur 5 Vokalphoneme zu unterscheiden, diese treten jedoch in zahlreichen allophonischen Varianten (vgl. и und ы) auf. Im Polnischen besteht ebenfalls keine Quantitätsopposition, jedoch tritt hier das Merkmal der Nasalität in phonembildender Funktion auf. Durch die beiden Nasalvokalphoneme erhöht sich die Zahl der Vokalphoneme auf 7.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Phonembestand Russisch: 34 Konsonanten-, 5 Vokalphoneme

bilabial labiodental alveodental alveopalatal mediopalatal velar Artikulationsstelle

Artikulations- art -palatal +palatal -p +p -p +p -p +p +p -p +p

stimmhaft б б' д д' г Plosive stimmlos п п' т т' к stimmhaft Affrikaten stimmlos ц ч' stimmhaft в в' з з' ж й Frikative stimmlos ф ф' с с' ш щ' х

Nasale stimmhaft м м' н н' Laterale stimmhaft л л'

Vibranten stimmhaft р р'

и

e

a

у

о

(ы)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Phonembestand Polnisch: 33 Konsonanten-, 7 Vokalphoneme:

Prädorsal (Vorderzungenlaute) Mediodorsal (Mittelzungenlaute) Postdorsal (Hinterzungenlaute) bilabial labiodental alveodental alveopalatal mediopalatal velar

Artikulationsstelle Artikulations- art

-palatal +palatal -p +p -p +p -p +p -p +p -p +p

stimmhaft b b' d g Plosive stimmlos p p' t k stimmhaft dz dż dź Affrikaten stimmlos c cz ć stimmhaft v v' z ż / rz ź Frikative stimmlos f f' s sz ś ch

Nasale stimmhaft m m' n ń Laterale stimmhaft l

Vibranten stimmhaft r Halbvokale stimmhaft ł j

i

e

a

u

о

(y)

ąę

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Phonembestand Tschechisch: 25 Konsonanten-, 11 Vokalphoneme

Prädorsal (Vorderzungenlaute) Mediodorsal (Mittelzungenlaute) Postdorsal (Hinterzungenlaute) bilabial labiodental alveodental alveopalatal mediopalatal velar

Artikulationsstelle

Artikulations- art

-p +p -p +p -palatal +palatal -p +p -p +p -p +p

stimmhaft b d ď (g) Plosive stimmlos p t ť k stimmhaft Affrikaten stimmlos c č stimmhaft v z ž j h Frikative stimmlos f s š ch

Nasale stimmhaft m n ň Laterale stimmhaft l

Vibranten stimmhaft r ř

i í

e é

a á

u ú

o (ó)

ou

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

75

Teil 3 B: Sprachgeschichte: 1. Überblick: Periodisierung der Geschichte slavischer Sprachen 2. Sprachgeschichte: Drei wichtige Unterscheidungen

2.1. Synchrone vs. diachrone Sprachwissenschaft 2.2. Innere vs. äußere Sprachgeschichte 2.3. Lautgesetze vs. morphologischer Ausgleich

3. Ausgewählte Lautentwicklungen in den slavischen Sprachen 3.1. Palatalisierungen 3.2. Halbvokal-Entwicklung 3.3. Liquida-Metathese

Gegenstand dieses Abschnitts ist die historische Entwicklung der slavischen Sprachen. Wozu kann die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung hilfreich sein? Sie kann zum einen erklären, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den heutigen slavischen Sprachen zustandegekommen sind. Historische Kenntnisse können daneben aber auch helfen, bestimmte grammatische Erscheinungen, die in den heutigen slavischen Sprachen zu Unregelmäßigkeiten geführt haben und die wir im Fremdsprachenunterricht als „Ausnahmen“ lernen müssen, besser zu verstehen. 1. Historische Entwicklung der slavischen Sprachen im Überblick Wie in Kapitel 1.B erwähnt, gehören die slavischen Sprachen zur großen Sprachfamilie der indogermanischen Sprachen. Bereits in vorhistorischer Zeit hat sich aus der urindoeuropäischen Sprache der slavische Sprachzweig herausgebildet. Die heutigen slavischen Sprachen stammen allesamt von einer gemeinsamen Ursprache, dem sogenannten Urslavischen ab. Dieses existierte bis etwa 500 n.Chr. als einheitlicher Dialekt, die letzte Stufe vor der Trennung nennt man Gemeinslavisch (auch: Spätgemeinslavisch). Von diesem gemeinsamen Ursprache verlief die Entwicklung zunächst über die Trennung in ostslavische, südslavische und westslavische Sprachen (6. - 9. Jh.) bis hin zur Aufspaltung in Einzelsprachen (ca. um das Jahr 1000). Von da ab kommt es zu einzelsprachlichen sprachhistorischen Entwicklungen, die im folgdenden Kapiteln (4B) für das Russische, Polnische und Tschechische nachvollzogen werden soll. Hier interesseieren uns hingegen in erster Linie die ererbten slavischen Gemeinsamkeiten. Alle modernen slavischen Sprachen weisen in der einen oder in der anderen Form bis heute slavisches "Erbe" auf , d.h. sie verfügen über bestimmte Charakteristika, die bis auf die Zeit des Urslavischen zurückgehen und die sie daher mit anderen slavischen Sprachen verbinden. Dieses gemeinslavische Erbe findet sich im Wortschatz der slavischen Sprachen, aber ebenso in der Grammatik und z.T. auch in der Lautlehre. Andere, spätere Entwicklungen hingegen fanden zu einem Zeitpunkt statt, als sich die slavischen Sprachen bereits in eine ost-, süd- und westslavische Gruppe getrennt hatten. Diese Entwicklungen stellen heute Besonderheiten der west-, süd- und

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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ostslavischen Sprachen dar, die sie von den anderen Sprachgruppen trennen (sogenannte West-, Ost-, Südslavismen). Noch später kam es zu Entwicklungen, die in die Zeit nach der Trennung in Einzelsprachen fallen. Diese sind nur für eine einzelne slavische Sprache charakteristisch und können als einzelsprachliche Entwicklung gelten. Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung vom Indogermanischen bis zu den heutigen slavischen Sprachen. Die Datierungen sind nur zur groben zeitlichen Einordnung gedacht und stellen keine exakten historischen Datierungen dar.

Ungefähre Periodisierung der Geschichte einiger slavischer Sprachen Indoeuropäisch

Urslavisch

ca. 3. Jahrtausend vor bis ca. 5. Jh. n. C

hr.

Spätgemeinslavisch

6. bis 9. Jh

Ostslavisch Westslavisch

Südslavisch

ca. 10. Jh

Altostslavisch

lachische Gruppe

tschechoslova-kische Gruppe

westsüdslavische

Gruppe

ostsüdslavische

Gruppe

11.-15. Jh.

Altpolnisch 12.-15. Jh.

Slovakisch

Ur-und Alttschechisch

10.-15. Jh.

16. – Anfang 18. Jh.

Ukrainisch Weißrussisch

Altrussisch 12.-17.Jh. (wechselnde

südslavische / kirchenslavische

Einflüsse)

Mittel-polnisch

16.-18. Jh.

Mitteltschechisch 16.-18. Jh

Slovenisch

Seit dem 11. Jh.

Kajkavische, čakavische und

štokavische Denkmäler

Altkirchenslavisch (Altbulgarisch)

9.-11-Jh.

Mittelbulgarisch 12.-14.Jh.

Mazedonisch

18. Jh. bis heute

Nationalsprache ab 18. Jh

Neupolnisch seit 18. Jh.

Neutschechisch seit Mitte 18. Jh

Mitte 19.- Ende 20.Jh. Serbokroatische Standardsprache

Ende 20. Jh.

Einzelsprachen Bosnisch, Kroatisch,

Serbisch

Seit Mitte 19. Jh Neubulgarische

Standardsprache

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Sprachgeschichte: 3 wichtige Unterscheidungen Bevor wir uns den einzelnen sprachgeschichtlichen Entwicklungen zuwenden, müssen wir die folgenden Begriffe voneinander unterscheiden:

• diachrone vs. synchrone Sprachwissenschaft • innere vs. äußere Sprachgeschichte • Lautgesetze vs. morphologischen Ausgleich

2.1 Synchronie vs. Diachronie Der erste Unterschied besteht zwischen synchroner und diachroner Sprachwissenschaft. Er geht auf Ferdinand de Saussure zurück. Synchron bedeutet "gleichzeitig", diachron hingegen "ungleichzeitig". Damit ist der wichtigste Unterschied zwischen beiden bezeichnet: • die synchrone Sprachwissenschaft vergleicht verschiedene sprachliche

Phänomene (Laute, Morpheme, Wörter, Regeln, Bedeutungen) zur gleichen Zeit und versucht Regularitäten zwischen ihnen festzustellen. D

• die diachrone Sprachwissenschaft hingegen betrachtet die Entwicklung eines bestimmten Phänomens in seiner Entwicklung, d.h. über verschiedene Zeitstufen hinweg.

Beide Richtungen untersuchen also die sprachlichen Phänomene unter verschiedenen Gesichtspunkten: • die synchrone Sprachwissenschaft stellt die Frage: "Wie funktioniert das

sprachliche System (oder eines seiner Teilsysteme) zu einem bestimmten Zeitpunkt?" (nicht notwendigerweise der gegenwärtige, es kann auch ein früherer Sprachzustand synchron beschrieben werden). Die Fragestellung der synchronen Sprachwissenschaft ist also funktional oder strukturell.

• Dagegen interessiert sich die diachrone Sprachwissenschaft für die Frage: "Woher kommt das Phänomen?" "Wie ist es entstanden, wie hat es sich in der Geschichte entwickelt, wie ist es zum gegenwärtigen Zustand gekommen und welche Ursachen können dafür verantwortlich sein?" Die diachrone Fragestellung ist also historisch und kausal.

Beide Betrachtungsweisen schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Ein und dasselbe Phänomen lässt sich sowohl synchron als auch diachron erklären: z.B. werden die beiden unterschiedlichen Formen der Wurzel pros- (im Infinitiv, in der 2. Person Sg.) und proš- (in der 1. Pers. Sg.) synchron als Allomorphe eines Morphems erklärt, diachron hingegen können sie als Ergebnis einer Palatalisierung durch j beschrieben werden. Der Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit der historischen Entwicklung einer Sprache beschäftigt, wird "diachrone" Sprachwissenschaft genannt. Die Blütezeit der diachronen Sprachwissenschaft war das 19. Jahrhundert. In dieser Zeit verglich man verschiedene Sprachen miteinander und versuchte aufgrund von Gemeinsamkeiten und Unterschieden Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Sprachen festzustellen und eine historische Ursprache, aus der sich die heutigen Sprachen entwickelt haben, zu rekonstruieren. Daher nennt sich dieser Zweig der Sprachwissenschaft "historisch-vergleichend". synchrone Sprachwissenschaft diachrone Sprachwissenschaft

gleichzeitig: Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt

Fragestellung: funktional / strukturell "Wie funktioniert das System?“

ungleichzeitig: Sprache in historischer Entwicklung

Fragestellung: historisch / kausal "Woher kommt das Phänomen?"

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2.2 Innere vs. äußere Sprachgeschichte Man kann die Geschichte einer Sprache unter zwei Gesichtspunkten betrachten: • Die innere Sprachgeschichte betrachtet vorwiegend die sprachlichen

Gegebenheiten als solche und beschreibt ihre Entwicklung: Veränderungen im Lautsystem, in der Grammatik, Veränderungen in der Wortbedeutung usw.

• Die äußere Sprachgeschichte beschäftigt sich dagegen mit den außersprachlichen Gegebenheiten, die als auslösende Momente für den Wandel der Sprachen gewirkt haben könnten. Dies können geographische Bedingungen (etwa die Völkerwanderung) sein, die zur Trennung von verwandten Sprachen führen, aber auch zum Kontakt und zur gegenseitigen Beeinflussung zweier nichtverwandter Sprachen. Daneben beschreibt die äußere Sprachgeschichte auch Veränderungen politischer, sozialer und kultureller Art, die sich auf die Sprache auswirken: das Auftauchen neuer Erfindungen, neuer Textsorten, literarischer Genres, der Wandel des politischen Systems, das Entstehen neuer sozialer Schichten usw.

Die äußere Sprachgeschichte wird unser Thema in den nächsten Wochen sein, wir werden uns die Entwicklung der russischen, polnischen und tschechischen Literatursprache in ihrem historischen Verlauf und unter den herrschenden historischen Bedingungen ansehen. Heute wollen wir einen kurzen Blick auf die innere Sprachgeschichte und ihre Auswirkungen in den modernen Slavinen werfen.

Innere Sprachgeschichte Äußere Sprachgeschichte sprachliche Phänomene und ihre innere Logik;

sprachimmanente Gründe für Veränderungen

außersprachliche Phänomene und ihre Auswirkungen auf die Sprache;

externe Auslöser für Veränderungen

2.3 Lautgesetze vs. morphologischer Ausgleich Innerhalb der inneren Sprachgeschichte sind zwei gegenläufige Prinizipien wirksam, die gegeneinander arbeiten und von denen sich mal das eine, mal das andere Prinzip durchsetzt: Lautgesetze und morphologischer Ausgleich: Lautgesetze sind Regeln, nach denen die Entwicklung eines Lautes in Abhängigkeit von seiner Umgebung präzise vorhergesagt werden kann: Lautgesetze werden bei der Rekonstruktion älterer Sprachstufen aufgestellt und erklären die unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen zweigen. Lautgesetze haben die allgemeine Form: x > y / a _ b was soviel bedeutet wie: "X wird zu Y in der Umgebung nach a und vor b" Zwei Beispiele für Lautgesetze aus der slavischen Sprachgeschichte sind: k > c / _ e „k wird in Position vor e zu c“ s + j > š „s und j verschmelzen in direktem Kontakt zu š“ Das gegenläufige Prinzip ist der sogenannte morphologische Ausgleich. Die mechanische Befolgung der Lautgesetze führt nämlich häufig dazu, dass innerhalb eines Paradigmas (d.h. innerhalb des Deklinations- oder Konjugationsmuster eines Worts) Unregelmäßigkeiten entstehen. Sprachen haben aber die Tendenz zur Regelmäßigkeit, d.h. zu einem möglichst einheitlichen und durchschaubaren System. Daher versuchen sie, Unregelmäßigkeiten möglichst zu vermeiden und zu beseitigen. Ein Beispiel aus dem Deutschen wäre die fortschreitende Tendenz, aus unregelmäßigen starken Verben regelmäßige schwache Verben zu machen: etwa fragen – fragte oder backen – backte, wo früher die starken Formen "frug" oder "buk" auftraten.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Die beiden oben beschriebenen Lautgesetze führen in den slavischen Sprachen zu folgenden Unregelmäßigkeiten: Wo in der Deklination von Substantiven, die auf -k auslauten, ein -e als Endung auftrat, kam es zum Wechsel von k zu c (Beispiel ruka). Wo in der Konjugation von Verben mit dem Themavokal -i- eine vokalische Endung auftrat, wurde das i zuerst unsilbisch, dann zu j, welches daraufhin mit dem vorangehenden s zu š verschmolz (Beispiel prosit).

In manchen slavische Sprachen wurden nun diese Unregelmäßigkeit durch morphologischen Ausgleich wieer beseitigt: Das Russische hat den Wechsel k c rückgängig gemacht, und damit heute ein regelmäßiges Deklinationsparadigma:

Das Tschechische hat prošu durch die regelmäßige Form prosím ersetzt und damit ein heute einheitliches Konjugationsparadigma.

Beide morphologischen Ausgleiche führten jedoch dazu, dass die heutigen Formen руке (russ.) und prosím (tsch.) lauthistorisch nicht mehr korrekt hergeleitet werden können. Diachron gesehen stellen sie also Unregelmäßigkeiten dar. Die Wechselwirkung zwischen Lautgesetzen einerseits und morphologischem Ausgleich andererseits lässt sich in etwa so darstellen:

Nom. ruka Infin. prosit Gen. ruky 1. Sg prošu Akk. ruku 2. Sg. prosiš Instr. ruką 3. Sg. prosit Dat. / Lok. ruce 1. Pl. prosim(e) 2. Pl. prosite 3. Pl. prosęt

Nom. рука Gen. руки Akk. руку Instr. рукой Dat. / Lok. руке

Infin. prosit 1. Sg prosím 2. Sg. prosíš 3. Sg. prosí 1. Pl. prosíme 2. Pl. prosíte 3. Pl. prosí

Lautgesetz ↓ diachron regelmäßig synchron unregelmäßig morphologischer Ausgleich ↓

synchron regelmäßig diachron unregelmäßig

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3. Drei wichtige Lautentwicklungen in den slavischen Sprachen Betrachten wir nun exemplarisch drei Entwicklungen im Lautsystem der slavischen Sprachen genauer und sehen uns an, wie sie sich in den heutigen slavischen Sprachen (z.T. unterschiedlich entwickelt haben). 1. Palatalisierungen, d.h. die Entwicklung der velaren Konsonanten k, g, ch zu den

alveopalatalen č, š, ž (oder dž) bzw. zu alveodentalen c, s, z (oder dz). 2. Entwicklung der Halbvokale, d.h. extrem kurzer (reduzierter) Vokale, die in den

heutigen slavischen Sprachen für das Phänomen der „flüchtigen“ Vokale verantwortlich sind

3. Die sogenannte Liquidametathese, d.h. die Umstellung von Vokal und den Liquiden r und l. Diese ist heute v.a. für lautliche Unterschiede zwischen den slavischen Sprachen verantwortlich.

3.1 Palatalisierungen Unter (historischer) Palatalisierung versteht man die Entwicklung von nichtpalatalen Lauten zu palatalen, d.h. eine Verschiebung des Artikulationsorts hin zum harten Gaumen (Palatum). Von der Palatalisierung betroffenen sind die velaren Konsonanten k, g und ch. Die Verschiebung wird ausgelöst durch die lautliche Umgebung. Stehen die Velare in direktem Kontakt mit einem vorderer Vokal (e, i, ě, ę, ь) oder j, so verändern sie aufgrund der Koartikulation - der gemeinsamen Artikulation zweier im Redefluss unmittelbar aufeinanderfolgener Laute - ihre Eigenschaften. Die am hinteren Gaumen artikulierten Velare orientieren sich in Richtung der Vokale, der Artikulationsort wandert vom harten Gaumen (Velum) allmählich nach vorne, aus velaren Konsonanten werden zunächst palatale, aus diesen dann später alveopalatale oder alveodentale:

k k' ć č' č c' c; g g' dź dž' dž ( ž) dz' dz ( z); ch ch' ś š' š s' s;

Bei den Plosiven k und g verändert sich darüberhinaus der Artikulationsmodus: aus dem plosiven k werden die Affrikaten č bzw. c, aus dem plosiven g werden zunächst auch Affrikaten (dž bzw. dz), die sich dann sogar noch weiter zu reinen Frikativen entwickeln (ž bzw. z). Lediglich bei der Entwicklung des ch bleibt die frikative Artikulationsart erhalten.

Die Palatalisierung ist kein rein slavischsprachiges Phänomen. Durch Koartikulation verursachte Lautveränderungen dieser Art können wir in vielen Sprachen beobachten, im Deutschen etwa bei Fremdwörtern lateinischen Ursprungs (Provokation - provozieren) oder in bestimmten Dialekten („Isch liebe disch“).

Im Laufe der historischen Entwicklung des Slavischen gab es drei "Wellen" der Palatalisierung: man spricht daher von der 1., 2. und 3. Palatalisierung, sowie von der j-Palatalisierung. 1. Palatalisierung:

Der Vokal steht hinter dem Velar und wirkt nach vorne (regressiv). Das Ergebnis sind die Alveopalatale č, ž und š. k č: russ.: рука ручка; tsch.: ruka ručka; poln. ręka rączka

(Auslöser ist in allen Fällen das Verkleinerungssuffix –ьkъ) g ž: russ.: могу можешь; tsch. mohu můžeš; poln.: mogę możesz

(Auslöser ist hier die Personalendung -eš) ch š: russ.: сухой сушить; tsch.: suchý sušit; poln.: suchy suszyć

(Auslöser ist hier das verbale Suffix -i-)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Palatalisierung:

Auch hier steht der Vokal steht hinter dem Velar und wirkt nach vorne (regressiv). Das Ergebnis sind im Unterschied zur ersten Palatalisierung jedoch die Alveodentale c, z (bzw. dz) und s (bzw. š). Die Ergebnisse der 2.Palatalisierung sind heute v.a. in der Deklination zu beobachten, v.a. in den Endungen von Dativ und Lokativ Singular und im Nominativ Plural, da hier die Endungen einen vorderen Vokal beinhalteten. • k c: tsch.: ruka v ruce; poln.: ręka w ręce. • g z / dz: Im Tschechischen wandelte sich später noch g zu h, so dass

heute die Alternation h zu z auftritt: noha na noze. Im Polnischen tritt die Alternation g

dz auf: noga na nodze. • ch š: (im Westslavischen): tsch.: střecha na střeše; poln.: mucha -

musze. In den südslavischen Sprachen dagegen ch s, vgl. BKS: tepih na tepisima.

Das heutige Russische hat die Ergebnisse der zweiten Palatalisierung durch morphologischen Ausgleich (bis auf wenige Ausnahmen, etwa друг друзья) beseitigt. Es gab sie jedoch noch im Altrussischen sowie in den anderen ostslavischen Sprachen Ukrainisch und Weißrussisch.

3. Palatalisierung: Auslöser sind wieder vordere Vokale, diesmal ist die Wirkungsrichtung jedoch progressiv, d.h. der auslösende Vokal steht vor dem betreffenden Konsonanten. Ergebnisse der 3. Palatalisierung sind nur noch in einigen Wörtern, etwa:

отец / otec / ojciec „Vater“ aus *otьkъ князь / kněz / ksiądz „Fürst bzw. Priester“ aus *knęgъ всё / všechno / wszystko „alles“ aus *vьcho)

erhalten und nicht mehr im Formbildungs- oder Wortbildungssystem erkennbar.

auslösender Laut Richtung betroffener

Laut Ergebnis Beispiele

1. Palatalisierung voderer Vokal

regressiv

k g

ch

č ž š

ручка – ručka - rączka книжка – knižka – księżka сушить – sušit – suszyć

2. Palatalisierung voderer Vokal

regessiv

k g

ch

c z

š westsl. s südsl.

v ruce – w ręce na noze – na nodze o mouše – o musze

3. Palatalisierung voderer Vokal

progressiv

k g

ch

c z

s ostsl. š westsl.

отец – otec – ojciec князь – kněz – ksiądz всё – všechno – wszystko

J-Palatalisierung Von der j-Palatalisierung sind nicht nur die velaren, sondern auch andere Konsonanten betroffen: die Alveodentale d, t, s, z, die Konsonanten-gruppen kt, gd, im Russischen zusätzlich die Labiale. Der auslösende Laut j verschmilzt mit dem vorangehenden Konsonanten und ist daher in den resultierenden Formen nicht mehr erkennbar. J-Palatalisierungen treten in verschiedenen Formen auf: in der 1.Person Singular (v.a. bei Verben der i-Konjugation), beim Partizip Passiv, bei der Bildung von Verbalsubstantiven.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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betroffener Laut

Ergebnisse Beispiele

ktj tj dj

ostsl.č westsl. c südsl. щ ostsl.č westsl. c südsl. щ

ostsl. ž westsl. z südsl. жд

ночь – noc - noc свеча – svíce - świeca чужой – cizí - cudzy

sj zj

š. ž

пишу – píšu – piszę покажу – ukážu – pokażę

b p v m

bl pl vl ml

люблю – líbím - lubię куплю – koupím - kupię ловлю – lovím – lowię земля – země - ziemia

3.2 Halbvokale Unter Halbvokalen versteht man extrem kurze (sogenannte "reduzierte") Vokale, die im Urslavischen noch vorhanden waren, in den modernen slavischen Sprachen jedoch nicht mehr existiern. Sie wurden entweder zu normalen (sog. "Vollvokalen" = Hebung der Halbvokale) oder sind verschwunden (= Ausfall der Halbvokale). Dieser Ausfall der Halbvokale ist für das in allen slavischen Sprachen bekannte Phänomene der sog. "flüchtigen" Vokale verantwortlich: ein Vokal, der in einer Form vorhanden ist (z.B. im Nom. Sg. день / den / dzień) fehlt in anderen Formen (etwa im Gen. Sg. дня / dne / dnia). Das Urslavische hatte zwei Halbvokale: einen hinteren („harten“, geschrieben: ъ ) und einen vorderen („weichen“, geschrieben: ь ). Bei der Hebung der Halbvokale behielten die ostslavischen Sprachen diesen Unterschied bei (der hintere Halbvokal wurde zu o, der vordere zu e), die westslavischen Sprachen gaben ihn auf (beide wurden zu e). Die Entwicklung der Halbvokale hängt von der Position ab, die sie im Wort innehatten:

• Standen sie an letzter Stelle im Wort oder unmittelbar vor einem Vollvokal, so kam es zum Ausfall.

• Standen sie jedoch unmittelbar vor einem anderen Halbvokal, so wurden sie „gehoben“, d.h. sie wurden selbst zu Vollvokalen.

Daher sind heute „flüchtige“ Vokale v.a. in Formen anzutreffen, in denen keine Endung mehr folgt. Historisch ist die heutige „Nullendung“ aus einem ausgefallenen Halbvokal entstanden. Der unmittelbar vor ihr stehende Halbvokal wurde deshalb zum Vollvokal. In anderen Fällen, wo ein Vollvokal in der Endung stand, fiel dagegen der Halbvokal aus. Einige Beispiele: Ordnung (Nom. Sg.) - in Ordnung (Lok. Sg.)

Nom Sg. Lokativ / Präpositiv Sg. urslavisch *por'ędъkъ *vъ por'ędъkе russ. порядок в порядке tsch. pořádek v pořádku poln. porządek w porządku

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Tag (Nom. Sg.) - des Tages (Gen. Sg.) Nom Sg. Genitiv Sg.

urslavisch *dьnь *dьn’a russ. день дня tsch. den dne poln. dzień dnia Fenster (Gen. Pl.) - Fenster (Nom. Sg.)

Genitiv Plural Nom Sg. urslavisch *okъnъ *okъno russ. окон окно tsch. oken okno poln. okien okno 3.3 Liquidametathese Mit dem Begriff Liquidametathese bezeichnet man die Umstellung (Metathese) der Kombination Vokal + liquider Konsonanten (R oder L). Dabei tauschten Vokal und Liquid die Plätze, d.h. aus einer Folge CVLC (consonant – vowel – liquid – consonant) wurde die Folge CLVC. Beispiele: melk – mlek; gort – grod; golv – glov; golt – glot, usw. Diese Umstellung fand in allen slavischen Sprachen statt und unterscheidet sie von anderen indoeuropäischen Sprachen, die z.T. dieselben Wortwurzeln kennen. Unterschiedlich verlief jedoch die weitere Entwicklung der Ergebnisse dieser Umstellung:

• In den südslavischen Sprachen und in der tschechischoslovakischen Gruppe der westslavischen Sprachen wurde der Vokal danach gedehnt, aus langem o wurde dabei a: mléko, grad, glav, zlat.

• Im Polnischen blieb der Vokal kurz: mleko, gród, głowa, złoto. • In den ostslavischen Sprachen, kam es zum sogenannten Volllaut

(Polnoglasie), d.h. es wurde vor dem Liquid ein zusätzlicher Vokal eingeschoben: moloko, gorod, golova, zoloto.

Beispiele für Ergebnisse der Liquidametathese finden sich in den heutigen slavischen Sprachen noch zahlreich. Sie treten in verschiedenen Wortarten auf: bei Substantiven Adjektiven, Verben, sogar bei Präpositionen und Präfixen. Neben der Lautung konnte sich dabei in der einzelsprachlichen Entwicklung auch die Bedeutung verschieben (vgl. etwa das Beispiel город „Stadt“ - hrad „Burg“). Das Beispiel der Entwicklung des historischen Eigennamens Karls des Großen, der in der Bedeutung

KONSONANT – VOKAL – LIQUID – KONSONANT

KONSONANT –LIQUID – VOKAL – KONSONANT

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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„König“ in allen slavischen Sprachen auftritt, lässt eine historische Datierung der lautlichen Veränderung zu. Es zeigt, dass dieser Sprachwandelprozess zu Lebzeiten Karls (d.h. nach dem Jahr 800) noch aktiv gewesen sein muss. Einige Beispiele:

vermutete indoeuropäische

Form Russisch Tschechisch Polnisch

Beispiele aus anderen

indoeuropäischen Sprachen

*melk молоко mléko mleko dt.: Milch, engl.: milk

*gord город Bedeutung: Stadt

hrad Bedeutung: Burg

gród veraltet: Burg

dt.: Garten, engl.: garden, frz.:

jardin, lat.: hortus *chold xолод chlad chłód vgl. dt. kalt

*zolt золото zlato złoto vgl. dt. Gold

*gols голос hlas głos vgl. dt. Hals

*karl король král król vom Eigennamen Karl, der Große

andere Wortarten: *kort- короткий krátký krótki vgl. dt. kurz

*mol-ti молоть mlít mleć vgl. dt. mahlen

*perd перед před przed

Im Russischen existiert eine Reihe von Wörtern, die nicht die ostslavische Lautung mit Volllaut aufweisen, sondern die südslavische Entsprechung mit Liquidametathese und Dehnung. Diese Wörter entstammen nicht dem (ostslavischen) Russisch, sondern sind aus dem Südslavischen entlehnt und über das sogenannte Russisch-Kirchenslavische in das heutige Russische gelangt. Man spricht daher von „Südslavismen“ im heutigen Russischen. Im modernen Russischen gibt es daher auch Fälle, in denen beide Formen (die ostslavische und die südslavische) nebeneinander bei demselben Wort vorkommen. Dabei kam es zu einer Differenzierung der Bedeutung: häufig hat dabei das ostslavische Wort eine konkretere, die südslavische Entsprechung dagegen eine eher abstrakte Bedeutung, vgl. die Beispiele:

голова „Kopf“ - глава „(Buch-)Kapitel; Oberhaupt“ переворот „Umsturz“ - преврат „Verwandlung“

Die südslavische Variante findet daneben oft Verwendung bei der Bildung von Städtenamen und Wortzusammensetzungen: Städtenamen auf -град: Ленинград, Волгоград - aber: Новгород Komposita des Typs: хладотехника – "Kühltechnik"

Wissenschaftliche Termini: млечный путь – "Milchstraße" Politische Begriffe: гласность - „Lautstärke, Öffentlichkeit“

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Teil 4 A: Morphologie 1. Definition Morphem 2. Ermittlung von Morphemen 3. Morphemklassen

3.1. Nach der Bedeutung: grammatische und lexikalische Morpheme 3.2. Nach der Position im Wort: Wurzeln, Affixe, Endungen 3.3. Nach Art der Realisierung 3.4. Nach der Distribution: freie und gebundene Morpheme

4. Allomorphie 5. Wortarten

5.1. Einteilung der Wortarten 5.2. Definitionsmöglichkeiten

6. Grammatische Kategorien 6.1. Nominalkategorien 6.2. Verbalkategorien

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der linguistischen Beschreibungsebene der Morphologie. Ihr Gegenstand sind die Morpheme. Wir werden zunächst den Begriff Morphem definieren (4.1) und eine Methode zur Ermittlung von Morphemen kennenlernen (4.2). Danach werden wir die Morpheme in Klassen einteilen: je nach der Art der Bedeutung, die sie tragen (4.3), und nach der Position, die sie im Wort einnehmen (4.5). Schließlich werden wir verschiedene Formen der Realisierung von Morphemen kennenlernen (4.5) In den Kapiteln 4.6 und 4.7 schließlich werden wir uns genauer mit einem Teilgebiet der Morphologie auseinandersetzen: der grammatischen Morphologie. Hier werden uns die Begriffe „Wortart“ und „grammatische Kategorie“ besonders interessieren. 1. Definition Morphem In den beiden vorhergendenen Kapiteln haben wir die kleinsten Einheiten untersucht, in die man sprachliche Äußerungen zerlegen kann, die Laute. In diesem Kapitel wollen wir die nächsthöhere linguistische Beschreibungsebene betrachten. Welche ist das? Ist es bereits die Ebene des Wortes? Oder existiert zwischen Laut und Wort noch eine weitere Beschreibungsebene? Wir haben gesehen, dass ein Phonem selbst noch keine Bedeutung trägt, sondern nur zur Unterscheidung von Bedeutungen beitragen kann. Welches sind nun die kleinsten sprachlichen Einheiten, die selbst Bedeutung tragen? Fügt man Phoneme zu größeren Einheiten zusammen, so erhält man als nächstgrößere phonologische (phonotaktische) Einheit die Silbe: Silben müssen als Silbengipfel immer einen Vokal (oder einen silbischen Konsonanten) aufweisen. Doch auch Silben müssen noch nicht Träger einer Bedeutung sein. Betrachten wir etwa in unseren 3 slavsichen Sprachen das Wort für „Schule“

russ. школа, tsch. škola, poln. szkoła

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Wir sehen, dass dieses Wort in allen drei Sprachen aus 2 Silben besteht: russ. шко – ла, tsch. ško – la, poln. szko – ła

Doch keine der beiden Silben verfügt über eine eigene Bedeutung. Die Einteilung in Silben berücksichtigt also die Bedeutung nicht, sondern folgt rein phonetischen Überlegungen. Berücksichtigen wir die Bedeutung bei der Einteilung der Wörter jedoch mit, so erhalten wir dagegen die Wortbestandteile:

russ. школ – а, tsch. škol – a, poln. szkoł – a Diese Bestandteile tragen sehr wohl eine eigene Bedeutung: die Bestandteile школ, škol, szkoł können selbstständig im Text auftreten, als Form des Genitiv Plural. Der Bestandteil –a hingegen hat die Bedeutung „Nominativ Singular“. Man erhält so also Wortbestandteile, die selbst Bedeutung tragen. Diese Einheiten bezeichnet man als Morpheme. Morpheme sind abstrakte Einheiten mit identischer Bedeutung auf langue-Ebene, ihre konkreten Realisierungen im Text bzw. in der gesprochenen Äußerung (auf parole-Ebene) nennt man Morphe:

Definition Morphem: Ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit auf der Ebene des Sprachsystems (langue-Ebene).

Morpheme werden in geschweiften Klammern { } geschrieben. Ein Morph ist dagegen die konkrete Realisierung eines Morphems auf der Ebene des Textes / der Äußerung (parole-Ebene). 2. Ermittlung von Morphemen: Zur Ermittlung von Morphemen bedienen wir uns zweier Schritte: 1. Segmentieren: Zerlegen einer unsegmentierten Einheit in bedeutungstragende

Einheiten 2. Klassifizieren: Einteilung der gefundenen Einheiten in Klassen eingeteilt Wie stellen wir nun fest, wo die Grenze zwischen zwei Morphemen liegt? Wo müssen wir trennen, wenn wir ein Wort in seine bedeutungstragenden Abschnitte einteilen wollen? Ähnlich wie bei der Bestimmung von Phonemen, gehen wir vom Prinzip der Opposition aus. Wir betrachten dabei Wörter, die sich nur durch ein Morphem unterscheiden. Die Morphemgrenze (#) setzen wir dort an, wo Gleichbleibendes und Veränderliches zusammentreffen. Betrachten Sie dazu die Beispiele auf dieser und der folgenden Seite: Beispiel 1:

russ.: школа, школы, школе, школу, школой, школ, школам, школами, школах

tschech.: škola, školy, škole, školu, školo, školou, školy, škol, školám, školami, školách

poln.: szkoła, szkoły, szkole, szkołę, szkoło, szkołą, szkoły, szkoł, szkołom, szkołami, szkołach

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Beispiel 2: russ.: школа, рука, книга, сестра, песня, аудитория tschech.: škola, ruka, kniha, sestra, voda poln.: szkoła, ręka, księżka, siostra

Beispiel 3: aus dem Bereich des Verbums: russ.: хвалю, хвалишь, хвалит, хвалим, хвалите, хвалят tschech.: chválím, chválíš, chválí, chválíme, chválíte, chválí poln.: chwalę, chwalisz, chwali, chwalimy, chwalicie, chwalą

Beispiel 4: russ.: хвалю, говорю, варю, читаю, советую, несу tschech.: chválím, mluvím, vařím, chodím, čistím poln.: chwalę, mówę, varzę, chodzę, ????

russisch tschechisch polnisch школ а škol a szkoł a школ и škol y szkoł y школ е škol e szkol e школ у škol u szkoł ę škol o szkoł o школ ой škol ou szkol e школ е škol e szkoł ą школ и škol y szkoł y школ škol szkoł школ ам škol ám szkoł om школ и škol y szkoł y школ ами škol ami szkoł ami школ ах škol ách szkoł ach

russisch tschechisch polnisch школ а škol a szkoł a рук a ruk a ręk a книг a knih a księżk a сестр a sestr a siostr a песн‘ a

russisch tschechisch polnisch хвал’ у chvál ím chwal ę хвал’ ишь chvál íš chwal isz хвал’ ит chvál í chwal i хвал’ им chvál íme chwal imy хвал’ ите chvál íte chwal icie хвал’ ат chvál í chwal ą

russisch tschechisch polnisch хвал’ у chvál ím chwal ę говор у mluv ím mów ę вар у vař ím var ę читай у chod ím chod ę советуй у čist ím нес у vid ím

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3. Morphemklassen 3.1 Nach Art der Bedeurung: Grammatische und lexikalische Morpheme (Formbildung und Wortbildung) Nachdem wir auf durch Segmentierung die Grenzen der Morpheme festgestellt haben, können wir die gefundenen Morpheme in einem nächsten Schritt klassifizieren, d.h. nach ihren Eigenschaften in Klassen einteilen. Das wichtigste Einteilungskriterium ist dabei die Art der Bedeutung, die die Morpheme in die Gesamtbedeutung des Wortes einbringen. Sehen wir uns die Art der Veränderung der Bedeutung an in unseren Beispielen an: o Im Beispiel 1 blieb der Ausdruck школ / škol / szkoł konstant, es änderte sich

nur das Wortende. Auch der Inhalt "Schule" blieb gleich, lediglich die zusätzliche Bedeutungen "Kasus" bzw. "Numerus" wurden geändert.

o Im Beispiel 3. blieben der Teil хвал / chvál / chwal und der Inhalt „loben“ konstant, nur die zusätzliche Information „Person“ und „Numerus“ wurde verändert.

Solche Veränderungen, bei denen die lexikalische Grundbedeutung erhalten bleibt, nennen wir Formbildung oder Flexion. Dabei entstehen keine neuen Wörter, sondern nur neue Wortormen (grammatische Formen eines Worts). Wortformen haben keinen eigenen Eintrag im Lexikon und bilden daher keine neuen Lexeme.

Definition grammatisches Morphem: Morpheme, die kein neues Lexem bilden, sondern nur Formen eines Lexems verändern nennen wir grammatische Morpheme. Ihren Beitrag zur Gesamtbedeutung nennen wir grammatische Bedeutung, den Vorgang selbst Formbildung oder Flexion. o Im Beispiel 2 hingegen blieb die grammatische Bedeutung „Nominativ Singular“

erhalten, es änderte sich jedoch die lexikalische Wortbedeutung (Schule, Hand, Buche, Wasser, Schwester, Lied, Hörsaal, …).

o Im Beispiel 4 blieb die grammatische Bedeutung „1. Person Singular“ konstant, es änderte sich ebenso die lexikalische Wortbedeutung (loben, sprechen, kochen, lesen, raten, tragen, gehen, sehen, putzen, … ).

Diese Art von Veränderungen, bei denen sich die lexikalische Grundbedeutung verändert, nennen wir Wortbildung oder Derivation. Dabei entstehen neue Wörter, die einen eigenen Eintrag im Lexikon haben und daher verschiedene Lexeme darstellen.

Definition lexikalisches Morphem: Morpheme, die und ein neues Wort bilden, das einen eigenen Eintrag im Lexikon erhält, nennnen wir lexikalische Morpheme. Ihren Beitrag zur Gesamtbedeutung nennen wir lexikalische Bedeutung, den Vorgang selbst Wortbildung oder Derivation.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Formbildung Wortbildung

grammatische Morphologie = Flexion

lexikalische Morphologie = Derivation

• kein eigener Wörterbucheintrag • "Form" eines Wortes • grammatische Bedeutung ändert sich • grammatische Morpheme (Endungen,

Affixe)

• eigener Wörterbucheintrag • neues Wort (Lexem) mit eigenen

Formen • lexikalische Bedeutung ändert sich • lexikalische Morpheme (Wurzeln,

Affixe) • geschlossene Klasse: Es kommen

keine neuen Einheiten hinzu, die Anzahl grammatischer Morpheme ist begrenzt, und kann vollständig aufgezählt werden.

• offene Klasse: es können neue Einheiten hinzukommen, die Anzahl lexikalischer Morpheme ist daher prinzipiell unbegrenzt, und kann nicht vollständig aufgezählt werden.

3.2 Nach der Position im Wort Morpheme können darüber hinaus nach ihrer Position im Wort eingeteilt werden. Man unterscheidet demnach:

• Wurzelmorpheme • Endungsmorpheme • Affixmorpheme

Wurzelmorpheme (Wurzeln): Alle autosemantischen Wörter verfügen über mindestens ein Wurzelmorphem. Wurzelmorpheme sind immer lexikalische Morpheme. Sie tragen die lexikalische Kernbedeutung. In unseren Beispielen waren Wurzelmorpheme:

рук, вод, сестр, стран, книг; говор, читай, нес, пиш ruk , vod, sestr, škol, knih; mluv, chval, vař, …

Endungsmorpheme (Endungen): Endungsmorpheme tragen ausschließlich grammatische Bedeutung. In der Regel stehen sie nach der Wurzel, jedoch nicht immer am Ende des Wortes. Endungsmorpheme in unseren Beispielen waren: a, и, е, у, ой, ам, ах, ами und Ø. Affixmorpheme (Affixe): Affixmorpheme werden an die Wurzel angefügt und können lexikalische oder grammatische Bedeutung haben. Meist bringen sie in die lexikalische Kernbedeutung der Wurzel eine zusätzliche Bedeutung ein. Diese ist jedoch lexikalischer Art, da sie die Wortbedeutung verändert und zu einem neuen Lexikoneintrag führt: student + ka studentka: Zusatzbedeutung „weiblich“ učit + tel učitel: Zusatzbedeutung „Ausführender der Handlung“ pra + les prales: Zusatzbedeutung „Ur-“ In bestimmten Fällen können Affixe aber auch grammatische Bedeutung haben: - bei den sogenannten „aspektändernden“ Präfixen: на + писать написать / na + psát napsat / na + pisać napisać - bei der Bildung des sogenanntent „reflexiven Passiv“:

писать + ся Письмо пишется. psát + se Dopis se píše. pisać + się List pisze się.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Wurzel immer lexikalische Bedeutung Affix lexikalische oder grammatische Bedeutung

Endung immer grammatische Bedeutung

Affixe werden je nach ihrer Position im Wort unterschieden in:

• Präfixe: stehen vor der Wurzel: пра-бабушка, за-говорить, до-писать, ...

pra-les, za-plákat, do-psat pra-dziadek, za-kupywać, do-pisać

• Suffixe: stehen nach der Wurzel: учи-тель, учитель-ниц-а, крас-от-а, совет-ова-ть

uči-tel, učitel-k-a, tepl-ot-a, telefon-ova-t pracow-nik, park-owa-ć

• Postfixe: stehen nach der Endung: учить-ся: учу-сь, учишь-ся,… kdo-si, koho-si, komu-si,…; kdo-koliv, koho-koliv,… coś, czegoś, czemuś....

• Extrafixe: stehen graphisch außerhalb des Wortes, tragen aber einen Teil der Gesamtbedeutung. Man spricht daher von diskontinuierlichen Wörtern. Beispiele: im Deutschen: abtrennbare Präfixe:

Verena darf am Samstag im Stadttheater auftreten. Verena tritt am Samstag im Stadttheater auf.

im Tschechischen und Polnischen : Reflexivverben Petr se už několik let pilně učí německy.

Piotr się długo uczy.

• Zirkumfixe: Kombination aus Präfix und Suffix / Präfix und Postfix / Präfix und Extrafix, die gleichzeitig an die Wurzel antreten. Man spricht hier von diskontinuierlichen Morphemen: im Deutschen: Präfix + Suffix: ge + lern + t gelernt : Zirkumfix: ge-__-t im Russischen: Präfix + Postfix: до + звать + ся дозваться. Zirkumfix: до-__-ся im Tschechischen: Präfix + Extrafix: na + jíst + se najíst se. Zirkumfix: na-__ se

Endung: grammatikalische Zusatzbedeutung

Wurzel: lexikalische Kernbedeutung

Affix: lexikalische Zusatzbedeutung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Morphemklassen im Überblick

Benennung Bedeutung Beispiele

Wurzelmorpheme lexikalischer Kern

дом, книг, говор, пиш, молод, добр dům, knih, mluv, píš, mlad, dobr dom, księg, młów, pisz, młod, dobr

Affixmorpheme

Präfixe раз вы- , от- roz-, vy- , od- roz-, wy-, ot-

Suffixe -тель / -к- / -ниц- -tel / -k- / -nic- -ciel, -k-, -nic-

Postfixe / Extrafixe

lexikalische (oder grammatikalische) Zusatzbedeutung

-ся se się

Endungsmorpheme

grammatikalische Zusatzbedeutung

-a / -у / -ишь / -л / -ой / -ого -u, -ím / -íš / -l / -ý / -ého -a, -ę, -isz, -ł, -y, -ego

3.3 Nach Art der Realisierung Daneben kann man Morpheme einteilen nach der Art ihrer Realisierung und nach ihrem Vorkommen (Verteilung / Distribution). Nach der Art ihrer Realisierung unterscheidet man realisierte und nichtrealisierte Morpheme. Ein Morphem kann demnach wir folgt realisiert sein: Durch mehrere Laute (школ; škol; szkoł), durch einen Laut: (-a / -y / -e / -u, … ) oder durch gar keinen Laut (nicht realisiert = Nullmorphem). Hier drückt das Fehlen eines Lauts drückt eine bestimmte (meist grammatikalische) Bedeutung aus:

o Nominativ Singular der Maskulina: student o Genitiv Plural der Feminina und Neutra: knih, aut o Tschechisch und Polnisch: 3. Person Singular in der Konjugation:

Prosisz, prosimy, prosicie : prosi Prosím, prosíš, prosíme : prosí

o Imperativ: dt.: geh; russ.: читай; poln.: chodź, tsch.: mluv 3.4 Nach der Distribution: freie und gebundene Morpheme Nach dem Vorkommen (der Verteilung / Distribution) unterscheidet man freie und gebundene Morpheme. Freie Morpheme können (etwa in Verbindung mit einem Nullmorphem) als selbständige Wörter vorkommen, gebundene Morpheme dagegen kommen nur in Kombination mit anderen (realisierten) Morphemen (als Wortbestandteile) vor. Meist handelt es sich bei freien Morpheme um lexikalische Morpheme, bei gebundenen Morphemen dagegen um grammatische Morpheme. Es existieren jedoch auch gebundene lexikalische Morpheme (Affixe), in Einzelfällen sogar gebundene Wurzeln (vgl. etwa dt. Him-beere, russ. до-стичь, по-стичь, за-стичь). Daneben tritt aber auch der umgekehrte Fall auf, dass grammatische Morpheme als eigenständige Wörter vorkommen. Diese stellen also freie grammatische Morpheme dar, man bezeichnet sie als grammatische Wörter (Hilfswörter oder Auxiliare), die zur Bildung von grammatischen Formen dienen. Man spricht dann von „analytischer Bildung“ grammatischer Formen, wenn zur grammatischen Formbildung Auxiliare verwendet werden. Beispiele für analytische Formen sind in den slavischen

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Sprachen etwa das imperfektive Futur (буду писать / budu psát / będę pisał) im Tschechischen auch einige Vergangenheitsformen (psal jsem, psal jsi, psali jsme, psali jste). Im Gegensatz dazu nennt man die Bildung grammatischer Formen mit Hilfe gebundener Morpheme (Endungen und Affixe) „synthetische Bildung“.

lexikalische Bedeutung grammatische Bedeutung

freie Morpheme

freie Wurzeln:

student, mluv

grammatische Wörter (Hilfswörter / Auxiliare):

jsem, budu

gebundene Morpheme

Affixe: -k- / -tel / pra-

gebundene Wurzeln:

Him- / -стичь

Endungen: -u, -eš, -e

grammatische Affixe:

нa- / - ся 4. Allomorphie In Kapitel 4.1 haben wir ein Morphem als die kleinste bedeutungstragende Einheit definiert. Ein Morphem ist eine abstrakte Einheit des Sprachsystems, das auf der Ebene der parole (der konkreten Äußerung, des konkreten Texts) als Morph realisiert ist. Nun kann es jedoch sein, dass die Morphe sich in ihrer lautlichen Gestalt unterscheiden, obwohl sie dieselbe Bedeutung tragen. In diesem Fall sprechen wir von Allomorphie: als Allomorphe bezeichnen wir verschiedene lautliche Realisierungen eines Morphems mit identischer Bedeutung.

Definition Allomorph: Allomorphe sind verschiedenen lautliche Realisierungen eines Morphems, die dieselbe Bedeutung tragen.

Allomorphie kann auf verschiedene Weise zustande kommen: • aufgrund von Allophonie • aufgrund der historischen Entwicklung • aufgrund des grammatischen Systems • durch Suppletion

Für diese Arten der Allomorphie wollen wir im folgenden einige Beispiele anführen. 4.1 Allomorphie als Folge der Allophonie: Bedingt durch die lautliche Umgebung treten bei verschiedenen Morphen unterschiedliche Allophone eines Phonems auf. Betrachten wir im folgenden Beispiel die Wortformen und die in ihnen auftretenden Wurzelallomorphe:

Russisch Tschechisch Polnisch Wortform Wurzelallomorphe Wortform Wurzelallomorphe Wortform Wurzelallomorphe город [ g o r o t] hrad [ h r a t] gród [ g r u t] города [ g o r o d] hradu [ h r a d] grodu [ g r o d] городе [ g o r o ď] hradě [ h r a ď] grodzie [ g r o dź]

Ebenfalls durch die lautliche Umgebung bedingt sind: die Allomorphe des Postfixes im Russischen:

nach Vokal: учусь, учитесь, учись, учились, … nach Konsonant: учишься, учится, учимся, учился,…Аlomorphe: -ся / -сь

Die Allomorphe mancher Endungen im Tschechischen: nach harten Konsonanten: -ou: nesou; -a: žena nach weichen Konsonanten: -í : pracují, -e: ulice

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4.2 Allomorphie als Folge der historische Entwicklung: In vielen slavischen Sprachen kam es im Laufe der historischen Entwicklung zu lautlichen Veränderungen der Morphe, die in der synchronen Betrachtung zu Allomorphie geführt haben. Man spricht daher auch von historisch bedingten (oder morphonologischen) Lautwechseln. Betrachten wir die Paradigmen (Formenbestände) folgender Wörter und stellen wir die unterschiedlichen lautlichen Varianten des Wurzelmorphems fest. Beispiel 1: russ. отец, tsch. otec, poln. ojciec: „Vater“

Russisch Tschechisch Polnisch отец Ø otec Ø ojciec Ø

отц а / y / e / oм ы / ам / ами

/ ах

оtc e / i /

ů / ům / ích

оjc a / owi / ów /

om / ach

оtč e оjcz e Das russische Wurzelmorphem hat die Morphe отец und отц-, das tschechische die Morphe otec, otc und otč, das polnische die Morphe ojciec, ojc und ojcz. Diese sind Allomorphe desselben Wurzelmorphems. Alle Morphe tragen dieselbe Bedeutung („Vater“), sie sind phonetisch ähnlich (Fehlen des -e-) und komplementär distribuiert: das Allomorph отец tritt vor Nullendung auf, das Allomorph отц- vor einer lautlich realisierten Endung. Historisch ist für die Allomorphie in der synchronen Betrachtung das Phänomen des Ausfalls bzw. der Hebung der Halbvokale verantwortlich.

Beispiel 2: russ. мочь, tsch. moci / moct, poln. moc „können“

Russisch Tschechisch Polnisch y,/ ут moh / můž u / оu ę / ą мог Ø / ла / ли moh l / la / li mog ł / ła / li / ły

мож ешь / ет / ем / ете

můž eš / e / eme / ete

moż esz / e / emy / ecie

мочь - Ø moc t / i moc i

Das Wurzelmorphem hat die Allomorphe мог/мож/мочь im Russischen, moh/můž/moc im Tschechischen und mog/moż/moc im Polnischen.

Beispiel 3: tsch. kniha „Buch“, poln. ręka „Hand“

Tschechisch Polnisch knih a ręk a kniz e ręc e rąk Ø

Das tschechische Wurzelmorphem hat die Morphe knih und kniz, das polnische die Morphe ręk und ręc. 4.3 Allomorphie als Folge des grammatischen Systems Diese Form der Allomorphie ist sehr häufig bei grammatischen Morphemen, v.a. bei Endungsmorphemen zu beobachten. Damit wird das Phänomen beschrieben, dass eine grammatische Bedeutung durch eine Reihe verschiedener Endungen ausgedrückt werden kann. Da diese jedoch alle dieselbe Bedeutung haben, können sie als Allomorphe eines Endungsmorphems aufgefasst werden. Die Auswahl der Allomorphe dient dann zur Unterscheidung verschiedener grammatischer Paradigmen (Deklinations- bzw. Konjugationsmuster).

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Beispiele für grammatische Allomorphie in den slavischen Sprachen: Allomorphe des Nominativ Plural Morphems: russ.: -и/ы (студенты, книги), -а (окна, дома, учителя), -овья (сыновья) tsch.: -i/y (studenti, knihy), -a (okna), -e/ě (pokoje, skříně), -é (občané),

-ové (Italové) poln.: -i ( Allomorphe des Genitiv Plural-Morphems im Russischen: russ.: -ов (домов), -eй (костей)oder Nullmorphem (книг, песень) tsch.: -ů (studentů), -í (růží) und Nullmorphem (knih, měst). poln.: Allomorphe des Morphems für die 1.Person Singular im Tschechischen: russ.: -м (дам, ем), -у (несу, пишу, читаю, говорю,…) tsch.: -m (dělám, mluvím), -i (pracuji), -u (nesu) poln.: -m (mieszkam), -ę (piszę)

4.4 Allomorphie durch Suppletion Eine Sonderform der Allomorphie ist die Suppletion: hier besteht zwischen den beiden Allomorphen keine phonetische Ähnlichkeit und keine gemeinsame historische Entwicklung. Allomorphie kommt hier durch die Zusammenstellung verschiedener Wurzeln zu einem Paradigma zustande, im Deutschen etwa beim Verb „sein“: war – bin – sind: 3 verschiedene Wurzeln: ein Lexem "sein" Beispiele für Suppletion in den slavischen Sprachen: russ tsch poln „sein“ есть – быть jsem - byl jest – być „nehmen“ брать – взять brát –vzít brać - wziąć „Mensch“ человек – люди člověk –lidé człowiek – liudzie „gut“ хорошо -лучше dobrý - lepší dobry - lepszy „Kind“ ребёнок - дети 4.5 „Freie“ Allomorphie (stilistische Dubletten) In seltenen Fällen können Allomorphe auch lediglich zur stilistischen Differenzierung führen. Man könnte in diesen Fällen von freien Allomorphen sprechen, da sie unabhängig von der lautlichen und grammatischen Umgebung in allen Fällen gegeneinander ausgetauscht werden können. Die Morphemvarianten stellen somit Dubletten dar, die keinen Bedeutungsunterschied signalisieren, jedoch verschiedenen Stilebenen angehören. Beispiele: Russisch: Instrumental Singular der femininen Deklination:

книгой (neutrale Variante) книгою (veraltete, buchsprachlich / poetisch). Tschechisch: Lokativ Singular der Maskulina:

na papíru (neutral) / na papíře (regional bzw. buchsprachlich); 1.Person Singular der Verben auf -ovat: děkuji (neutral bis leicht schriftsprachlich) / děkuju (etwas umgangssprachlichere Form).

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5 Wortarten Wir haben festgestellt, dass die Formen eines Wortes die grammatische Bedeutung verändern. Die Art der Information, die von grammatischen Morpheme in die Gesamtbedeutung des Wortes eingebracht wird, ist jedoch von der jeweiligen Wortart abhängig. So ist der Unterschied zwischen den Wortformen škola – školy ein anderer als zwischen den Wortformen mluvím – mluvíš. Betrachten wir daher zunächst genauer den Begriff der Wortart. 5.1 Definitionsmöglichkeiten für Wortart Der Begriff der Wortart scheint intuitiv klar zu sein und hat in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine lange Tradition. Bei genauerem Hinsehen ist die Einteilung des Wortschatzes in Wortarten jedoch weit problematischer als es zunächst scheint. Die Einteilung der Wörter in Wortarten stellt eine Art der Klassifizeirung des Wortschatzes dar. Wichtig ist bei der Klassifizierung, dass alle Mitglieder einer Wortart über gemeinsame Eigenschaften verfügen, über die die Nichtmitglieder nicht verfügen. D.h. die Definition der Wortarten muss einerseits für alle Mitglieder gültig (inklusiv) sein, darf andererseits jedoch nicht auf Mitglieder anderer Wortarten zutreffen (exklusiv). Dies ist bei der klassischen Einteilung der Wortarten vielfach nicht der Fall. Überlegen wir, nach welchen Kriterien, Wörter einer bestimmten Wortart zugeordnet werden können. Dies kann einmal ihre Bedeutung sein, d.h. alle Mitglieder verfügen über eine gemeinsame (notwendigerweise sehr abstrakte) Grundbedeutung (= semantische Definition). Das Kriterium für die Einteilung in Wortarten kann aber auch die Funktion sein, die die Wörter im Satz ausfüllen (= syntaktische Definition). Schließlich gibt es die Möglichkeit, Wortarten nach den Formen einzuteilen, die ihre Mitglieder bilden können (= morphologische Definition). • Semantische Definition: Alle Mitglieder einer Wortart haben eine gemeinsame

Grundbedeutung, etwa: Substantive: Substanz; Verben: Handlung; Adjektive: Eigenschaften; usw...

• Syntaktische Definition: Alle Mitglieder einer Wortart erfüllen im Satz eine

bestimmte Funktion. Substantive: Subjekt, Objekt; Verben: Prädikat; Adjektive: Attribut, ...

• Morphologische Definition: Alle Mitglieder einer Wortart bilden ihre Formen

nach demselben Muster, und können daher dieselben grammatischen Kategorien ausdrücken: Substantive: Genus, Kasus, Numerus, (Kategorie der Belebtheit); Verben: Person, Numerus, Tempus, Modus, Aspekt, Genus verbi; Adjektive: Genus, Kasus, Numerus, Komparation; usw.

Wir sehen bereits, dass bei der traditionellen Einteilung der Wortarten diese drei Kriterien häufig vermischt werden. Die Einteilung der Wortarten ist also nicht immer inklusiv (trifft auf alle Mitglieder zu) und auch nicht immer exklusiv (trifft nur auf Mitglieder zu). So gehören zu den Substantiven etwa auch Abstrakta (Bläue, das Schreiben), die nach der semantischen Definition nicht dazu gehören dürften. Nach der morphologischen Definition dagegen gehören auch Adjektive, Pronomen und Numeralien zu den Substantiven, da sie ebenfalls nach Kasus, Genus und Numerus abwandelbar sind.

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Einen Überblick über die Wortarten und ihre verschiedenen Definitionsmöglichkeiten bietet folgende Tabelle.

Wortarten: verschiedene Definitionen

Wortart

semantische Definition:

Allgemeinbedeutung

morphologische Definition:

Ausdruck grammatischer Kategorien

syntaktische Definition:

syntaktische Hauptfunktionen

Substantiv "Substanz": Personen, Gegenstände, Abstrakta

Kasus und Numerus Genus ist festgelegt Subjekt / Objekt

Adjektiv Eigenschaften, Beziehungen

Kasus, Numerus und Genus; komparierbar Attribut

Verbum "Prozesse":

Handlungen, Tätigkeiten, Ereignisse, Zustände

Numerus, Person, Tempus, Modus, Aspekt,

Genus verbi Prädikat

Zahlwort Quantitäten und Reihenfolgen Genus und Kasus Quantoren

Pronomen stellvertretend für Substantive

Genus, Kasus Numerus und Person wie Substantiv

Adverb Umstände (zeitlich, örtlich, modal)

z.T. komparierbar, z.T. keine Formen Adverbiale

Präposition Verhältnisse zwischen Substanzen Keine Formen stets in Verbindung

mit Substantiv

Konjunktion Verhältnisse zwischen Prozessen Keine Formen Satzverbindung

Partikel Pragmatische Information zu Sätzen Keine Formen Satzbestimmung

Interjektion Expressive Bedeutung Keine Formen keine syntaktische Funktion

5.2 Einteilung der Wortarten Die Wortarten selbst werden nach 2 Kriterien in Untergruppen eingeteilt: • nach der Fähigkeit, Formen zu bilden unterscheidet man flektierende

(veränderliche, nach grammatischen Formen abwandelbare) und nichtflektierende (unveränderliche) Wortarten. Zu den flektierenden Wortarten gehören Substantive, Adjektive, Verben, Pronomen, Zahlwörter, auch abgeleitete Adverbien, zu den nichtflektierbaren Wortarten gehören die nichtabgeleitete Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Partikel und Interjektionen.

• Nach der Art ihrer (lexikalischen) Bedeutung unterscheidet man autosemantische

und synsemantische Wortarten. Autosemantische Wörter tragen eine eigene, durch grammatische Formen nicht veränderbare Bedeutung, synsemantische Wortarten hingegen tragen keine eigene lexikalische Bedeutung, sondern erlangen ihre Bedeutung erst in Verbindung mit einem autosemantischen Wort im Satzzusammenhang. Zu den autosemantischen Wortarten gehören: Substantiv, Adjektiv, Zahlwort, Verb und Adverb. Zu den synsemantischen Wortarten zählt man Pronomen, Präposition, Konjunktion, Partikel und Interjektion.

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Durch die Kreuzung beider Kriterien erhält man folgende Einteilung der Wortarten:

flektierend nichtflektierend

autosemantisch Substantiv

Adjektiv Zahlwort

Verb Adverb

synsemantisch Pronomen Präposition Konjunktion

Partikel Interjektion

Traditionell teilt man Wörter in die folgenden 10 Wortarten ein: Substantiv: Zu den Substantiven gehören Bezeichnungen für Personen oder Dinge (Konkreta), für Gruppen von Personen oder Dingen (Kollektiva), aber auch für abstrakte Vorstellungen (Abstrakta). Innerhalb der Konkreta unterscheidet man zwischen Bezeichnungen für eine Klasse von Personen oder Dingen (Appellativa) und Bezeichnungen für bestimmte Einzelpersonen oder -dinge (Eigennamen, Propria). otec, učitelka dům, kniha, okno národ, rychlost Eva, Praha

отец, учительница дом, книга, окно народ, скорость Ирина, Москва

ojciec, nauczicielka dom, księżka, okno narod, szybkość Еwa, Warszawa

Adjektiv: Zu den Adjektiven gehören Bezeichnungen für Eigenschaften (Qualitätsadjektive), aber auch Wörter, die nur eine Relation zwischen zwei Dingen zum Ausdruck bringen (Beziehungsadjektive). dobrý, velký železný národní, letní

добрый, большой железны народный, летний

dobry, duży żelazny narodowy, szkolny

Pronomen: Zu den Pronomen gehören eine Reihe verschiedener Untergruppen: Personalpronomen vertreten ein Substantiv im Satz, Possessivpronomen zeigen Besitzverhältnisse an. Daneben existieren eine Reihe anderer Untergruppen u.a. Demonstrativpronomen, Interrogativpronomen (Fragepronomen), Relativpronomen, Distributivpronomen,… já, ty, on, my můj, jeho, náš ten, kdo který, kdy všechen, každý

я, ты, он, мы мой, его, наш этот, кто который, когда весь, каждый

ja, ty, on, my mój, jego, nasz ten, kto który, kiedy wszystek, każdy

Zahlwort (Numerale): Das Zahlwort ist eine rein semantisch definierte Wortart. Innerhalb der Zahlwörter unterscheidet man Kardinalzahlen (Quantitäten) und Ordinalzahlen (Reihenfolgen), daneben existieren Multiplikations-, Distributions-, Bruchzahlwörter. Außerdem

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werden auch unbestimmte Zahlwörter (paar, einige, viele) zu den Zahlwörtern gezählt. jeden, dva,..., sto první, druhý kolik, mnoho

один, два, ..., сто первый, второй сколько, много

jeden, dwa, ...sto pierwszy, drugi ilu, dużo

Verb: Zu den Verben gehören Bezeichnungen für Ereignisse, Prozesse und Zustände, sie können willentlich beabsichtigte Handlungen und Tätigkeiten, oder unwillkürlich ablaufende Ereignisse und Vorgänge beschreiben. psát, telefonovat spát, mrznout být, mít, patřit

писать, советовать спать, морозить быть, иметь

pisać, telefonować spać, marznąć być, mieć

Prädikativ: Im Russischen, aber auch in anderen slavischen Sprachen existiert eine kleine Gruppe von Wörtern, die keiner der oben genannten Wortarten zugeordnet werden kann. Sie treten meist im Prädikat auf, werden jedoch im Gegensatz zum Verb nicht flektiert. Meist bringen sie in die Satzbedeutung eine modale Komponente ein. Man hat diese Gruppe von Wörtern in eine eigene Klasse eingeordnet, die man „Prädikativa“ nennt. lze, nelze надо, нельзя, можно

Adverb: Es existieren zwei große Untergruppen: Qualitätsadverbien sind meist von Adjektiven abgeleitet und steigerbar. Umstandsadverbien geben Begleitumstände der Handlung an und können in Orts-, Richtungs-, Zeit- und Gradationsadverbien eingeteilt werden. dobře, lépe tady, doleva dnes, tak, jinak

хорошо, лучше, здесь, направо сегодня, так, иначе

dobrze, lepiej tutaj, na lewo dzisiaj, tak, inaczej

Präposition: Präpositionen stehen vor einer Nominalgruppe (Substantiv mit Attributen) und erfordern einen bestimmten Fall (regierend). Nach ihrer Form kann man einfache (primäre) und zusammengesetzte (abgeleitete, sekundäre) Präpositionen unterscheiden, nach der Bedeutung räumliche, zeitliche und abstrakte Präpositionen. v, na, od, za během, vzhledem k

в, на, от, за из-за, несмотря на

w, na, od, za

Konjunktionen: Konjunktionen verbinden Wörter, Satzteile oder Sätze zu größeren Einheiten. Nach dem Verhältnis der verbundenen Teile unterscheidet man koordinierende und subordinierende, nach der Form einfache und zusammengesetzte Konjunktionen. a, nebo když, protože, ačkoli mezi tím, že

и, или когда, если, хотя потому что, так как

a, albo, jako kiedy, jeśli w razie

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Schaltwort (Partikel): Partikeln bringen in die Äußerungsbedeutung des gesamten Satzes eine zusätzliche (pragmatische oder diskurssteuernde) Bedeutung ein. Durch die Verwendung von Partikeln signalisiert der Sprecher dem Hörer, wie die Äußerung zu interpretieren ist. ale, sice, totiž, přece, přece jenom

ведь, разве, неужели ale, właśnie, więć

Interjektion: Interjektionen sind Emotionswörter oder Ausrufe. Sie stehen außerhalb des Satzverbunds und dienen meist der Expression. Oft weisen sie eine für die jeweilige Sprache untypische phonologische Form auf. no, hele, viď ну, ой, пока, увы, вот no, ach, hej

Artikel: Artikel ist eine Wortart, die in den meisten slavischen Sprachen nicht vorkommt. Im deutschen ist der Artikel eine rein grammatische Wortart: an ihr werden die Nominalkategorien Genus, Kasus und Numerus formal ausgedrückt, während die Substantive selbst häufig unverändert bleiben. Die Wahl des Artikels dient zum Ausdruck der Kategorie Bestimmtheit (Definitheit). 6 Grammatikalische Kategorien: Wörter flektierender Wortarten können bei identischer lexikalischer Bedeutung ihre Form verändern. Die Wortformen dienen zum Ausdruck verschiedener grammatikalscher Kategorien. Diese sind von Wortart zu Wortart verschieden. Die Tabelle zeigt die flektierenden Wortarten und die von ihnen ausgedrückten grammatikalischen Kategorien: Wortart ausgedrückte grammatische Kategorien

Substantiv Genus (klassifizierend), Kasus, Numerus Belebtheit (Agentivität)

Adjektiv Genus, Kasus, Numerus, Belebtheit (in Kongruenz) Komparation

Pronomen Genus, Kasus, Numerus, Person Zahlwort Genus, Kasus Adverb Komparation

Verb Person, Numerus (in Kongruenz zum Subjekt), Tempus (absolutes und relatives), Modus, Aspekt, Genus verbi

Genus, Kasus und Numerus werden von den Wortarten Substantiv, Adjektiv, Pronomen und Numerale ausgedrückt. Diese Wortarten fasst man unter dem Überbegriff Nomen (oder nominale Wortarten) zusammen. Genus, Kasus und Numerus gelten daher als nominale Kategorien. Die Abwandlung nach nominalen Kategorien nennt man Deklination. Die Kategorien Person, Tempus, Modus, Aspekt und Genus verbie werden von der Wortart Verb ausgedrückt. Sie gelten daher als verbale Kategorien (oder Verbalkategorien). Die Abwandlung nach Verbalkategorien nennt man Konjugation.

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Innerhalb der grammatikalischen Kategorien kann man folgende Unterscheidung treffen: • Flektivische vs. Klassifizierende Kategorie:

Nach flektivischen Kategorien können bei ein und demselben Wort verschiedene Wortformen abgeleitet werden, z.B. Kasus und Numerus beim Substantiv. Nach klassifizierenden Kategorien kann man dagegen Wörter in Klassen einteilen. Eine klassifizierende Kategorie ist etwa das Genus beim Substantiv: jedes Substantiv verfügt über ein bestimmtes Genus, es kann jedoch nicht nach dem Genus abgewandelt werden.

• Ausdrucks- vs. Kongruenzkategorie: Ausdruckskategorien zeigen an, dass die grammatische Bedeutung beim flektierten Wort selbst sich geändert hat, etwa von Singular zu Plural, von Präsens zu Präteritum. Kongruenzkategorien dagegen drücken nidht die grammatische Bedeutung am Wort selbst aus, sondern signalisieren lediglich die Zusammengehörigkeit zweier Wörter im Satz. Kongruenzkategorien sind etwa Kasus, Genus und Numerus beim Adjektiv sowie der Numerus beim Verb.

Innerhalb jeder einzelnen grammatikalischen Kategorie muss man genau zwischen zwei Teilbereichen unterschieden:

• Die Ausdruckskategorie: die (mindestens zwei) durch morphologische Mittel (Endungen, Affixe) unterschiedenen Wortformen (etwa Singular und Plural)

• Die Inhaltskategorie: die durch die beiden Glieder ausgedrückten grammatischen Bedeutungen.

Nicht immer herrscht zwischen Ausdrucks- und Inhaltskategorie Isomorphie, d.h. alle Glieder der einen Ausdruckskategorie drücken genau eine Inhaltskategorie aus. 6.1 Nominalkategorien Numerus:

книга - книги kniha – knihy księżka - księżki

Ausdruckskategorie: 2 Glieder: Singular und Plural (in manchen Sprachen auch: Dual) Inhaltskategorie: Die Kategorie Numerus drückt die Anzahl der am Geschehen Beteiligten aus. Bedingung für das Auftreten der Kategorie ist die Zählbarkeit des bezeichneten Gegenstandes. Daher kann bei nicht zählbaren Substantiven der Plural fehlen. Defektive Glieder: Singularia tantum und Pluralia tantum. Kasus:

книга – книги – книге – книгу – книгой – в книге kniha – knihy – knize – knihu – knihou – v knize księżka – księżki – księżce – księżkię – ksieżką – w księżce

Ausdruckskategorie: morphologische Kasus: Russisch: 6 Glieder; Polnisch und Tschechisch: 7 Glieder:

Nominativ, Akkusativ, Genitiv, Dativ, Lokativ (Präpositiv), Instrumental; Tschechisch und Polnisch zusätzlich: Vokativ

Inhaltskategorie:

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Die Kategorie Kasus drückt die Beziehungen zwischen den Beteiligten im Satz aus. Kasus ist daher eine syntaktische Kategorie. Durch den Kasus werden bestimmte "Rollen" im Satz unterschieden. Die Bedeutungen der Kasus sind sehr abstrakt, und können daher auch nur äußerst vage angegeben werden (vgl. dazu die semantischen Satzglieder im Teil Syntax 6A Kapitel 4.4) Die hier angegebenen Kasusbedeutungen sind daher stark verallgemeinernd und decken selbstverständlich nicht alle Verwendungen der Kasus ab: Nominativ: Subjektkasus; Nennkasus: bloßes Nennen / Existenz Akkusativ: Objektkasus: Ziel / direkt Betroffener einer Handlung Genitiv: Entfernung, Teilung, Abwesenheit, Besitz: nur teilweises Betroffensein

von der Handlung Dativ: Indirekt von der Handlung Betroffener (Adressat, Wahrnehmende/r) Instrumental: Instrument, Verursacher, Grund, Auslöser für die Handlung Präpositiv: drückt äußere Umstände der Handlung (Raum-, Zeitrahmen) aus. Vokativ: eigener Fall für die Anrede: keine syntaktische Beziehung zu anderen Beiteiligten im Satz, sondern zu den Beteiligten an der Sprechsituation) (im Deutschen und Russischen immer mit dem Nominativ identisch) Genus:

отец – мать – животное / стол – книга - окно otec – matka – dítě / stůl – kniha – okno ojciec – matka – dziecko / stoł – księżka - okno

Ausdruckskategorie: 3 Glieder: Maskulinum, Femininum und Neutrum Inhaltskategorie: Beim Substantiv ist Genus eine rein "klassifikatorische" Kategorie. Jedes Substantiv weist zwar ein grammatisches Genus auf, dieses kann jedoch im Rahmen der Formbildung nicht geändert werden. Eine Änderung des Genus bei Substantiven stellt bereits Wortbildungsvorgang dar (vgl. im Wortbildungsteil 5A, Kapitel 1.3.2). Das Genus der Substantive dient jedoch zur Einteilung in Deklinationsklassen (man spricht daher in den slavischen Sprachen von Genusflexion). Beim Adjektiv und Pronomen (sowie bei einigen Verbformen) ist die Kategorie Genus dagegen eine Kongruenzkategorie: sie bringt die Zusammengehörigkeit von Substantiv und Attribut (bzw. Subjekt und Prädikat) zum Ausdruck. Die Kategorie Genus drückt hier also rein grammatische Eigenschaft aus. Ein direkter Zusammenhang zwischen grammatischem Genus und biologischem Geschlecht (Sexus) kann nur bei Bezeichnungen für Personen angenommen werden. Auch hier gibt es jedoch zahlreiche Abweichungen. Kategorie der Belebtheit (auch: Beseeltheit, Agentivität):

Я знаю этот дом. - Я знаю этого студента. Vidím ten stůl. - Vidím toho učitele. Mamy nowy samochód. - Mamy nowego profesora.

Die Belebtheit ist eine Kategorie, die für die slavischen Sprachen typisch ist, jedoch im Deutschen nicht existiert. Ausdruckskategorie: Die Kategorie drückt - ähnlich wie das Genus - bestimmte grammatische Eigenschaft der Bezeichnung aus. Die meisten slavischen Sprachen unterscheiden nach Belebtheit die Form des Akkusativ Singular der maskulinen Substantive: unbelebte Substantive haben hier eine mit dem Nominativ identische Form (=Nominativ-Akkusativ), belebte eine mit dem Genitiv identische (= Genitiv-Akkusativ).

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In anderen Fällen ist der Ausdruck der Belebtheit jedoch von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Russisch: unterscheidet nach dieser Kategorie auch die Form des Akkusativ Plural und das bei Substantiven aller drei Genera: Я знаю этих студентов / этих студенток / этих лиц. Tschechisch: unterscheidet nach dieser Kategorie im Singular der maskulinen Substantive neben dem Akkusativ auch die Formen des Genitiv, Dativ und Lokativ:

u doktora – u kiosku / k doktorovi – ke kiosku / o doktorovi – o kiosku Im Plural sind die Formen des Nominativ nach Belebtheit unterschieden:

To jsou doktoři, obchodníci – to jsou reproduktory, chodníky Polnisch: verfügt im Plural über ein sogenanntes "Personlagenus", d.h. von der Unterscheidung sind nur Bezeichnungen für männliche Personen betroffen. Unterschieden werden die Formen des Nominativ und Akkusativ Plural: Inhaltskategorie: Die Unterschiede im Ausdruck sind von der lexikalischen Semantik der betroffenen Substantive abhängig.Nach der Belebtheit unterscheidet man individuell handlungsfähige von nicht individuell handlungsfähigen Beteiligten (daher verwendet man statt des traditionellen Begriffs „Belebtheit“ in neuerer Zeit auch "Individualagentivität"). Von der Kategorie sind v.a. Bezeichnungen für Menschen, Tiere, höhere und mythologische Wesen erfasst, nicht jedoch Bezeichnungen für Pflanzen und Gruppen von Lebewesen (Kollektiva). Bestimmtheit (Definitheit):

ein Lehrer – der Lehrer Die Bestimmtheit ist eine nominale Kategorie, die das Deutsche aufweist. In den slavischen Sprachen ist sie normalerweise nicht grammatikalisiert. Die Bedeutung der Kategorie muss daher durch andere (lexikalische oder syntaktische) Mittel ausgedrückt werden.

Ausnahmen sind das Bulgarische und das Mazedonische, die über einen bestimmten Artikel verfügen. Dieser tritt jedoch nicht als eigenes Wort auf, sondern wird an das entsprechende Substantiv angehängt, vgl. мъж – ein Mann мъжът – der Mann жена – eine Frau жената - die Frau дете – ein Kind детето – das Kind.

Komparation:

новый – более нобый / новее – самый новый / новейший nový – novější - nejnovější nowy – nowszy - najnowszy

Ausdruckskategorien: 3 Glieder: Positiv, Komparativ, Superlativ Inhaltskategorien: Die Kategorie Komparation drückt das Ausmaß der Eigenschaft im Vergleich mit anderen Entitäten aus (= relativer Grad der Eigenschaft). Komparativ: Vergleich zwischen zwei Entitäten Superlativ: Vergleich zwischen allen Entitäten einer Klasse

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6.2 Verbalkategorien: Verben können mehr grammatikalische Kategorien als das Substantiv ausdrücken und verfügen so auch über eine größere Anzahl an Wortformen. Innerhalb der Verbalformen eines Verblexems (dem Verbalparadigma) unterscheidet man daher noch einmal zwei große Untergruppen: • Finite Formen: drücken die Kategorie Person aus und erfüllen im Satz die Rolle

des Prädikats. Finite Formen sind konjugierbar (nach Person und Numerus veränderbar).

• Infinite Formen: drücken die Kategorie Person nicht aus und können im Satz andere Funktionen übernehmen. Zu den infiniten Formen zählen: Infinitiv, Partizipien, Adverbialpartizipien (Gerundien, Transgressive).

Person:

работаю – работаешь - работает pracuji – pracuješ – pracuje pracuję – pracujesz - pracuje

Ausdruckskategorie: 3 Glieder: Formen der 1., 2. und 3. Person Inhaltskategorie: Die Kategorie Person drückt das Verhältnis der Verbalhandlung zu den Beteiligten an der Sprechsituation aus:

1. Person: der Sprecher ist am erzählten Geschehen beteiligt 2. Person: der Hörer ist am erzählten Geschehen beteiligt 3. Person: weder Sprecher noch Hörer sin am erzählten Geschehen beteiligt

Numerus:

работаю - работаем pracuji – pracujeme pracuję - pracujemy

Ausdruckskategorie: 2 Glieder: Singular und Plural Inhaltskategorie: Der Numerus wie beim Substantiv die Anzahl der am erzählten Geschehen Beteiligten aus. Als Verbalkategorie ist der Numerus eine Kongruenzkategorie, da er stets mit dem Numerus des Satzsubjekts übereinstimmt. Modus:

работаю – работал бы – работай pracuji – pracoval bych – pracuj pracuję – pracowałbym - pracuj

Ausdruckskategorie: 4 (5) Glieder: Indikativ, Konjuktiv, Imperativ, Infinitiv, (Renarrativ) Inhaltskategorie: Die Kategorie Modus drückt das Verhältnis des erzählten Ereignisses zur Realität aus. Indikativ: das erzählte Ereignis wird als real präsentiert Konjunktiv: das erzählte Ereignis wird als nicht real (möglich, еrwünscht oder unmöglich / irreal) präsentiert. Imperativ: das erzählte Ereignis wird als nicht real, aber seine Ausführung als erwünscht präsentiert.

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Infinitiv: bloße Nennung der Handlung: lässt das Verhältnis zur Realität unausgedrückt. Renarrativ: im Bulgarischen gibt es darüberhinaus einen Modus für die Nichtaugenzeugenschaft (Renarrativ). Er drückt aus, dass der Sprecher das erzählte Ereignis aus „dritter Hand“ erfahren hat, und lässt den Wahrheitsgehalt des Erzählten unausgedrückt, ähnlich dem Deutschen Konjunktiv in der indirekten Rede: „Die Arbeitslosigkeit sei im vergangenen Quartal merklich zurückgegangen, so Müntefering.“ Tempus: Bei der Kategorie Tempus können zwei Unterkategorien unterschieden werden: Absolutes und relatives Tempus: Absolutes Tempus:

работаю – работал – буду работать pracuji – pracoval jsem – budu pracovat рracuję – pracowałem – bedzię pracować

Ausdruckskategorie: 3 Glieder: Präsens, Präteritum, Futur Inhaltskategorie: Das absolute Tempus drückt das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des erzählten Ereignisses (= Ereigniszeitpunkt) und dem Zeitpunkt des Erzählens selbst ( = Sprechzeitpunkt) aus. Präsens: das erzählte Ereignis findet zum Sprechzeitpunkt statt = Gleichzeitigkeit von Ereigniszeitpunkt und Sprechzeitpunkt. Präteritum: das erzählte Ereignis hat zum Sprechzeitpunkt bereits stattgefunden = Vorzeitigkeit des Ereigniszeitpunkt zum Sprechzeitpunkt. Futur: das erzählte Ereignis wird zum Sprechzeitpunkt erst noch stattfinden = Nachzeitigkeit des Ereigniszeitpunkts zum Sprechzeitpunkt. Relatives Tempus (auch: Taxis):

er hat eingekauft – er hatte eingekauft – er wird eingekauft haben Ausdruckskategorie: Zeitformen Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II, (Futur I und II in der Vergangenheit). Inhaltskategorie: Das relative Tempus drückt das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des erzählten Ereignisses im Verhältnis zu einem anderen erzählten Ereignis aus. Perfekt: das erzählte Ereignis fand vor einem anderen gegenwärtigen Ereignis

= Vorzeitigkeit zur Gegenwart Plusquamperfekt:: das erzählte Ereignis fand vor anderem vergangenen Ereignis

= Vorzeitigkeit zur Vergangenheit Futur II: das erzähltes Ereignis findet vor anderem zukünftigen Ereignis statt

= Vorzeitigkeit zur Zukunft. In anderen Sprachen (etwa im Bulgarischen) gibt es noch weiter Beispiele für relatives Tempus: Futur in der Vergangenheit: das erzählte Ereignis liegt nach einem anderen, bereits vergangenen Ereignis: "Einstein war zwar ein schlechter Schüler, sollte aber später noch Nobelpreisträger werden" Futur II in der Vergangenheit: das erzählte Ereignis liegt vor einem anderen erzählten Ereignis, das wiederum nach einem Bezugspunkt in der Vergangenheit liegt: "Einstein war zwar ein schlechter Schüler, aber bereits wenige Jahre später sollte er den Nobelpreis gewonnen haben."

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In den ost- und westslavischen Sprachen ist nur die Kategorie des absoluten Tempus grammatisch ausgedrückt. Daher haben diese slavischen Sprachen auch nur drei Zeitformen: Gegenwart, Vergangenheit und Futur. Die Bedeutungen der relativen Tempora werden dagegen durch die Verbindung der Kategorien Tempus und Aspekt ausgedrückt. Aspekt:

Я писал письмо. – Я написал письмо. Psal jsem dopis. – Napsal jsem dopis. Pisałem list. – Napisałem list.

Ausdruckskategorie: 2 Glieder: imperfektiver und perfektiver Aspekt. Bildung der Aspektpartner : Die Bildung der Aspektformen kann auf zweierlei Art geschehen. Das Grundschema sieht so aus: • Verben ohne Präfix und Suffix (Simplicia) sind meistens imperfektiv:

писать / psát / pisać: "schreiben" • Perfektivierung durch Präfigierung:

Von diesen bildet man den perfektiven Aspektpartner, indem man ein Präfix anfügt. Das Präfix ändert hier nur die grammatische Kategorie Aspekt, nicht jedoch die lexikalische Bedeutung (= grammatisches Präfix): написать / napsat / napisać: "schreiben"

• In vielen Fällen bewirkt jedoch das Präfix nicht nur eine Änderung des Aspekts, sondern gleichzeitig auch der lexikalischen Bedeutung: дописать / dopsat / dopisać: "fertigschreiben"

• Imperfektivierung durch Suffigierung): Zu diesen neu entstandenen perfektiven Verben bildet man den imperfektiven Aspektpartner, in dem man ein Suffix anfügt: дописывать / dopisovat / dopisować: "fertigschreiben"

Schema der Aspektbildung

einfaches Verb(Simplex) präfigiertes Verb

suffigiertes Verb

Aspekt Imperfektiv perfektiv imperfektiv

grammatisches Präfix на- na-

писать написать psát napsat pisać napisać

lexikalisches Präfix до- do-

дописать дописывать dopsat dopisovat dopisać dopisywać

Von diesem Grundschema gibt es jedoch einige Abweichungen:

• Einige Simplicia sind perfektiv, v.a. Verben, die Besitzwechsel ausdrücken (geben, nehmen, kaufen) oder historisch präfigiert sind.

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• Einige präfigierte Verben sind imperfektiv, v.a. Verben, die Zustände ausdrücken: abhängen, gehören

• Das Suffix -нуть / -nout / -nąć verhält sich wie ein Präfix: es bildet perfektive Entsprechungen, meist mit der Bedeutung „einmal“.

Regel Ausnahmen

einfaches Verb = imperfektiv

perfektive einfache Verben: дать, взять, купить, пасть, лечь dát, vzít, koupit, říct, hodit dać, kupić, wziąć

Präfigierung macht perfektiv (Perfektvierung)

imperfektive präfigierte Verben: зависеть, принадлежать záležet, předpokládat zależeć, należeć

Suffigierung macht imperfektiv (Imperfektivierung)

perfektivierendes Suffix : -нуть -nout -nąć

Inhaltskategorie: Die grammatische Kategorie Aspekt ist im Deutschen nicht grammatikalisiert und bereitet daher beim Erlernen slavischer Sprachen große Schwierigkeiten. Welche Bedeutung hat nun die Kategorie Aspekt? Im Gegensatz zum Tempus bringt der Aspekt nicht das Verhältnis zwischen zwei Ereignissen (erzähltes Ereignis – Sprechzeitpunkt) zum Ausdruck, sondern den zeitlichen Ablauf innerhalb des erzählten Ereignisses selbst. Der Aspekt sagt etwas darüber aus, ob das erzählte Ereignis zeitlich begrenzt ist oder nicht, und ob das Ereignis eine zeitliche Ausdehnung hat oder nicht. Dabei sagt der perfektive Aspekt explizit aus, dass das erzählte Ereignis zeitlich begrenzt ist. Diese Begrenzung kann auftreten: • Wenn das Ereignis einmalig ist und zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet. • Wenn das Ereignis bereits vollendet (abgeschlossen) ist und ein Resultat hat. • Wenn das Ereignis gar keine Dauer hat, also punktuell (oder momentan) ist. • Wenn das Ereignis am Anfang oder am Ende (oder beidseitig) begrenzt ist • Wenn zwei Handlungen im perfektiven Aspekt stehen, so bedeutet dies, dass sie

nacheinander stattfinden. • In Kombination mit dem imperfektiven Aspekt bezeichnet der perfektive Aspekt

stets das neu eintretende Ereignis. Der imperfektive Aspekt sagt demgegenüber Ereignisse aus, die entweder keine zeitliche Begrenzung haben, oder bei denen die zeitliche Begrenzung keine Rolle spielt. Daher kann der imperfektive Aspekt aussagen: • einen gerade ablaufenden Vorgang, einen Prozess, eine Entwicklung. • wiederholte, gewöhnliche, immer wiederkehrende Ereignisse. • Zustände, immer gültige, unveränderliche Tatsachen. • das bloße Nennen (Konstatieren) der Handlung. • Wenn zwei Handlungen im imperfektiven Aspekt stehen, so bedeutet dies, dass

sie gleichzeitig ablaufen.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

107

• In Kombination mit dem perfektiven Aspekt drückt der imperfektive Aspekt immer die bereist laufende Hintergrundhandlung aus.

Bedeutungen der Kategorie Aspekt im Überblick:

imperfektiver Aspekt perfektiver Aspekt

Handlung ohne zeitliche Begrenzung

Handlung mit zeitlicher Begrenzung

bei einer Handlung • in ihrem Verlauf (unvollendet) • in der Wiederholung • zur bloßen Nennung / Konstatierung

des Stattfindens

• als abgeschlossen (vollendet) mit erreichtem Resultat

• als einmalig, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt

• als von extrem kurzer Dauer (momentan)

• als Beginn oder Ende einer Handlung bei mehreren Handlungen

• die Hintergrundhandlung steht im imperfektiven Aspekt

• beide Handlungen laufen gleichzeitig ab

• die neu eintretende Handlung steht im perfektiven Aspekt

• es folgen zwei Handlungen aufeinander

Verbindung von Aspekt und Tempus: Verbindet man die Formen des Aspekts mit den 3 Tempusformen, so ergeben sich insgesamt 5 Möglichkeiten:

• Perfektives und imperfektives Präteritum • Perfektives und imperfektives Futur • Imperfektives Präsens

Weil ein in der Gegenwart gerade ablaufendes Ereignis nicht schon zeitlich begrenzt sein kann, gibt es für den perfektiven Aspekt keine Präsensform. Er kommt daher nur in der Vergangenheit und der Zukunft vor (vgl. etwa im Deutschen die Sätze: Der Ballon ist zerplatzt. Der Ballon zerplatzt gleich. Aber nicht: *Der Ballon zerplatzt gerade.). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die bei perfektiven Verben die Form des Präsens die Bedeutung des perfektiven Futurs hat (bzw. haben kann). Der imperfektive Aspekt kann hingegen in allen drei Zeitstufen auftreten.

Überblick über die Formen von Aspekt und Tempus

Präteritum Präsens Futur

imperfektiv писал

psal jsem pisałem

пишу píšu piszę

буду писать budu psát będę pisał

perfektiv написал

napsal jsem napisałem

напишу napíšu napiszę

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Genus verbi Кдо-нибудь написал письмо. Письмо написано. Někdo napsal dopis. Dopis je napsan. Kdoś napisał list. List jest napisan.

Ausdruckskategorie: 2 (oder 3) Glieder: Aktiv, Passiv, (Medium) Inhaltskategorie: Die Kategorie Genus verbi (oder Diathese) drückt das Verhältnis zwischen dem grammatischen Subjekt des Satzes (meist im Nominativ) und dem Ausführenden der Handlung (Agens) aus. Das Aktiv drückt aus, dass es sich beim syntaktischen Subjekt ubd dem Ausführenden der Handlung (Agens) um ein und dieselbe Entität (Person oder Gegenstand) handelt (Subjekt und Agens sind „koreferent“). Das Passiv drückt im Gegensatz dazu aus dass Subjekt und Ausführender der Handlung nicht identisch sind. Das Subjekt kann u.U. der Betroffene der Handlung (Patiens) sein. Der Agens kann damit im Satz eliminiert werden. Eine dritte Form (das Medium) sagt nichts über die Verteilung der Handlungsrollen im Satz aus. Zum Medium werden sogenannte „unpersönliche“ oder reflexive Konstruktionen gerechnet, wie:

russ.: говорилось об этом, tsch.: mluvilo se o tom, dt. Man hat darüber gesprochen.

Überblick über die grammatischen Kategorien Hier noch einmal die grammatischen Kategorien im Überblick, geordnet nach Wortarten, bei denen sie auftreten. Angeführt sind jeweils die Ausdruckskategorie (Glieder) und die Inhaltskategorie (Bedeutung): Substantiv

Kategorie Audruckskategorie (Glieder)

Inhaltskategorie (Bedeutung)

Numerus Singular, Plural, (Dual) gibt die Zahl der Beteiligten an: eine(r), zwei, mehrere

Kasus

Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ Instrumental, Präpositiv (Lokativ), Vokativ

gibt die "Rolle" an, die in der Handlung eingenommen wird: Ausführender, Betroffener, Instrument, Ort, …

Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum teilt die Beteiligten nach ihrem grammatischen Geschlecht ein:

Belebtheit belebt (Personalgenus), unbelebt teilt die Beteiligten nach Belebtheit (Handlungsfähigkeit) ein:

Bestimmtheit bestimmt, unbestimmt identifiziert die am Geschehen Beteiligten

Adjektiv Kategorie Glieder Bedeutung Numerus Kasus Genus Belebtheit

(wie beim Substantiv)

Kongruenzkategorien: zeigen Zusammengehörigkeit von Adjektiv und Substantiv im Satz an

Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ geben den Grad der Eigenschaft im Vergleich zu anderen an

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Verbum Kategorie Glieder Bedeutung

Person

1. Person: 2. Person: 3. Person:

Verhältnis des erzählten Geschehens zu den Kommunikationsteilnehmern: Sprecher Hörer Dritter (weder Sprecher noch Hörer)

Numerus

Singular: Plural: (Dual):

Zahl der Beteiligten am erzählten Geschehen (in Kongruenz zum Subjekt): eine(r) mehre als einer (zwei)

Modus

Indikativ: Konjunktiv: Imperativ: (Renarrativ): Infinitiv:

Verhältnis des erzählten Geschehens zur Realität: real irreal erwünscht (angeblich) unausgedrückt

absolutesTempus

Präsens: Präteritum: Futur:

Verhältnis des erzählten Geschehens zum Sprechzeitpunkt: gleichzeitig vorzeitig nachzeitig

Tempus

relatives Tempus

Perfekt: Plusquamperfekt:Futur II: (Futur in der Vergangenheit):

Verhältnis des erzählten Geschehens zu einem anderen erzählten Geschehen: vorzeitig zu gegenwärtigem Ereignis vorzeitig zu vergangenem Ereignis vorzeitig zu künftigem Ereignis (nachzeitig zu vergangenem Ereignis)

Aspekt perfektiv: imperfektiv:

Zeitlicher Ablauf des erzählten Geschehens: zeitlich begrenzt zeitlich unbegrenzt

Genus verbi (Diathese)

Aktiv: Passiv: (Medium):

Verhältnis der am erzählten Geschehen Beteiligten zum erzählten Geschehen: Subjekt identisch mit Agens Subjekt verschieden vom Agens unausgedrückt

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Teil 4 B: Sprachgeschichte: Entwicklung der slavischen Einzelsprachen

7. Russisch 7.1. Altostlavische Periode: 9. – 13. Jh. 7.2. Altrussische Periode: 14. – 17. Jh. 7.3. Beginn der russischen Literatursprache: ab dem 18. Jh.

8. Polnisch 8.1. Vorschriftliche und altpolnische Periode: bis zum 16. Jh. 8.2. Mittelpolnische Periode: 17. – Mitte 18. Jh. 8.3. Neupolnische Periode: ab Mitte des 18. Jh.

9. Tschechisch 9.1. Urtschechisch: Ende 10. – Mitte des 12. Jh. 9.2. Alttschechisch: Mitte 12. – Ende des 15. Jh. 9.3. Mitteltschechisch: 16. – 18. Jh. 9.4. Neutschechisch: ab dem 19. Jh.

1. Historische Entwicklung des Russischen Periodisierung:

1. Altostslavische Periode: 9.-13. Jh. 2. Altrussische Periode: 14.-17. Jh. 3. Beginn der neurussischen Literatursprache: ab dem 18. Jh.

1.1 Altostslavische Periode (9.-13. Jahrhundert) Die wichtigsten Daten: 881 Begründung des Kiever Reichs (Rus') durch Oleg 988 Christianisierung der Kiever Rus': Taufe Vladimirs des Heiligen = erster südslavischer Einfluss Dieses Datum markiert den Beginn des Schrifttums im ostslavischen Bereich: Schriftsprache und Liturgiesprache ist jedoch das südslavische Kirchenslavisch. Ostlavisch dient lediglich als mündliche Umgangssprache. Daher sind nur wenige ostslavische Schriftdenkmäler erhalten, etwa die Birkenrindentexte (private Korrespondenz). In den Chroniken sind nur teilweise ostslavische Einflüsse feststellbar. Im Verlauf des 11. -12. Jahrhundert erfolgt jedoch eine allmähliche Angleichung des Kirchenslavischen an die ostslavische Lautung. Es entseht das "Russisch-Kirchenslavisch" eine Mischung aus süd- und ostslavischen Elementen. 1169 Zerstörung Kievs durch Andrej Bogoljubskij: Ende der Kiever Rus' Aufstieg anderer Fürstentümer (v.a. Vladimir und Suzdal') Zersplitterung in Teilfürstentümer 1240-1380: Tatarenherrschaft in Russland

Dies hat die politische Trennung der ostslavischen Völker zur Folge: Russland (mit Ausnahme des äußersten Nordwestens um Novgorod und Pskov) gehört

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

111

zum Tatarenreich, die Ukraine gerät unter polnische, Weißrussland unter litauische Herrschaft (beide werden später durch Personalunion vereint). Dadurch kommt es auch sprachlich zur Aufsplitterung des Ostslavischen in die drei Sprachen Russich, Ukrainisch und Weißrussisch. Erst von da an kann man also von einer einzelsprachlichen „russischen“ Entwicklung sprechen.

1.2. Altrussische Periode (14.-17. Jahrhundert) Ende des 14. Jahrhunderts kommt es zur Lockerung der Tatarenherrschaft, gleichzeitig findet der Türkeneinfall auf dem Balkan statt. Dies hat die Flucht südslavischer Gelehrter in den ostslavischen Raum zur Folge = zweiter südslavischer Einfluss In dessen Folge kommt es zu einer starken sprachlichen Revision in der ostslavischen Entwicklung: • Rückgängigmachen von ostslavischen Einflüssen im Kirchenslavischen • Archaisierung / Rebulgarisierung: • Grund: Vorstellung der Identität von Ausdruck und Inhalt Veränderungen im

Ausdurck verändern auch den Sinn der Texte in heiligen Texten darf Sinn nicht verändert werden

• Starke Anlehnung an das Griechische (v.a. im Bereich syntkatischer Konstruktionen und Lehnübersetzungen) und an das Bulgarische (Südslavische) (im Bereich der Orthographie und Lautlichkeit)

Folge: Entstehen einer beständigen Diglossie Kirchenslavisch - Ostslavisch Funktionelle Verteilung: Kirchenslavisch = Liturgiesprache: für ostslavische Bevölkerung unverständlich (ostslavisches) Russisch ist auf die Funktionen der Alltagssprache und auf den nichtliturgischen Sektor (Geschäftsstil, Kanzleistil) beschränkt.

1.3. Neurussisch (ab 18. Jahrhundert, vollständige entwickelt zu Beginn des 19. Jahrhunderts) 18. Jahrhundert Petrinische Reformen (Peter der Große) Entlehnungen, Übersetzung aus westeuropäischen Sprachen in "allgemeines Russisch" Orthographiereform gescheiterter Reformversuch (des Schriftstellers)Tredjakovskijs

Schaffung einer "gepflegten" russischen Aussprachenorm, orientiert an der Umgangssprache des russischen Adels

Lomonosov: Theorie der 3 Stile Zuordnung verschiedener Stilebenen zu verschiedenen literarischen Genres:

• hoher Stil: Oden, Heldenpoeme, Tragödien = vorwiegend Kirchenslavisch • mittlerer Stil: Theaterstücke, Briefe, wissenschaftliche Abhandlungen =

Mischung aus kirchenslavischen und ostslavischen Elementen: Basis für russische Literatursprache

• niederer Stil: Prosa, Komödien, Satiren = vorwiegend Ostslavisch Karamzin: "novyj slog" Verwendung von kirchenslavischen und oststlavischen Elementen: nicht nach Genres sondern nach stilistischer Funktion: stilistische Differenzierung / Bevorzugung der Umgangssprache / Schaffung von Neologismen

Gegenbewegung: Šiškov: konservative Orientierung an Kirchenslavisch / Aufrechterhaltung der Diglossie; Sprachpurismus

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

112

Anfang des 19. Jahrhunderts Schriftsteller Krylov (Fabeln), Griboedov (Komödien), Puškin allmähliche Schaffung einer natürlichen Synthese aus russischen und kirchenslavischen Elementen (Eingesetzt zur Figurencharakterisierung, sozialen Differenzierung), Vollständig gelungen: bei Puškin: setzt Elemente nach rhythmischen Gesichtspunkten ein

Etablieren einer Russischen Literatursprache (ostslavische Sprache wird literaturfähig; starke Durchsetzung mit südslavischen Elementen: noch im modernen Russischen Dialektale Gliederung des Russischen: 3 große Dialektgebiete:

• nordgroßrussisch: Kennzeichnen: sog. "Okanje": keine Reduzierung von unbetontem o

• mittelgroßrussisch: Übergangsbereich: Basis für russ. Standardsprache • südgroßrussisch: Kennzeichen: frikative Aussprache von g

Eckert, Rainer - Crome, Emilia - Fleckenstein, Christa: Geschichte der russischen Sprache.

Leipzig 1983.

Abb.: Dialektale Gliederung des russischen Sprachraums; Quelle: Crome-Eckert-Fleckenstein 1983.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Historische Entwicklung des Polnischen Periodisierung:

1. vorschriftliche Epoche (bis zum 13. Jh.) 2. altpolnische Epoche (14.-16. Jh.) 3. mittelpolnische Epoche (17.- Mitte 18. Jh.) 4. neupolnische Epoche (ab Mitte 18. Jh.)

2.1 vorschriftliche Zeit: (-13.Jh.) und altpolnische Epoche Trennung der westslavischen Sprachen in lachische und tschechoslovakische Gruppe Entstehen des polnischen Staats und Annahme des Christentums schon 1136: Gnesener Bulle: in lateinischer Sprache; in slavischer Sprache waren v.a. Orts- und Personennamen (= onomastisches Sprachmaterial) altpolnische Epoche (14.-16. Jh.) ab dem 14. Jh.: erste Sprachdenkmäler in altpolnischer Sprache seither kontinuierliche schriftsprachliche Entwicklung: v.a. religiöse Literatur (Predigten, Lieder); allmählich auch weltliche Schriftdenkmäler (polnische Prosa und Lyrik) beginnende Funktionserweiterung des Polnischen gegenüber dem Lateinischen 15.-16. Jh.: intenisve Kontakte zu Norditalien, Blütezeit der Renaissanceliteratur

(v.a. die Schriftsteller Mikołaj Rej, Jan Kochanowski) Ausbau des Polnischen in Richtung moderner Standardsprache (Polyfunktionalität, stilistische Differenzierung, Kodifizierungsversuche) Dialektaler Einfluss v.a. des Raums Posen (Großpolen) und Krakau (Kleinpolen) 2.2 mittelpolnische Epoche (17.-18 Jh.) Ende 16.Jh. Verlegung der Hauptstadt nach Warschau: Polonisierung des ruthenischen und litauischen Adels (masowische und ostrandpolnische dialektale Einflüsse auf das Hochpolnische). Das heutige Polnisch ist daher eine Mischung verschiedener Regionalismen (mit Ausnahme der Regionen Schlesien und Kaschubei) Polnische Teilungen im 18. Jh.: der Verlust der politischen Einheit führt zum Verlust der Standardsprachenfunktionen des Polnischen. Hinwendung des polnischen Adels zum Französischen: Sprachverfall 2.3 Neupolnische Epoche Übergang zur neupolnischen Epoche (ab Mitte des 18. Jh.) Der Sprachpurismus der Aufklärungszeit führt zur Normierung der Aussprache Neue Blüte der Literatur in der Romanitk (Hauptvertreter Adam Mickiewicz) Die hochsprachliche Tradierung des Polnischen hält auch durch die Krisenzeiten der Teilung im 19.Jh. hin an. Ausbau der polnischen Hochsprache zur Standardsprache ab 1918 1918-1939: großer nichtpolnischer Bevölkerungsanteil, v.a. ostslavisch ab 1945: weitgehende sprachliche Homogenität der Bevölkerung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Dialektale Gliederung des Polnischen Fünf große Dialektgebiete: • Großpolnisch (Gegend um Posen) • Kleinpolnisch (Krakau) • Masowisch (Warschau): typisches Kennzeichen ist das sogenannte „Masurieren“

(d.h. Aussprache von sz als s / cz als c / ż als z). • Schlesisch • Kaschubisch Das heutige Standardpolnische enthält (mit Ausnahme des Schlesischen und Kaschubischen) Elemente aller Dialektgebiete. Der Status des Schlesischen und des Kaschubischen sind gegenwärtig ungeklärt. Während das Schlesische die Tendenz aufweist, sich als Dialekt in den polnischen Sprachraum zu integrieren, hat sich das Kaschubische eine gewisse sprachliche Eigenständigkeit bewahrt. Bis 1945 zählten zu den polnischen Dialekten auch die Mundarten der sogenannten "Kresy", der heute zur Ukraine, Litauen bzw. Weißrussland gehörenden ehemals ostpolnischen Territorien, das sogen. „Ostrandpolnische“

Abb.: Dialektale Gliederung des polnischen Sprachraums; Quelle: Comrie – Corbett 1993: 755.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3. Historische Entwicklung des Tschechischen Periodisierung (nach Vintr):

1. vorhistorische Phase 2. Urtschechisch: Ende des 10. – Mitte des 12. Jh. 3. Alttschechisch: Mitte des 12. – Ende des 15. Jh. 4. Mitteltschechisch: 16.-18. Jh. 5. Neutschechisch: 19-20.Jh.

3.1. vorhistorische Periode und Urtschechisch 830 Großmährisches Reich

die damaligen Bewohner Böhmens sprechen späturslavisch mit spezifisch westslavischen Abweichungen im Wortschatz und in der Aussprache

863 Mährische Mission: Mährische Periode des Altkirchenslavischen Phase der Koexistenz von Tschechisch (Westslavisch) und (Alt)Kirchenslavisch

Pflege der altkirchenslavischen literarischen Tradition im Sázava-Kloster: "böhmische Redaktion" des Kirchenslavischen

905 Magyareneinfall: Zerfall des großmährischen Reiches; Räumliche Trennung des Tschechoslovakischen vom Südslavischen Urtschechisch 924-1306 Herrschaft der Přemysliden

Belege für das Urtschechische beschränken sich vorwiegend auf Namensmaterial:

tschechischsprachige Namen in der lateinischen Kosmas-Chronik (Anang 12. Jh.) sowie in Verstorbenenverzeichnissen. Appellativa v.a. in Glossen zu lateinischen Texten

3.2. Alttschechisch im 13. Jh. Beginn der alttschechischen Literatur;

Entstehung religiöser Literatur (Legenden) und Dichtung (in Chroniken) ab 1310 Herrschaft der Luxemburger 14. Jh. Blütezeit der alttschechischen (auch weltlichen) Literatur: 1348 Gründung der Prager Universität: Unterrichtssprachen Latein und Tschechisch

Alttschechisch umfasst ein weites Spektrum literarischen Schaffens (Vorbild des Deutschen): Dalimilchronik, Fürstenspiegel, Verssatiren, Lyrik, Fabeln, Oster- und Passionsspiele Anfänge tschechischer Prosa; wissenschafltiche und juristische Texte funktionelle Vielfalt: stabiles und einheitliches Sprachsystem (Hochsprache)

Ende 14. Jh.: Hussitische Zeit: sprachreformerische Tätigkeit von Jan Hus (1370-1415): reformiert das Schriftsystem; führt diakritische Zeichen ein Hussitische Bewegung drängt Einfluss des Latein und des Deutschen zurück: wachsende Bedeutung der tschechischen Schrift auch für niedere Stände (Demokratisierung der Hochsprache)

1419-36 Hussitenkriege; Hussitenliteratur: religiöse Literatur und Lieder 3.3 Mitteltschechisch Humanistische Periode: Beginn philologischen Interesses an der tschechischen Sprache

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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16. Jh. erste tschechische Grammatik von Jan Blahoslav 1579 Králicer Bibel = Norm für Schriftsprache der tschechischen Wiedergeburt 1618 Prager Fenstersturz: Beginn des Dreissigjährigen Kriegs 1620 Schlacht am Weissen Berg: Verlust der staatlichen Eigenständigkeit: Böhmen wird Teil des Habsburger Reiches: Gegenreformation: Zurückdrängen des mit der Reformation verknüpften Tschechischen Barockzeit (17./18. Jh.): "temno" (Zeit der Dunkelheit) das Tschechische verliert für fast 2 Jahrhunderte den Charakter einer Schriftsprache (nur z.T. Barockliteratur: Jan Amos Komenský) 3.4. Neutschechisch Anfang 19.Jh. Nationale Wiedergeburt (národní obrození) Wiederentdeckung des Tschechischen zunächst aus philologischem Interesse Anfänge einer neutschechischen Literatur: Romantik: Karel Hynek Mácha

Josef Jungmann (erstes tschechisches Wörterbuch) Josef Dobrovský: tschechische Grammatik auf der Grundlage der Králicer Bibel (1580): sprachliche Entwicklung vom 17.-19. Jahrhundert ignoriert:

Zweiteilung des Tschechischen in: archaisierende Schriftsprache (spisovná čeština) und weiterentwickelte Umgangssprache auf Grundlage des mittelböhmischen Dialekts (obecná čeština und regionale Varianten): bis heute aufrechterhaltene Diglossie

19. Jahrhundert: Epoche des Sprachpurismus: v.a. Säuberung von Germanismen Dialektale Gliederung des Tschechischen: vier große Dialektgruppen • böhmische Dialekte: heute fast vollständig durch Interdialekt (sog.

"Gemeintschechisch") ersetzt • mittelmährische (mährisch-hanakische) Dialekte • ostmährische (mährisch-slovakische) Dialekte: bilden den Übergang zum

Slovakischen • nordmährische (mährisch-schlesische) Dialekte: bilden den Übergang zum

Polnischen

Abb.: Dialektale Gliederung des tschechischen Sprachraums; Quelle: Comrie – Corbett 1993:528.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Teil 5 A: Wortbildung und Lexikologie

1. Wortbildung 1.1. Onomasiologie und Semasiologie 1.2. Möglichkeiten zur Wortschatzerweiterung 1.3. Zentrale Begriffe der Wortbildung

1.3.1. Formale Einteilung der Wortbildunsverfahren 1.3.2. Semantische Einteilung der Wortbildungsverfahren 1.3.3. Beispiele für Wortbildungsverfahren

1.4. Entlehnung 1.4.1. Unterscheidung Lehnwort / Fremdwort 1.4.2. Begriffe Entlehnung, Lehnbedeutung, Lehnübersetzung

2. Lexikologie 2.1. Einteilung des Wortschatzes 2.2. Inhaltliche Beziehungen zwischen Lexemen

2.2.1. Homonymie, Polysemie 2.2.2. Synonymie, Antonymie 2.2.3. Hyponymie

1. Wortbildung In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit dem Wortschatz und seiner Erweiterung. Die Lehre vom Wortschatz heißt Lexikologie. Mit der Erweiterung des Wortschatzes beschäftigt sich die Wortbildungslehre. Die Wortbildungslehre ist der Teil der Morphologie, der sich mit den lexikalischen Morphemen beschäftigt (lexikalische Morphologie). Da die Bildung neuer Wörter jedoch zur Erweiterung des Wortschatzes beiträgt, ist die Wortbildungslehre auch Teil der Lexikologie. Sie bildet also den Übergangsbereich zwischen (grammatischer) Morphologie und Lexikologie und stellt so ein Verbindungsglied zwischen Grammatik und Wortschatz einer Sprache dar. 1.1 Onomasiologie und Semasiologie Für die Wortbildungslehre sind zwei Begriffe grundlegend: die onomasiologische und die semasiologische Betrachtungsweise. Beide haben mit der Beziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens zu tun. Auf der Ausdrucksseite befindet sich die sprachliche Bezeichnung (lautliche Gestalt), auf der Inhaltsseite der damit verbundene Begriff (gedankliches Konzept). Diese beiden Seiten können nun unter unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden: Bei der onomasiologischen Fragestellung ist der Begriff gegeben, gefragt wird nach der Bezeichnung für ihn. Die onomasiologische Fragestellung lautet daher: „Wie nennt man das?“ Den Vorgang der Zuordnung einer Bezeichnung zu einem gegebenen Begriff nennt man Benennung. Bei der semasiologischen Fragestellung hingegen ist die Bezeichnung gegeben, gefragt wird hier nach dem Begriff. Die semasiologische Fragestellung lautet daher:

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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„Was bedeutet das?“. Den Vorgang der Zuordnung eines Begriffs zu einer gegebenen Bezeichnung nennt man Bedeutung Definitionen: Begriff: = gedankliches Konzept / psychische Repräsentation der Realität

/ sprachlicher Inhalt Bezeichnung: = lautliche Gestalt / lautliches Material = sprachlicher Ausdruck Onomasiologie: Gegeben: Begriff / Gesucht: Bezeichnung Frage: "Wie nennt man....?" Semasiologie: Gegeben: Bezeichnung / Gesucht: Begriff Frage: "Was bedeutet....?" Benennung: = Zuordnung einer Bezeichnung zu einem gegebenen Begriff Bedeutung: = Zuordnung eines Begriffs zu einer gegebenen Bezeichnung

Begriff Bezeichnung Onomasiologische Fragestellung:

"Wie nennt man ... ?" = Benennung

Semasiologische Fragestellung: "Was bedeutet … ?" = Bedeutung

стол stůl stół

1.2 Möglichkeiten zur Wortschatzerweiterung Wenn in der außersprachlichen Realität ein neuer Begriff (neue Entdeckung, technische Erfindung, neue Kommunikationsbedürfnisse, Verhaltensweise, usw.) entsteht, so stellt sich zunächst die onomasiologische Frage: „Wie sollen wir das nennen?“ Lebende Sprachen müssen also über Mechanismen verfügen, wie für neue Begriffe neue Bezeichnungen gebildet werden können. Dies sind die Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung. Diese Möglichkeiten existieren grundsätzlich in allen Sprachen, werden jedoch in den jeweiligen Einzelsprachen unterschiedlich stark genutzt. Grundsätzlich existieren vier Möglichkeiten, wie neue Bezeichnungen (Wörter, aber auch Wortverbindungen) gebildet werden können. Alle Arten von neuen Wörtern werden als Neologismen (im weiteren Sinne) bezeichnet. Diese vier Möglichkeiten sind: • Neuschöpfung

Unter Neuschöpfung versteht man die Bildung völlig neuer Wörter durch vollkommen neue Lautkombinationen: es entstehen so also erfundene Wörter, die es vorher noch nie gegeben hat. Manchmal werden auch nur diese Neuschöpfungen als Neologismen bezeichnet (= Neologismen i.e.S.). Wirklich

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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neue Wörter sind jedoch selten, sie treten etwa bei der Benennung von neuen Marken-, oder Produktnamen (wie Fenjala, sebamed, Zafira, tesa u.ä.) auf. Meist sind jedoch auch bei diesen bereits bestimmte Assoziationen vorhanden, ja oft sogar erwünscht.

• Wortbildung (i.e.S.) Die eigentliche Wortbildung ist die Ableitung neuer Wörter auf der Basis von bereits vorhandenen Wörtern. Sie geschieht mit Hilfe eigensprachlicher Mittel, wie etwa durch Anfügen von lexikalischen Morphemen ( = Derivation), durch die Kombination von Wurzeln (Komposition und Phraseologisierung) oder durch Abkürzung vorhandener Wörter (Abbreviation). Genauer zur Wortbildung i.e.S. siehe unter 1.3.

• Entlehnung Unter Entlehnung versteht man die Übernahme von Bezeichnungen aus anderen Sprachen. Dabei werden v.a. lautliche und begriffliche Übernahmen unterschieden. Genauer zur Entlehnung siehe unter 1.4.

• Bedeutungsveränderung Eine Möglichkeit zur Wortschatzerweiterung ist die Bedeutungsveränderung. Dabei wird die lautliche Gestalt eines vorhandenen Wortes beibehalten, diese lautliche Gestalt erhält aber eine neue (zusätzliche) Bedeutung. Zur Systematisierung der Bedeutungsveränderung siehe genauer unter Punkt 2.2.

Wir befassen uns im Folgenden nun näher mit der Wortbildung, der Entlehung und (im Rahmen der Lexikologie) mit der Bedeutungsveränderung. 1.3 Zentrale Begriffe der Wortbildung Unter dem Begriff Wortbildung versteht man die Ableitung neuer Wörter (lexikalischer Einheiten / Lexeme) auf der Grundlage bereits vorhandener Wörter. Die auf diese Art neu gebildeten Wörter verfügen über einen eigenen Bestand an grammatischen Formen (Paradigma) und erhalten einen eigenen Eintrag im Wörterbuch (Lemma). An jedem Wortbildungsvorgang sind stets zwei Wörter beteiligt: das Ausgangswort (Derivand) und das neu gebildete Wort (Derivat). Im unten genannten Beispiel ist kniha der Derivand, knížka hingegen das Derivat.

Wortschatzerweiterung (Neologismen)

Neuschöpfung Wortbildung Entlehnung Bedeutungsveränderung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Das Derivat kann jedoch erneut Ausgangspunkt für eine weitere Ableitung sein. In diesem Fall spricht man von einer Wortbildungskette. Vgl. etwa im Tschechischen: kniha knížka knížečka. Das Wort knížka ist hier im Verhältnis zu kniha das Derivat, im Verhältnis zu knížečka jedoch Derivand.

Im Prozess der Wortbildung kann der Fall auftreten, dass ein Wort den Ausgangspunkt für mehrere Wortbildungsvorgänge darstellt. Man spricht in diesem Fall von einem Wortbildungsnest. In unserem Beispiel ist kniha der Ausgangspunkt für insgesamt 5 Wortbildungsvorgänge: Die von ihm abgeleiteten Derivate sind knížka, knihovna, knihář, knihovat. Verbindet man Wotbildungsketten und Wortbildungsnester so erhält man sämtliche von einer Wurzel abgeleiteten Derivate. Die Gesamtheit aller Derivate zu einer Wurzel nennt man Wortfamilie.

Wortbildungskette: Derivat = Derivand für erneute Ableitung

kniha knížka knížečka

Ausgangswort abgeleitetes Wort = Derivand = Derivat

kniha knížka

Wortbildungsnest

Derivand = Ausgangspunkt für mehrere Ableitungen

knihovat

knihovna kniha knížka

knižní knihář

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Weitere Begriffe der Wortbildung: Motivation: Die Bedeutung abgeleiteter Wörter kann man als "motiviert" bezeichnen, da man sie aus der Bedeutung der einzelnen Morpheme erschließen kann. Demgegenüber gelten Wörter, bei denen ein „Erschließen“ der Bedeutung synchron nicht mehr möglich ist (etwa bei Wörtern, die nur aus – unabgeleiteten – Wurzeln bestehen, aber auch bei Fremdwörtern) als „unmotiviert". Ihre Bedeutung kann synchon und innersprachlich nicht mehr hergeleitet werden. Zur Erklärung ihrer Bedeutung sind daher entweder sprachhistorische oder fremdsprachliche Kenntnisse nötig. Der Bereich der Sprachwissenschaft, der sich mit der Erklärung von unmotivierten („verhüllten“) Bedeutungen beschäftigt, ist die Etymologie. Ein Beispiel für Motivation: Die Bedeutung des tschechischen Wortes knihovna ist durch die Bedeutungen der Wurzel knih- und des Suffixes –ovn(a) motiviert. Kennt man die Bedeutung beider Morpheme, so kann man sich die Bedeutung „Ort, an dem es Bücher gibt“ erschließen. Ähnlich ist die Motivation des deutschen Wortes Bücherei. Nicht so hingegen beim russischen библиотека oder beim englischen library. Zu diesen gibt es kein eigensprachliches Wort, von dem es abgeleitet ist. Diese Wörter sind also innersprachlich unmotiviert, ihre Bedeutung ist verhüllt und kann nur durch Kenntnisse des Griechischen bzw. Lateinischen erklärt werden. Produktivität: Wortbildungsmuster können produktiv sein, d.h. mit ihrer Hilfe können gegenwärtig noch immer neue Wörter gebildet werden. Andere Wortbildungsmuster dagegen können zwar am Bestand der Sprache noch nachgewiesen werden (es gibt mehrere parallel gebildete Beispiele), es kommen jedoch keine auf diese Art gebildeten neuen Wörter mehr hinzu. Diese Wortbildungsmuster nennt man unproduktiv. Produktiv sind in den slavischen Sprachen etwa die Ableitungen mit den Suffixen –tel / -тель / - ciel für Ausführende der Handlung oder -nost, -ность, -ność für Abstrakta, die Eigenschaften bezeichnen. Unproduktiv sind dagegen im Tschechischen Suffixe wie –och: es existieren zwar mehrere Beispiele (černoch , běloch), doch es können keine weiteren Wörter mehr nach diesem Muster gebildet werden. Im Russichen etwa –уха, im Deutschen –nis. Einteilung von Wortbildungsverfahren Wortbildungsverfahren kann man nach zwei Kriterien Einteilen. Nach formalen und semantischen Gesichtspunkten:

• Die formale Einteilung teilt die Wortbildungsverfahren nach dem Unterschied im Ausdruck zwischen Derivand und Derivat ein.

• Die semantische Einteilung teilt die Wortbildungsverfahren nach dem

Unterschied in der Bedeutung zwischen Derivand und Derivat ein.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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1.3.1 Formale Einteilung der Wortbildunsverfahren Nach der formalen Einteilung unterscheidet man 3 große Bereiche: Derivation, Komposition und Abbreviation. In manchen Handbüchern werden als weitere Verfahren der Wortbildung noch die Phraseologisierung (Bildung von Phrasemen / festen Wortverbindungen) und die Grammatikalisierung (Übergang von der lexikalischen in die grammatikalische Ebene) genannt.

Derivation: Bei der Derivation ist stets ein Wurzelmorphem vorhanden. Die Ableitung geschieht mit Hilfe von lexikalischen Affixen. Je nach Art der verwendeten Affixe unterscheidet man: Präfigierung, Suffigierung, Postfigierung bzw. Extrafigierung, Zirkumfigierung, daneben auch Desuffigierung und Konversion. • Präfigierung:

Charakteristisch für die Präfigierung ist, dass die Wortart des Derivanden stets erhalten bleibt. Auch die lexikalische Grundbedeutung bleibt meist unverändert, das Präfix bringt meist eine spezialisierende Bedeutungskomponente ein. (Urwald = eine bestimmte Art von Wald; abschreiben= eine bestimmte Art zu schreiben). Präfigierung tritt am häufigsten bei Verben auf, seltener bei Substantiven oder Adjektiven. Beispiele für Präfigierung:

russ.: говорить – договорить; лес – пралес; полезный - бесполезный tsch.: mluvit – domluvit; les – prales; krásný – překrásný poln.: prosić – przepraszać; las – pralas;

• Suffigierung: Bei der Suffigierung kann die Wortart erhalten bleiben, sie kann sich aber auch ändern. Die Änderung der Bedeutung durch das Suffix ist meist weitgehender als bei der Präfigierung. Durch Suffixe werden häufig auch lautliche Veränderungen an der Wurzel (Allomorphie) ausgelöst:

russ.: книга – книжка; студент – студентка; учить – чуитель; скорый – скорость; сухой – сушить; сухой – сохнуть

tsch.: kniha – knížka; student – studentka; učit – učitel; rychlý – rychlost; suchý – sušit; starý – stárnout

poln.: ręka – rączka; student – studentka; nauczyć – nauczyciel; szybki – szykość; suchi – suszyć;

• Postfigierung / Extrafigierung: Tritt meist bei Verben auf und hat dort die Bedeutung der Reflexivität (Selbstbezüglichkeit oder Gegenseitigkeit) der Handlung.

russ.: мыть - мыться tsch.: učit – učit se poln.: uczyć - uczyć się

Wortbildung (formale Einteilung)

Derivation • Präfigierung • Suffigierung • Postfigierung / Extrafigierung • Präsuffigierung / Zirkumfigierung • Desuffigierung • Konversion

Komposition • verbunden / unverbunden • hierarchisch / nichthierarchisch • Zusammenrückung • Komposition + Derivation

Abbreviation • Buchstabenwort • Silbenwort • Kopfwort • Univerbisierung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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• Zirkumfigierung: Kombination aus Präfigierung und Suffigierung (auch Präsuffigierung genannt) oder Präfigierung und Zirkumfigierung (oder Extrafigierung). Tritt meist bei der Ableitung von Verben auf. Beispiele: Präsuffigierung:

tschech.: nemocný „krank“ onemocnět „erkranken“ Prä- und Postfigierung:

russ.: звонить „anrufen“ дозвониться „telefonisch erreichen“ Prä- und Extrafigierung:

tschech.: jíst „essen“ najíst se „sich satt essen“ • Desuffigierung:

Von Desuffigierung wird gesprochen, wenn der Derivand über ein Suffix verfügt, das Derivat durch Weglassen des Suffixes gebildet ist. Desuffigierung tritt häufig bei der Ableitung von Substantiven auf der Basis von Verben auf. Logisch setzt das deverbale Substantiv das Verb voraus, so dass man nicht von einer Suffigierung des Substantivs ausgehen kann: Beispiele: dt.: spielen – Spiel ; tanzen – Tanz; jagen - Jagd russ.: игать - игра

tsch.: honit – hon; lovit – lov • Konversion:

Von Konversion spricht man, wenn zwischen Derivand und Derivat keine formale Veränderung festzustellen ist, beide Wörter jedoch unterschiedlichen Wortarten angehören. Konversion bezeichnet also den Wechsel der Wortart ohne formale Kennzeichnung. Beispiele sind:

tsch.: ticho (Adv.) ticho (Subst.) cestující (Adj.) cestující (Subst.)

russ. вечером (Subst. Instr. Sg.) вечером (Adv.) engl.: love (Verb) love (Subst.) deutsch: gehen (Verb) Gehen (Subst.) Komposition: • Komposita und Zweiwort-Lexeme Im Gegensatz zur Derivation sind bei der Komposition mindestens zwei Wurzelmorpheme im Spiel, die miteinander zu einem Wort verbunden werden. Das auf diese Art entstandene Wort nennt man Kompositum. Im Deutschen ist die Komposition das häufigste und produktivste Wortbildungsmittel. In den slavischen Sprachen entsprechen deutschen Komposita dagegen häufig Kombinationen aus Adjektiv + Substantiv, vgl.: Dt. Lesesaal russ. читальный сал Dt. Waschmaschine russ. стиральная машина Dt. Fahrplan tsch. jízdní řád Dt. Schreibtisch tsch. psací stůl Dt. Schuljahr tsch. školní rok usw. Dabei ist zum einen zu beachten, dass die Adjektive in diesen Verbindungen keine andere Bedeutung haben, als erster Teil eines Kompositums zu sein. Die Bedeutung von читальный, стиральная, jízdní, psací, školní kann also im Deutschen nur schwer wiedergegeben werden. Die Bezeichnung für diese Art von Adjektiva, die keine Qualitäten („schulisch“) sondern nur Beziehungen („Schul-„) zum Inhalt haben, lautet Beziehungsadjektiva. Ferner ist zu beachten, dass die oben genannten

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Zweiwortverbindungen lexikalische Einheiten darstellen, also auch im Wörterbuch verzeichnet sind. Man spricht daher von „Zwei-Wort-Lexemen“. Dennoch gibt es auch in den slavischen Sprachen gar nicht so selten auch echte Komposita, etwa wenn Zweiwortverbindungen in andere Wortarten überführt werden, vgl.: russ. железная дорога железнодорожный tsch. vysoká škola vysokoškolský • Verbundene und unverbundene Komposita Die beiden Bestandteile eines Kompositums können auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden sein. In den slavischen Sprachen tritt zwischen die beiden Wurzeln meist ein Vokal (Bindevokal): жизнерaдостный, домострой, самовар černobílý, velkoměsto Unverbunden sind Komposita häufig dann, wenn der vordere Teil bereits auf Vokal endet: technohudba; autodílna • Hierarchische und nichthierarchische Komposita Bei der hierarchischen Komposition haben die beiden Teile des Kompositums unterschiedliche Funktionen: der erste Teil wird Bestimmungswort genannt, der zweite Teil bestimmtes Wort. Im deutschen Wort „Leberwurst“ ist etwa Leber das Bestimmungswort „Wurst“ das bestimmte Wort. Das bestimmte Wort legt die Wortart (sowie das grammatische Genus) und die Grundbedeutung des Kompositums fest, das Bestimmungswort bringt in die Gesamtbedeutung lediglich eine Spezialisierung ein. Die Bedeutung dieser Spezialisierung kann dabei unterschiedlich sein. Nichthierarchisch ist eine Komposition dann, wenn die Bedeutungen beider Wörter gleichberechtigt sind und lediglich „addiert“ werden, vgl. tsch.: černobílý bzw. im Russischen die sogenannten „Binomina“ vom Typ: генерал-защитель oder эконом-специалист. • Zusammenrückung: Von Zusammenrückung spricht man dann, wenn die beiden Teile eines Kompositums im Satzgefüge selbständige Wörter bleiben und auch selbständig dekliniert werden. Beispiele sind in den slavischen Sprachen etwa die zusammengesetzten Zahlwörter:

tsch.: dvacet pět stupňů - do dvaceti pěti stupňů russ.: пятдесят шесть метров – од пятидесяти шести метров

• Phraseologisierung: Bei der Phraseologisierung werden zwei Wörter nicht zu einem Wort verbunden, sondern behalten im Satz ihre Eigenständigkeit. Ihre Bedeutungen sind jedoch so eng verschmolzen, dass sie sich nicht mehr aus der Kombination der Bedeutungen der beiden Teile zusammensetzen lässt. Beide Wörter bilden so eine semantisch nicht mehr motivierte Einheit und stellen als solches auch eine lexikalische Einheit dar. Phraseologismen sind also lexikalisierte Wortverbindungen. Sie stellen den Übergang zwischen Lexikologie und Syntax dar. Die Abgrenzung zwischen Phraseologismus und „freier“ syntaktischer Fügung ist fließend. Beispiele für Phraseologismen:

dt.: die Kurve kratzen; das Heft in der Hand haben; etwas auf dem Herzen haben; sein Schäfchen ins Trockene bringen, usw. russ.: бить баклуши „auf der faulen Haut liegen“; он на этом собаку съел „er ist darin ein Meister“, делать из муха слона „aus einer Mücke einen Elefanten machen“ tsch.: vzít něco na své triko „etwas auf seine Kappe nehmen“, lámat si hlavu „sich den Kopf zerbrechen“, kout pikle „Ränke schmieden“, dělat z komára velblouda „aus einer Mücke einen Elefanten machen“…

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Von den Phraseologismen zu unterscheiden sind idiomatische Wendungen oder häufige Kollokationen, d.h. Wörter die häufige gemeinsam verwendet werden, aber dennoch ihre semantische Eigenschaften beibehalten haben, vgl. etwa syntaktische Konstruktionen wie: Dt.: Gültigkeit erlangen Tsch.: vstoupit v platnost Abbreviation / Abkürzung: Bei der Abkürzung oder Abbrevation werden vorhandene Wörter gekürzt. Die Ergebnisse der Abbreviation sind Kurzwörter oder Abkürzungen. Sie lassen sich wie folgt einteilen: • Buchstabenwörter (Inititalwörter):

Sind aus den Anfangsbuchstaben der Grundwörter zusammengesetzt. Sie können nach der Aussprache unterteilt werden in

Initialbuchstabentyp (Buchstaben werden einzeln gesprochen): USA, SPD, FCKW, ADAC; russ.: РФ (Российская Федерация), США,…

Initiallauttyp (Buchstaben werden als Wort gesprochen): Uno, Bafög; Vor allem letztere können in den slavischen Sprachen oft als neues Wort interpretiert und somit auch dekliniert werden, vgl. tsch.: Nato: vstup do Nata. Russ.: вуз (высшее учебное заведение): в вузе.

• Kopfwörter: Bei Kopfwörtern bleibt nur der Anfang des vollen Wortes (der „Kopf“) erhalten. Die Abkürzung erfolgt dabei nach dem Silben- nicht nach dem Morphemprinzip. Beispiele im Deutschen: Promi, Uni, Prof, Demo, Dis, Habil; tsch.: bezva, bájo

• Silbenwörter: Von mehreren Wörtern werden nur die jeweiligen Anfangssilben kombiniert: dt.: Azubi, Kripo, Kuwi, Моped,… Im Russischen vor allem in der Sowjetzeit sehr produktiver Wortbildungstyp: колхоз (коллективное хозяйство), гаспром (газовая промышленность), универмаг (универсальный магаузин), комсомол (коммунистическая союз молодёжи) …

• Univerbisierung: Aus einem Zweiwortlexem wird – meist mit Hilfe von Suffix – eine Einwortbenennung gebildet:

russ. стиральная машина стиралька tsch. smažený sýr smažák svařené víno svařák nákladní vůz náklaďák • Wortmischung / Blending:

zwei Wörter verschmelzen zu einem Wort (von jedem Ausgangswort sind nur Teile vorhanden): Infotainment, Cooltour, smog ( smoke + fog)

• Kombination verschiedener formaler Wortbildungsmuster Komposition + Derivation:

tsch. hora + lézt + Suffix –ec: horolezec Abbrevation + Derivation:

tsch. CD + Suffix -čko: CD-čko russ.: комсомол – комсомольский

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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1.3.2 Semantische Einteilung der Wortbildungsverfahren Bei der semantischen Einteilung werden Wortbildungsverfahren je nach dem Unterschied klassifiziert, der in der Bedeutung von Derivand und Derivat auftritt. Drei Arten der Bedeutungsveränderung können dabei unterschieden werden: • Wird der Wortinhalt des Derivanden völlig geändert, spricht man von Mutation. • Wird der Wortinhalt des Derivanden grundsätzlich beibehalten und erhält nur eine

zusätzliche Erweiterung, spricht man von Modifikation. • Bleibt der Wortinhalt des Derivanden unverändert und nur in eine andere Wortart

überführt, spricht man von Transposition.

Mutation: Änderung des Wortinhaltes: Bei der Mutation wird der Wortinhalt des Derivanden geändert. Er kann dabei in der Bedeutung des Derivats zwar noch enthalten sein, wird dabei aber im Rahmen einer anderen Begriffskategorie ausgedrückt. Durch den Wortbildungsvorgang wird bei Mutationen dem Wortinhalt des Derivanden eine komplexere Zusatzinformation hinzugefügt. Bei diesem Vorgang kann die Wortart beibehalten oder geändert werden. Dementsprechen spricht man von wortartüberschreitender oder –wortartbeibehaltenden Wortbilldungsverfahren: Beispiele für wortartüberschreitende Mutationen:

učit učitel: „lernen“ + Zusatzbedeutung "jemand, der X tut" (=Nomina agentis) slepý – slepec: „blind“ + Zusatzbedeutung "jemand, der Eigenschaft X aufweist" čekat – čekárna: „warten“ + Zusatzbedeutung: „Ort, an dem X ausgeführt werden kann“ číst – čitelný: „lesen“ + Zusatzbedeutung "Ausführbarkeit der Tätigkeit" сухой – сушить: „trocken“ + Zusatzbedeutung "etwas die Eigenschaft X verleihen" (= faktitive Verben) сухой – сохнуть: „trocken“ + Zusatzbedeutung "die Eigenschaft X annehmen" starý – stárnout: „alt“ + Bedeutung "die Eigenschaft X annehmen" (= mutative Verben)

Beispiele für wortarterhaltende Mutationen: zahrada zahradník: „Gartebn“ + Zusatzbedeutung "jemand, der in X arbeitet" noviny novinář: „Zeitung“ + Zusatzbedeutung „jemand der für X arbeitet“ ryba – rybář: „Fisch“ + Zusatzbedeutung „jemand, der X fängt“ zeď zedník: „Mauer“ + Zusatzbedeutung „jemand, der X herstellt“ ryba - rybník: „Fisch“ + Zusatzbedeutung „Ort, wo X zu finden ist“ Praha – Pražan: „Prag“ + Zusatzbedeutung „jemand, der an X wohnt“ Москва - Москвич: „Moskau“ + Zusatzbedeutung „jemand, der an X wohnt“

Bei Verben tritt wortarterhaltende Mutation auf, wenn das Präfix die Bedeutung des Ausgansverbs ändert:

jít - najít; идти – найти: gehen – finden dát – nadat: geben - schimpfen

Wortbildung (semantische Einteilung)

Mutation: Wortinhalt geändert

Modifikation: Wortinhalt erweitert

Transposition: Wortinhalt beibehalten

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Modifikation: Modifikationen erweitern den Wortinhalt des Derivanden um genau eine zusätzliche Bedeutungskomponente (ein Sem). Sie bringen keine komplexe, sondern lediglich eine spezialisierende Zusatzbedeutung in den Wortinhalt ein. Sie sind immer wortarterhaltend. Die Bedeutungskomponente kann bestehen: • im natürlichen Geschlecht des Bezeichneten: učitel učitelka: „Lehrer“ +

Bedeutungskomponente "weiblich" = Motion (oder Movierung). • in der Anzahl der Bezeichneten (ein einzelner Vertreter eine Gruppe

Gleichartiger): učitel učitelství: „Lehrer“ + Bedeutung "eine Gruppe von X" = Kollektivierung

• in der Größe des Bezeichneten: kniha knížka: „Buch“ + Bedeutung "klein" = Deminutiva.

Transposition: Bei der Transposition wird der Wortinhalt des Derivanden beibehalten, jedoch im Rahmen einer anderen Wortart ausgedrückt. Transposition ist daher immer wortartüberschreitend: Bsp: Adjektiv – Substantiv. teplý – teplota красивый – красота Verb – Substantiv: mluvit – mluvení читать - чтение Substantiv – Adjektiv: škola – školní

железо - железный Substantiv – Verb: telefon – telefonovat совет – советовать

1.4. Entlehnung 1.4.1 Unterscheidung Lehnwort / Fremdwort Von Entlehnung spricht man, wenn eine Lücke im Wortschatz nicht durch eigensprachliche Mittel, sondern durch die Übernahme aus einer anderen Sprache geschlossen wird. An einem Entlehnungsprozess sind also stets 2 Sprachen beteiligt: die Sprache, aus der entlehnt wird (Gebersprache) und die aufnehmende Sprache (Nehmersprache). Entlehnt werden können prinzipiell sprachliche Einheiten auf allen Ebenen: Wörter, aber auch Morpheme, Phoneme, syntaktische Konstruktionen. Entlehnung ist die auffälligste Folge von Sprachkontakt, d.h. der gegenseitigen Beeinflussung zweier Sprache durch (räumliche) Nähe. Übernahmen aus anderen Sprachen sind im System der Nehmersprache zunächst Fremdwörter. Diese weichen in ihrer phonetischen und morphologischen Gestalt deutlich vom eigensprachlichen Wortschatz ab und werden von den Sprechern der Nehmersprache als fremd empfunden. Im Laufe des Entlehnungsprozesses kann es jedoch allmählich zu einer Angleichung an das phonologische und morphologische System der Nehmersprache kommen. Als Ergebnis dieses Prozesses wird das entlehnte Wort von den Sprechern der entlehnenden Sprache nicht mehr als fremd empfunden wird. Seine fremdsprachliche Herkunft ist für den sprachwissenschaftlich nicht geschulten Sprecher nicht ohne weiteres erkennbar. In diesem Stadium der Entlehnung spricht man von Lehnwörtern. Der Lehnwortschatz, d.h. der Teil des Wortschatzes, der aus anderen Sprachen übernommen ist, ist z.T. sehr alt und hat daher einen jahrhundertelangen Angleichungsprozess durchlaufen. Die Herkunft eines Wortes ist daher heute oft nicht mehr eindeutig erkennbar und daher

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Gegenstand einer eigenen Disziplin. Die Lehre von der Herkunft der Wörter nennt man Etymologie. Entlehnung kann auf drei unterschiedliche Weisen vonstatten gehen: • Wird aus der Gebersprache sowohl die lautliche Gestalt als auch die damit

verbundene Bedeutung entlehnt so spricht man von lautlicher Übernahme (oder Lehnwort i.e.S.)

• Wird aus der Gebersprache sowohl die Bedeutung als auch die morphematische Struktur übernommen, diese aber mit eigensprachlichen Mitteln ausgedrückt, so spricht man von Lehnübersetzung.

• Schließlich kann es geschehen, dass aus der Gebersprache nur der Begriff entlehnt wird, dieser aber mit einem eigensprachlichen Wort verbunden wird. Hier spricht man von Lehnbedeutung.

Lautliche Übernahme (Lehnwort): Übernahme der Lautung + Bedeutung aus anderer Sprache. Bei der Übernahme kann es zu Veränderungen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen kommen: vgl. etwa das russ. бутерброд mit dem dt. Butterbrot. Wir stellen Veränderungen auf folgenden linguistischen Ebenen fest:

• auf der Ebene der Semantik: die russ. Bedeutung „belegtes Brot“ entspricht nicht der des deutschen Vorbildes.

• auf der Ebene der Morphologie: das russ. Wort gehört dem mask. Genus an, das dt. dem neutralen. Das russ. Wort kann darüber hinaus grammatische Formen (бутерброда, бутерброде, бутерброды,...) nach russischem Muster bilden, sowie als Ausgangspunkt für innersprachliche Wortbildungsprozesse dienen (vgl. бутербродная).

• auf der Ebene der Phonologie: das russ. Wort hat die Betonungsstelle auf die letzte Silbe zurückgezogen, die unbetonten Silben unterliegen den russischen Reduktionsregeln [ but’irbrot ]

Auch die Art der Adaption an das orthographische System kann in verschiedenen Sprachen unterschiedlich sein. Man unterscheidet phonetische und orthographische Übernahmen:

• phonetische Übernahme: das Wort wird in der fremdsprachigen Lautung übernommen, die Schreibung wird angepasst, vgl. russ. футбол engl. football; dt. Schal engl. shawl

• orthographische Übernahme: das Wort wird in der fremdsprachigen Schreibung übernommen, die Aussprache wird angepasst, vgl. tsch. fotbal [fodbal], dt. Pullover

Lehnübersetzung: Wiedergabe der Bedeutung mit eigensprachlichen Mitteln. Dabei wird das übernommene Wort in seine Bestandteile zerlegt und diese einzeln in die Nehmersprache übertragen, man spricht daher auch von „Glied-für-Glied Übersetzung oder Calquierung. Bsp.: engl. computer (von to compute „rechnen“): tsch. počítač (zu počítat), frz. ordinateur, dt. Rechner.

Entlehnung

lautliche Übernahme

Lehnübersetzung

Lehnbedeutung

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Beispiele für Calquierungen deutscher Begriffe in den slavischen Sprachen sind etwa:

dt. Weltanschauung russ.: мирoвоззрение (мир „Welt” воззрение „Anschauung“) dt. Vorstellung russ.: представление dt. Mitteilung tsch. sdělení dt. sich durchsetzen tsch. prosadit se lat. Geographie tsch. zeměpis

Lehnbedeutung Ein bestehendes Wort erhält eine neue Bedeutung, die aus einer anderen Sprache übernommen ist: Tsch. myš / russ.: мышка: entlehnte Bedeutung: Computermaus

Tsch.: paměť: „Gedächtnis“ entlehnte Bedeutung: Speicher (Computer)

Einteilung des Lehnwortschatzes Der Lehnwortschatz einer Sprache kann nach verschiedenen Kriterien unterteilt werden: Nach der Herkunft der Wörter: • Internationalismen: in vielen europäischen Sprachen gleicher Wortschatz, meist

lateinischen oder griechischen Ursprungs. Teilweise nutzen die Sprachen jedoch unterschiedliche Arten der Adaptierung. So können internationale Suffixe verschiedene Form haben (vgl. russ. демократия, poln. demokracja, tsch. demokracie; russ. телефонировать tsch. telefonovat). Manchmal haben Internationalismen in verschiedenen Sprachen auch unterschiedliches Genus: russ. интересная тема, tsch.: zajímavé téma; russ. проблема, процент; tsch.: problem, procento ...

• Anglizismen: ebenfalls weitverbreiteter internationaler Wortschatz, v.a. in den Bereichen Wirtschaft (бизнес, biznes), Computertechnik (файл), Medien (клип, хеппи-энд), Sport (офф-сайд). Vorteil der Verbreitung von Anglizismen ist die gegenseitige Angleichung der Sprachen und die dadurch leichte Verständlichkeit. Anglizismen setzen sich jedoch in verschiedenen Sprachen unterschiedlich stark durch, vgl.: russ.: плейер; файл tsch.: přehrávač, soubor

• Germanismen: aus dem Deutschen übernommenes Wortmaterial in anderen Sprachen. In den slavischen Sprachen sind Germanismen weit verbreitet. Sie unterscheiden sich jedoch nach Entlehnungszeitraum, Sachbereich und stilistischem Wert z.T. stark. Einige Beispiele für Germanismen in den slavischen Sprachen:

o russ.: v.a. in den Bereichen Handwerk, Militär, Verwaltung: штраф, шлягбаум, бухгальтер, ефрейтер,

o tsch.: z.T. sehr alte Germanismen mit starken lautlichen Abweichungen: cihel, žehnat, židle; Entlehnungen aus deutschen Dialekten, auch im heutigen Tschechischen oft stark umgangssprachlich: kšeft, ksicht, fotr, holt, furt; viele syntaktische und phraseologische Germanismen: přijít o život, přijde na to, ...

o poln.: dach, szoltys. Weitere Einteilungskriterien

• Nach der Chronologie (historische Einteilung): anhand der historischen Einteilung lassen sich bestimmte Phasen der historischen Beziehungen der Sprachen und ihrer Gesellschaften nachvollziehen.

• Nach Sachgruppen (onomasiologische Einteilung): Wirtschaftsleben, Handwerk, Militär, Technologie, Mode, Philosophie, ...

• Nach Grad der Adaption (morphologische Einteilung) • Nach dem stilistischen Wert in der Nehmersprache (neutral /

standardsprachlich, fachsprachlich, dialektal / umgangssprachlich)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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2. Lexikologie Lexikologie ist der Teil der Sprachwissenschaft, der sich mit dem Wortschatz beschäftigt. Sie untersucht die Strukturen innerhalb des Wortschatzes und die regelmäßigen Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten. 2.1 Einteilung des Wortschatzes Der Wortschatz einer Sprache stellt keine unstrukturierte Menge von lexikalischen Einheiten dar. Vielmehr können zwischen den Elementen des Wortschatzes Beziehungen verschiedenster Art festgestellt werden. Nach der Art dieser Beziehung kann man den Wortschatz nach folgenden Kriterien einteilen:

• formale Einteilung: o nach grammatischen Kriterien: Wortarten: o nach derivativen Kriterien: Wortfamilien, abgeleitete / nicht abgeleitete

Wörter • stilistische Einteilung:

o nach stilistischen Kriterien: stilistisch unmarkierter (neutraler) / stilistisch markierter Wortschatz

o nach der Art und Weise der Verwendung von Wörtern: regionale, soziale oder funktionale Kriterien: Regiolekte, Soziolekte, Funktiolekte

• semantische Einteilung: o nach inhaltlichen Kriterien: Verhältnis der Bedeutungen zueinander:

Homonyme und Polyseme; Synonyme und Antonyme; Hyperonyme und Hyponyme

Im Folgenden beschäftigen wir uns in erster Linie mit den semantischen Beziehungen zwischen lexikalischen Einheiten.

Einteilung des Wortschatzes Formale Einteilung Stilistische Einteilung Semantische Einteilung nach morphologischen Kriterien: grammatisch: in Wortarten: • flektierbar - nicht flektierbar • nach Flexionsklassen lexikalisch: in Wortfamilien: • abgeleitet / unabgeleitet • präfigiert / suffigiert

nach Art der Verwendung: stilistische neutral / markiert Zugehörigkeit zu Subvarietäten: • Regionalismen • Jargonismen / Argotismen • Termini • Archaismen / Neologismen

nach inhaltlichen Kriterien: Beziehung der Wortbedeutungen: • Homonymie / Polysemie • Synonymie / Antonymie • Hyperonomie / Hyponymie

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2.2 Inhaltliche Beziehungen zwischen Lexemen Die Inhaltliche Beziehung zwischen Lexemen untersucht die Beziehung zwischen sprachlichem Ausdruck und sprachlichem Inhalt. 2.2.1 Homonymie oder Polysemie Bei Homonymie und Polysemie tritt dasselbe Verhältnis von Ausdruck und Inhalt zutage. Einem sprachlichen Ausdruck sind mehrere sprachliche Inhalte zugeordnet. Der Unterschied besteht im Verhältnis der beiden Inhalte zueinander. Im Falle der Polysemie sind beide Inhalte gedanklich miteinander verknüpft. Im Falle der Homonymie besteht zwischen den beiden Inhalten keine gedankliche Verbindung (mehr).

Polysemie: Zwischen beiden sprachlichen Bedeutungen besteht ein gedanklicher Zusammenhang. Polysemie ist das Ergebnis einer Bedeutungsübertragung. Diese Übertragung ist synchron noch erkennbar. Für die Bedeutungsübertragung existieren verschiedene Möglichkeiten: • Metaphorische Übertragung: beruht auf der äußeren (optischen, akustischen,

o.ä.) Ähnlichkeit der beiden außersprachlichen Referenten. Beide weisen eine gemeinsame Eigenschaft (Form, Farbe, Größe, etc.) Beispiele für metaphorische Übertragung:

russ. конь1: Lebewesen / конь2: Schachfigur dt.: Birne1: Obstsorte / Birne2: umgspr. f. Kopf

• Metonymische Übertragung: beruht auf einem gedanklichen Zusammanhang zwischen beiden Bedeutungen: diese kann räumliche oder zeitliche Nähe aber auch eine kausale oder materielle Verbindung zwischen den beiden Referenten sein. Beispiele für metonymische Übertragungen: Handlung – Ort der Handlung:

dt.: Bad1: Prozedur, Handlung (ein Bad nehmen) / Bad2: Ort, an dem Bad1 stattfindet. ähnlich: Gang, Reparatur (das Auto ist in der Reparatur)

Tätigkeit – Produkt der Tätigkeit: tsch. psaní1:Tätigkeit „Schreiben“ / psaní2: Produkt des Schreibens (Schriftstück)

Material – Erzeugnis aus Material: Leder1: Material / Leder2: Ding, das aus dem Material besteht (Fußball)

Ausdruck

Inhalt 2

Inhalt 1

Polysemie: ein Ausdruck - mehrere Inhalte

gedankliche Verbindung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Glas1: Material / Glas2: Gefäß, das aus Glas1 besteht / Glas3: Inhalt von Glas2 (ein Glas Wein). Beim Übersetzen in Fremsprachen ist Polysemie u.U. problematisch, da Polysemien einer Sprache in anderen Sprachen oft differenziert sind: so ist etwa nur die Polysemie von Glas2 und Glas3 auch im Russischen (стакан вина) und im Tschechischen (sklenice vína) existent, während die Polysemie von Glas1 und Glas2 in beiden Sprachen differenziert ist (скло - стакан; sklo - sklenice). Weitere Möglichkeiten von polysemen Bedeutungen: • Synekdoche: Teil-Ganzes-Beziehung • Bedeutungserweiterung / Bedeutungsverengung: besteht in der Veränderung des

Umfangs der Bedeutung, d.h. der Anzahl der möglichen Referenten. • Bedeutungsverschlechterung / Bedeutungsverbesserung: besteht in der Veränderung

des konnotativen Gehalts der Bedeutung. Diese kann negative aber auch positive Wendungen erfahren. Eine starke Bedeutungsverschlechterung kann bis hin zur Tabuisierung führen

• Apellativisierung / Deapellativisierung: besteht im Wechsel von Eigennamen und Gattungsnamen.

Homonymie: Homonyme sind sprachliche Ausdrücke, denen zwei oder mehrere Inhalte zugeordnet sind, ohne dass eine gedankliche Verbindung zwischen diesen besteht.

Homonymie kann auf 2 Arten zustande kommen:

• aus einer ursprünglichen Polysemie, deren gedankliche Verbindung verloren gegangen ist. Bsp.: russ.: стирать1 „reiben“ / стирать2 „waschen“

tsch.: prát 1 „schlagen“ / prát2 „waschen“ dt. etwa: Schloss, Bank, u.ä.

• durch Entlehnung: Fremdsprachliches und eigensprachliches Wort fallen lautlich zusammen: tsch.: čelo1 (eigensprachliches Wort) „Stirn“ / čelo2 (Fremdwort) „Cello“

2.2.2 Synonymie und Antonymie Synonymie Bei Synonymie tritt das umgekehrte Verhältnis von Ausdruck und Inhalt auf. Einer sprachlichen Bedeutung sind mehrere sprachliche Ausdrücke zugeordnet. Das Verhältnis der beiden sprachlichen Ausdrücken zueinander kann unterschiedlich sein.

Ausdruck

Inhalt 2

Inhalt 1

Homonymie: ein Ausdruck - mehrere Inhalte

keine Verbindung

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Im Fall von totale Synonymie besteht zwischen beiden Ausdrücken keinerlei Unterschied in der Verwendung oder im stilistischen Wert.

dt. jetzt – nun tsch. tady – zde

Totale Synoymie ist jedoch selten. Meist werden Synonyme stilistisch differenziert: beide Ausdrücke stehen zwar für denselben lexikalischen Inhalt (sind semantisch gleich), gehören aber unterschiedlichen Stilebenen an: Bsp.: dt. Kopf (neutrale Stilebene) – Birne (umgangssprachlich tsch. plákat – brečet russ. отец – папа Meist ist ein Glied stilistisch neutral, das zweite Glied stilistisch markiert, d.h. es gehört einer bestimmten stilistischen Schicht an (umgangssprachlich, familiär, emotional, buchsprachlich, fachsprachlich,…) Möglich ist auch der Fall der Teilsynonymie: ein polysemes Wort fällt nur in einer seiner Teilbedeutungen mit einem anderen sprachlichen Ausdruck zusammen. Bsp: dt. Hier und da: nur in räumlicher Bedeutung synonym nicht in zeitlicher. Daneben existiert der Fall, dass die usuellen Differenzierung von Synonymen. Von zwei synonymen Wörtern kann nur eines in einer bestimmten sprachlichen Umgebung auftreten: Bsp.: Bedeutung „Weg“: russ.: путь / дорога Аber nur: железная дорога Nicht: * железный путь Antonmymie Als Antonyme bezeichnet man zwei sprachliche Ausdrücke, deren Bedeutungen in gegensätzlichem Verhältnis zueinander bestehen. Man unterscheidet mehrere Arten von Antonymie: polare Antonymie: die beiden Glieder der Antonymie stellen zwei Extrempunkte (Pole) auf einer Achse (einem Kontinuum) dar, auf dem beliebig viele Zwischenstufen denkbar sind: hoch - tief, teuer -billg, reich - arm exklusive Antonymie: die beiden Glieder der Antonymie stehen im Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses: nützlich - nutzlos, frei - besetzt komplementäre Antonymie: die beiden Glieder stehen im Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung: Bruder - Schwester; Start - Ziel; Hyponymie – Hyperonymie Verhältnis: Unterbegriff – Oberbegriff = logisches Verhältnis der Inklusion: ein Ausdruck schließt den anderen mit ein

Ausdruck 1

Inhalt

Synonymie: mehrere Ausdrücke - ein Inhalt

Ausdruck 2

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Bsp.: Pferd – Schimmel: Jeder Schimmel ist ein Pferd, aber nicht umgekehrt. Die Bedeutung von "Schimmel" schließt die Bedeutung von „Pferd“ logisch mit ein. Extension vs. Intension von Bedeutungen: Unter Extension versteht man die Menge der unter dem Begriff zu fassenden Gegenstände. Die Extension des Begriffs "Pferd" ist also größer als die des Begriffs "Schimmel", da die Menge der Pferde ist größer als die Menge der Schimmel. Unter Intension versteht man die Menge der Information (Bedeutungseinheiten / Seme), die ein Begriff enthält. Die Intension des Begriffs "Schimmel" ist größer als die des Begriffs „Pferd“ , da es die zusätzliche Information über die Farbe enthält, die bei "Pferd" nicht enthalten ist. Dieses Verhältnis hat auch Konsequenzen auf der Ebene des Textes: in einem Text kann man das Wort "Schimmel" durch das Wort "Pferd" ersetzen, nicht aber umgekehrt. Daraus folgt, dass “Pferd“ ein Synonym für „Schimmel“ ist, aber „Schimmel“ kein Synonym für „Pferd“. Hypnoyme können hierarchisch angeordnet werden: Die Oberbegriffe haben die höchste Extension, aber nur eine geringe Intension: sie sind „allumfassend“ aber „vage“. Je tiefer man in der Hierarchie der Bedeutungen hinabsteigt, desto geringer wird die Extension, und umso größer die Intension: die Begriffe werden spezieller oder genauer. Semanalyse: Eine Analyse der Bedeutungen listet die einzelnen Bedeutungsbestandteile eines sprachlichen Begriffs auf. Die kleinsten Bedeutungsbestandteile nennt man Seme. Eine vollständige Aufzählung der Seme eines Begriffs nennt man Semanalyse. Die Tabelle zeigt eine vergleichende Semananalyse verschiedener Begriffe in tabellarischer Form: dabei bedeutet + Vorhandensein des Merkmals, – Abwesenheit des Merkmals, 0 Irrelevanz (Nichtanwendbarkeit des Merkmals).

Sem

e

konk

ret

indi

vidu

ell

Lebe

wes

e

tieris

ch

Pfe

rd

Farb

e w

eiß

erw

achs

en

wei

blic

h

Größe – 0 0 0 0 0 0 0 Stein – + – 0 0 0 0 0 Herde + – + + 0 0 0 0 Tier + + + + 0 0 0 0 Kuh + + + + – 0 0 0 Pferd + + + + + 0 0 0 Schimmel + + + + + + 0 0 Fohlen + + + + + 0 – 0 Hengst + + + + + 0 + – Stute + + + + + 0 + +

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Teil 6 A: Syntax 1. Definition

1.1. Syntax: Definition und Aufgaben 1.2. Der Satzbegriff

2. Einteilung von Sätzen

2.1. Satztypen nach der Struktur 2.2. Satztypen nach der Illokution

3. Satzglieder

3.1. Ermittlung von Satzgliedern 3.2. Arten der Zusammengehörigkeit

3.2.1. Kongruenz 3.2.2. Rektion 3.2.3. Adjunktion

4. Syntaxtheorien 4.1. Traditionelle Grammatik 4.2. Generative Grammatik (Konstituentenstruktur) 4.3. Valenzgrammatik 4.4. Kasusgrammatik: Thematische Rollen 4.5. Funktionale Satzperspektive

(aktuelle Gliederung oder Thema/Rhema-Gliederung)

1. Definition 1.1. Definition: Syntax Die Syntax ist der Teil der Sprachwissenschaft, der über die Ebene des Wortes hinausgeht und sich mit der Verbindung von Wörtern zu größeren Einheiten beschäftigt bis hin zur Ebene des Satzes. Syntax wird daher auch als Satzlehre bezeichnet. Gegenstand der Syntax sind jedoch nicht nur Sätze, sondern jedliche Verbindungen von zwei oder mehreren Wörtern (Syntagmen). Durch die Syntax erfahren wir, wie lexikalische Einheiten (Wörter) zu größeren Einheiten kombiniert werden können. Aufgaben der Syntax sind daher: • Einteilung der Sätze in Klassen mit gleichen Eigenschaften ein (Satztypen) • Festlegen der richtigen Reihenfolge der Elemente im Satz (Wortfolge) • Einteilen von richtigen und falsche Sätze sind (Grammatikalität von Sätzen) • Aufzeigen von Strukturen innerhalb des Satzes:

o Aufteilen der Sätze in ihre Bestandteile (Satzglieder) o Beschreibung der Beziehungen zwischen den Elementen

Im (amerikanischen) Strukturalismus galt der Satz als die höchste grammatisch beschreibbare Ebene der Grammatik. In der heutigen Linguistik gibt es jedoch auch Teilgebiete, die sich mit den satzüberschreitenden Regelmäßigkeiten beschäftigen. Diese sind die Textlinguistik (oder Textsyntax)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

136

1.2. Definition: Satz Die scheinbar einfache Frage „Was ist ein Satz?“ ist – ähnlich wie die Frage nach dem Wort – schwer zu beantworten. Die Definitionen sind abhängig von den verwendeten Kriterien und kommen daher zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einige Satzdefinitionen seien hier angeführt: • formale Definition: Satz = alles was mehr als ein Wort enthält. • graphische Definition: Satz = was zwischen zwei Punkten steht. • phonetische Defintion: Satz = was zwischen zwei Sprechpausen zu hören ist und

eine typische Satzmelodie (Intonationsverlauf) hat. • morphologische Definition: Satz = alles, was ein finites Verb enthält. • semantische Definition: Satz = alles, was ein eine Aussage enthält. (vgl. auch die noch zahlreicheren Satzdefinitionen bei Hentschel-Weydt 2003: 333) Es ist klar, dass sich diese Definitionen gegenseitig widersprechen und sich zu jeder Definition Gegenbeispiele finden lassen. Wir stellen daher fest, dass der nichtterminologische Gebrauch des „Satz“ unscharf ist, und für die Zwecke der linguistischen Untersuchung präzisiert werden muss. Man muss sich also bei der Untersuchung von Sätzen darüber im klaren sein, ob man von einem orthographischen, phonetischen, morphologischen oder semantischen Satz ausgeht. Einige Satzdefinitionen werden der besseren Unterscheidbarkeit durch eigene Benennungen ersetzt: • Die Verbindung von mindestens zwei Wörtern zu einer größeren Einheit nennt

man Syntagma. Syntagmen sind Gegenstand der formalen oder Morphosyntax. • Das durch den Satz zum Ausdruck Gebrachte, die Satzbedeutung, nennt man

Proposition. Propositionen sind Gegenstand der Satzsemantik oder Semosyntax. 2. Einteilung von Sätzen Sätze können nach unterschiedlichen Kriterien in verschiedene Klassen eingeteilt werden. Man erhält auf diese Art und Weise verschiedene Satztypen oder Satzarten. Die beiden grundlegenden Einteilungskriterien sind die formale Struktur des Satzes und seine kommunikative Funktion, sein illokutiver Gehalt. 2.1. Einteilung nach Struktur: Vergleichen wir die folgenen vier Sätze: Andrea war müde. Andrea war an diesem Abend unendlich müde. Andrea war müde und ging nach Hause. Weil Andrea müde war, ging sie nach Hause. Die ersten beiden Sätze unterscheiden sich von den zweiten beiden dadurch, dass sie nur eine Aussage (und auch nur ein finites Verb) beinhalten. Wir können nach diesem Strukturprinzip – ein oder mehrere Aussagen / Prädikate - einfache von zusammengesetzten Sätzen unterscheiden. Vergleichen wir die beiden einfachen Sätze, so stellen wir fest, dass der zweite von ihnen „überflüssiges“, zum Verständnis der Aussage nicht unbedingt notwendiges Material enthält. Vom ersten Satz hingegen kann nichts weggelassen werden, ohne das Verständnis zu gefährden. Man spricht in diesem Fall, wenn ein Satz nur unbedingt notwendige Information enthält, von einem Kernsatz, im zweiten Fall, wenn weitere Information vorhanden ist von einem erweiterter Satz.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

137

In der gesprochenen Rede können jedoch auch von einem Kernsatz u.U. Teile weggelassen werden, wenn sie aus dem Ko-Text (dem vorher Gesagten) oder dem Kontext (der nichtsprachlichen Situation), klar genug hervorgehen. So können etwa die Sätze Weil sie müde war. War müde. Andrea. verständlich sein, wenn sie etwa im Dialog auf die Fragen: „Warum ging Andrea nach Hause?“ oder „Wer ist müde?“ antworten. In diesen Fällen spricht man von unvollständigen Sätzen oder Ellipsen. Diese sind nur in einem gegebenen Kontext verständlich, in kontextfreier Verwendung ist ihr kommunikativer Wert beeinträchtigt. Vergleichen wir nun die beiden zusammengesetzten Sätze. Sie enthalten beide zwei Teilsätze und damit zwei Aussagen. Im ersten Satz ist das Verhältnis der beiden Teilsätze nichthierarchisch. Beide Aussagen werden gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Man spricht in diesem Fall von einer koordinierenden Satzverbindung oder Parataxe. Im zweiten Fall ist das Verhältnis der beiden Teilsätze dagegen hierarchisch. Ein Teilsatz ist dem anderen übergeordnet (Hauptsatz), der andere dagegen untergeordnet (Nebensatz). Man spricht in diesem Fall von einem Satzgefüge, einer subordinierenden Satzverbindung oder Hypotaxe. Dabei ist zu beachten, dass der untergeordnete Teilsatz innerhalb der übergeordneten Satzstruktur als Satzglied (in diesem Fall als Adverbialbestimmung) fungiert. Untergeordnete Strukturen innerhalb eines Satzgefüges werden daher auch als „eingebettete Sätze“ bezeichnen. Übersicht über die Satztypen nach der Struktur:

Einteilung von Sätzen nach der Struktur

2.2. Einteilung nach dem illokutiven Gehalt Vergleichen wir die folgenden Sätze, a Peter liest das Buch. b Liest Peter das Buch? c Peter, lies das Buch! d Peter liest das Buch nicht. e Peter, lies das Buch nicht! f Liest Peter nicht das Buch?

Einfache Sätze

Satzverbindungen (Koordination)

Eingliedrige Sätze

Zusammengesetzte Sätze

Satzgefüge (Subordination)

Mehrgliedrige Sätze

Sätze

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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so stellen wir fest, dass sie alle eine inhaltliche Gemeinsamkeit aufweisen: sie haben die Tatsache, dass Peter ein Buch liest, zum Gegenstand. Diese Tatsache wird zwar auf unterschiedliche Art kommunikativ eingesetzt. Dennoch ist das „Thema“ der Äußerung immer dasselbe. Man spricht in diesen Fällen von einer identischen Proposition. Die Gemeinsamkeit aller Sätze ist der logische Inhalt, „dass Peter ein Buch liest“. Dies kann man auch als logisches Kalkül notieren in der Form:

LESEN (Peter; Buch) Der Unterschied zwischen den Sätzen besteht darin, in welcher kommunikativen Absicht der Satz geäußert wird, d.h. was der Sprecher dem Hörer mit dem Äußern der Proposition P mitteilen will: Im Satz a wird P als in der Realität vorhanden präsentiert.

Im Satz b will der Sprecher vom Hörer eine Information darüber, ob P Realität ist. Im Satz c will der Sprecher vom Hörer, dass er P Realität werden lässt. Im Satz d wird P als Nichtrealität präsentiert. Im Satz e will der Sprecher vom Hörer, dass er P nicht Realität werden lässt. Im Satz f will der Sprecher vom Hörer eine Information darüber, ob P Realität ist. (= identische Illokution wie in Satz b)

Diese zusätzliche, über die Proposition hinausgehende Information, die den kommunikativen Wert eines Satzes bestimmt, nennt man Illokution. Zur Illokution gehört auch die Verneinung. Nach der Illokution unterscheidet man Aussagesätze, Fragesätze und Befehlssätze. Innerhalb der Aussagesätze kann man positive und negative Aussagen unterscheiden (P ist real oder nicht real), ebenso innerhalb der Befehlssätze (P ist erwünscht: Befehl, Rat, Wunsch; P ist unerwünscht: Verbot, Warnung). Bei den Fragesätzen kann man unterscheiden, ob nach der gesamten Proposition gefragt wird (Entscheidungsfragen) oder nur nach einem Teil von ihr (Ergänzungsfragen).

Einteilung von Sätzen nach dem illokutiven Gehalt

3. Satzglieder Zwischen den Ebenen des Worts und des Satzes lässt sich noch eine weitere Beschreibungsebene feststellen, die Ebene der Satzglieder. Im Folgenden werden wir feststellen, wie man Satzglieder ermittelt und welche Arten der Beziehungen zwischen den Satzgliedern und Wörtern bestehen können.

Konstativsätze (unmarkiert)

Entscheidungs-fragen

Interrogativsätze

Ergänzungs-fragen

Sätze

Befehlssätze

positiv negativ positiv negativ

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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3.1. Ermittlung von Satzgliedern Zwischen den einzelnen Elementen eines Satzes können unterschiedliche Beziehungen bestehen. Nicht alle Wörter innerhalb eines Satzes sind gleich eng miteinander verbunden, einige gehören enger zusammen, andere weniger eng. Die enger zusammengehörigen Teile werden als Satzteile oder Satzglieder bezeichnet. Wie kann man feststellen, welche Teile enger zusammengehören und somit zusammen ein Satzglied bilden? Dafür gibt es – für das Deutsche – drei Testverfahren. Für die slavischen Sprachen funktionieren diese Tests nur teilweise. • Umstellprobe (Permutation):

Elemente, die bei einer Umstellung des Satzes zusammenbleiben, bilden ein Satzglied. Innerhalb eines Satzgliedes sind meist keine Umstellungen möglich. Mein Freund Peter liest ein neues Buch im Wohnzimmer. im Wohnzimmer liest mein Freund Peter ein neues Buch. aber: *Mein Peter Freund liest Wohnzimmer im ein Buch neues. In den slavischen Sprachen gilt diese Probe nur eingeschränkt, da hier auch Satzglieder räumlich getrennt stehen können, vgl.

russ.: Книгу она получила очень интересную. tsch.: Fráček má zelený.

• Ersetzungsprobe (Substitution) Teile, die zusammen durch ein anderes Wort / Satzglied ersetzt werden können, gehören zusammen und bilden ein Satzglied. Mein Freund Peter liest ein neues Buch im Wohnzimmer. Er liest ein neues Buch im Wohnzimmer. Mein Freund Peter liest es im Wohnzimmer. Mein Freund Peter liest ein neues Buch dort.

• Weglassprobe (Elimination): Innerhalb von zusammengehörigen Teilen können bestimmte Wörter weggelassen werden, ohne dass der Satz dadurch der Satz ungrammatisch wird. Mein Freund Peter liest schon lange ein neues Buch im hellen Wohnzimmer. Peter liest ein Buch im Wohnzimmer.

3.2. Arten der Zusammengehörigkeit von Satzgliedern Um die Struktur des Satzes zu beschreiben, genügt es nicht, die Sätze in ihre Bestandteile zu zerlegen. Es ist ebenso notwendig, zu zeigen, welche Teile einander auf welche Art beeinflussen. Dabei kann sich die syntaktische Zusammengehörigkeit auf die morphologische Form eines Satzteils auswirken. Die morphologische Form eines Satzteils signalisiert so deren syntaktische Verbindungen. Insgesamt lassen sich drei Arten von Auswirkungen der syntaktischen Beziehung auf die morphologische Form der Satzglieder feststellen: • Kongruenz • Rektion • Adjunktion Diese wollen wir anhand des folgenden Beispielssatzes beschreiben: russ.: Студент читает новую книгу профессора. tsch.: Student čte novou knihu profesora.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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poln.: Student czyta nową księżkę profesora. 3.2.1 Kongruenz Von Kongruenz (Übereinstimmung) spricht man, wenn die zusammengehörigen Satzglieder in ihrer morphologischen Form übereinstimmen, d.h. dieselben grammatikalischen Kategorien ausdrücken. Kongruenz kann auftreten: • zwischen Subjekt und Prädikat: Subjekt und Prädikat (auch Prädikatsnomen) müssen in der grammatikalischen Kategorie des Numerus (in den slavischen Sprachen manchmal auch im Genus) übereinstimmen, vgl.

Студент читает *Студент читают. *Студент читала. Student čte *Student čtou. *Student četla. *Studentka četla. Student czyta *Student czytają. *Student czytała.

• Innerhalb von zusammengehörigen Satzteilen (meist zwischen Substantiv und seinen Attributen): diese müssen in allen vom Substantiv ausdrückbaren grammatischen Kategorien (Kasus, Numerus, Genus und Belebtheit) übereinstimmen.

новую книгу *новой книгу / нового книгу / новые книгу novou knihu *nové knihu / nového knihu nową księżkę *nowej księżkę / nowy księżkę

3.2.2 Rektion Von Rektion spricht man, wenn ein Satzteil die Forme eines anderen Satzteils bestimmt, wobei aber keine Übereinstimmung zwischen beiden Satzgliedern bestehen muss. Rektion tritt v.a. bei Verben auf: das Verb bestimmt dabei die Form (Kasus) des Objekts:

* Студент читает новoй книге / новой книгой профессора. * Student čte nové knize / novou knihou profesora. * Student czyta nowej księżce / nową księżką profesora.

Daneben können aber vereinzelt auch Substantive und Adjektive abhängige Satzglieder regieren, z. B. das Interesse an Politik / er ist an Politik interessiert. 3.2.3 Adjunktion Von Adjunktion spricht man, wenn die syntaktische Zusammengehörigkeit nicht durch ein äußeres (morphologisches) Signal zum Ausdruck kommt. Beispiele für Adjunktion sind: • die Adverbiale: liest gerade, liest schön,…. • das Genitivattribut:

книгa профессора kniha profesora księżka profesora

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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4. Syntaxtheorien Zur Beschreibung der Satzstruktur existieren eine große Zahl von verschiedenen Theorien, die hier ausführlich darzustellen weder möglich noch erforderlich ist. Wir beschränken uns hier auf drei Hauptrichtungen, deren Grundzüge und wichtigste Unterschiede wir kennenlernen wollen. Zur Vertiefung der hier beschriebenen Grundzüge sei das Kapitel „Syntaxmodelle“ in Hentschel / Weydt: Handbuch der deutschen Grammatik (S. 444ff.) empfohlen. Die drei hier kurz erläuterten Syntaxmodelle sind:

• traditionelle Grammatik • Konstituentenstrukturgrammatik • Valenzgrammatik

Daneben wollen wir uns auch mit drei weiteren Syntaxmodellen befassen, die einen etwas anderen Schwerpunkt haben und jeweils eine anderen Beschreibungsebene innerhalb des Satzes thematisieren:

• Kasusgrammatik • Aktuelle Satzperspektive • Funktionelle Grammatik

4.1. Traditionelle Grammatik In der traditionellen Grammatik (oder Schulgrammatik) wird der Satz in die aus der klassischen (lateinischen) Grammatik bekannten Satzglieder zerlegt. Die Satzglieder bestehen typischer Weise aus bestimmten Wortarten, werden durch Fragen bestimmt und nach ihrer Funktion im Satz benannt. Die aus der traditionellen Grammatik bekannten Satzglieder sind:

• Subjekt: Das Subjekt wir mit der Frage „Wer?“ oder „Was?“ bestimmt. Es wird i.d.R. durch ein Nomen (Substantiv oder Pronomen) im Nominativ vertreten. Im Satz übernimmt es die Rolle des Ausführenden der Handlung.

• Prädikat: Das Prädikat wird mit der Frage „Was geschieht?“ bestimmt. Es wird fast immer durch ein finites Verb vertreten. Es erfüllt im Satz die Rolle der Handlung selbst.

• Objekt: Das Objekt wird durch die Frage „Wen?“ oder „Was?“ bestimmt. Es wird somit durch ein Nomen (Substantiv oder Pronomen) im Akkusativ vertreten und erfüllt im Satz die Rolle des von der Handlung direkt Betroffenen. Für die Rolle des nur indirekt von der Handlung Betroffenen existiert daneben das Satzglied des indirektem Objekts, das durch andere Fallfragen („wem?“) bestimmt werden kann.

Kongruenz:

cтудент ↔ читает student ↔ čte

student ↔ czyta

Adjunktion:

книга ↔ профессора kniha ↔ profesora

książka ↔ profesora

Syntaktische Beziehungen zwischen Satzgliedern

Rektion:

читает ↔ книгу čte ↔ knihu

czyta ↔ książkę

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

142

• Adverbialbestimmung: Kann durch verschiedene Fragen bestimmt werden („Wo? Wann? Wie? Wozu?...) und durch verschiedene Wortarten wiedergegeben werden (Adverbien, Nomen in Präpositionalkasus). Gibt im Satz die (räumlichen, zeitlichen oder sonstigen) Begleitumstände der Handlung an.

• Attribut: Wird durch die Frage „Was für ein?“ bestimmt und meist durch ein Adjektiv oder ein Substantiv im Genitiv ausgedrückt. Die Rolle im Satz ist die nähere Bestimmung eines anderen Satzglieds.

• Prädikative Ergänzung: Wird durch die Frage „Wer oder Was?“ bestimmt und meist durch ein Nomen (Substantiv oder Adjektiv) im Nominativ ausgedrückt. Rolle im Satz ist die nähere Bestimmung des Prädikats.

Überblick über die Satzglieder der traditionellen Grammatik und ihre Bestimmung:

Satzglied Frage ausgefüllt von: Beispiel

Subjekt Wer oder was tut etwas?

Substantiven, Pronomen im Nominativ Verb im Infinitiv

Peter liest ein Buch.

Prädikat Was geschieht? finite Verben Peter liest ein Buch.

direktes Objekt

Wen oder was betrifft die Handlung?

Substantive, Pronomen im Akkusativ

Peter liest ein Buch.

Objekt indirektes Objekt

Wen betrifft die Handlung indirekt: Wem oder andere Fragewörter

Substantive, Pronomen in obliquen Kasus

Peter gab das Buch seiner Schwester.

Adverbialbestimmung

Wann, wo, wie geht die Handlung vor sich

Adverbien, Substantive in Präpositionalkasus

Peter las das Buch gestern im

Wohnzimmer sehr aufmerksam.

Attribut Was für ein? Wie ist ein anderes Satzglied beschaffen?

Adjektive, Partizipien

Mein guter Freund liest ein neues Buch

Apposition Sonderform des Attributs: Apposition) Substantive

Mein Freund Peter liest den Roman

Moby Dick.

Prädikative Ergänzung Wer oder wie ist…?

Substantiven oder Adjektiven im Prädikat (= Prädikatsnomen)

Peter ist mein Freund.

Das Buch ist dick.

Nachteil der traditionellen Grammatik ist, dass die Satzglieder nicht nach eindeutigen Kriterien bestimmt sind. Da sie semantische (funktionelle) mit formalen (morphologischen) Kriterien vermischt, treten häufig Widersprüche und Inkonsistenzen bei der Satzgliedbestimmung auf. Auch wird der Unterschied zwischen der syntaktischen Kategorie Satzglied und der morphologischen Kategorie Wortart dadurch verwischt. Daher wird in moderneren Syntaxmodellen meist eine Trennung von semantischen und formalen Satzgliedern vorgenommen. In der Konstituentenstrukturgrammatik und ihren Nachfolgern (generative Grammatik) erfolgt sogar zunächst eine rein formale Betrachtung, die die Semantik gänzlich außen vor lässt. In der Valenzgrammatik wird dagegen eine Trennung in syntaktische und semantische Valenz vorgenommen.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

143

Darstellung der Satzglieder und ihrer Abhängigkeit in der traditionellen Grammatik

4.2 Generative Grammatik (Konstituentenstrukturgrammatik) Eine Reihe von Syntaxtheorien beruht auf dem Prinzip der Konstituentenstruktur. Die älteste ist die vom amerikanischen Strukturalisten Bloomfield entwickelte Phrasenstrukturgrammatik. Auf dieser beruht die in den 1960er Jahren von Noam Chomsky entwickelte Generative Transformationsgrammatik. Diese begründete die Generativistik, eine sehr einflussreiche Schule innerhalb der modernen Linguistik, auf der eine ganze Reihe anderer Syntaxtheorien (u.a. Kasusgrammatik, X-Bar-Theorie, Optimalitätstheorie, generative Semantik, Head Driven Phrase Structure Grammar / HDPSG u.v.m.) basieren. Die Basis dieser Theorie lässt sich wie folgt beschreiben: Jede Einheit lässt sich in kleinere Bestandteile (Konstituenten) zerlegen. Jedes Segment ist damit Teil eines größeren Elements. Inhalt der Grammatik sind die Regeln zur Verbindung bzw. Zerlegung der Einheiten. Damit ist gewissermaßen jede Grammatik Syntax, da die Regeln zur Zerlegung und Kombination von Konstituenten auf allen Ebenen anwendbar ist. Die Grammatik lässt dabei zwei Richtungen der Betrachtung zu: Analyseregeln dienen zur Zerlegung (Analyse) von Sätzen. Sie verfolgt daher die Richtung: Ganzes

Teil. Die Generierungsregeln dagegen dienen zur Erzeugung (Synthese) von Sätzen. Sie verfolgen somit die Richtung: Teil Ganzes. Aufgrund dieser Regeln können also auch Sätze erzeugt („generiert“) werden (daher „generative Grammatik“). Chomsky ging davon aus, dass jedem Menschen eine solche Fähigkeit (Kompetenz) zur Erzeugung von Sätzen (eine sog. Universalgrammatik) angeboren ist. Die Regeln der Universalgrammatik erzeugen dabei nicht gleich Sätze, sondern zunächst abstrakte Satzstrukturen, die sogenannte Tiefenstruktur. Jede konkrete Äußerung besitzt jedoch eine Oberflächenstruktur, der eine Tiefenstruktur zugrunde liegt. Die Umsetzung von der Tiefen- zur Oberflächenstruktur nennt Chomsky Transformation. Erst auf der Oberflächenstruktur treten Unterschiede zwischen den Einzelsprachen auf, daher sind nur die Tranformationsregeln einzelsprachlich verschieden. Zur Erzeugung der tatsächlichen Äußerung (Performanz) ist schließlich noch die Auffüllung der Struktur mit Elementen aus dem Wortschatz notwendig. Sprache besteht im generativistischen Modell aus den beiden Modulen Grammatik + Wortschatz. Die Grammatik enthält dabei Anweisungen (Regeln) für die Zerlegung. Die höchste Kategorie ist dabei ein Satz (S). Dieser kann in seine unmittelbaren (nächstkleineren) Bestandteile (immidiate constituents, IC) zerlegt werden, etwa eine Nominalphrase (NP) und eine Verbalphrase (VP). Diese können wiederum in kleinere Einheiten zerlegt werden usw. Falls keine weitere Zerlegung mehr möglich ist spricht man von sogenannten „terminalen“ Symbolen, die die Wortart des

Студент Student Student

читает čte czyta

новую novou nową

книгу knihu książkę

в библиотеке v knihovně w bibliotece

Subjekt Prädikat Attribut Objekt Adverbialbestimmung

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

144

S

NP VP

N

V NP

ADJ N

Студент Student Student

читает čte

czyta

новую novou nową

книгу knihu

książkę

einzusetzenden Elements aus dem Wortschatz angeben (N = noun; ADJ = adjective; Det = determiner (Artikelwort); V = verb; Prep = preposition usw.) Der Wortschatz enthält eine Menge von Elementen (Wörtern) + die zugehörigen Angaben ("labels") z.B. Informationen über ihre Wortartzugehörigkeit, aber auch über etwaige Verwendungsbeschränkungen (Selektionsregeln). Dies wollen wir anhand eines sehr einfachen Beispiels erläutern: Gegeben sind die Regeln: S NP + VP; NP N; VP V + NP; NP ADJ + N und die Elemente: N = {студент, книгу}; V = {читает}; A = {новую} Zunächst wird durch schrittweise Anwendung der Regeln die Struktur erzeugt, danach werden für die terminalen Symbole Elemente aus dem Wortschatz eingesetzt und daraus der Satz Студент читает новую книгу generiert.

Grammatik Wortschatz: S NP + VP

NP N VP V + NP NP ADJ + N

N = {студент, книгу} V = {читает} A = {новую}

Eine solche Satzstruktur kann auf zweierlei Weise notiert werden: Als Klammerschreibweise:

[S [NP [N студент] ] [VP [V читает] [NP [Aновую] [Nкнигу] ] ] ] Als Baumnotation:

Jeder Ebene ist ein Zerlegungsvorgang zugeordnet. Die Knoten (Verzweigungen) sind durch weiter zerlegbare Einheiten besetzt. Die nicht weiter zerlegbaren Einheiten werden durch Elemente aus dem Wortschatz aufgefüllt. Prinzipiell ist es jedoch auch möglich, die Zerlegung auf den tieferliegenden Ebenen vom Satz bis zum einzelnen Laut fortzusetzen und so eine generative Morphologie und Phonologie zu beschreiben. Diese strukturelle Beschreibung ist im Prinzip kontextfrei, d.h. es findet keine Bedeutungszuweisung statt. Um auszuschließen, dass auf diese Art zwar strukturell richtige, aber unsinnige Sätze erzeugt werden, wurden sogenannte Subkategorisierungsregeln und Selektionsbeschränkungen eingeführt: d.h. dass die Elemente des Wortschatzes auch bereits Informationen darüber tragen, welche (semantischen) Eigenschaften sie selbst tragen, und welche dieser Eigenschaften

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

145

sie selbst erfordern (selegieren). Damit ist die Kontextfreiheit der generativen Grammatik jedoch bereits eingeschränkt. Warum ist die Beschreibung der Satzstruktur dennoch wichtig? Da zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur keine 1:1- Entsprechung besteht, kann eine Tiefenstruktur auf der Oberflächenstruktur mehrere verschiedene Entsprechungen haben. Eine Oberflächenstruktur kann somit auch auf verschiedene Tiefenstrukturen zurückgeführt werden. In der Tiefenstruktur hinterlassen Elemente Spuren, die auf der Oberflächenstruktur nicht mehr erscheinen. Erst die Strukturanalyse macht dann klar, welche Bedeutung tatsächlich auftritt. Daher spielt die Konstituentenstruktur (IC-) Grammatik heute eine wesentliche Rolle v.a. in der Computerlinguistik (etwa bei automatischen Übersetzungsprogrammen u.ä.), vgl. etwa die Einführung in die Head Driven Phrase Structure Grammar von Müller 2007. 4.3 Valenzgrammatik (Dependenzgrammatik) Die Valenzgrammatik oder Dependenzgrammatik wurde vom französischen Slawisten Lucien Tesniere in der 1.Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, und spielt seither v.a. in der Fremdsprachendidaktik eine entscheidende Rolle. Der wichtigste Unterschied zur Konstituentenstrukturgrammatik besteht darin, dass die Valenzgrammatik keine Zerlegung des Satzes in kleinere Bestandteile vornimmt, sondern die Abhängigkeit (Dependenz) der einzelnen Satzglieder voneinander darstellt. Im Zentrum des Satzes steht dabei das Verb. Alle anderen Satzglieder hängen von ihm ab. Unter dem Begriff Valenz (Wertigkeit) versteht man daher eine besondere Eigenschaft des Verbums, nämlich seine Fähigkeit, abhängige Glieder zu verlangen. Jedes Verb „braucht“ demnach eine bestimmte Anzahl von Satzgliedern.

Ein grammatikalisch richtiger Satz entsteht dann, wenn alle vom Verb benötigten freien Plätze gefüllt sind. Dabei ist es wichtig, eine Unterscheidung in notwendige Glieder (Aktanten) und nicht notwendige Glieder (freie Ergänzungen) zu treffen. Freie Ergänzungen können auch weggelassen werden, Aktantenstellen hingegen müssen besetzt sein.

читаетčte czyta

новуюnovou nową

книгуknihu książkę

студентstudent student

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

146

vgl.: Peter kauft morgen im Supermarkt ein Brot Verb: kaufen notwendige Glieder (Aktanten): Peter / Brot nicht notwenige Glieder (freie Ergänzungen): morgen / im Supermarkt

Dabei sind verschiedene Arten der Valenz zu unterscheiden: syntaktische und semantische Valenz, innerhalb der syntaktischen Valenz wiederum quantitative und qualitative Valenz. Quantitative Valenz (Zahl der Aktanten): Die quantitative Valenz gibt an, wieviele Aktanten ein Verb zu sich nehmen kann bzw. muss. Aufgrund der Zahl der vom Verb geforderten Aktanten unterscheidet man: • nullwertige Verben: Witterungsverben wie tsch. sněžit, pršet, mrznout • einwertige Verben: gehen, sprechen, warten, lachen, schlafen • zweiwertige Verben: besprechen, helfen, sammeln, schreiben, lesen, kochen • dreiwertige Verben: geben, sagen, mitteilen, informieren, schenken, versprechen • vierwertige Verben (selten): jemanden von A nach B bringen / A wischt B den

Fleck vom Mantel u.ä. Als Aktant kann dabei nicht nur ein Substantiv (mit oder ohne Attribute), sondern u.U. auch ganzer Satz sein: Ich verspreche dir, dass ich komme (Aktanten: ich; dir; dass ich komme Qualitative Valenz (Form der Aktanten): Die qualitative Valenz gibt neben der bloßen Anzahl bei jedem Aktanten auch die morphologische Form an, in der er stehen muss. Dies ist meist eine bestimmte Kasusform. So verlangt etwa das Wort schreiben (russ. писать, tsch. psát, poln. pisać) zwei Ergänzungen: eine im Nominativ und eine im Akkusativ. Man notiert die quantiative und qualitative Valenz so: schreiben2 (N, A)

Vgl.: helfen2 (N, D), ebenso: russ. помочь, tsch. pomoci, poln. pomóc Ein Verb kann neben einem „reinen“ Kasus auch eine Verbindung aus Präposition und Kasus (sog. Präpositionalkasus) erfordern. So erfordert etwa das deutsche Verb „sich interessieren“ zwei Ergänzungen eine im Nominativ + die Präposition für + ein Substantiv im Akkusativ. Ähnlich tsch. zajímat se: Nominativ + Präposition o + Substantiv im Akkusativ; russ. нуждаться: Nominativ + Präposition v + Substantiv im Präpositiv. Semantische Valenz (Art der Aktanten): Während die syntaktische Valenz die Zahl der notwendigen Aktanten an und deren (Kasus)Form angibt, bringt die semantische Valenz zum Ausdruck, welche Art von Aktanten / Ergänzungen an der jeweiligen Stelle stehen können. Sie legt also nicht nur die Zahl und die morphologische Form der Aktanten, sondern auch deren semantische Eigenschaften fest. Bsp.: geben / дать / dát / dać: syntaktische Valenz: quantitativ: 3-wertig

qualitativ: N (obligatorisch) + A (fakultativ)+ D (fakultativ) semantische Valenz: N (belebt) + A (unbelebt) + D (belebt)

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

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Mit der Valenztheorie lassen sich Unterschiede in der Valenz zwischen den Einzelsprachen sehr übersichtlich und leicht erlernbar darstellen. Die Valenztheorie hatte daher v.a. im Bereich des Fremdsprachenunterrichts großen Einfluss und wird häufig bei der Erstellung von Lehrbüchern verwendet. Im folgenden geben wir ein Beispiel für die überblicksartige Darstellung der Valenzunterschiede im Deutschen, Tschechischen und Russischen:

deutsch tschechisch russisch

warten: N + (auf + A) Eva wartet auf ihren Bruder

čekat: N + (na + A) Eva čeká na bratra.

ждать: N + G Ирина ждёт брата.

erwarten: N + A Eva erwartet die Ankunft des Zuges.

očekávat: N + A Eva očekává příjezd vlaku.

дождаться: N + G Ирина дожидалась приезда поезда.

danken: N + D Eva dankt ihrem Vater

děkovat:N + D Eva děkuje otci.

благодарить: N + A Ирина благодарит отца.

gratulieren: N + D + (zu + D) Eva gratuliert ihrem Vater zum Geburtstag

blahopřát / poblahopřát: N + D + (k + D) Eva blahopřeje otci k narozeninám.

поздравлять / поздравить: N + A + (с + I) Ирина поздравляет отца с днём рождения.

brauchen: N + A Peter braucht ein neues Auto.

potřebovat: N + A Petr potřebuje nové auto.

нуждаться: N + (в + P) Пётр нуждается в новой машине.

wünschen: N + D + A Eva wünscht ihrem Vater Glück.

přát: N + D + A Eva přeje otci štěstí.

желать: N + D + G Ирина желает отцу счастья.

verstehen: N + A Peter versteht den Text.

rozumět: N + D Petr rozumí textu.

понимать / понять: N + A Пётр понимает текст.

syntaktische Valenz

quantitative Valenz:

gibt die Zahl der Aktanten an

qualitative Valenz:

gibt die syntaktische Form der Aktanten an

Valenz

semantische Valenz:

gibt die semantischen Eigenschaften der Aktanten an

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

148

anrufen: N + A Eva ruft ihren Bruder an.

volat / zavolat: N + D Eva volá bratrovit.

звонить / позвонить: N + D Ирина звоинт брату.

erreichen: N + A Peter erreichte das Ziel.

dosáhnout / dosahovat: N + G Petr dosáhl cíli.

достигать / достичь: N + G Пётр достиг цели.

sich beschäftigen: N + (mit +D) Eva beschäftigt sich mit Literatur.

zabývat se: N + I Eva se zabývá literaturou.

заниматься: N + I Ирина занимается литературой.

sich interessieren: N + (für + A) Peter interessiert sich für Literatur

zajímat se: N + (o + A) Petr se zajímá o literaturu.

интересоваться: N + I Пётр интересуется литературой.

benutzen: N + A Eva benutzt das Wörterbuch

použít:N + G Eva používá slovníku.

пользоваться: N + I Ирина пользуется словарём.

träumen: N Ich habe geträumt.

zdát se: D Zdalo se mi.

сниться: D Мне снилось.

4.4. Kasusgrammatik Die Kasusgrammatik wurde Ende der 1960er Jahre von Charles Fillmore auf der Grundlage der Generativen Transformationsgrammatik entwickelt. Sie erweitert diese jedoch um einen semantischen Aspekt, indem sie den einzelnen Terminalsymbolen nicht nur strukturelle, sondern auch semantische Rollen zuweist. Fillmore übernimmt von Chomsky das Modell der Oberflächen- und Tiefenstruktur und unterscheidet demnach zwischen Oberflächenkasus und Tiefenkasus. Unter Oberflächenkasus versteht er die traditionellen morphologischen (bzw. syntaktischen Kasusformen). Als Tiefenkasus (oder semantische Kasus) versteht er die semantischen Rollen, die Satzglieder im Satz übernehmen können. Die Zahl der semantischen Kasus ist umstritten (einige Forscher nehmen z.T. bis zu 40 semantische Kasusrollen an). Die wichtigsten semantischen Kasus sind: • Agens: Rolle des willentlichen Ausführender einer Handlung, daher

notwendigerweise belebt: Peter schreibt einen Brief. Eva studiert Betriebswirtschaft. Der Hund läuft davon.

• Force (cause, Kausator): nichtwillentlicher Verursacher (Ursache, Quelle) einer Handlung: in der Regel unbelebt, kann aber auch der belebte Verursacher einer unwillentlichen Handlung sein: Der Wind stößt die Tür auf. Das Wetter macht mir Kopfschmerzen. Peter verhakt sich mit dem Ärmel an der Türklinke.

• Goal (object): von der Handlung betroffenes (unbelebtes) Objekt: Eva bekommt ein Geschenk. Das Haus stürzt ein. Oft nochmals unterteilt in:

o Patiens: von der Handlung direkt betroffener (belebt): Der Arzt untersucht Peter.

o Effiziens: durch die Handlung hervorgebrachtes Objekt: Peter schreibt ein Buch.

o Affiziens: bereits vor der Handlung existentes, aber durch die Handlung verändertes Objekt: Eva streicht den Zaun gelb an.

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

149

o Cognate: kognates Objekt: Abstraktes Ergebnis der Handlung: Peter machte darüber Mitteilung; Eva äußerte ihren größten Wunsch.

• Adressat (recipient): Rolle des indirekt von der Handlung Betroffenen (meist belebt): Vater schenkt Peter ein Fahrrad. Peter bekommt von seinem Vater ein Fahrrad.

• Experiencer: Rolle des Wahrnehmenden (belebt): • Possessor / Possessed: Rolle des Besitzers / des Besitzes:

Eva hat eine Katze. • Instrument: Mittel zur Ausführung der Handlung.

Peter schreibt einen Brief mit der Hand. Eva kommt mit dem Fahrrad. • Prozessor (Zustandsträger) / Eigenschaftsträger: Peter schläft. Eva ist

schlagfertig. • Ort / Richtung / Zeit: Das Haus steht auf dem Hügel. Wir gingen in den Keller. Es war

so gegen neun Uhr abends. u.v.a. Bei Grepl / Karlík sind die semantischen Rollen in 4 Obergruppen zusammengefasst:

• Physische Objekte: Agens, Patiens, Kausator, Prozessor, Eigenschaftsträger, Possessor, Experiencer, Recipient, Instrument.

• Orte: Location, Direction, Ursprung • Tempus: Zeitpunkte oder -abschnitte • Situative Aktanten: Information, Instruktion, Anlass, Zweck

4.5 Funktionale Satzperspektive (aktuelle Satzgliederung oder Thema / Rhema-

Gliederung) Die funktionale Satzperspektive (auch aktuelle Satzgliederung oder Thema/Rhema-Gliederung) teilt untergliedert den Satz nach dem Grad ihres Informationsgehalt seiner Glieder. Die funktionale Satzperspektive ist demnach nur im jeweiligen Kontext (daher „aktuelle“ Satzgliederung) zu bestimmen, sie weist damit den Schritt über die Grenzen des einzelnen Satzes hinaus hin zu einer den Gesamtzusammenhang der kommunikativen Situation berücksichtigenden Sicht auf den Text. Die funktionale Satzperspektive unterscheidet in jeder Äußerung zwei Bereiche: • das, was aus dem vorher Gesagten bereits bekannt ist und daher vorausgesetzt

werden kann: das Gegebene (Vorerwähnte) = Thema. • das, was an neuer, noch nicht erwähnter Information hinzukommt: die neue

Information (das Neuerwähnte) = Rhema.

Da steht ein Fahrrad.

Thema Rhema

Das Fahrrad gehört Sylvia. Diese Einteilung hat – v.a. in Sprachen ohne feste Wortfolge, wie den slavischen Sprachen – u.a. auch Einfluss auf die Reihenfolge der Satzglieder (andere Auswirkungen der Thema/Rhema-Gliederung liegen etwa in der Satzintonation, der Hervorhebung durch Lautstärke, die Wahl von enklitischen / proklitischen Formen von Pronomina, Vollformen / Kurzformen von Hilfsverben usw.). Durch die Anordnung der Satzglieder kann so der Informationsgehalt der Satzteile grammatisch kodiert werden. Für die normale, emotional unmarkierte Aussage gilt

Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft

150

dabei folgende Reihenfolge: der Satz beginnt mit dem Thema (dem Gegebenen, Bekannten), das Rhema (die Neuinformation) folgt am Ende des Satzes. Nur in emotionale stark markierten (expressiven) Sätzen gilt die umgekehrte Reihenfolge: das Rhema steht am Anfang, das Thema folgt danach.

Unmarkierte (neutrale) Reihenfolge Markierte (expressive) Reihenfolge Thema – Rhema Rhema – Thema

Das Fahrrad gehört Sylvia. Sylvia gehört das Fahrrad. Funktionale Grammatik Unter dem Begriff „funktionale Grammatik“ werden eine Reihe von z.T. stark verschiedenen Syntaxtheorien verstanden, die den Aspekt der kommunikativen Funktion der Aussage in den Vordergrund stellen. Viele von ihnen zeichnen sich jedoch durch eine Zusammenfassung von Elementen der Valenzgrammatik, der Kasusgrammatik und der aktueller Satzgliederung aus, so v.a. in der funktionalen Grammatik von Halliday. Diese unterscheidet drei Arten von Subjekten: • Grammatisches (syntaktisches) Subjekt: Nomen im Nominativ, das in Kongruenz

zum Prädikat steht. = N • Semantisches (logisches) Subjekt: Agens / Force: Ausführender / Verursacher

der Handlung. = A • Thematisches (informationelles, kommunikatives) Subjekt: Das, wovon die Rede

ist, neue Information, Rhema. = R Diese 3 Subjekte können im Satz in einem Satzglied zusammenfallen, sie können aber auch auf unterschiedliche Satzglieder verteilt sein, vgl. die folgenden Beispiele mit der identischen Proposition SCHENKEN (Peter, Buch, Eva). Dabei steht N für das grammatische Subjekt (Nominativ), A für das semantische Subjekt (Agens) und R für das thematische Subjekt (Rhema):

aktueller Kontext Beispielssatz Verhältnis der 3 „Subjekte“

„Wer schenkt Eva das Buch?“ „Peter schenkt Eva das Buch.“ N = A = R

„Wem schenkt Peter das Buch?“ „Peter schenkt das Buch Eva.“ N = A R

„Wer hat das Buch von Peter geschenkt bekommen?“

„Das Buch von Peter hat Eva geschenkt bekommen.“

N = R A

„Von wem hat Eva das Buch geschenkt bekommen?“

„Eva hat das Buch von Peter geschenkt bekommen.“

A = R N

Was schenkt Peter Eva? „Peter schenkt Eva ein Buch.“ N = A R

Was hat Eva von Peter geschenkt bekommen?

„Eva hat von Peter ein Buch geschenkt bekommen?“

N A R

Literatur: Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. S. 122-171. Grepl, Miroslav – Karlík, Petr: Skladba spisovné češtiny. Olomouc, 1998. Halliday, M.A.K.: An Introduction to Functional Grammar. London 1985. Hentschel, Elke – Weydt, Harald: Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Auflage. Berlin, New York 2003. S. 444-477.