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1 Skript zur Einführung in die Musiktherapie Musikpsychologische und klinische Grundlagen des Helfens und Heilens mit Musik Universität Siegen Univ.-Prof. Hartmut Kapteina Musikpädagogik Musiktherapie 57068 Siegen Hölderlinstr.3 Raum H-D 7203 Tel. 0271/740-3212 Email: [email protected] April 2009

Skript Zur Vorlesung. 2009

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Skript zur

Einführung in die Musiktherapie Musikpsychologische und klinische Grundlagen des Helfens und Heilens mit Musik

Universität Siegen Univ.-Prof. Hartmut Kapteina Musikpädagogik Musiktherapie 57068 Siegen Hölderlinstr.3 Raum H-D 7203 Tel. 0271/740-3212 Email: [email protected]

April 2009

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Inhaltsübersicht

1 Gesamtdarstellungen unterschiedlicher musiktherapeutischer Arbeitsansätze......................................... 4

2 Literaturdienst ................................................................................................................................................. 6

3 Definition der Musiktherapie ......................................................................................................................... 8

3.1 Kasseler Thesen zur Musiktherapie .................................................................................... 11

3.2 Kasseler Thesen zum Berufsbild der Musiktherapeuten 2005............................................ 14

3.3 Zur Abgrenzung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik........................................ 17

4 Was geschieht, wenn wir Musik hören? ........................................................................................................ 18

4.1 Anmerkung zur Anatomie des Hörvorgangs....................................................................... 19

4.2 Anmerkung zur Musikwirkung bei Pflanzen ...................................................................... 21

4.3 Anmerkung zur Musikwirkung auf Tiere............................................................................ 23

4.4 Anmerkungen zum Thema: Schädliche Wirkungen von Musik beim Menschen............... 25

4.5 Biophysik des Musikerlebens.............................................................................................. 28

4.6 Neurophysiologische Prozesse beim Musikerleben............................................................ 39

4.7 Körperliche Reaktionen beim Musikerleben ...................................................................... 46

4.8 Anmerkungen zur emotionalen Wirkung von Musik.......................................................... 54

4.9 Kulturspezifische Aspekte des Musikerlebens.................................................................... 57

4.10 Wahrnehmungspsychologische Aspekte des Musikerlebens.................................... 58

4.11 Anmerkungen zum Thema „Musikerleben als Zeiterleben“ .................................... 59

4.12 Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens................................................... 63

4.13 Lerntheoretische Aspekte des Musikerlebens........................................................... 67

4.14 Anmerkungen zur sozialen Dimension des Musikerlebens...................................... 68

4.15 Anmerkungen zur Ästhetik des Musikerlebens ........................................................ 75

4.16 Kognitive Aspekte des Musikerlebens ..................................................................... 80

4.17 Politische Aspekte des Musikerlebens...................................................................... 82

4.18 Anmerkungen zum religiösen/spirituellen Charakter von Musik............................. 84

5 Hörerfahrungen in Grenzbereichen............................................................................................................... 90

5.1 Hören vor der Geburt .......................................................................................................... 91

5.2 Erfahrungen mit dem „Pränatalraum“................................................................................. 97

5.3 Die Hörerfahrung von Gehörlosen und Ertaubten .............................................................. 98

5.4 Musiktherapie mit Koma - Patienten .................................................................................. 101

6 Schlaglichter auf die historische Entwicklung der musikalischen Heilkunst ............................................. 102

7 Musiktherapie in der Psychiatrie ................................................................................................................... 106

7.1 Musiktherapie bei Schizophrenie........................................................................................ 110

7.2 Musiktherapie bei Depression............................................................................................. 114

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7.3 Musiktherapie bei Abhängigkeitserkrankungen.................................................................. 124

7.4 Musiktherapie mit alten und demenzkranken Menschen.................................................... 135

8 Musiktherapie und Sozialpädagogik.............................................................................................................. 141

9 Musik und Musiktherapie in der Sozialen Arbeit......................................................................................... 145

9.1 Zwanzig Jahre Musiktherapie Ausbildung an der Universität Siegen ................................ 149

10 Neue Musik, Improvisation und ganzheitliche Musikpädagogik ................................................................ 165

10.1 Ökologie der Gruppenimprovisation ........................................................................ 174

11 Weitere Themen der Vorlesung...................................................................................................................... 180

12 Anschriften, bei denen musiktherapeutische Weiterbildung, fachlicher Austausch und Interessenvertretung möglich ist: ................................................................................................................... 184

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1 Gesamtdarstellungen unterschiedlicher musiktherapeutischer Arbeitsan-

sätze

Leslie Bunt: Musiktherapie. Eine Einführung in psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 bietet einen Überblick über die weltweite Musiktherapie - Szene, Praxis und Theoriestand.

Herbert Bruhn: Musiktherapie. Geschichte – Theorien – Methoden, Göttingen 2000 bie-

tet ebenfalls einen umfassenden Überblick, wobei heil- und sonderpädagogische Aspekte be-sonders berücksichtigt sind.

David Aldrige: Musiktherapie in der Medizin, Bern 1999 stellt „Forschungsstrategien

und praktische Erfahrungen“ heraus und bearbeitet auch die ästhetischen Aspekte der Musik-therapie.

Henk Smeijsters: Grundlagen der Musiktherapie, Göttingen 1999 hat eine Theorie und

Forschungspraxis vorgelegt, die stark an der Diagnostik orientiert ist. Er geht von der Frage aus, warum bei welcher Krankheit oder Störung Musiktherapie etwas leistet, das keine andere Psychotherapie leisten kann.

Wolfgang Strobel/Gernot Huppmann: „Musiktherapie“ (Göttingen 1978) ist stark histo-

risch orientiert und die Bücher von R. Spintge und R. Droh: Musik in der Medizin (Berlin und Heidelberg

1987) und Musik-Medizin (Stuttgart 1992) informieren über die medizinisch orientierten An-sätze der Musiktherapie.

Henk Smeijsters: Musiktherapie als Psychotherapie (Stuttgart 1994) stellt die verschie-denen aktuellen Richtungen der Musiktherapie dar.

Schließlich ist in der Reihe der Gesamtdarstellungen zu nennen: der von Gerhard Har-

rer 1982 herausgegebene Sammelband „Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsycholo-gie“ (Stuttgart) mit einigen musikpsychologischen Beiträgen, einem geschichtlichen Über-blick, einem theoretischen Grundlagenbeitrag zur Methodik der Musiktherapie von Christoph Schwabe und Praxisbeiträgen aus der Psychiatrie, Heilpädagogik, Arbeit mit hirngeschädig-ten, entwicklungsgestörten Kindern, mit Psychotikern und Neurotikern, bei psychosomati-schen Erkrankungen, bei Depression und im Strafvollzug. Ein Beitrag zur Ausbildung an der Wiener Hochschule und über außereuropäische Heilmusik beschließt den Bogen den dieses Werk umspannt.

Der 1998 von Werner Kraus herausgegebene Band „Die Heilkraft der Musik. Eine

Einführung in die Musiktherapie“ (Beck, München) enthält neben allgemeinen Beiträgen zum Berufsbild und zu Ausbildungsmöglichkeiten Praxisschilderungen von der Kinder- bis zu ge-riatrischer Therapie ebenso

das 1997 von Lotti Müller und Hilarion G. Petzold herausgegebene Buch „Musikthe-

rapie in der klinischen Arbeit“ (Fischer, Stuttgart). Eine neue Gesamtdarstellung von Hans Helmut Decker-Voigt (Hrsg.) informiert über

die Schulen der Musiktherapie, München 2001

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2009 erscheint die Neuauflage des „Lexikon Musiktherapie“ (Hogrefe Verlag Göt-tingen) erschienen; es enthält in alphabetischer Reihenfolge ca. 100 Beiträge von „Abwehr“ bis „Trance“ und ist das zur Zeit aktuellste Kompendium zur Musiktherapie.

Der von Stiff und Tüpker herausgegebene Sammelband Kindermusiktherapie. Rich-

tungen und Methoden (Göttingen 2007) gibt einen aktuellen Gesamtüberblick über die in Deutschland vertretenen bedeutenden kindermusiktherapeutischen Schulen vor: Entwick-lungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie (Karin Schumacher und Claudine Calvet), Kindermusiktherapie, die in der ehemaligen DDR entwickelt wurde und heute noch maßgebli-che Bedeutung besitzt (Jutta Brückner), Analytische Musiktherapie (Wolfgang Mahns und Na-talie Hippel), Morphologische Kindermusiktherapie (Rosemarie Tüpker und Bernd Reichert), Musiktherapie nach Paul Nordoff und Clive Robbins (Lutz Neugebauer) und die Orff-Musiktherapie (Melanie Voigt und Christine Plahl). Jeder Beitrag liefert eine theoretische Grundlegung, eine Darstellung des jeweiligen methodischen Behandlungsprinzips (anhand von Fallbeispielen) und eine Erörterung der jeweils angewandten Evaluations- und Forschungsme-thoden zur Feststellung der Wirksamkeit.

Das von Wigram, Inge Nygaard Pedersen und Lars Ole Bonde herausgegebene

Lehrbuch zur Musiktherapie (A Comprehensive Guide to Music Therapy. Clinical Practice, Research and Training, London 2002) liefert einen kompletten Überblick über Geschichte, theoretische Grundlagen, Richtungen, Anwendungsgebiete, Forschungsansätze und Ausbil-dungsformen der Musiktherapie in Europa.

Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft informiert über Musiktherapie auf einer

Internet Homepage: „www.musiktherapie.de“

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2 Literaturdienst

Die Universität Siegen hat einen speziellen Literaturdienst für Musiktherapie und Soziale

Arbeit eingerichtet: Dieser Service richtet sich zum einen an Studierende der Universität Siegen und die Teilneh-mer der Musiktherapeutischen Zusatzausbildung, die sich in einen speziellen Bereich der Mu-siktherapie intensiver einarbeiten oder darüber eine Seminar-, Diplom-, Bachelor- oder Mas-terarbeit verfassen möchten. Für sie entstehen keine Kosten. Sonstige Interessenten können dieses Angebot gegen eine Gebühr in Höhe von 5,-- € (bitte als Schein der Literaturanfrage beifügen) in Anspruch nehmen. Bei mehr als sechs Stichwörtern schicken Sie uns bitte eine Diskette. Das Literaturverzeichnis umfasst mehr als 7000 Titel und wird ständig aktualisiert und erwei-tert. Es enthält Bücher (Artikel aus Sammelbänden werden einzeln aufgeführt), Artikel aus Fachzeitschriften und „graue Literatur”. Neben den Bibliographien nach DIN-Norm umfasst die Recherche bei einem Teil der Veröffentlichungen eine Kurzzusammenfassung. Wenn Sie unsere Dienstleistung der Literaturrecherche nutzen möchten, richten Sie bitte einen schriftlichen Auftrag mit der genauen Beschreibung Ihrer Suchanfrage, unter Verwendung nachfolgender Stichworte an: Prof. Hartmut Kapteina, Universität Siegen, Hölderlinstraße 3, 57068 Siegen.

A Adipositas, Adorno, Afrika, Afrikanische Musik, Aggression, Aids, aktive Musiktherapie, Alkoholabhängige, Altenarbeit, Altorientali-sche Musiktherapie, Alzheimer, Amusie, Anaesthesiologie, Angst, Anorexia nervosa, Anthropologie der Musik, Anthroposophie, Anthropo-sophische Musiktherapie, archetypische Klänge, Assoziation, Asthma, Atem, Audio-Psycho-Phonologie, Ausbildung, Ausdruckstherapie, Australien, Autismus, Autoaggression, Autogenes Training, Autonomie, Ästhetik, ästhetische Erziehung.

B Behinderte Kinder, Behinderung, Belgien, Berimbao, Berufsbild des Musiktherapeuten, Bewegungserziehung, Bewegungstherapie, Be-wußtseinsstruktur, Beziehung, Bibliographie, Bilderleben, Blasinstrumente, Blutdruck, Borderline, Brasilien, Bratsche, Bulimie.

C Cello, Cerebralparese, Chaos, China, Computermusik, Conga.

D Dänemark, Demenz, Depression, Diagnostik, Dialog, Dialyse, Didgeridoo, DMVO, Dokumentation musiktherapeutischer Prozesse, Down-Syndrom, Dramatherapie, Drogenabhängige, Drogenabhängigkeit, Dyskalkulie.

E Ehe, Einzelmusiktherapie, Ekstase, elektronische Musik, Eltern, Emotionalität, Entspannung, Entwicklungspsychologie, Epilepsie, Ero-tik, Erwachsenenbildung, Erziehung, Eskimo, Esoterik, Eßstörungen, Ethik, Evaluation.

F Familientherapie, feministische Therapie, fernöstliche Medizin, Flöte, Flüchtlinge, Folteropfer, forensische Psychiatrie, Forschung, Frankreich, Frauen, Free Jazz, Freizeitpädagogik, frühe Störungen, Frühförderung, Frühgeborene.

G Gamelan-Musik, Geburtshilfe, Geburtsprozess, Geburtsvorbereitung, Gegenübertragung, Gehemmtheit, Geige, geistige Behinderung, Genuß, Geriatrie, Gerontopsychiatrie, Geschichte der Musiktherapie, Gesetze, Gesprächsführung, Gestalttherapie, Gestaltung, Gestaltungstherapie, Gesundheit, Gewalt, Gitarre, Glocken, Gong, graphische Nota-tion, Griechenland, Großbritannien, Grundschule, Gruppenimprovisation, Gruppenmusiktherapie, Gruppenpädagogik, Gruppentherapie.

H Hauterkrankungen, Heilpädagogik, Heilpädagogische Musiktherapie, Heilritual, Heimerziehung, Herz, Hirnphysiologie, Hirnschädi-gung, Hospiz, Hören, Hörgeschädigte, Hypermotorik, Hypnose

I Identifikation, Imagination, Immunsystem, Improvisation, Indianer, Indien, Indikation, Indonesien, initiatische Musiktherapie, Instrumen-talspiel, Instrumentenbau, integrative Musiktherapie, Intensivmedizin, interkulturelle Arbeit, intermediale Arbeit, Intermusiktherapie Inzest, Islam, Israel, Italien.

J Japan, Jazz, Jugendarbeit, Jugendliche, Jugendpsychiatrie.

K Kalimba, Kanada, Karibik, Katathymes Bilderleben, Keyboard, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kindergarten, Kindermusiktherapie, Kindertherapie, Klang, Klangschalen, klassische Musik, Klavier, Koma, Kommunikation, Komposition, Konsum, Kontakt, Kontrabaß, Kopfschmerzen, Körperbehinderung, Körpererfahrung, Körperkontakt, Körpertherapie, Krankheitsbewältigung, Kreativität, Krebs, Kriegs-trauma, Kuba, Kunst, Kunsttherapie, Kurzzeitmusiktherapie.

L Lautstärke, Lehrmusiktherapie, Leier, Lernbehinderung, Lese-Rechtschreibschwäche, Lieder, Ligeti, Linkshändigkeit, Logopädie.

M Malen, Mallet-Instrumente, Manie, Manipulation, Massenmedien, Mädchenarbeit, Märchen, Meditation, Medizin, Melodie, Monocord, Morbus Huntington, Morphologie, morphologische Musiktherapie, Motivation, multimediale Arbeit, Multimorbidität, Multiple Sklerose, musikalische Früherziehung, Musikalische Gestaltung, Musikästhetik, MusikerInnen-Krankheiten, Musikerleben, Musikethnologie, Musik-geschichte, Musikhören, Musikinstrumente, Musikmalen, Musikpädagogik, Musikpsychologie, Musikschule, Musiksoziologie, Musikwir-kung, Musikwissenschaft, Mutismus, Mutter-Kind-Interaktion.

N Nachsorge, Narzissmus, Neid, Neue Musik, Neurologie, Neurose, Neuseeland, Niederlande, NLP, Nordoff-Robbins-Musiktherapie, Norwegen, Notation.

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O Obdachlose, Obertöne, Ocean-Drum, Orff, Ostdeutschland, Österreich.

P Paartherapie, Parkinson, Perkussionsinstrumente, Philosophie, Poesie, Pogrammusik, Polen, Politik, Posaune, pränatal, Prävention, Pro-zesse, Psychiatrie, psychische Krankheit, Psychoanalyse, Psychoanalytische Musiktherapie, Psychodrama, Psychologie, Psychomotorik, Psychopathologie, Psychose, Psychosomatik, Psychotherapie

Q Qualitätssicherung.

R Rassel, Regression, Regulative Musiktherapie, Rehabilitation, Religion, rezeptive Musiktherapie, Rheuma, Rhythmik, Rhythmus, Ritu-al, Rockmusik, Rollenspiel

S Sansa, Säuglinge, Schamanismus, Schizophrenie, Schlaganfall, Schlagzeug, Schlitztrommel, Schmerz, Schule, Schwangerschaftsab-bruch, Schweden, Schweiz, Schwerst-Mehrfachbehinderung, Schwirrholz, Sehbehinderung, Selbstmanagement-Therapie, Selbstwahrneh-mung, Sexualität, sexueller Missbrauch, Shruti-Box, Singeleitung, Singen, Skandinavien, Sonderpädagogik, Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Sozialmusiktherapie, Sozialpsychiatrie, Sozialpsychologie, Spiel, Spielesammlung, Spiritualität, Sprachentwicklung, Sprachstörung, Ster-bende, Stille, Stimme, Strafvollzug, Streichinstrumente, Stress, Sucht, Suchtprävention, Suchttherapie, Suizid, Supervision, Südafrika, Symbol, Synthesizer, systemische Therapie, szenisches Spiel

T Tamtam, Tanz, Tanztherapie, Theater, Theorie der Musiktherapie, therapeutische Beziehung, Tibet, Tinnitus, Tod, Tomatis, Trance, Transzendenz, Trauer, Traum, Trauma, Trommel, Türkei, TZI.

U Ungarn, Unterhaltungsmusik, USA, Utopie, Übertragung.

V Vegetativum, Verhaltensauffälligkeit, Verhaltenstherapie, Vibraphon, Vibration, Videoarbeit, Videofilme zur Musiktherapie, Volkstanz, Vorschulerziehung.

W Wahrnehmung, Wahrnehmungsförderung, Werbung, Widerstand.

X Xylophon.

Y Yoga.

Z Zahnmedizin, Zeit, Zwangserkrankungen.

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3 Definition der Musiktherapie

Für viele Menschen ist die Verbindung zwischen “Musik“ und “Therapie“ offensichtlich, vor allem wenn sie neben ihrem Unterhaltungswert entdeckt haben, wie Musik zur eigenen psy-chischen Stabilisierung beiträgt. In der Musiktherapie versuchen wir, über Musik Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Wir können beobachten, wie Klienten die Musik benutzen, um Probleme in der Kommunika-tion zu überwinden. Über viele Jahre galt als Standard der britischen Musiktherapie die Defi-nition von Juliette ALVIN, nach der Musiktherapie als der gezielte Einsatz von Musik bei Be-handlung, Rehabilitation, und Erziehung von Kindern und Erwachsenen, die an physischen, psychischen und emotionalen Störungen leiden, gilt (vgl. 1975,4).Die Definition verfolgt ins-gesamt einen eher therapeutenzentrierten Ansatz, bei dem die Therapie an Kindern und Er-wachsenen vollzogen wird. Ähnlich orientiert ist BRUSCIAS Definition der Australischen Musiktherapie - Vereinigung: Musiktherapie sei der gezielte Einsatz von Musik, um therapeutische Ziele bei Kindern und Erwachsenen zu erreichen, die bestimmte soziale, emotionale, körperliche oder intellektuelle Probleme haben (vgl. 1989,172). Therapeutische Ziele stehen auch Definition des NAMT, der amerikanischen Musiktherapie - Vereinigung im Vordergrund (1980, 1): Musiktherapie ist der Einsatz von Musik, um die geistige, psychische und physische Gesundheit wieder herzustel-len, zu erhalten und zu verbessern. Andere Definitionen heben Verhaltensänderungen hervor, die durch Musiktherapie bewirkt werden (vgl. FLESHMAN & FRYREAR 1981, 59) und die sich innerhalb des kreativen Ver-laufs einer therapeutischen Beziehung entwickeln. (NORDOFF & ROBBINS 1986). Auch ALVIN betont: “Erfolg oder Versagen der Musiktherapie hängen sowohl von menschlichen wie musikalischen Faktoren der Beziehung ab” (1975, 82). Tony WIGRAM, Inge NYGAARD PEDERSEN und Lars Ole BONDE (A Comprehensive Guide to Music Therapy. Clinical Practice, Research and Training, London 2002, S.130-134) beschreiben die Musiktherapie von Juliette ALVIN, einer der modernen Musiktherapie-Pioniere als „Free Improvisation Therapy“. Sie hebt die Bedeutung der Psychoanalyse von Sigmund Freud für die Musiktherapie hervor, weil Musik die Kraft besitze, Aspekte des Un-bewussten zum Vorschein zu bringen. Der Mensch könne sich selbst in seinen musikalischen Produkten erkennen. Für sie ist der Komponist Strawinsky einer der bedeutendsten Kompo-nisten des 20ten Jahrhunderts, der mit den überlieferten musikalischen Gesetzen der Harmo-nielehre, des Kontrapunktes und der Formenlehre brach und mit der Akzeptanz von Disso-nanz, atonalen Klängen und asymmetrischen Rhythmen „die Tür für die Entwicklung der Freien Improvisationstherapie öffnete, in der Klienten und Therapeuten ohne vorgegebene Regeln frei spielen und ihren persönlichen Charakter zum Ausdruck bringen können“ (131). Jede denkbare Art von musikalischer Aktivität kann verwendet werden, Improvisation wird total frei behandelt, musikalische Vorkenntnisse und instrumentale Fähigkeiten werden nicht vorausgesetzt und der Therapeut gibt keine wie auch immer geartete Regeln oder musikali-sche Strukturen vor (vgl. ebd.). Klient und Therapeut bestimmen gleichberechtigt über die musikalische Situation. Auf diese Weise kommen sie in Kontakt zu ihren eigenen Ressourcen und Stärken. Wie in den USA so verlief die Entwicklung der Musiktherapie auch in den europäischen Län-dern so, dass zunächst die Betonung auf der Musik lag und die Rolle des Therapeuten ver-nachlässigt wurde; sodann wurde die Musik zugunsten der therapeutischen Beziehung ver-nachlässigt, und schließlich pendelte sich das Selbstverständnis der Musiktherapie irgendwo zwischen den beiden Extremen ein (vgl. BUNT 1998). Diese verschiedenen Schwerpunkte bestimmen die Diskussionen weiterhin auf nationaler und

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internationaler Ebene. In Großbritannien standen Musik und Musiker als Musiktherapeuten immer im Mittelpunkt der Überlegungen. In anderen Ländern wird Musiktherapie von Musik-psychologen, Ärzten und Pädagogen ausgeübt; die Musik wird von ihnen eher als Mittel einer anderen psychotherapeutischen Methode, eher als Teil eines übergeordneten Behandlungsan-satzes denn als eigenständige therapeutische Intervention angesehen (vgl. BUNT 1998, S. 17f.). Der brasilianische Musiktherapeut BENENZON meint, dass ein Musiktherapeut als sol-cher besonders ausgebildet sein muss, nicht aber notwendigerweise ausgebildeter Musiker sein muss (vgl.1981, 50). International bestehen unterschiedliche Ausbildungsstandards mit unterschiedlichen akademischen und berufsrechtlichen Abschlüssen. Manche Studiengänge lassen nur Musiker mit Hochschulabschluss und langjähriger Praxiserfahrung zu, andere bil-den Studenten direkt nach der Schule aus. Mit der internationalen Ausweitung des Berufes, etwa im Rahmen der Europäischen Union, wird es immer wichtiger, gemeinsame Grundlagen und international anerkannte Standards zu entwickeln. Dabei werden verschiedene Länder entsprechend ihrer jeweiligen Musik- und Kulturgeschichte unterschiedliche Definitionen für Musiktherapie entwickeln und die jeweiligen Besonderheiten ihres Gesundheitswesen berück-sichtigen. Jedenfalls aber liegt die besondere Leistung der Musiktherapeuten in der “Bereitschaft und Fähigkeit zuzuhören” (STEELE 1988,3). Hinzu kommt die Fähigkeit, musikalisch und emoti-onal zu begleiten und differenzierte Interaktionen im klanglichen und psychischen Geschehen zu gestalten (vgl. auch KENNY 1982,6). Insofern stellt Musiktherapie einen Kontext her, in dem sich über gemeinsame musikalische Erfahrungen eine gegenseitige Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten bildet, die ermöglicht, dass sich sowohl aufseiten des Klienten als auch im therapeutischen Prozess selbst Veränderungen ereignen (vgl. APMT 1990). Musik-therapie kann also als gezielter Einsatz von Klängen und Musik in einer sich entfaltenden Be-ziehung zwischen Klient und Therapeut definiert werden mit dem Ziel, das körperliche, geis-tige, soziale und emotionale Wohlergehen zu fördern (BUNT 1998, 18). Die Vertreter der wichtigsten musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland haben 1998 in den sog. KASSELER THESEN MUSIKTHERAPIE als “eine praxisorientierte Wissen-schaftsdisziplin“ gekennzeichnet, “die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissen-schaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psy-chologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik.” Der Begriff Musiktherapie wird ver-standen als “summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptio-nen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind” und insofern “an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden” sind. In der musiktherapeu-tischen Beziehung wird Musik als subjektiver Bedeutungsträger verstanden, der “den Prozess des Wiedererkennens interiorisierter Erfahrungen” ermöglicht, “die im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturationsprozess und der aktuellen Situation stehen.” Sie ist “Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu akti-vieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Aus-gangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird.” Die verschiedenen “musiktherapeuti-sche Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, sys-temischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansätzen” (KASSELER KONFERENZ, 1998). Literatur:

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ALVIN, J.: Music Therapy, London 1975 BENENZON, R.O.: Music Therapy Manual, Springfield, Illinois 1981 BRUSCIA, K.E.: Defining Music Therapy, Spring City, Pennsylvania 1989 BUNT, L.: Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 FLESHMAN, B. & FRYREAR, J.L.: The Arts in Therapy, Chicago 1981 KASSELER KONFERENZ MUSIKTHERAPEUTISCHER VEREINIGUNGEN IN DEUTSCHLAND: Thesen zur Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau 1998, 232-235 KENNY, C.: The Mythic Artery. The Magic of Music Therapy, Atuscadero, California 1982 NAMT (National Association of Music Therapy): Broschüre zur Berufslaufbahn 1980 NORDOFF, P. & ROBBINS, C.: Schöpferische Musiktherapie, Stuttgart 1986 WIGRAM, T., NYGAARD PEDERSEN, I. und BONDE, L. O.: A Comprehensive Guide to Music Therapy. Clinical Practice, Research and Training, London 2002, SCHWABE, C.: Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen, Jena 1969 STEELE, P.: Forward. Journal of British Music Therapy, 2/1988

MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADITION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES

TOTAL MUSICAL FREEDOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES

TO UNDERPIN IT. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 246

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3.1 Kasseler Thesen zur Musiktherapie

Präambel Mit den vorliegenden Thesen haben die VertreterInnen der oben genannten acht musiktherapeutischen Vereini-gungen in Deutschland den Versuch unternommen, einen schulenübergreifenden Konsens zur Musiktherapie her-beizuführen. Dieser besteht in Aussagen zu theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen der Musiktherapie, Aus-bildungsschwerpunkten, konzeptionellen Voraussetzungen und Anwendungsbereichen. Die Thesen können nur in ihrer Gesamtheit verstanden werden, da die einzelnen Aussagen einander bedingen und ergänzen. Die darin ent-haltenen Festlegungen lassen Raum für die unterschiedlichen musiktherapeutischen Konzeptionen und geben gleichzeitig eine verbindliche Basis für die Qualitätssicherung.

Die Kasseler Thesen dienen einem gemeinsamen berufspolitischen Vorgehen zur Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für die Ausübung von Musiktherapie. Gleichzeitig implizieren sie eine Abgrenzung zu anderen the-rapeutischen Verfahren, in denen ebenfalls Musik eingesetzt wird.

Die Dynamik der fachlichen und verbandspolitischen Auseinandersetzung zur Erarbeitung der Kasseler Thesen wurde maßgeblich vorangetrieben durch die Begegnung der historisch gewachsenen ost- und westdeutschen Fachtraditionen. Dieser Prozess markiert den Beginn einer auf Integration und Kooperation ausgerichteten Ent-wicklung zwischen den VertreterInnen der unterschiedlichen Musiktherapierichtungen in Deutschland.

These 1

Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselbezie-hung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesell-schaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik.

These 2

Der Begriff „Musiktherapie” ist eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musik-therapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakteri-sieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. Musiktherapie näher zu definieren erfordert Aussagen zum zugrunde liegenden Psychotherapiebegriff und Musikbegriff.

These 3

Ausgehend von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis1 ist Psychotherapie wissen-schaftlich fundierte Behandlung mit psychologischen Mitteln. Sie gehört zum Bereich der Medizin und hat dort eine integrative Funktion.

1 Das bio-psycho-soziale Menschenbild und Krankheitsverständnis verdeutlicht David Aldridge in sei-nem Aufsatz „Leben als Jazz“ (in: Haase, Ulrike und Stolz, Antje (Hrsg.) Improvisation – Therapie – Leben, Crossen 2005, 473-487) mit dem Vergleich zwischen einer Symphonie und einer Maschine: „Eine geläufige Metapher für Heilung in der modernen Kultur setzt den Körper mit einer Maschine gleich. Ist jemand krank, wird dieser Körper zur Reparatur gebracht, und nach entsprechender Be-handlung ist der Defekt behoben.“ Diesem „iatromechanischen Menschenbild“ setzt Aldridge entge-gen, „dass der Mensch gleich einem Musikstück komponiert ist. Wir sind in der Welt als biologi-sche, psychologische und soziale Organismen, welche in einem ständigen Energiefluss improvisierend auf innere und äußere Anforderungen des täglichen Daseins treffen. Jeder von uns hat ein komposito-risches Thema – seine Identität – und diese stellt ein Repertoire an Möglichkeiten des Seins dar. Mit diesem Repertoire gehen wir in die Welt und passen es immer wieder improvisierend den augenblick-lichen Erfordernissen des Lebens an.“ Daraus würde sich für die Musiktherapeuten die Aufgabe ablei-ten, den Patienten solche Anpassungsprozesse zu erleichtern, indem sie „– im übertragenen und wört-lichen Sinne – dieses ‚Improvisations-’ Repertoire erweitern, um so auf umwälzende Veränderungen zu reagieren, oder auch ein neues Repertoire zu entwickeln, wenn das Leben durch einen unglückli-chen Umstand erheblich gestört wird“ (474). Musiktherapie bietet als kreativ gestaltendes Therapiever-fahren „die Möglichkeit, auf dynamische Weise das Individuum als ganzheitliches Selbst, auch in Be-

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Psychotherapie beruht auf einem jeweils zu definierenden theoretischen Konzept, das Aussa-gen zum Menschenbild, zur Ethik und zum Krankheitsverständnis beinhaltet. Daraus ergibt sich ein System von Methoden, mit dem sie sich auf die therapeutischen, rehabilitativen und präventiven Gebiete des Gesundheits- und Sozialwesens einzustellen vermag.

Somit ist das Erscheinungsbild psychotherapeutischer Methoden theorie- und kontextabhängig insbesondere im Bezug auf die Indikationsstellung, die Zielsetzung, das methodisch-didaktische Therapeutenverhalten, den Umgang mit der Gruppendynamik bzw. den dynami-schen Prozessen der Dyade.

Psychotherapie begründet sich in der Konstituierung des therapeutischen Settings und ist an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden.

Die Wirksamkeit der Psychotherapie entfaltet sich im Wahrnehmen, Erleben, Erkennen, Ver-stehen und im Handeln des Patienten. Keine psychotherapeutische Methode oder Technik folgt einem monokausalen Wirkprinzip.

These 4

Musik ist vom Menschen gestalteter Schall. Als akustisches, zeitstrukturierendes Geschehen ist sie Artikulation menschlichen Erlebens mit Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion.1

Sie befindet sich im dialektischen Spannungsfeld individueller – körperlicher, psychischer, spiritueller, sozialer – und gesellschaftlich - kultureller Bedingungen und ist dort wirksam und bedeutsam.

Musik wird zum subjektiven Bedeutungsträger über den Prozess des Wiedererkennens interio-risierter Erfahrungen, die im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturati-onsprozess und der aktuellen Situation stehen.

These 5

In der Musiktherapie ist Musik Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduk-tion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu kon-kretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird.

These 6

ziehung zu einer anderen Person zu hören. Wir können hören, wie die Person in ihrem Dasein zutage tritt, indem er oder sie eine Beziehung in der Zeit aufbaut“ (485). 1 Zu „gestaltet”: Bei der musikalischen Gestaltung werden Töne, Klänge und Geräusche in übergrei-fende rhythmische, melodische und harmonische Strukturzusammenhänge gebracht. Dieser Vorgang ist Grundlage aller künstlerischen Schaffensprozesse in der Musik. Gestaltung schließt auch unbeab-sichtigte Schallereignisse ein, sofern diese vom Rezipienten als bedeutsam wahrgenommen werden. Zu „Schall”: Schall ist die Bezeichnung für alle hörbaren Schwingungsvorgänge und schließt die Begrif-fe Ton und Klang als Phänomene universaler harmonikaler Gesetzmäßigkeiten und den Begriff Ge-räusch mit ein. Zu „zeitstrukturierend”: Musik beinhaltet Erfahrungen von und mit Zeit. Zu „Artikulation”: Diese Artikulation ist nonverbal und präverbal. Auch das Verständnis der Musik als präsentatives Symbolsystem ist darin enthalten (Maria Becker in: Lexikon der Musiktherapie 1996, 230); andere Zugänge sind aber ebenfalls abgedeckt, wie semiotische (Christoph Schwabe: Methodik der Musiktherapie, Leipzig 1978) oder ästhetische (z.B. Mukarowský, Lucács).

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Musiktherapeutische Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansät-zen.1

These 7

Musiktherapie wird in Institutionen des Sozial - und Gesundheitswesens durchgeführt:

• im klinischen Bereich (z.B. in psychotherapeutischen Spezialkliniken für Kinder, Jugend-liche und Erwachsene, in stationären und semistationären Kliniken, in somatischen Fach-kliniken)

• im rehabilitativen Bereich (z.B. in Fördereinrichtungen für psychisch, geistig und/oder körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, in ambulanten psychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen)

• im präventiven Bereich (z.B. in der prophylaktischen und metaphylaktischen Arbeit bei Kindern, Jugendlichen, und Erwachsenen in allen Lebensabschnitten)

• und in freier Praxis.

These 8

Voraussetzung für die Anwendung von Musiktherapie ist eine syndromatologische und eine therapieprozessbezogene musiktherapeutische Diagnostik. Daraus leiten sich Indikationsstel-lung und Zielformulierung ab. Das Wesen der musiktherapeutischen Diagnostik liegt in der Beschreibung der musikalischen Phänomene und ihrer Verbindung zu körperlichen, seeli-schen und sozialen Vorgängen.

These 9

In der Musiktherapie werden spezifische Dokumentationsverfahren zur Therapieevaluation und zur wissenschaftlichen Forschung verwandt.

These 10

Die Ausbildung von MusiktherapeutInnen umfaßt:

• einen Schwerpunkt in musiktherapeutischer Selbsterfahrung in Bezug auf den Umgang mit Musik, der eigenen Emotionalität und interaktionellen Prozessen,

• Theorie und Methodik musiktherapeutischer Konzepte und deren anthropologische, mu-sikwissenschaftliche, medizinische, erziehungswissenschaftliche und andere Grundlagen

• Musikpraxis (therapeutisches Handeln mit musikalischen Mitteln), • supervidierte Praktika im Berufsfeld.

Kassel, den 04. Juli 1998

Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e.V. (DGMT) Deutscher Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten e.V. (DBVMT)

Berufsverband Klinischer Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten e.V. (BKM) Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e.V. (DMVO)

Sektion des Berufsverbandes für Anthroposophische Kunsttherapie (BVAKT) Verein zur Förderung der Nordoff/Robbins Musiktherapie e.V.

Bundesarbeitsgemeinschaft der staatlich anerkannten Musiktherapieausbildungen (AMA) Ständige Ausbildungsleiter-Konferenz privatrechtlicher musiktherapeutischer Ausbildungen (SAMT)

Veröffentlicht in Musiktherapeutische Umschau 1998, S. 232 - 235

1 Der Begriff „Ansätze” beinhaltet Theoriebildung und zugehörige Handlungskonzepte.

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14

3.2 Kasseler Thesen zum Berufsbild der Musiktherapeuten 2005

Erste Konsensbildung zum Berufsbild

Eine verbandsübergreifende Arbeit der Kasseler Delegierten

Wegen seiner zentralen Bedeutung widmeten 15 Verbandsdelegierte unter der Gesprächsleitung eines Moderators dem Thema "Berufsbild für Musiktherapeuten" nach längerem Vorlauf eine eintägige Dis-kussion am 6. November 2004.

Grundlage waren die vorher formulierten Sichtweisen aller Verbände anhand von vierzehn (14) für we-sentlich gehaltenen Stichpunkten. Die "Thesen der Kasseler Konferenz zur Musiktherapie" erwiesen sich in der Diskussion erneut als wertvolle grundlegende Verständigungsbasis.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus AMA, SAMT und den Verbänden möchten mit diesen Kon-sensformulierungen einen konstruktiven Beitrag in alle musiktherapeutischen Felder hinein leisten. Angesichts des Weges, der zur Anerkennung des Berufes noch zu leisten ist, sind den Delegierten Rückmeldungen innerhalb des nächsten Jahres willkommen!

1. Personelle Voraussetzung für die Berufsausübung

Voraussetzung für die Ausübung des Berufes des Musiktherapeuten ist eine abgeschlossene Ausbil-dung auf der Grundlage konsensualer Standards.

Folgende inhaltliche Schwerpunkte sind verbindlich für alle Ausbildungen:

� musikalische Fertigkeiten und Wissen / professionelle Verfügbarkeit musikalischer Mittel in ih-ren unterschiedlichen Erscheinungsformen

� biologische, psychologische und soziale Lehrinhalte / Kenntnisse in Medizin, Psychologie, Entwicklungspsychologie, Psychotherapie und sozial-rehabilitative Sachverhalte

� musiktherapeutische Fertigkeiten und Wissen

o theoretisch- und methodische Ansätze der Musiktherapie allgemein und in verschie-denen Praxisfeldern

o Wissen über musiktherapeutische Interventionsmöglichkeiten

o eingehende Kenntnisse in der Theorie und Methodik der gelehrten musiktherapeuti-schen Konzeption

o interdisziplinäre Teamfähigkeit einschließlich Dokumentation und Repräsentation

� Förderung persönlichen Wachstums in Form von fundierter Selbsterfahrung auf der Basis ver-schiedener psychotherapeutischer Konzeptionen

o Vermittlung von Kenntnissen über den musiktherapeutischen Prozess durch eigenes Erleben (z.B. methodenbezogene Selbsterfahrung)

o persönlichkeitsbezogene Selbsterfahrung (z.B. Erkennen von Möglichkeiten, Behinde-rungen und Grenzen der eigenen Handlungskompetenz

o Umgang mit Musik in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen

� klinisches Training / Praktika und supervidierte praktische musiktherapeutische Arbeit

� ethische Prinzipien und Forschung / Weiterentwicklung der musiktherapeutischen Konzeptio-nen

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2. Eingangsvoraussetzungen für die Ausbildung

Mindestvoraussetzung

� 3-jähriger Fachschulabschluss mit Berufstätigkeit / Fachhochschulreife

� musikalisch-musiktherapeutische Eignung

o musikalische Eignung: musikalische Fähigkeiten im Sinne persönlich und freier Aus-drucksmöglichkeit mit differenzierter ausbildungsbezogener Orientierung

o musiktherapeutische Eignung: psychische und physische Belastbarkeit, Fähigkeit zu Selbstreflexion, Rollenflexibilität, Frustrationstoleranz, Umgang mit Aggressivität, so-wie Nähe-Distanz-Regulierung, Motivation zur Arbeit an sich selbst, Flexibilität und Spontaneität bei eigener Kontinuität, angemessene Selbstdarstellung, Empathiefähig-keit

3. Berufsfelder

Musiktherapeuten arbeiten institutionell gebunden oder selbständig in den Berufsfeldern Gesundheits- und Sozialwesen, Bildungs- und Beratungswesen (z.B. Wirtschaft). Weiterhin sind sie in Forschung, Evaluation und Öffentlichkeitsarbeit tätig.

4. Tätigkeitsfelder

Musiktherapeuten sind im kurativen, rehabilitativen und präventiven Bereich tätig, und arbeiten ü-bungszentriert/funktional, erlebniszentriert/kreativ und konfliktzentriert-aufdeckend.

Therapien finden in Einzel- und Gruppentherapien statt. Auch das soziale Umfeld kann mit einbezogen werden.

5. Spezifische Merkmale

Musik als zentrales Wahrnehmungs-, Begegnungs-, Erlebnis- und Gestaltungsfeld ermöglicht Verän-derung, Reifung und Wachstum.

6. Aufgaben

In Abhängigkeit vom Handlungsauftrag wird der Ist-Zustand benannt. Ausgehend davon werden Hand-lungsziele und –Konzepte entwickelt. Dabei muss das Handlungskonzept reflektiert und dem Entwick-lungsprozess angepasst werden.

7. Fortbildung

Fortbildung soll regelmäßig sowohl fachspezifisch (d.h. musiktherapeutisch, psychotherapeutisch, künstlerisch) als auch in ergänzenden Bereichen (menschenkundlich, medizinisch, sozial u.a.) stattfin-den. Evtl. Vorgaben der Berufsverbände sind zu beachten.

Begründung: Fortbildung und Weiterbildung sind zwei grundverschiedene Sachverhalte. Fortbildung kann verlangt werden und ist in vielen Arbeitszusammenhängen sogar verpflichtend. Weiterbildung ist nicht verpflichtend und liegt im Bereich der eigenen Entscheidung.

8. Ethik

MusiktherapeutInnen sind der Einhaltung des Ethikkodexes der KK verpflichtet (worüber eine gemein-same Ethikkommission wacht).

9. Berufsentwicklung

Der Beruf entwickelt sich zu Eigenständigkeit durch qualitätssichernde Maßnahmen (Dokumentation, Evaluation, Organisation, Netzwerke) in Forschung, Lehre und klinischer und beratender Praxis und in Wechselwirkung mit äußeren Rahmenbedingungen.

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10. Standortbestimmung innerhalb des Gesundheitswesens und innerhalb des bundesweiten Berufs- und Ausbildungssystems

Der Beruf wird verstanden als eigenständiger Heilberuf, der das bestehende Gesundheitswesen sowie das Sozial- und Bildungswesen um den nonverbalen und kreativtherapeutischen Ansatz bereichert.

Der Berufsabschluss, der dem B.A. mindestens vergleichbar ist, wird erreicht in privatrechtlichen Aus-bildungen und staatlichen Studiengängen.

11. Menschenbild Musiktherapie versteht den Menschen in einem humanistischen Sinne als bio-psycho-soziales Wesen in einem ökologischen und gesellschaftlichen Kontext.

12. Interdisziplinäre Kooperations-Kompetenz

Interdisziplinäre Kooperations-Kompetenz zeigt sich in der Teamfähigkeit mit kooperierenden Fachdis-ziplinen (Gesundheits- und Sozialwesen, Bildungs- und Beratungswesen, Forschung, Evaluation und Öffentlichkeitsarbeit). Sie setzt das Erkennen der eigenen Grenzen und Respekt vor Arbeitsweisen anderer sowie Transparenz im Darstellen der eigenen Tätigkeit voraus.

13. Supervision

Supervision soll regelmäßig in Form von Einzel- und/oder Gruppensupervision, als Team- und /oder klientenbezogene Supervision wahrgenommen werden. Sie dient der Reflexion konzeptioneller, didak-tischer, inhaltlicher und institutioneller Fragen sowie der Reflexion der Therapeutenpersönlichkeit und seiner Handlungskompetenzen zum Zwecke der Sicherstellung einer qualifizierten musiktherapeuti-schen Behandlung. Evtl. Vorgaben der DGSv und/oder der Berufsverbände sind zu beachten.

14. Selbsterfahrung

Für den Bereich „Selbsterfahrung“ s. auch Punkt 1:

� Förderung persönlichen Wachstums in Form von fundierter Selbsterfahrung auf der Basis ver-schiedener psychotherapeutischer Konzeptionen

o Vermittlung von Kenntnissen über den musiktherapeutischen Prozess durch eigenes Erleben (z.B. methodenbezogene Selbsterfahrung)

o persönlichkeitsbezogene Selbsterfahrung (z.B. Erkennen von Möglichkeiten, Behinde-rungen und Grenzen der eigenen Handlungskompetenz

o Umgang mit Musik in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen

� Realisation in Dyade und / oder Gruppe

� Die Quantifizierung findet unter Berücksichtigung der Berufsverbands- und EMTC-Vorgaben statt.

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3.3 Zur Abgrenzung zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik

Björn Tischler schlägt die folgende Übersicht vor, um das Schnittfeld zwischen Musiktherapie und Musikpädagogik zu erfassen:

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4 Was geschieht, wenn wir Musik hören?

Überblick

1. Zur Physiologie des Hörvorgangs

2. Musikwirkung bei Pflanzen

3. ... und Tieren

4. schädliche Wirkungen beim Menschen

5. Biophysik des Musikerlebens

6. neurophysiologischephysiologische Vorgänge beim Musikhören

7. Körperreaktionen

8. emotionale Reaktionen

9. wahrnehmungspsychologische Aspekte

10. musikspezifische Zeiterfahrung

11. tiefenpsychologische Aspekte

12. soziale Aspekte

13. Musikhören als Akt ästhetischer Aneignung

14. kognitive Aspekte

15. politische Aspekte

16. religiöse und spirituelle Aspekte

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4.1 Anmerkung zur Anatomie des Hörvorgangs

Der Hörvorgang kann als vierfacher Transformationsvorgang schwingender Moleküle be-schrieben werden: Akustische Vibration

Mechanische Vibration Flüssige Vibration Neuronale Energie

Außenohr

Ohrmuschel Gehörgang

Mittelohr

Trommelfell Ohrknöchelchen

Innenohr Cochlea

Vestibulärsystem

Hörnerv

Gleichgewichtsnerv Zentr. Nervensyst.

Während man generell davon ausgeht, dass die Vibrationen des Trommelfells auf die Gehör-knöchelchen (Hammer, Amboß, Steigbügel) übertragen werden und von dort über das ovale Fenster die Innenohrflüssigkeit in Schwingung versetzen, geht Tomatis (s.u.) davon aus, dass der Schall im wesentlichen über die Vibration der Schädelknochen übertragen wird, wobei Trommelfell und Gehörknöchelchen die Funktion eines Anpassungs- und Ausgleichssystems erhalten (Alfred Tomatis 1987, S. 137). Diese Auffassung scheint die Erkenntnis von Zuca-relli zu stützen, über die Stanislav Grof (Abenteuer der Selbstentdeckung, München 1987, S. 233 f.) berichtet, der zufolge „das menschliche Ohr nicht nur als Empfänger sondern auch als Sender“ von Klängen fungiert. Diese Theorie ist neuerdings durch Forschungen an der Tech-nischen Universität München belegt worden, wonach die Ohren von Wirbeltieren und den Menschen nicht einmal bei völliger Stille ihre Ruhe haben; sie erzeugen selber Töne. „Tief aus dem Schneckengang schallt es in Richtung Trommelfell. Dieser ‚Rückschall’ erlaubt heu-te die präzise Messung der Hörfunktion. Die Emissionen spiegeln exakt die Sinnesverarbei-tung im Innenohr wider.“ In der Schnecke gibt es innere und äußere Haarzellen (Corti-Zellen); die inneren machen nur ein Viertel aus „und doch sind vor allem sie es, die das Gehör über Nervenzellen mit dem Gehirn verbinden. Funktion der äußeren Haarzellen ist: „sie erzeugen die mysteriösen Emissionen, verstärken eintreffende Schallwellen und übertragen sie auf die inneren Haarzellen“ (Bild der Wissenschaft Heft 12, 1989, S. 21). Bei der genauen Untersuchung von 3000 Säuglingen während sechs Jahren haben Forscherin-nen der University of California in Los Angeles und der University of Arizona herausgefun-den, dass im linken Ohr Musik stärker verstärkt wird als im rechten und dass umgekehrt im rechten deutlich Sprache stärker verstärkt werde. Dabei nutzten sie das Phänomen der otoakustischen Emission (OAE), bei der das im Ohr vorverarbeitete akustische Material teilweise ins Außenohr wieder abgestrahlt wird. Die a-symmetrische Verarbeitung von Geräuschen, Sprache und Musik im Gehirn habe daher be-reits im Ohr seinen Ursprung. Details der Untersuchung sind im Wissenschaftsmagazin Science vom September 2004 veröffentlicht (MU 2005, 101). Michael H. Thaut (Wie lassen sich die Wirkungen von Musik auf das Nervensystem therapeu-tisch nutzen? In: Ralph Spintge (Hrsg.): Musik im Gesundheitswesen. Bedeutung und Mög-lichkeiten musikmedizinscher und musiktherapeutischer Ansätze, St. Augustin 2007, 49-56) hebt die die erstaunliche Reaktionsschnelligkeit der „mechanisch empfindlichen Haarzellen des auditorischen Systems“ hervor: „Sie antworten im innerhalb von Mikrosekunden, im Ge-gensatz biochemisch aktivierten Sinneskanälen z.B. im visuellen System, die in Millisekun-den-Bereichen ansprechen“ (51).

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WEBER (2001, 422) weist darauf hin, dass Basilarmembran auf der dem ovalen Fenster zu-gewandten Seite schmal und unelastisch ist und im weiteren Verlauf breiter und elastischer wird. Daher müssen die Wanderwellen, die sich in der Cochlea bilden, vom Beginn der Schnecke an bis zu ihrem Ende eine bestimmte Form annehmen, die jeweils an einer Stelle eine maximale Amplitude aufweist. Dort ist die Reizung der Haarzellen am stärksten. Das Gehirn wertet diese Information aus, indem es Lautstärke, Tonhöhe und Dauer des Schallrei-zes rekonstruiert. Joachim Ernst Berendt schreibt dazu: „Wir haben etwa zweimal 18000 Haarzellen in unse-ren Innenohren. Prof. Spreng von der Universität Erlangen hat unter dem Elektronenmikro-skop erkannt: Sie stehen da ausgerichtet nebeneinander in mehreren Reihen (...). Wenn eine Zelle durch den Ton angesprochen wird, richtet sie sich auf“ und leitet den Impuls an das Ge-hirn weiter. „Das interessante ist dies: Nicht nur die Zelle des Grundtones richtet sich auf, sondern auch die Zellen der Obertöne (...). Spreng sagt: Es sieht so aus als warteten sie schon darauf, dass auch sie angesprochen werden. Als machten sie sich bereit –in den Tausendstel Mikrosekunden, auf die es hier ankommt-, weil sie wissen: Jetzt komme ich an die Reihe. Das heißt also: Unser Ohr will harmonikal hören.“ Es sei „etwas Muskelartiges“ in den Hörzellen, und „H.P. Zenner von der Universität Tübingen und andere Forscher haben diese kleinsten Muskeln nachgewiesen. Muskeln haben mit Willen zu tun, in diesem Fall deutlich mit Willen zum Aufnehmen der Schwingungen möglichst in harmonikalen Abläufen. Es ist ein „Wille“ von immerhin fast 30000 kleinsten mikro-Muskeln im Kern unseres Hörvorgangs“ (1996, 368 f). Die neuro-physiologische Verarbeitung von Hörreizen beschreibt auch Juliane Ribke in ih-rem Buch „Elementare Musikpädagogik. Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept“ (Regensburg 1995, S. 67-90); es würden sich im Laufe der prä- und postnatalen Kindesentwicklung eine „sensorische Urmatrix“ entwickeln, die eng mit einer psychischen verbunden ist; aus dieser neuro-physiologischen Gesamtschau entwickelt sie das Konzept ei-ner ganzheitlichen Musikpädagogik (s.S.96). Weitere Informationen in dem Beitrag von Karl Heinz Plattig im Handbuch Musikpsycholo-gie, herausgegeben von Herbert Bruhn u.a. (Reinbek 1993, S. 613 ff) Eine umfassende und grundlegende Einführung in die vielfältigen Aspekte des Hörens gibt das Buch: Jürgen Hellbrück: Hören. Physiologie, Psychologie und Pathologie, Göttingen 1993; interessant zu lesen und etwas populärwissenschaftlich und esoterisch geprägt ist das Buch: Joachim-Ernst Berendt: Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt, Reinbek 1985 ders.: Das Leben – ein Klang, München 1996 Die ersten Kapitel aus dem Buch Robert Jourdain: „Das wohltemperierte Gehirn. Wie Mu-sik im Kopf entsteht“, Heidelberg 1998 beschreiben sehr detailliert den Hörprozess und vor allem auch die äußerst komplexen Steuerungsmechanismen, mit denen sich das Ohr vor Schallüberflutung schützt. Muskeln an den Gehörknöchelchen versteifen sich bei zu hoher Schallenergie und verhindern so die Überlastung des Innenohrs (S. 29 f). Diese Muskeln dämpfen auch die Wahrnehmung der eigenen Stimme (S. 34 f). Im Innenohr gewährleisten Nervenbahnen, die vom Hörzentrum zur Cochlea zurückführen, das Zustandekommen von Feedbackschleifen, durch die wir störende Geräusche beim Zuhören ausblenden können (S. 35).

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4.2 Anmerkung zur Musikwirkung bei Pflanzen

Lore Auerbach berichtet, wie unter dem Vorspiel von Ragas (25 Minuten pro Tag) Balsam-pflanzen nach ca. einem halben Jahr 72% mehr Blätter entwickeln und 20% höher gewachsen waren als Kontrollpflanzen ohne Musikvorspiel. Stoffwechselprozesse der Pflanze würden unter dem Reiz von Musikklängen oder rhythmischen Erschütterungen beschleunigt und um mehr als 200% zunehmen; durch Beschallung mit Hochfrequenzwellen wird Wachstum derart beschleunigt, dass eine zweimalige Ernte möglich erscheint. (Lore Auerbach: Musik als Mas-sendroge, intervalle, Heft 4, 1982, S. 43); sie bezieht sich dabei auf: Peter Tom-kins/Christopher Bird: Das geheime Leben der Pflanzen, Berlin/ München 1973, S. 137 - 139 ff). Über die Wirkung von Musik auf Pflanzen berichtet ebenfalls Joachim-Ernst Berendt in "Na-da Brahma. Die Welt ist Klang", Reinbeck 1985, auf den Seiten 102 ff. Tonius Timmermann schreibt in seinem Buch „Die Musik des Menschen. Gesundheit und Entfaltung durch eine menschennahe Kultur“ (München 1994) - übrigens auch eine gute Ge-samtdarstellung der Musiktherapie -: „In die Natur noch integrierte Menschen singen für die Pflanzen, weil sie überzeugt davon sind, dass sich dieser Kontakt zum Wohle ihres Wachs-tums auswirkt“ (125f) und merkt dann an: „Wie die Hopi - Indianer erfolgreicher waren als staatliche Agrarspezialisten mit modernster Ausrüstung kann man nachlesen in Duerr 1983“ (Duerr, Hans-Peter: Der Wissenschaftler und das Irrationale, Band 1, Frankfurt a. M. 1983 und ders.: Traumzeit, Frankfurt a. M. 1983) Neuerdings werden eigens zur Wachstumsförderung komponierte Musiken als Patent ange-meldet. Der französische Physiker Joel Sternberger hat die Vibrationen, die beim Zusammen-setzen des Proteins aus einzelnen Aminosäuren entstehen, durch vielfaches Oktavieren so weit transponiert, dass sie als Musik in unseren Hörbereich gelangen.

Bei der Beschallung mit diesen Melodien von drei Minuten pro Tag sollen Tomaten zweiein-halb mal schneller wachsen und auch süßer schmecken. (Bild der Wissenschaft 8/94, S. 12)

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1988 untersuchte der chinesische Biophysiker Z. X. Zhu die Verteilung der Inten-sität und Leitfähigkeit von Schallwellen auf der Oberfläche von Pflanzen, wie Was-sermelonen, Bananen und Kürbissen. Dabei zeigte sich in überraschender Deutlich-keit, dass sich die akustische Energie in gleicher Weise auf dem Pflanzenkörper ver-teilte, wie die elektromagnetische.

(Zhang und Kapteina: Biophysik und Musiktherapie, Siegen 2002)

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4.3 Anmerkung zur Musikwirkung auf Tiere

Die unterschiedlichen Formen des Sozialverhaltens bei Mäusen unter Einwirkung von klassi-scher Musik und Rockmusik kommentiert Klaus-Ernst Behne in seinem Aufsatz "Wirkungen von Musik" (Musik und Unterricht Heft 18, 1993, S. 4-9) wie folgt: "Bei Klassik waren die Mäuse besonders freundlich, sozial und sexuell aktiv, steckten oft die Köpfe zusammen, aber keineswegs im Wettstreit und auch nicht in aggressiver Absicht" (S. 5). Auf Rock bzw. Rock 'n Roll reagierten sie "ausgesprochen aggressiv" und hatten für andere Tätigkeiten (Huddling, Sexual Behaviour) zwangsläufig weniger Zeit." (S. 6) Spintge und Droh berichten in ihrem Buch "Musik-Medizin“, Stuttgart 1992, dass "Ratten auf die Oktave eines bestimmten Tones genauso konditioniert reagierten, wie auf den ursprüng-lich konditionierten Ton" (S. 23); das bedeutet, dass Ratten gelernt hatten, bei einem bestimm-ten Ton eine bestimmte Aufgabe zu erledigen; wenn dieser Ton in seiner Tonhöhe verändert wurde, reagierten die Ratten nicht. Sobald jedoch diese Veränderung das Schwingungsver-hältnis 1 zu 2 (Oktave) betrug, erkannten die Ratten offensichtlich den Ton wieder, (etwa so wie wir sagen das ist ein c und das ist ein hohes c) und reagierten Jaak Panksepp und Günther Bernatzky (Emotional sounds and the brain; the neuro-affective foundations of musical appreciation, Behavioural Process 60 / 2002, 133-155) konnten nach-weisen, dass AIT (Auditory Integration Training; Rimland und Edelson 1995), ein musikali-sches Behandlungsprinzip für Autistische Kinder, auch bei Küken wirksam ist:. Ihnen wurde an zehn aufeinander folgenden Tagen morgens und nachmittags jeweils 30 Minuten lang Mu-sik aus Mozarts Krönungskonzert vorgespielt. Anschließend konnten in den Gehirnen der Tie-re vermehrt bzw. vermindert Botenstoffe nachgewiesen werden, die für die Steigerung der Aufmerksamkeitshaltung maßgeblich sind (vgl. 147 f.). Auch konnten sie die Zunahme von gegenseitigem Kopfnicken, Gähnen und Federstreichen bei sieben Tage alten Küken nach Musikbeschallung beobachten (146 f.). Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005) , berichtet über mu-sikalische Aktivitäten bei Tieren: bei Fischen insbesondere den Buckelwalen, die ähnliche Rhythmen wie menschliche Musiker verwenden und deren Gesängen ähnliche zeitliche Aus-dehnungen aufweisen, formalen Aufbau haben und musikalische Themen und Phrasen enthal-ten wie menschliche Kompositionen. Die Walgesänge reichen ebenso über sieben Oktaven und basieren ähnlich auf Skalen wie die menschliche Musik. Er zitiert die Walforscherin Pat-ricia Grey mit den Worten: „In Anbetracht, dass Walmusik und menschliche Musik so viel gemeinsam haben, obwohl un-sere evolutionären Wege sich seit über 60 Millionen Jahren nicht kreuzten, drängt sich der Gedanke auf, dass Musik der menschlichen Rasse vorausging. Wir sind also nicht die Erfinder der Musik, sondern eher „Latercomers“ in der Musikszene“ (Gray übersetzt von Bossinger, 19). Frösche benutzen den Resonanzraum von Baumhöhlen, um ihren Gesang zu verstärken; ins-besondere beim Vogelgesang besteht eine enge Beziehung zwischen Gesang und Sexualtrieb. Der Die Virtuosität Vogelgesang zeigt sich in hoher Variationsbreite (z.B. bis zu 700 Töne pro Minute) hoher energetischer Intensität (vgl. 23 ff). Forscher des Max Planck Instituts für Ornithologie haben herausgefunden, dass bei Kanarienvögeln (Serinus canaria) „neben der Größe und Stärke des Männchens auch sein Gesang großen einfluss auf die Beschaffenheit des Nachwuchses“ hat. Weichen bekommen größere Eier und kräftigere Junge, wenn sie sich mit einem Vogel paaren, der komplizierter Lieder trällert“ (Bild der Wissenschaft, 9, 2006, 9).

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Gesang hat die Funktion von „Sozialem Kitt“, was insbesondere bei Affenpopulationen beo-bachtet wurde ((28).

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4.4 Anmerkungen zum Thema: Schädliche Wirkungen von Musik beim Menschen

Stefan Evers trägt in seinem Aufsatz "Wenn Musik krank macht..." (in: Musik und Unterricht Heft 18/1993) in der Fachliteratur berichtete pathogene Wirkungen von Musik zusammen; es handelt sich dabei um musikogene Epilepsie, musikalische Halluzinationen und durch Musik ausgelöste Herzanfälle. Zu ergänzen wären diese Hinweise insofern, als Musik Streß und Hör-schäden bewirken kann sowie als süchtiges Verhalten schädlich sein kann. Auf die Gefahren des süchtigen Musikverhaltens haben wir in unserem Buch „Musik und Malen in der thera-peutischen Arbeit mit Suchtkranken“, Stuttgart 1993, S. 32 - 39 ausführlich hingewiesen. Bezüglich der Hörschäden, die durch das Hören lauter Musik verursacht werden, weisen Ein-stellungsuntersuchungen von Berufsanfängern in Nordrhein-Westfalen nach, dass rund 100 von 4000 Jugendliche einen durchschnittlichen Innenohr-Verlust von etwa 30 Dezibel aufwei-sen. Das entspricht einer Schädigung, wie sie bei Industriearbeitern mit einer Dauerbelastung von 90 Dezibel und 40 Stundenwoche nach 10 Arbeitsjahren festgestellt wurde. Da angebore-ne oder krankheitsbedingte Ursachen ausgeschlossen werden konnten, sieht man im Düssel-dorfer Arbeitsministerium als Schadensquelle das Freizeitverhalten der Jugendlichen, insbe-sondere das Hören lauter Musik. Ein 4-stündiges Popkonzert etwa entspricht in seiner Belas-tung für das Ohr einer ganzen Woche Arbeit am Preßlufthammer (Sozialmagazin Heft 5, 1989, S. 10 f., Gesundheitsmagazin 1/96, S. 6-9). Zwar verfügt das menschliche Gehör über äußerst komplexe Steuerungsmechanismen, mit denen es sich vor Schallüberflutung schützt (Robert Jourdain: „Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht“, Heidelberg 1998, S. 29 f); Muskeln an den Gehörknöchelchen ziehen sich „bei gefährlich lautem Schall reflexartig zusammen und vermindern damit die Schwingungsenergie ... um bis zu zwei Drittel. Dieser Reflex wird eine hundertstel Sekunde nach Auftreten des Impulses ausgelöst, er kann aber unter Umständen erst nach einer halben Sekunde seine volle Wirkung entfalten. Deswegen nutzt er wenig bei plötzlich auftretenden Geräuschen wie Schüssen. Außerdem erschöpfen sich die Muskeln, wenn das Ohr ständigem Lärm ausgesetzt wird.“ Einer Notiz in der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ zufolge (3/2002, 32) erfüllt der Lärm bei Rockveranstaltungen den Tatbestand der Körperverletzung. Im einzelnen heißt es: „Wem nach einem Konzert noch Wochen später die Ohren dröhnen, der hat Anspruch auf Schmer-zensgeld. Das Oberlandesgericht Koblenz gab einer 13-jährigen Besucherin Recht, die nach einem Konzert der Boy-Group NSYNC unter Hörschwierigkeiten litt. Der Ohrenarzt attestier-te ihr eine Innenohrschädigung, beidseitiges Ohrenrauschen und Schwindelanfälle, die statio-när behandelt werden mussten. Das Mädchen hatte sich nahe bei den Lautsprecherboxen auf-gehalten. Die Richter verurteilten den Veranstalter zu 9000,-- DM Schmerzensgeld, da Besu-cher eines Rockkonzertes davon ausgehen dürften, dass ihnen selbst in Lautsprechernähe kei-ne gesundheitlichen Schäden drohen (AZ 5 U 1324/00)“. Ebenfalls aus dem Magazin „Bild der Wissenschaft“ (4/2005) stammt die Information, dass belgische Lungenspezialisten vier Patienten mit Pneumothorax - Schäden behandelt haben. Drei hatten vorher ein Rockkonzert besucht, der vierte hatte eine extrem laute Stereoanlage in seinem Auto installiert. Dazu wird erläutert, dass „’hochenergetische Niedrigfrequenzen’1 – also lautes Bassgedröhne – auch die feinen Bläschen in der Lunge zum Platzen bringen kann.

1 Tiefe Frequenzen verändern den Schwingungszustand des Körpers. Sie können auch therapeutisch genutzt werden. S. dazu im Kapitel körperliche Reaktionen beim Musikhören.

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Schuld sind die rhythmisch wechselnden Luftdruckwerte. In Extremfällen kann das zu einem Pneumothorax führen: die Atemluft entweicht in den Brustraum, und der betroffenen Lungen-flügel kollabiert wie ein undichter Fußball (33). Im Rahmen einer bundesweiten Kooperation zwischen den Gesundheitsbehörden der Länder, dem Bundesverband Deutscher Diskotheken und Tanzbetriebe sowie der Techniker Kranken-kasse können in Bayern Discjockeys einen Führerschein machen, um junge Menschen besser gegen Hörschäden zu schützen. Sie werden über die gesundheitlichen Folgen lauter Musik in-formiert; außerdem werden ihnen technische Finessen gezeigt, wie sie auch unter 100 Dezibel einen optimalen Sound erreichen können (MU 2006, 89). Spatscheck u.a. heben in ihrem Buch „Happy Nation?!? Jugendmusikkulturen und Jugendar-beit in den 90er Jahren (Frankfurt am Main 1997) lediglich die aktivierende Wirkung von sehr lauter und rhythmischer Musik hervor, die zu rauschartigen Zuständen führen kann. Jedenfalls stelle „jugendzentrierte Populärmusik, besonders, wenn sie in hoher Lautstärke gehört wird, ein sehr mächtiges Stimulationsmedium“ dar (159). Möglichkeiten, hier aus sozialpädagogischer Sicht anzusetzen habe ich im Aufsatz „Musik im Jugendhaus - das Beispiel der pädagogisch initiierten Diskothek“ in: Klaus Finkel (Hrsg.), Handbuch Musik und Sozialpädagogik, Regensburg 1979, S. 123-145 beschrieben, und: im Buch „Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken“ befindet sich ab S. 253 ein Kapitel über suchtpräventive Musikpädagogik; unter anderem werden dort neuere An-sätze des sozialpädagogischen, sozialtherapeutischen und musiktherapeutischen Arbeitens mit Rockmusik beschrieben.

Neuere Literatur zum Thema Musik und Sozialpädagogik mit Jugendlichen: Hans Peter Jantzer und Wolfgang Krieger: Rockmusik in der sozialpädagogischen Gruppen-arbeit, Berlin 1995 Wolfgang Hering u.a. (Hg): Praxishandbuch Rockmusik in der Jugendarbeit, Opladen 1993 Elmar Nordmann: Musik in der Arbeit mit Jugendlichen, Münster, Hamburg 1993 Elmar Nordmann und Thorsten Heimann: Rockmusik und Jugend, Münster, Hamburg 1994 Christian Spatscheck, Markus Nachtigall, Robert Lehenherr, Wilfried Grüßinger: „Happy Nation?!? Jugendmusikkulturen und Jugendarbeit in den 90er Jahren, Frankfurt am Main 1997 Dieter Baake (Hrsg.) Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998 Karl Heinz Dentler: Party time, Rockmusikpraxis und Lebensbewältigung, Opladen 2002 Ders.: (2003). Rockmusik-Machen mit straffällig gewordenen Jugendlichen zur Förderung so-zialer Kompetenzen (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/3.4.pdf Ders.: Punkmusik als Musik sozialpädagogischer Arbeit (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/3.3.pdf Burkhard Hill: „Musik-Machen” in Gleichaltrigengruppen als sozialpädagogisches Angebot, www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/3.1.pdf Das EARACTION Projekt an der FH München unter der Leitung von Bernhard Kurz tritt der Gefahr von Hörschädigung entgegen. Jeder vierte Jugendliche ist von Schwerhörigkeit be-droht. Hörschäden sind die Berufskrankheit Nummer 1. Allein in 2005 werden dadurch in Eu-ropa etwa 106 Milliarden Euro Kosten entstehen: www.earaction.de (MU 2005, 103). Eva Frank-Bleckwedel (Musikhören, in: Theo Hartogh und Hans Hermann Wickel (Hrsg) Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim und München, 2004, 219 f) nennt folgend Initiativen, die sich besonders darum bemühen, präventiv auf das Hörverhalten junger Men-schen einzuwirken:

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Kampagne des Berufsverbands der HNO-Ärzte: “Take care of your ears“, www.fgh-gutes-hoeren.de/web/fgh_content/de/takecareofyourears.htm Wanderausstellung des Gesundheitsamts des Rhein-Neckar Kreises ;na HÖR mal“ Fortbildungsprojekt der Universität München: „Ganz Ohr Sein“. http://www.ganzohrsein.de/ Hessischer Rundfunk: Produktionen wie „ear-sinn“. http://www.br-online.de/br-intern/thema/earsinn/ Netzwerk Zuhören e.V. http://www.hr-online.de/website/extern/zuhoeren/ „Menschen, vor deren Schlafzimmer ein mittlerer Schallpegel von 55 Dezibel herrscht (etwa Zimmerlautstärke des Fernsehers), sind doppelt so oft wegen hohen Blutdrucks in Behand-lung, wie Mitbürger, bei denen die Lärmbelästigung unter 50 Dezibel liegt (etwa Brummen des Kühlschranks)“ (Bild der Wissenschaft 7/2003, 50). Das ist das Ergebnis einer Studie des Robert Koch Instituts mit über 1700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern (s. auch: Musikthera-peutische Umschau 3002, 191) „...das Risiko, an einem durch Lärm verursachten Herzinfarkt zu sterben, ist höher als die Ge-fahr, die von krebserzeugenden Autoabgasen ausgeht“ (Sonntag, Jan Peter: Akustische Le-bensräume in Hörweite der Musiktherapie. Über das Sonambiente stationärer Betreuung von Menschen mit Demenz, MU 2005, 264). R.M. Schafer (Soundscape und akustische Ökologie. In: Akademie der Künste Hrsg.: Klang-kunst, Katalog des Festivals Sonambiente. München 1996, 209-212) berichtet: „In China glaubte man an die magische Kraft der Klänge, und so gab es sehr früh ein gut durchdachtes System, das den Zustand der Musik mit dem des Universums gleichsetzte. Kai-ser Wuudih (141-87 v. Chr.) gründete das „Amt für Musik“, dem die Beaufsichtigung sowohl der Riten als auch der musikalischen Unterhaltung oblag. Da eine wesentliche Aufgabe dieses Amtes in der Überwachung der musikalischen Stimmung aller Klänge bestand, gehörte es zum Kaiserlichen „Amt für Gewichte und Maße“ ... In einem Lieg etwa sollte mit jedem auf-steigenden Intervall ein absteigendes Intervall gleicher Größe einer „friedlichen und freudigen Tonfolge korrespondieren, um eine geregelte Regierung sicherzustellen“ (209 zit. bei Sonntag s.o.). Sonntag kennzeichnet die klangökologische Misere unserer Lebenswelt folgendermaßen: „Aufgrund einer zunehmend lauten, gleich klingenden Umwelt und dem daraus folgenden Mangel an „Hörenswürdigkeiten“ (Schafer) hat der Mensch allmählich das Ohr aus dem all-täglichen Wahrnehmungszusammenhang ausgekoppelt (267). Einem Bericht der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ (3/2006, 10) zufolge, überschreitet der Geräuschpegel mit etwa 60 Dezibel (laut geführtes Gespräch) deutlich die von der WHO emp-fohlene Höchstgrenze von 30 bis 35 Dezibel (lautes Flüstern): „Türen knallen, Schuhe quiet-schen auf den Kunststoffbelägen der Stationsflure, Telefone klingeln und moderne medizini-sche Geräte piepen und Surren. Da dies oft im Frequenzbereich der menschlichen Stimme ge-schieht, ist das Krankenhauspersonal gezwungen, lauter zu sprechen. Stefan Willich, ein Sozi-almediziner an der Berliner Charité, befürchtet, „dass sich der hohe Geräuschpegel auf die Konzentration der Ärzte bei Operationen auswirken und auch die Gesundung der Patienten verzögern könnte.“

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4.5 Biophysik des Musikerlebens

Indem die Musiker auf ihren Instrumenten spielen, bringen sie die Moleküle der sie und die Hörer umgebenden Luft in eine ganz bestimmte Ordnung, die wir als „Musik“ bezeichnen. Beim Hören wandeln wir die Vibrationen der Luft um; zuerst in mechanische Bewegungen des Mittelohrapparates, sodann in die auf- und ab brandenden Wellen der Innenohr - Flüssig-keit und schließlich zu neuronalen Energieflüssen im zentralen Nervensystem. Am Ende steht

dann die Wahrnehmung: „Ich höre Musik“. Die Auffassung von Musik als geordnetem System, das die in Unordnung geratene, sprich die erkrankte Seele oder den Körper des Menschen wieder herstellt, wieder „in Ordnung“ bringt, geht u.a. auf die Forschungen des griechischen Philosophen Pythagoras zurück. Er fand in den Tonsystemen seiner Zeit den Aufbau des damals bekannten Planetensystems wieder. Diese als „harmonikal“ bezeichneten Strukturen sind durch das mathematische Verhältnis kleiner ganzer Zahlen bestimmt.

Die Frequenzen (Obertöne), die den einzelnen Ton bilden, sind nach diesem Prinzip angeord-net. Und unser Gehör, ob musikalisch gebildet oder nicht, erkennt spontan, ob in dem gehör-ten Ton diese Ordnung gestört ist oder nicht. Im ersten Fall registriert es eine Trübung, Rau-schen oder Unreinheit. Die auf diesen Erkenntnissen beruhende Ansicht, Musik sei ein Abbild der kosmischen Ord-nung, wurde weitgehend als esoterisch abgetan. Sie hielt dem modernen Wissen über die pla-netarischen Gegebenheiten und das Weltall insgesamt nicht Stand. Jedoch Vertreter der Teilchenphysik haben harmonikale Verhältnisse im Mikrokosmos der Atome aufgezeigt, so dass Musikhören durchaus wieder als Vorgang mikrostruktureller Ord-nung und Umordnung aufgefasst werden kann. Daraus resultiert die Idee, die umfangreichen Forschungen über die physische, psychosomati-sche und psychische Wirkung der Musik auf den Menschen in Beziehung zur Biophysik le-bender Systeme zu bringen. Dabei konnten wir zeigen, dass sich die Charakteristik der Ener-gieverteilung im elektromagnetischen Feld des menschlichen Körpers im Sinne der durch die Musik gegebenen Verhältnisse ändert. Lebende Systeme und Musik sind dissipativ strukturiert. Das heißt, sie verlaufen im Prinzip wie ein Wasserfall oder eine Quelle. Die dissipative Struktur kann nur bestehen, so lange die Wasserzufuhr von oben anhält. Mit anderen Worten: der Wasserfall verströmt - „dissipiert“- ständig Energie. Auch die Flamme einer Kerze hat eine dissipative Struktur, die nur bei stän-dig andauernder Energiezufuhr besteht und ständig Energie verströmt. Demgegenüber sind statische Strukturen Merkmal ganz gewöhnlicher Dinge, wie etwa ein Gebäude, ein Berg, auch ein Auto, ein Zug oder eine Rakete. Auch sie können in schneller Bewegung sein und Energie verbrauchen. Jedoch im Gegensatz zu dissipativen Strukturen können sie Ruhezustände einnehmen, die sie nicht in ihrem Fortbestand gefährden. Man kann das Auto in eine abgeschlossen Garage stellen, ohne dass es dadurch seine Existenz verlöre. Solche Isolierung wirkt sich auf alle dissipativen Strukturen katastrophal aus: der Wasserfall etwa würde augenblicklich verschwinden, wenn er von seinem Fluss getrennt würde. Dissipa-tive Strukturen sind also „vital“, während die statischen Strukturen „tot“ sind.

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Dissipative Strukturen finden sich nicht nur im molekularen, zellulären und organischen Be-reich des lebenden Organismus sondern auch in den psychischen und sozialen Wechselwir-kungen seines Umfeldes. Sie machen auch das Wesen musikalischen Spiels, insbesondere der musikalischen Improvisation aus, welches Drewer als „Suchbewegung“ zwischen Chaos und Ordnung bezeichnet, die besonders in den musikalischen „Polaritäten von Konsonanz und Dissonanz, Harmonie und Disharmonie“ u.s.f. zum Ausdruck kommt (2000, 83).

Ein Sonderfall im Bereich der dissipativen Strukturen sind stehende Wellen. Die nebenste-hende Abb. 2 zeigt, wie der zwischen zwei Polen gespannte Faden durch einen Motor in Schwingung gebracht wird. Je nach Energiezufuhr bilden sich einfachste stehende Wellen, welche die Länge des Fadens im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen (1:2:3) einteilen. Das ist das Prinzip, nach dem alle Saiteninstrumente funktionieren.

Beim Musizieren wird die Länge der Saite durch die Finger des Musikers gesteuert (Abb. 3) Der Musiker bewegt ständig seine Finger, um besondere stehende Wellen in verschiedenen festgelegten Frequenzen in bestimmter Zeit aufzubauen und so die gewünschte Musik hervor-

zubringen. Jede der abgegriffenen Saitenlängen bringt neben der Grundfrequenz f1 die Frequenzen des Obertonspektrums f2-n hervor. Bei den verschiedenen Instrumenten treten unterschiedliche

Kombinationen und Stärken dieser Obertöne auf, was wir als „Timbre“ oder „Klangfarbe“ wahrnehmen und woran wir den Klang einer Violine von dem einer Gitarre unterscheiden können.

Bei Blasinstrumenten bilden sich die stehenden Wellen durch die vom Bläser mit seinem Atemstrom erzeugte Energie, welche auf die im Resonanzhohlraum des Instruments

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befindliche Luft einwirkt. Abb. 4 zeigt, wie die die jeweilige Länge des Rohres die Grundfre-quenz der darin befindlichen stehenden Welle bestimmt. Von dem Phänomen, dass zwei Wellen denselben Platz einnehmen können, war bereits bei den musikalischen Obertönen die Rede. Grundsätzlich gibt es dabei die Möglichkeit, dass sie sich zu einer neuen Welle addieren oder einander auslöschen und ganz und gar in nichts auf-lösen können. Sie können sich „überlagern“. Physikalisch ausgedrückt: sie bilden eine „Inter-ferenz“. Wenn zwei Wellen mit gleicher Wellenlänge in gleicher Phase denselben Platz ein-

nehmen(Abb. 5), entsteht als Folge der Überlagerung eine neue Welle mit größerer Amplitude als Summe der beiden Ausgangswellen. Sie bilden eine „konstruktive Interferenz“. Es ist nicht schwierig, sich die

Addition beim Vorgang der Überlagerung vorzustellen und zu verstehen, obgleich es ein we-nig befremdend ist, dass die Arithmetik in der Welt der Wellen 1 + 1 = 1 lautet, ganz anders als das gewohnte 1 + 1 = 2 in der Welt der Teilchen. Gewissermaßen ist es so, als ob zwei Personen, die zusammen auf einem Sofa sitzen, zu einer einzigen Person von doppelter Größe verschmelzen. Vielleicht so, wie die Bibel die Vereinigung von Mann mit seinem Weib be-schreibt: „... und sie werden e i n Fleisch sein“ (Genesis 2, 25).

Ein weiteres extrem ungewöhnliches Beispiel in der Welt der Wellen ist die Überlagerung zweier Wellen mit gegensätzlichen Phasen (vgl.

Abb. 6). In der Sprache der Mathematik haben die beiden Wellen einen Phasenunterschied von genau 1π (180°). In diesem Fall ist die Folge der Überlagerung eine neue Welle mit Null-amplitude, denn die Wellenberge der einen treffen genau auf die Wellentäler der anderen Wel-le, so dass sie sich gegenseitig auslöschen. Die arithmetische Darstellung lautet 1 + 1 = 0. In der Realität liegen die meisten Überlagerungen und Interferenzen irgendwo zwischen die-sen beiden Extremfällen. Natürlich ist die Überlagerung von Wellen ist nicht auf zwei Wellen beschränkt, sondern auch bei mehreren Wellen möglich. Dabei entstehen komplizierte periodische oder auch aperiodi-sche Kurven.

Abb.

Abb.

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Abb. 7 zeigt, wie bei Überlagerung vieler sinusförmiger Wellen eine komplizierte neue Kurve

entsteht, bzw. umgekehrt eine komplizierte Welle als Überlagerung mehrerer einfacher Wellen dargestellt werden kann. Es handelt sich hierbei um die graphische Darstellung des Tones einer Klarinette. Ähnliche Kurven entstehen, wenn man die Energieverteilung innerhalb des Körpers misst und graphisch darstellt. So wie sich bei einem Klarinettenton eine Vielzahl von einzelnen sich überlagernden Frequenzen eine schwingende Einheit bilden, nämlich den Ton der Klarinette, so verbinden sich viele verschiedene Töne der Klarinette zur Melodie und viele Melodien und Töne einer Vielzahl von anderen Instrumenten zu einer Sinfonie. Bei jedem einzelnen Ton wird Energie in komplexe akustische Schwingungsmuster umgesetzt. Die Energie wird im Konzertsaal auf diejenige charakteristische Weise verteilt, die durch die Komposition bestimmt ist. Die heterogene Verteilung akustischer Energie im Konzertsaal ist eine unsichtbare dissipative Struktur. Sie ist so lange vorhanden, wie die Musiker spielen, also die Energiequellen akustische Schwingungen erzeugen. Gleiches geschieht in jedem lebenden System, also auch im menschlichen Körper: Eine nahezu unendliche Vielzahl

von Oszillatoren erzeugt Schwingungsmuster, die sich in äußerst vielschichtiger Komplexität zur charakteristischen unsichtbaren und unhörbaren dissipativen Struktur eines elektromagne-tischen Feldes verbinden, welches wir als den „Zustand des Systems“ wahrnehmen. Atome, als vermeintlich kleinste Bausteine der Materie bilden die elementarsten und energie-reichsten dissipativen Strukturmuster; die kombinieren sich in molekularen Gruppen zu über-geordneten Strukturen, diese wiederum bilden die festen, flüssigen und gasförmigen Bestand-teile des Körpers, aus denen sich Zellen und Organe zusammenfügen, so dass schließlich der ganze Körper vorhanden ist. Wir sind gewohnt, das Ganze als Addition von materiellen Einzelteilen zu verstehen: der Kör-per besteht aus Gliedmaßen, diese aus Knochen, Muskeln, Sehnen etc. Außerdem gibt es inne-re Organe, Sinnesorgane etc. Diese Sichtweise entspricht der traditionellen naturwissenschaft-lichen Auffassung von Materie als statischer Struktur. Dem gemäß ist die übliche Herange-hensweise an den lebenden Organismus die des Sezierens, Isolierens und des Katalogisierens. Um die Funktion, bzw. die Störung eines lebenden Systems zu verstehen, werden Organe identifiziert, die für diese Störung verantwortlich sind, oder Substanzen oder Enzyme oder Gene u.s.f. Das heißt, man zerlegt das System in seine kleinsten Teile, um es zu verstehen. Diese Herangehensweise hat beträchtliche Erfolge auf dem Gebiet der Medizin hervorge-bracht, insbesondere auf dem Gebiet der Bekämpfung von Krankheitserregern und der Chi-rurgie. Das ändert aber nichts daran, dass sie auf einem Materieverständnis beruht, welches von den Erkenntnissen der modernen Physik über die Elementarteilchen längst überholt ist. Danach ist Materie ebenfalls dissipativ und nicht statisch strukturiert. Die daraus resultierende Ausfas-sung vom lebenden System als einem elektromagnetischen Feld, welches sich aus der Viel-

Abb.

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zahl unterschiedlichster Schwingungsmuster zusammensetzt, hat eine andere Herangehens-weise zur Folge, die nicht sezierend sondern als ganzheitlich kommunikativ interagierend be-stimmt ist, wie zum Beispiel bei Homöopathie oder Akupunktur. Im ersten Fall werden Schwingungsmuster als Informationsträger verstanden, die durch die in Heilsubstanzen ent-haltenen Informationen beeinflusst werden. Bei der Akupunktur wird durch mechanische oder auch elektrische Manipulation an bestimmten Stellen des Körpers, die als besonders relevant für die Charakteristik des Interferenzmusters bekannt sind, der Schwingungszustand des Or-ganismus beeinflusst. Diese Behandlungstechniken haben sich über Jahrhunderte bewährt und werden auch in der westlichen Medizin zunehmend anerkannt, obwohl das Zustandekommen ihrer Wirksamkeit bisher nur unzureichend verstanden wird. Unsere bisherigen Ausführungen machen ihr Funk-tionieren zwar plausibel; sie bewegen sich aber noch auf einem theoretischen Niveau, das wei-terer Konkretisierung bedarf. Um die sich so vielfältig und vielschichtig beeinflussenden Interferenzmuster im lebenden System zu verstehen, haben sich holistische mathematische Prozeduren als hilfreich erwiesen, die im Verlauf der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Bereich der Chaosforschung entwi-ckelt wurden. Demzufolge kann ein komplexes System mit allen seinen Untersystemen sich in drei verschiedenen Zuständen befinden:

- Der erste Zustand kann mit einer Gruppe Kinder im Kindergarten ohne Aufsichtsper-son verglichen werden. Die Kinder sind zu klein, um zu wissen, wie man gemeinsam spielt. Daher herrscht im Kindergarten ein fast perfekt „chaotischer Zustand“. In einem solchen chaotischen Zustand haben einhundert Kinder einhundert Grade der Freiheit.

- Den zweiten Zustand verkörpern Soldaten einer Ehrengarde. Diese Soldaten befinden sich in perfekter Ordnung, sie gleichen einander genau und sind wie eine Person. Die Ehrengarde befindet sich daher im „Zustand höchster Ordnung“ (Kristallzustand). In einem solchen „Zustand perfekter Ordnung“ haben einhundert Soldaten nur einen Grad der Freiheit, nämlich zur selben Zeit alle dasselbe zu machen.

- Den dritten Zustand verkörpern die Tänzer in einem Ballett (Abb. 8). Das Bild des Balletts ist dynamisch. Die Tänzer sind weder so chaotisch wie die Kinder im Kinder-garten, noch in so perfekter Ordnung wie die Soldaten in der Ehrengarde. Das Bild ist dynamisch und harmonisch zugleich. Wissenschaftler sprechen von einem „Kohärenzzustand“, und wir können sehen, dass Kohärenz schlicht Harmonie ist. Harmonie gibt es also weder in der perfekten Ordnung, noch im Chaos.

Auf die Musik übertragen wäre bei der höchsten Ordnung nur eine akustische Frequenz vorhanden. Das wäre aber keine harmonische Musik. Das wäre lediglich ein ausgezeichneter Frequenzgenerator, vergleichbar mit den Soldaten in der Ehrengarde. Wäre die Kombination der Frequenzen in einem Musikstück so perfekt chaotisch wie die Kinder im Kindergarten, so entstünde ein Geräusch, im Idealfall „weißes Rauschen“, in dem alle hörbaren Frequenzen ähnlich laut hörbar vertreten sind. Soll Musik „harmonisch“ klingen, so muss das Verhältnis zwischen den verschiedenen Tönen und zwischen den einzelnen Frequenzen kohärent sein, wie das Verhältnis zwischen den Tän-zern in einem Ballett.

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Mathematisch formuliert bedeutet der chaotische Zustand: 1 + 1 = 2, der Kristallzustand: 1 + 1 = 1 und der Kohärenzzustand: 1 + 1 = 3. Da wir es in der Musik ebenso wie im lebenden System vorwiegend mit kohärenten Zustän-

den zu tun haben, wollen wir die entsprechende Arithmetik noch ein wenig weiter entwickeln. Auf Abb. 9 befindet sich eine Gruppe von Tänzern. Das, was das Wesen des Tanzes ausmacht, der die einzelnen Personen miteinander verbindet, würde mathematisch folgendermaßen darzustellen sein: Bei zwei Tänzern: 1 + 1 = 3 = 2² - 1 Bei drei Tänzern: 1 + 1 + 1 = 7 = 2³ - 1 Bei vier Tänzern: 1 + 1 + 1 + 1 = 15 = 24 - 1 Bei fünf Tänzern: 1 + 1 + 1 + 1 + 1 = 63 = 25 - 1 Bei sechs Tänzern: 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 = 127 = 26 - 1 Und bei einhundert Tänzern:

1 + 1 + 1 + ........................................................................................ + 1 + 1 = ? | | 100 2100 -1 = 126.750.600.228.229.401.703.205.375 Das bedeutet, dass die 100 Tänzer 126.750.600.228.229.401.703.205.375 verschiedene Kom-binationen einnehmen können oder 126.750.600.228.229.401.703.205.375 Grade der Freiheit haben, wenn sie sich in perfekter Harmonie befinden. Dieses „Wunder der Harmonie“ soll mit Abb. 10 nochmals anhand von drei Tänzern gra-phisch verdeutlicht werden:

Die Zahl der möglichen Kombinationen bei drei Tänzern ergibt sich aus der Art wie jeder ein-zelne Tänzer seinen Freiraum gestaltet (=3), sodann wie Tänzer 1 und 2 ihren gemeinsamen Freiraum gestalten (=1); ebenso wie Tänzer 2 und 3 dies tun (=1) sowie Tänzer 1 und 3 (=1) und schließlich wie alle drei gemeinsam zusammenwirken (=1). Der höchst mögliche Kohä-renzgrad für drei Tänzer kann folglich mit „3+1+1+1+1=7“ dargestellt werden.

Diese Berechnungsmethode kann nun auf alle kooperierenden, interagierenden oder sonst wie miteinander in Beziehung stehenden Systeme übertragen werden. Interessanterweise haben die Mathematiker früherer Generationen wichtige Methoden zur Beschreibung der drei markanten Zustände - Chaos, Kristall und Harmonie - gefunden, lange bevor die Wissenschaft sich mit der Harmonie befasst hat. Der Chaos Zustand (Abb. 11) entspricht der sog. Gauß-Verteilung. Ihr liegt die Hypothese zu Grunde, dass die Messwerte durch unendlich

viele voneinander unabhängige Faktoren beeinflusst werden.

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Die Gauß-Verteilung geht also von einem Zustand aus, wie wir ihn mit den Kindern ohne Aufsichtsperson beschrieben haben. Praktisch gilt, dass eine Gruppe von beispielsweise ein-

hundert Messwerten, die perfekt in die Gauß-Verteilung (Abb. 121) passen, aus einem ideal chaotischen System mit unendlich vielen

Elementen stammt. Demgegenüber wird der Kristallzustand auch als Delta-Verteilung beizeichnet und als Kurve mit einem einzigen Messwert dargestellt, der mit höchster Wahrscheinlichkeit, also grundsätz-lich immer auftritt (Abb. 13):

Es ist klar, dass dies auf ein lebendes System nicht zutreffen kann. Wir benötigen aber eine solche Verteilung zur Berechnung, als

Koordinatensystem, in das wir den Zustand eines Patienten einordnen können. Die wichtigste Wahrscheinlichkeitsverteilung von Messwerten ist jedoch die Logarithmische Normalverteilung (Abb. 14), denn sie bezieht sich auf lebende Systeme und auf das Konzept der Harmonie. Sie entspricht einer asymmetrischen Kurve. Im Vergleich zur symmetrischen Gauß-Verteilung ist der Gipfel ausgeprägt und nach links verschoben. Die Logarithmische Normal-Verteilung wurde zunächst kaum beachtet. Erst als der deutsche Mathematiker L. Sachs 1969 herausfand, dass die Messwerte vieler physiologischer Systeme nicht in die Gauß-Verteilung,

1 Die Darstellungen auf dieser Seite setzen das zuvor beschriebene mathematische Prinzip zur Feststellung des Kohärenzgrades um. Die Koordinaten weisen in der Horizontalen die an Elektroden gemessenen Stromflüsse aus und in der Vertikalen die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens.

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sondern in die Logarithmische Normalverteilung passen, wurde sie vermehrt herangezogen, um den Zustand von lebenden Systemen darzustellen. 1994 hat Chang Lin Zhang den mathematischen Beweis geführt, dass die Logarithmische Normalverteilung einem System entspricht, das sich aus unendlich vielen Elementen zusam-men setzt, die alle die Fähigkeit haben, unabhängig zu bleiben und doch alle Möglichkeiten zur Kooperation mit den anderen Elementen besitzen. Wenn also die Messwerte aus einem System in die Logarithmische Normalverteilung passen, zeigt das, dass die Beziehung der E-lemente dieses Systems 1 + 1 = 3 ist. Das ist die ungewöhnliche Arithmetik, die ein schönes Ballett beschreibt. Damit können Schönheit und Harmonie in der Musik, in einem Ballett und in Lebewesen nicht mehr nur von romantischen Poeten mit Worten, sondern auch von Wis-senschaftlern mit streng mathematischen Formeln, praktischen Messungen und quantitativen Berechnungen beschrieben werden. In verschiedenen Messreihen haben wir untersucht, wie musikalische Situationen den Körper-

zustand verändern. Das Messgerät bringt einen elektrischen Strom in den Körper ein und misst an 128 Elektroden Frequenz und Stärke des

austretenden Stroms. Die Software analysiert die Ergebnisse nach den zuvor geschilderten mathematischen Prinzipien. Auf den Abb. 15 und 16 sind Delta-Verteilung (Kristallzustand) rot, Gauß-Verteilung (Chaos-Zustand) schwarz und Logarithmische Normalverteilung (har-monischer Kohärenzzustand) grün dargestellt. Die blauen Balken geben die gemessenen Wer-

te an. Abb. 15 bildet des Zustand der Versuchsperson vor der musikalischen Erfahrungen ab. Abb. 16 den Zustand nach der Erfahrung. Die musikalische Erfahrung bestand in der aktiven

Teilnahme an einer Folkloretanz Gruppe (vgl. Kapteina 2000 und 2004). Weitere Messreihen wurden nach dem Vorher – Nachher - Prinzip mit Teilnehmern durchge-führt, die unterschiedliche musikalische Erfahrungen machten: Rezeption von Musikaufnah-men, Rezeption von monochromen Klängen (Monochord), Klangmassage mit Klangschalen, Singen (Chanten von Vokalen, Obertongesang), Improvisation mit Trommelrhythmen in der Gruppe. Fast alle bisherigen Ergebnisse zeigen mehr oder weniger deutliche Verschiebungen der Daten in Richtung Logarithmischer Normalverteilung (wie in Abb. 15 und 16 dargestellt. Am ausgeprägtesten sind die Veränderungen beim Tanzen und Obertonsingen. Bei gegenläu-figen Ergebnissen machten Interviews mit den betroffenen Personen individuelle, biogra-

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phisch bedingte Bewertungen der musikalischen Situation deutlich. So waren zum Beispiel die Daten von zwei Personen bei insgesamt 20 nach dem Anhören des Monochords auf einer Klangliege überdeutlich in Richtung Gauß-Verteilung gewandert. Beim anschließenden Inter-view gaben beide an, den Klang des Monochords als bedrohlich erlebt zu haben. Er erinnerte sie an das Geräusch von herannahenden Bombern, das sie aus ihrer Kindheit kannten. Generell müssen die biophysikalisch gewonnenen Daten durch Interviews mit dem psychoso-zialen Kontext der untersuchten Personen in Beziehung gebracht werden. Zur Zeit wird die Hardware des Messinstruments neu gestaltet, so dass in Zukunft auch offline und prozessbegleitend gemessen werden kann. Hier sehen wir das Messergebnis vor dem Hören von Klängen des 26-saitigen Monocords:

Dieser Verteilung entspricht die Verteilung der Frequenzen eines geräuschhaften Klanges:

Nach ca. fünf Minuten, in denen die Versuchsperson den Klängen zuhört, wird die folgende Verteilung der Stromflüsse gemessen:

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Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass das erste Messergebnis bei Stresszuständen auftritt, das zweite bei entspannter Aktivität, etwa nach Meditationsübungen.

Wirklich überraschend war für die Biophysiker, dass die Anordnung der Stromflüsse nach der Log-normal Verteilung große Ähnlichkeit mit der Anordnung der Frequenzen des reinen Tones aufweist. Die Abbildung des Frequenzspektrums etwa eines Altsaxophon Tones macht das deutlich:

220 Hz

440 Hz

660 Hz

880 Hz

1100 Hz 1320 Hz

1540 Hz

Das Prinzip der harmonikalen Anord-nung von Frequenzen; schematisch dar-gestellt für den Ton „a“

Frequenz

Lautstärke

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Die Idee, welche der Biophysik des Hörens zugrunde liegt, basiert auf der Vorstellung, dass alle Materie aus vibrierenden Teilchen besteht, die sich zu vielschichtig kombinierten Wellen verbinden. Die Wellen können nach stehendem Prinzip angeordnet sein, wie das in der Musik der Fall ist. Die nebenstehende Abbildung zeigt diesen Schwingungszustand, bei dem die einzelnen Frequenzen in symmetrischer Anordnung von den Begrenzungen des Raumes reflek-tiert werden. Der Energieverlust bei solchen stehenden Wellen ist

wesentlich geringer als bei Wellen, die unsymmetrischer Anordnung auf die Raumgrenzen treffen. Beim Musikhören gilt dieses Prinzip sowohl in akustischer Hinsicht (die schwingende Luft im Raum) als auch in körperlicher Hinsicht (schwingende Moleküle in den einzelnen Organen). Die oben dargestellten Stromflussmessungen geben darüber Auskunft, welche Schwingungs-form im Organismus überwiegt und sie zeigen gleichzeitig, wie die musikalischen Klänge die Schwingungsverhältnisse in den Zellen und Organen des Körpers verändern. Literatur:

Drewer, Martin (2000): Gestalt – Ästhetik – Musiktherapie, Münster Kapteina, Hartmut (2000): "Im Tanz das Leben spielerisch gelingen lassen". Folkloretänze in Therapie und

Prävention. In: Schwabe, Christoph; Stein, Ingeborg Hrsg.): Ressourcenorientierte Musiktherapie. Cros-sen, 394-414

Kapteina, Hartmut; Schreiber, Bettina; Klug, Hans-Dieter (2004): Musik in der stadtteilorientierten Sozialen Kulturarbeit. In: Hartogh, Theo; Wickel, Hans Hermann (Hrsg): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim, 415-426

Kapteina, Hartmut, Changlin Zhang Forschungen über Biophysik und Musiktherapie. In: Wolfgang Bossinger und Raimund Eckle (Hrsg.): Schwingung und Gesundheit, Traumzeit Verlag 2008, 131-145

Zhang, C. L. et al (Hrsg.) (1996) : Current Development of Biophysics, Hangzhou, Hangzhou University Press. ( in English )

Zhang, C. L. (2001): Dissipative Structure of Electromagnetic Field in Living Systems. MISAHA Newsletter #32-35, 18-21

Zhang, C. L. (2002): Invisible Rainbow and Inaudible Music: The Dissipative Structure of Electromagnetic Field in Living Systems

Zhang, C. L. (2002): Skin Resistance vs. Body Conductivity (On the Background of Electromagnetic Measurement on Skin). Frontier Perspectives 11 (2), 15-25

Zhang, C. L. (2007): Der unsichtbare Regenbogen und die unhörbare Musik. Die dissipative Struktur des e-lektromagnetischen Feldes in Lebewesen. Der Hintergrund der ältesten Heilverfahren und das jüngste Ka-pitel der modernen Biologie, München

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4.6 Neurophysiologische Prozesse beim Musikerleben

Den aktuellen Stand der Forschungen fasst Stefan Koelsch in einem Artikel der Musikthera-peutischen Umschau (2005, 365-381) wie folgt zusammen: Bei der Wahrnehmung von Musik laufen komplexe Handlungsfunktionen ab:

1. akustische Analyse 2. auditorisches Gedächtnis 3. auditorische Gestaltbildung sowie Verarbeitung musikalischer

Syntax und Semantik;außerdem: 4. Effekte auf Emotionen 5. das vegetative Nervensystem 6. das Hormon- und das Immunsystem und schließlich kann 7. Aktivierung (prä-)motorischer Handlungspräsentationen (vgl.

365). Spintge und Droh weisen in ihrem Buch: Musik - Medizin, Stuttgart 1992, darauf hin, dass zentrale Musikverarbeitungsprozesse in beiden Hirnhemisphären ablaufen. „Linkshemis-phärische Leistungen sind dabei vor allem die Verarbeitung von Lautstärke, Klangfarbe, mu-sikalischen Intervallen, Akkorden, Tondauer, Tonhöhe, Takt, Rhythmus. Rechtshemisphäri-sche Leistungen sind insbesondere die Wahrnehmung von Tempoänderungen und der Aus-drucksmodalität von Tonhöhen“ (S. 17, ebenfalls s. S. 243 ff und Christoph Fassbender in Handbuch Musikpsychologie, hrsg. v. Bruhn u.a. 1993 S. 622 ff.). Geschlecht, Händigkeit, Spielen eines Instruments haben entscheidenden Einfluß auf die Lo-kalisation der Hirnaktivität beim Musikerleben. Helmuth Petsche hat nachgewiesen, dass beim Musikhören Frauen ihre linke und rechte Hirn-hälfte wesentlich intensiver verschalten als Männer (Bild der Wissenschaft, Heft 12/1989, S. 17; auch 5/1996, S.46 ff: Bei Frauen arbeiten während des Redens beide Gehirnhälften, Män-nergehirne steuern das Sprechen nur im linken Hinterkopf; ebd. 10/2002, S. 72: beim Zuhören von vorgelesenen Geschichten arbeitet bei Männern „nur das Areal zur Sprachverarbeitung im linken Schläfenlappen. Bei weiblichen Testpersonen arbeiteten zusätzlich die Bereiche der rechten Hemisphäre, die für nichtsprachliche Höreindrücke zuständig sind, etwa für Musik-verarbeitung und damit verbundene Vorstellungen). Auch interkulturelle Unterschiede spielen eine Rolle: "So findet die musikalische Verarbei-tung westlicher Musik bei Japanern bevorzugt in der rechten Hirnhemisphäre statt, wohinge-gen japanische Musik bevorzugt linkshemisphärisch verarbeitet wird. Bei westlichen Proban-den ist die Lateralität genau umgekehrt." Die Ursache dafür wird vor allem in der "durch Vo-kale geprägten japanischen Sprache" gesehen. (Spintge/Droh, S. 18) Helga de la Motte-Haber fasst im Handbuch der Musikpsychologie (Laaber 1985, S. 21 - 23) den Stand der Forschung so zusammen, dass für das Musikhören „beide Verarbeitungsmodalitäten der Hemisphären von Bedeutung sein“ können. „Denn deren grundsätzlich verschiedene Arbeitsweisen - rechts findet eine mehr holistisch-ganzheitliche Gestalterfassung und links ein mehr analytisch-begriffliches Denken in der Reihenfolge statt - ist in vollem Umfang zumindest für das Verständnis jener Musik nötig, deren syntaktische Bedeutung den analytisch zergliedernden Verstand voraussetzt“ (S. 23).

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Ein Musikstück aktiviert das Gehirn bei jedem Hö-ren anders, fanden ameri-kanische Wissenschaft-ler. Ihre Beobachtung sei gleichzeitig der erste handfeste Beweis für die schon lange gehegte Vermutung, dass das Ge-hirn auch gleiche Infor-mationen auf eine dyna-mische Weise immer wieder neu verarbeitet, schreiben sie im Magazin "Science" (Bd. 298, S. 2167).

Die Forscher vom Dartmouth-Zentrum für kognitive Hirnforschung haben verschiedenen Testpersonen ein kompliziertes Musikstück vorgespielt, das innerhalb von acht Minuten alle Tonarten der westlichen Musik durchläuft. Gleichzeitig beobachteten sie die Aktivität im Ge-hirn der Probanden mit einem bildgebenden Verfahren. Die musikgeübten Versuchspersonen sollten während der Sitzungen eine bestimmte Melodie und einen Instrumentenwechsel aus dem Stück heraushören. Zur Überraschung der Forscher aktivierte das gleiche Musikstück bei den Testpersonen bei jedem Hören andere Areale im Gehirn. Mit Hilfe statistischer Methoden konnten die Wissen-schaftler dennoch ein Zentrum im Gehirn ausfindig machen, das sich offenbar mit der Analyse von Musik beschäftigt. Während Melodien zunächst in Hirnregionen hinter den Schläfen verarbeitet werden, befindet sich das höhere Analysezentrum direkt hinter der Stirn, im so genannten rostromedialen Stirn-hirn. Dieses Zentrum ist Wissenschaftlern schon länger bekannt als eine Region, in der das Gehirn emotional bewegende Eindrücke mit vernünftigen Erwägungen in Einklang bringt. Warum ausgerechnet diese Region auch Musik analysiert, konnten die Forscher jedoch nicht klären (Bild der Wissenschaft 12, 2002). Bei der genauen Untersuchung von 3000 Säuglingen während sechs Jahren haben Forscherin-nen der University of California in Los Angeles und der University of Arizona herausgefun-den, dass im linken Ohr Musik stärker verstärkt wird als im rechten. In rechten werde deutlich Sprache stärker verstärkt. Die asymmetrische Verarbeitung von Geräuschen, Sprache und Mu-sik im Gehirn habe daher bereits im Ohr seinen Ursprung. Details der Untersuchung, die unter Verwendung der otoakustischen Emission (OAE) durchgeführt wurden, bei der das im Ohr vorverarbeitete akustische Material teilweise ins Außenohr wieder abgestrahlt wird, sind im Wissenschaftsmagazin Science vom September 2004 veröffentlicht (MU 2005, 101). Klaus-Ernst Behne u.a. kamen in ihrer Untersuchung „EEG-Korrelate des Musikerlebens“ in: Musikpsychologie, Heft 4, 1987, S. 49-63 und Heft 5, 1988, S. 95-105, zu dem Ergebnis, dass bestimmte Musik, nach Tempo, Dynamik und Stil ausgewählt, nicht zu systematischen Ver-änderungen in den EEG-Befunden führt. Dieses insgesamt negative Ergebnis erklären die Au-toren dahingehend, „dass sich Unterschiede zwischen den Musikstücken nicht im oberen, kor-tikalen Bereich auswirken, sondern in tieferen Schichten, in denen verschiedene Aktivierungs-systeme vermutet werden“ (S. 105). Mit diesen tieferen Schichten sind die Funktionen der Formatio retikularis bzw. das Limbische System im Zwischenhirn gemeint, über die Sinnes-

Linke Gehirnhälfte Yang (männliches Prinzip) • Intelligenz • Rationalität • Yang (männlich) • Bewusste Vorgänge • Intellektuelle Einsicht • Analytisches Denken • Abstrakte Begabung • Zeit • Aktivität • Digital • Analyse von Worten • Sprache • Zeitliche Abläufe

Rechte Gehirnhälfte Yin (weibliches Prinzip) • Intuition • Gefühl • Yin (weiblich) • Unbewusste Vorgänge • Emotionale Verarbeitung • Ganzheitliche Betrachtung • Künstlerisch, kreativ • Raum • Passivität • Analog • Sprach- u. Sinnerkennung • Musik • Zeitlosigkeit

Quelle: http://www.medicrossover.de/abhoer.htm

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linke Hemisphäreoperiert linear, sukzessiv,schrittweise nacheinander, wie die Sprache, bei der wir Gleichzeitiges in ein Nacheinander auflösen

rechte Hemisphäreleistet das prompte gleichzeitige Integrieren vieler Informationen, beherbergt Fähigkeiten, wie Kreativität und Intuition und ist für das Hören von Musik, auch für das Nicht - Hören von Klängen verantwortlich

Musikhören; Reizung der

Sinnesorgane

Formatio retikularis

Limbisches SystemPrüft, ob die Wahrnehmung eine Chance oder eine Gefahr beinhaltet; setzt musikalische Informationen in Emotionen um, löst vegetative Reaktionen aus

VegetativumHerz- Atem-,

Darm- Blasen-, Haut- und andere

Reaktionen

Ammons-hornLangzeit -Gedächtnis

Neurophysiologische Prozesse bei Musikhören

wahrnehmungen zuerst und vor allem emotionale, vegetative, d.h. körperliche Reaktionen auslösen.

Ablauf der neuronalen Prozesse im Gehirn während des Musikhörens (Aus bild der Wissenschaft 7/2003) Boris Luban-Plozza weist in diesem Zusammenhang auf die Funktion des linksseitigen Ammonshorn1 hin, einer Schaltstelle für Gedächtnis

und Gefühl. Es sei das „Tor zum Gedächtnisspeicher“, und beim Hören der Konsonanzen und Dissonanzen der Musik träten „verborgene, verschüttete und gefühlsbetonte Inhalte aus dem Unbewussten hervor. („Das Dritte Ohr - Musik und innere Harmonie“, Zeitschr. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 3/1990, S. 119-124)

(vgl. auch Elisabeth Haselauer: Berieselungsmusik. Droge und Terror, Wien 1986, S. 29 ff)

Diese spezielle Verarbeitung von Hörreizen hat sicherlich ihren Grund in der Funktion des Gehörs als „Frühwarnsystem“. „Die Schnellverbindung zwischen Wahrnehmen und Handeln

1 Cornu Ammonis, ein wulstartiger Gehirnabschnitt am Boden des Seitenventrikels, der wichtige Rindengebiete des Riechhirns enthält, Brockhaus 1966

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existiert wahrscheinlich aus guten Gründen der Anpassung’ argumentiert Bargh, der zusam-men mit Gollwitzer 1990 den Forschungspreis der Max-Plank-Gesellschaft erhielt. Es ist bes-ser vor einem Hasen Reißaus zu nehmen, wenn es im Gebüsch raschelt, als erst einmal abzu-warten, ob sich ein Bär heranpirscht“ (Bild der Wissenschaft 11/2001, 74). Franz Amrhein (Musik und Bewegung, in: Hartogh, Theo und Wickel, Hermann (Hrsg.): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim 2004, 231-244) weist darauf hin, dass im Innenohr „in derselben Flüssigkeit: der Körper-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn (das vestibuläre System) und der Gehörsinn (das cochleare System)“ verbunden sind. ... „D.h. im Innenohr sitzt nicht nur ein extrozeptives Organ, das Informationen von außen aufnimmt, sondern auch ein mit diesem verbundenes propriozeptives, das über den inneren Zustand in-formiert“ (232). Amrhein stellt den neurophysiologischen Ablauf der Musikverarbeitung bei gleichzeitiger Akzentuierung der sensumotorischen Verarbeitung folgendermaßen dar: „Was wir hören, wird (...) vom

� 8. Gehirnnerv, dem Nervus vestibulocochlearis, der sowohl Bewegungs- als auch akustische Informationen aufnimmt, zunächst in tiefere Regionen zur weiteren Verarbeitung transportiert.

� Das Stammhirn, das „Wachzentrum“, schützt vor Reizüberflutung und entscheidet, ob das Gehörte von Interesse ist.

� Im Mittelhirn (vor allem im Limbischen System, Thalamus und Hypothalamus) er-folgt die gefühlshafte Wertung, es werden

� Verbindungen zum vegetativen System (... 232) und zu � Zentren der visuellen Wahrnehmung hergestellt. � Eine wichtige Station ist das Kleinhirn, das Zentrum für Bewegungsempfindung

und –Koordination. � Die Großhirnrinde, das Zentrum des Bewusstseins, erreicht die Botschaft aus dem

Ohr erst, nachdem sie die für Bewegungsempfindung und Gefühle zu-ständigen Zentren durchlaufen hat.

Das, was wir letztlich hören, ist bereits mit Bewegungs- und Gefühlseindrücken ‚aufgeladen’. In der Rinde selbst trifft der Höreindruck auf drei benachbarte Areale:

� die sensorischen und � motorischen Rindenfelder sowie das � Hörzentrum (233).

Über die Aktivierung der beiden Hemisphären haben Altenmüller und Gruhn (Das Bild der Musik im Kopf. Musikverarbeitung in der Darstellung kortikaler Aktivierungspotentiale. In: H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas (Hrsg.): Physiologische und neurophysiologische As-pekte musikalischen Wahrnehmens, Verarbeitens und Verhaltens (Forum Musikpädagogik, Bd. 21) Augsburg: Wissmer, 1996, 11-40) bei musikalisch tätigen Kindern und Jugendlichen herausgefunden, dass „bei einer mehrtheoretisch-analytischen Beschäftigung mit Musik“ die linke Seite aktiver ist als die rechte, während „bei praktischer musikalischer Tätigkeit, bei Bewegung und Spiel (...) nicht nur die rechte Seite aktiv“ ist, sondern auch die linke deutlich beeinflusst. Amrhein sieht darin das „neuronale Korrelat“ für die Tatsache gegeben, „dass musikalische Bewegung, die ‚Musiksensomotorik’, auch strukturierende, ‚rationale’ Elemente enthält – ein auf Musik und Bewegung bezogener neurophysiologischer Beleg für Piagets These von der ‚sensumotorischen Intelligenz’“ (233).

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Michael Grossbach und Eckart Altenmüller (Musik und Emotion – zu Wirkung und Wirkort von Musik, in: Tillmann Bendikowski u.a. (Hrsg.): Die Macht der Töne. Musik als Mittel po-litischer Identitätsbildung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, 13-22) erwähnen neuere Unter-suchungen mithilfe von bildgebenden Verfahren zeigten, dass bei Jugendlichen von diesen als schön empfundene Musik stärker die linke Hirnhälfte aktiviert wird, während negativ bewer-tete Musik „mit stärkerer Aktivierung der rechten Stirnhirn- und Schläfenregion“ einhergeht (vgl. Eckart Altenmüller u.a.: Hits to the left, flops to the right: different emotions during lis-tening to music are reflected in cortical lateralization patterns. Neuropsychologica 40 (13) 2002, 2242-56). Des weiteren zitieren sie Anna Blood und Robert Zatorre (Intensely pleasur-able response to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emo-tion. Proc Nat Acad Sci USA 98 (20)(2201), 1181-23, 2001) mit bildgebenden Untersuchun-gen, die „eine starke Beteiligung des limbischen Emotions- und Selbstbelohnungssystems tief im Inneren des Gehirns“ belegen. Besonders intensive Reaktionen wurden z.B. von Rachma-ninoffs 2. Klavierkonzert (d-moll) oder Barbers Adagio für Streicher hervorgerufen. „Es kam zu einer Aktivierung des endogenen limbischen Selbstbelohnungssystems im Bereich der tief gelegenen Hirnregionen der Mandelkerne, des Mittelhirns, der inneren Anteile der Schläfen-lappen und der unteren Stirnregion. Dieses Aktivierungsmuster entspricht exakt demjenigen, das bei Einnahme starker Rauschdrogen wie Heroin und Kokain entspricht“ (16). Reinhard Flender (Vom Dreifachen Ursprung der Musik, in: Peter Bubmann (Hrsg.) Men-schenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 9-20) führt aus, dass sich bei Tieren die Funktion des Gehörs „als Gefahrenindikator noch weiter perfektioniert hat (Hunde, Katzen, Nachtvögel hören z.B. ultrahohe Frequenzen wesentlich besser als der Mensch),“ wohingegen „sich das menschliche Gehör in eine ganz andere Richtung“ weiterentwickelte. Es spezialisierte „sich darauf, diejenigen Frequenzen, die wir beim Sprechen ausstoßen, das sind nämlich die Poten-zen von 28 – 212 Herz, die die Vokale u, o, e, a, i ergeben, und die Anzahl von Mundgeräu-schen, die wir Konsonanzen nennen, in einer Unzahl von Kombinationsmöglichkeiten heraus-zufiltern, in Großhirn zu leiten und dort zu decodieren. Kurz, das menschliche Ohr hat sich in Jahrtausenden physiologisch dazu entwickelt, Sprache zu verarbeiten“ (10). Plath formuliert: „Die im Rezeptor des Innenohrs durch Schallschwingungen ausgelösten Nervenpotentiale werden über den Hörnerv (Nervus statoacusticus, VIII. Hirnnerv) zum Ge-hirn geleitet. Erste Umschaltungen erfolgen im Hirnstamm, hier finden auch die Verknüpfun-gen mit der Hörbahn der anderen Seite statt. Im Hirnstamm bestehen Verbindungen zu den vegetativen Zentren, ferner zu motorischen Bahnen, die nicht der Willkür unterliegen. Auch das Richtungshören und das Erkennen von Signalen in Störgeräuschen werden als perzeptive Prozesse im Hirnstamm und dem ihm nachgeschalteten Mittelhirn geleistet“ (zit. n. PRAUSE, Manuela Carmen, Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogische Aspekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung des angloamerikanischen Forschungsgebiets. In: Kölner Studien zur Musik in Erziehung und The-rapie, Band 5, Köln-Rheinkassel 2001, S. 58 f). Eine ähnlich direkte Verbindung zu den vegetativen Zentren besteht auch zwischen bestimm-ten Nervenzellen in der Haut, die Signale nur sehr langsam transportieren. „Sie sind verant-wortlich für Streicheleinheiten an das Gehirn. Forscher vom Sahlgranska-Krankenhaus in Gö-teborg um Hakan Olausson hatten eine Patientin untersucht, der auf Grund einer Krankheit die wichtigsten Tastnerven in der Haut fehlten. Allerdings war das System der C-Fasern noch in-takt.“ Sie konnte Streicheln mit einem weichen Pinsel spüren und fand es angenehm. Bei gleichzeitigem Scannen des Gehirns wurde deutlich, „dass beim Streicheln vor allem diejeni-

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gen Hirnareale aktiv sind, die Emotionen auslösen. Hirnareale, die Tastreize verarbeiten, rea-gierten auf die Zärtlichkeiten nicht“ (Bild der Wissenschaft 10/2002, 11). Christo Pantev vom Institut für experimentelle Audiologie an der Universität Münster hat mit

einem Magneto-Encephalographen nachgewie-sen, dass ausgebildete Musiker aufgrund ihres hervorragenden Gehörs mehr Nervenzellen für die Verarbeitung von Tönen der Tonleiter mo-bilisieren als andere Menschen. Dieser Tatbestand kann für die Wiederherstellung von beschädigten Gehirnfunktionen genutzt werden (nature Bd. 392, Nr. 6678, S. 811; Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64). Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren haben Forscher des Gesellschaft für Neurologische Wissenschaften nachgewiesen, dass Musik verschiedene Seiten des Gehirns aktiviert, insbesondere auch die motorischen Zentren

- bei musizierenden Männern vergrößern sich sogar manche Hirnteile.

- das Kleinhirn von Musikern ist im Durchschnitt 5% größer als das von Nichtmusikern. - Musiker werden mit dieser Eigenart nicht geboren. Das Gehirn passt sich durch die

jahrelange Musikpraxis an. - aus dieser Tatsache erscheint Musizieren als geeignetes Mittel zur Therapie neurologi-

scher Schäden. (für Musikerinnen können keine gesicherten Aussagen gemacht werden, weil an den Versuchen nur wenige Frauen teilnahmen. Leah Ariniello, Society for Neuroscience, Washington D.C.) Der Chicagoer Neurologe John Hughes hat „bei Epilepsie-Patienten festgestellt, „dass eine Sonate für zwei Klaviere von Mozart nicht alleine die im EEG gemessene Hirnstromaktivität normalisieren konnte – selbst bei Patienten im Koma -, sondern tatsächlich auch die Zahl der Anfälle senkte. Bei anschließenden Computeranalysen zeigte sich, dass in der Mozartschen Musik die Lautstärke offenbar in besonders regelmäßigen Perioden an- und abschwillt und zudem Melodielinien häufig wiederholt werden. Genau diese Regelmäßigkeiten aber – die sich in geringerem Maß beispielsweise auch in der Musik Haydns und Bachs fanden – gingen parallel mit manchen im Gehirn selbst auftretenden rhythmischen Aktivitätsschwankungen“. Insofern würde durch die Musik „gewissermaßen der natürliche Takt des Gehirns aufgegriffen und stabilisiert“ (Bild der Wissenschaft 8, 2003, 41) Das beim Singen entstehende „natürliche Vibrato, welches mit einer Frequenz von 4 – 7 Schwingungen pro Minute schwingt“ erzeugt vermehrtes Auftreten von sehr langsamen Ge-hirnwellen (4 – 8 Hertz), welche die Kommunikation mit der rechten Gehirnhälfte verbessern und so die Lern- und Erinnerungsfähigkeit sowie assoziatives und kreatives Denken erhöhen (vgl. Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 100 f). Weitere Literatur:

Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuro-nalen Netzwerk, Stuttgart 2002

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Robert Jourdain: Das Wohltemperierte Klavier. Wie Musik im Kopf entsteht, Heidel-berg 1998 und: Robert J. Zatrone und Isabelle Peretz (Hrsg.): The biological foundations of music, New York (Academy of Science) 2000 Das Themenheft 1, 2004 der Musiktherapeutischen Umschau ist der Beziehung zwi-schen Musiktherapie und den Neurowissenschaften gewidmet. Stefan Koelsch: Ein kognitives Modell der Musikrezeption, Musiktherapeutische Um-schau 2005, 365-381 Jaak Panksepp und Günther Bernatzky: Emotional sounds and the brain; the neuro-affective foundations of musical appreciation, Behavioural Process 60 / 2002, 133-155 Nöcker-Ribaupierre, Monika, Lenz, Gisela M., Hüther, Gerald (2006): Die Wirksamkeit musiktherapeutischer Interventionen aus entwicklungspsychologischer Sicht. In: Hrsg.: BVM (Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland): Jahrbuch Musiktherapie, Wiesbaden: Reichert, 137-156)

Im Internet: www.immm.hmt-hannover.de www.cns.mpg.de

„Das Gehirn giert nach Musik. Melodie und Rhythmus sind Schlüssel zur Sprache, Heilmittel nach Schlaganfall“ ist Titelthema des Zeitschrift Bild der Wissenschaft 8, 2003; dort sind wei-tere Quellen angegeben. Die Wirkungen des Singens auf das das Gehirn: neuronale Harmonisierung und Synchroni-sation, Aktivierung emotionaler Netzwerke und Neubahnung, beschreibt Wolfgang Bossinger in seinem Buch über die „Heilende Kraft des Singens“, Norderstedt 2005, S. 133-171

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4.7 Körperliche Reaktionen beim Musikerleben

Musik bringt das Vegetativum zum Mitschwingen; und zwar auch dann, „wenn die Aufmerksamkeit der Versuchsperson abgelenkt ist, so dass sie das dargebotene Musikstück nicht einmal bewusst wahrnimmt.“ Körperreaktionen beim Musikhören sind: Pulsbeschleunigung, Veränderung von Blutdruck, Atmung, Hautwiderstand, Hormonhaushalt, Stoffwechsel und Verdauung. Mitbestimmend für die Körperreaktionen sind, „Einstellung zur Musik, die eigene Gestimmtheit, musikalische Vorbildung, Sensibilität, individueller Geschmack.“ Rhythmische Musik lässt Muskelpotentiale im Bein ansteigen; das Lösen von Rechenaufgaben z.B. aktiviert Muskelpotentiale im Stirnbereich; Bachs Musik steigert Muskelpotentiale sowohl im Bein- als auch im Stirnbereich. (Vgl. dazu: Rüdiger Liedtke, Die Vertreibung der Stille, München 1985, S. 42) „Das Team um Thaut vom Zentrum für biomedizinische Musikforschung untersucht seit Jahren die Wirkung von Musik auf das Gehirn.

Dabei entdeckten sie eine direkte und nach Thaut „erstaunlich schnelle" Verbindung zwi-schen den Hörzentren im Gehirn und den Bereichen, die Bewegungen steuern. Was Tän-zer schon immer wussten, konnte Thaut in Experimenten nachweisen: Rhythmen dringen di-rekt und ohne Umweg über das Bewusstsein in die Glieder. Die Forscher ließen Freiwillige zum Takt eines Metronoms mit einem Finger klopfen. Änderte sich dabei der Rhythmus leicht, passten die Probanden die Bewegungen ihrer Finger sofort an, obwohl sie die Taktän-derung bewusst gar nicht wahrgenommen hatten. Thaut vermutet, dass der Mechanismus dem Gehirn hilft, unsere Bewegungen an Geschehnis-se in der Umwelt anzupassen. Das sei für unsere Vorfahren überlebenswichtig gewesen, meint der gebürtige Hamburger. Habe ein Zweig geknackt oder das Laub geraschelt, konnten sie oh-ne lange zu zögern wegrennen. Heute dagegen helfe die Direktverbindung im Gehirn Patien-ten beim Erlernen von Bewegungen, sagt Thaut. Neben Schlaganfall-Patienten üben auch Par-kinson- und Huntingtonkranke in seinem Zentrum das Gehen mit Musik. Dabei hilft Musik nicht nur beim Erlernen von rhythmischen Bewegungen wie Gehen. Kürz-lich konnte das Team zusammen mit Volker Hömberg von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf zeigen, dass Musik auch willensgesteuerte Armbewegungen verbessern kann. So konnten Schlaganfallpatienten nach einer Musiktherapie zielgerichteter nach einem Gegens-tand greifen als zuvor. Offenbar unterstütze Musik alle Aspekte einer Bewegung, nicht nur die rhythmischen, sagt Thaut.“ (s.: Thaut, M.H.: Neue Entwicklungen der neurologischen Musik-therapie und ihre Bedeutung für Alterspatienten. Musik und Gesundheit, 3, 2002, 17-18). In Bild der Wissenschaft 8, 2003, 36 ff. wird die folgende Fallgeschichte der Parkinson-Patientin Alice H. weitergegeben:

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4 Wirk-Ebenen der Musik:

- tiefe Körperentspannung, - positive Imagination und - Gedankenklarheit, die mit unklaren Be-

fürchtungen unvereinbar sind, sowie - emotional-positives Erleben einer Situati-

on

Maureen P. REILLY: Über den Einsatz von Musik gegen Opera-tionsstress bei Alters-Patienten, Musik und Gesundheit 4/2002,

„Immer wieder hatten die Krankheitsattacken sie überfallen. Ihr Gesicht zuckte dann, ihr Körper wackel-te und zitterte, und kaum dass sie ihre Glieder bewegen wollte, schienen sie zu Eis zu erstarren. Wenn Alice eine Zimmertüre öffnen wollte, musste sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharren, und wenn die Ampel auf Grün sprang, klebten ihre Füße am Boden, als gehorchten sie dem Willen nicht mehr. Doch nun trägt Alice bei all ihrem Tun einen Walkman.“ Wenn sie den aufsetzt, „werden ihre Bewe-gungen fließend und frei, und springt die Ampel auf Grün, überquert sie mit sicherem Schritt die Straße. Musik gibt ihr die Gewalt über ihren Körper zurück.

Die Forschungen von Michael Thaut und seinem Team zeigen, dass rhythmische Reize nicht nur die Hörrinde stimulieren, „sondern auch eine Vielzahl sogenannter senso-motorischer Rindenareale, ebenso wie das Kleinhirn – ein ganzes Netz von Nervenzentren also, die be-kanntermaßen bei der Koordination motorischer Abläufe im Spiel sind. Offenbar fließen akus-tische Informationen direkt in das motorische System ein. Selbst die Aktivität von motori-schen Nervenzellen im Rückenmark scheint durch akustische Reize beeinflusst zu werden.“ „Die Verbindungen zwischen Musik und Motorik funktionieren teilweise sogar unterhalb der Bewusstseinsschwelle“ (38). Daraus folgt, dass sich mit rhythmischen Reizen motorische Prozesse im Gehirn von außen steuern lassen. „Wenn die zeitlich hochkomplexen motori-schen Abläufe im Gehirn nicht mehr ausreichend abgestimmt würden, könnte rhythmische Musik die Funktion eines Zeitgebers übernehmen – und gewissermaßen den Takt geben, der das Konzert der Neuronen koordiniert“ (41). Untersuchungen der Zusammensetzung des Speichels haben ergeben, dass durch Musikhö-ren in Verbindung mit katathymem Bilderleben, besonders aber durch Improvisation auf In-strumenten in Musiktherapie-Sitzungen das Immunsystem deutlich gestärkt wird. (Anne Müller: Aktive Musiktherapie: Stimmungen, Therapieerleben und immunologisch rele-vante Speichelparameter, Frankfurt a. M. 1994). Maureen P. Reilly (Über den Einsatz von Musik gegen Operationsstress bei Alters-Patienten, Musik und Gesundheit 4/2002 15 f.) konnte die positive Beeinflussung des vegetativen Ner-vensystems und des Stress- und Schmerzempfindens bei Katarakt-Augen-Operationen in Lo-kalanästhesie durch Musik nachweisen. Bei einer Gruppe von 32 Patienten im Lebensalter ü-ber 65 Jahren wurde vor und während der Operation vom Patienten selbst gewählt Musik per Kopfhörer angeboten. Sowohl psychologische Tests als auch Messungen der biologischen Pa-rameter, wie Blutspiegel des Stresshormons Cortisol, Blutdruck, Herzfrequenz, ergaben, dass die Musikanwendung vor und während des nicht ganz angenehmen Eingriffes in Lokalanästhesie zu einer signifikanten Senkung der Stress- und Schmerz-Reaktionen führte.“ Die Autorin betont in diesem Zusammenhang vier wichtige Wirkebenen der Musik: „tiefe Körperentspannung, positive Imagination und Gedankenklarheit, die mit unklaren Befürchtungen unvereinbar sind, sowie emotional-positives Erleben einer Situation“ (16). Singen, Musizieren und bewusstes Zuhören ermöglichen Schmerz-Patienten zu entspannen, nachzudenken und neuen Mut zu schöpfen. Das bestätigen Forscher vom Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York. Der schmerzlindernde Effekt von Musik beruht darauf, dass schmerzleitende und akustische Nervenbahnen im Körper dicht beieinander liegen. Akustische Reize sind daher in der Lage, die Weiterleitung von Schmerzsignalen zu hemmen.

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musikalische Eigenschaften:

Dur dissonant polyphon staccato großer Ambitus akzentuierter Rhythmus dramatisch

Moll konsonant homophon legato kleiner Ambitus melodischer Rhythmus lyrisch

Körperreaktion: Sympathische Tonuslage:

parasympathische Tonuslage:

Blutdruck Atmung Herzfrequenz Hautwiderstand periphere Durchblutung Verdauungsmobilität innere Sekretion (Drüsen) Muskelspannung Pupillen

steigt steigt steigt steigt

fällt fällt

gehemmt steigt weit

fällt fällt fällt fällt

steigt steigt

angeregt fällt eng

Die Musiktherapie bietet darüber hinaus dem Patienten durch eigenes Musizieren die Mög-lichkeit, die Behandlung aktiv mitzugestalten. Für Menschen, deren Leben häufig nur noch vom Schmerz bestimmt wird, bedeutet das wieder ein Stück Selbstbestimmung. Ein weiterer schmerzlindernder Aspekt liegt darin, dass Patienten beim Musizieren negative Gefühle aus-leben können. Da beispielweise Trauer und Angst die Schmerzintensität steigern, schafft eine Verarbeitung dieser Gefühle Erleichterung und verringert dadurch das Leiden (aus: „Hören heute“, Musiktherapeutische Umschau 2002, 304). Zur ergotropen und trophotropen Wirkung von Musik: Nach einer bulgarischen Untersuchung wirkt klassische Musik mit dem Grundschlag 60 pro Min. beruhigend auf Körperrhythmen, löst Tiefenentspannung bei gleichzeitiger geistiger Leistungssteigerung aus. „Der Herzschlag verlangsamte sich um durchschnittlich 5 Schläge pro Min., der Blutdruck sank, wobei die Messung der Gehirnwellen ein ähnliches Bild zeigten wie bei meditierenden Personen“ (trophotrope Wirkung) (Vgl. Elisabeth Haselauer, Berieselungsmusik. Droge und Terror, Wien 1986). Ein Beispiel für ergotrope Musikwirkung gibt Klaus-Ernst Behne in seinem Artikel: Wirkun-gen von Musik (Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 7): in einer Untersuchung aus dem Jahre 1911 wurde bei einem 6-Tage-Rennen festgestellt, dass immer, wenn die Band Musik spielte, die Radfahrer schneller fuhren; die Beschleunigung steigerte sich bis zu 14%. Bei diesen Körperreaktionen sind Emotionalität und Körper nicht voneinander zu trennen; bei der Veränderung des Hautwiderstandes etwa, der sich im berühmten „kalten Schauer“, durch leichtes Schwitzen, feuchte Handflächen, Aufstellen der Haare und ähnlichen zeigt, handelt es sich zugleich immer auch um Indikatoren für emotionale Einflüsse durch Musik. Karajan z.B. zeigte vegetative Körperreaktionen, die stärker waren als bei höchst riskanten Flugmanövern, während des Dirigierens der Leonoren - Ouvertüre Nr. 3 bei Stellen, von de-nen er selbst meinte, dass sie ihn besonders emotional berührten (Liedtke 1985, S. 46). Beim Hören von sehr lauter Musik entstehen Stressphänomene, der Blutdruck kann bis zu 240 Millimeter/Quecksilbersäule steigen, während er normalerweise bei 120 liegt; das geschieht

durch das Antistresshormon

(ACTH), das langsam wieder zur Norm zurückgeführt werden muss. Wenn das nicht geschieht, sind Kreislauf- und Herzüberbelastung die Folge. (Vgl. Michael Schreiber: Musik - Trostspenderin oder Nervensäge. Medi-zin und elektronische Musik aus der Sicht eines Münchner Arztes, Neue Musikzeitung, Oktober/ November 1988, S. 44) Stefan Evers gibt eine Zusammenfassung aller

nachgewiesenen Körperreaktionen beim Musikhören in seinem Aufsatz „Was geschieht bei Musikhören im

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menschlichen Körper? Zur Physiologie des Musikerlebens“ (Musik und Unterricht 7/1991, S.16-18): Körperliche Reaktionen sind stark von der individuellen Disposition des Menschen abhängig. Dennoch kann folgendes grobe Reaktionsschema festgestellt werden: Polyphone Musik in Dur, mit Dissonanzen und Staccato-Klängen, mit großem Tonumfang, akzentuiertem Rhythmus und dramatischem Charakter ruft eine „sympathische Tonuslage“ hervor, bei der Blutdruck, Atem- und Herzschlagfrequenz sowie Muskelspannung steigen, die periphere Durchblutung, die Verdauungstätigkeit und Drüsensekretion abnehmen und sich die Pupillen weiten, während homophone, konsonante Musik in Moll mit legato geführter Melo-diebildung, kleinem Tonumfang, melodischem Rhythmus und lyrischem Charakter eine „pa-rasympathische Tonuslage“ hervorruft, die mit fallendem Blutdruck und Hautwiderstand, geringerer Atem- und Herzschlagfrequenz, abfallendem Muskeltonus, angeregter Drüsen- und Verdauungstätigkeit und Verengung der Pupillen einher geht. Vgl. hierzu auch: Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 94. http://www.immm.hmt-hannover.de/pages/presto0505.pdf Gerhard Harrer (Das Musikerlebnis im Griff des naturwissenschaftlichen Experiments, in : ders. Hrsg.: Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart 1992, 3-54) konnte nachweisen, dass zwischen dem Rhythmus regelmäßiger Klicks und Pulsfrequenz ein von ihm als „Magneteffekt“ bezeichneter Anpassungsprozess entsteht. Lutz Neugebauer (Musik als Dialog – eine Untersuchung zu physiologischen Veränderungen während der Mu-siktherapie, MU 1998, 29-43) konnte bei Versuchspersonen, die miteinander Dialoge impro-visieren hoch signifikante Übereinstimmungen zwischen der Herzfrequenz der beiden Musi-ker und dem Rhythmus der von ihnen gestalteten Musik feststellen. Die Wirkungen der Musik auf das Herz bestehen nach Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005) in entspannender, Blutdruck und Herzfrequenz senken-der Wirkungen, bei der das Herz sich regenerieren kann; beim Gesang kommt noch hinzu, dass es darüber hinaus noch mit mehr Sauerstoff versorgt wird (vgl. 105). Bossinger zeigt auf, dass Singen die Herzratenvariabilität, „die Fähigkeit des Herzens, ... die zeitlichen Abstän-de der Herzschläge kontinuierlich zu verändern,“ zu stabilisieren vermag (ebd.). Bei eigenen Patienten konnte er nachweisen, dass beim Singen verbesserte „Herzkohärenz“ auftritt, ein optimal harmonisches Frequenzspektrum im EKG (ebd. 107-120 ausführlich dargestellt; s. außerdem unter www.herzharmonie.de ). Des weiteren wirkt des Singen positiv auf den Magen, den Darm, die Sexualität, löst Angst und Schmerz, indem die Muskulatur entspannt wird; Singen stärkt das Immunsystem (vgl. 120 ff) und fördert die Ausschüttung von körpereigenen Endorphinen und insbesondere des Hormons Melatonin aus der Zirbeldrüse (u.a. wichtig zur Vermeidung von Schlafstörungen) und des Dehydroepiandrosteron aus der Nebenniere, dessen Mangel bei vielen schweren Er-krankungen festgestellt wird (vgl. 128 ff). Die körperlichen Reaktionen auf Musik stellen sich allerdings nicht automatisch ein; sie kön-nen allerdings nicht verallgemeinert werden. Es gilt kein mechanistisches Verständnis. So kommt etwa Cheryl Dileo Maranto in einer Untersuchung über rezeptive Musiktherapie zum Ergebnis, dass neben den Eigenschaften und Elementen der Musik auch der Vertrautheits-grad, der musikalische Geschmack sowie biographische Erfahrungen und Assoziationen für die Wirkung von Musik verantwortlich sind. Bei der Gestaltung rezeptiver Musikbehand-lungen müssen diese Faktoren neben der Beschaffenheit der gewählten Musik berücksichtigt werden (Applications of music in medicine, in: M. Heal and T. Wigram (Hrsg.) Music Ther-apy in Health and Education, St. Louis 1993, 157).

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Inge Kritzer: Atem und Stimme. Die heilende Kraft der Obertöne in der Musiktherapie mit schwer behinderten Kin-dern (Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, Siegen). www.musiktherapie-sasp.de/material/forum/2.15.pdf

Unabhängig von diesen Faktoren lösen tiefe Frequenzen vibratorische Tonempfindungen im Körper aus. Töne zwischen 40 und 80 Hz im Bauch, Töne zwischen 80 und 130 Hz in der Brust, Töne zwischen 130 und 250 Hz im oberen Brustbereich und Töne zwischen 250 und 500 Hz in der Kehle (Kölner Studien zur Musik in Erziehung und Therapie, Band 5, Köln-Rheinkassel 2001, S. 68). Aufgrund dieser Beobachtungen kann davon ausgegangen werden, dass durch Musik und einzelne Klänge der Schwingungszustand des Körpers sowohl auf der Haut als im Körper verändert wird. Klänge versetzen den Körper in Schwingung. Tony Wigram berichtet in seinem Aufsatz "Die Wirkung von tiefen Tönen und Musik auf den Muskeltonus und die Blutzirkulation" (Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 2/91, 3-12) von britisch - norwegischen Untersuchungen, die ergaben, dass Niederfrequenzklänge mit 30-40 Hz. in Knöcheln und Waden, mit 40-50 Hz in Knien, Schenkeln und Unterleib, mit 50-60 Hz im Bereich des Brustkorbs und mit 60-75 Hz in Kopf und Nacken gespürt werden. Aus diesen Erkenntnissen wurde eine "Vibrations-Akustik-Therapie" (VAT) entwickelt, die krampflösen-de Effekte, Schmerzlinderung, Besserung bei Rheumatismus und verlängerte Schlafdauer her-beiführt. Fallbeispiele belegen, dass Hilfe u.a. bei spastischen Reaktionen, Berufsstress und bei Neurosen eintreten. VAN UHDEN weist darauf hin, dass der ganze Körper als vibratorsicher Rezeptor dient. Da-bei werden

- Töne zwischen 40 und 80 Hz im Bauch, - Töne zwischen 80 und 130 Hz in der Brust, - Töne zwischen 130 und 250 Hz im oberen Brustbereich und - Töne zwischen 250 und 500 Hz in der Kehle empfunden

(zit. n. PRAUSE, Manuela Carmen, Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogi-sche Aspekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter besonderer Berück-sichtigung des angloamerikanischen Forschungsgebiets. In: Kölner Studien zur Musik in Er-ziehung und Therapie, Band 5, Köln-Rheinkassel 2001, S. 68).

Auch die Obertöne der verschiedenen Vokale bringen Zentren im Körper zum Schwingen: Das I schwingt im Kopfbereich Das E im Hals- Das A im Brust- Das O im Bauch- und Das U im Gesäßbereich

Singen führt zur Verbesserung des Atemvolumens, Steigerung der Gedächtnisleistung und des psycho-physischen Gesamtzustandes (Hans Sittner: Musikerziehung zwischen Theorie und Therapie, Wien 1974, 179, Karl Ada-mek: Singen als Lebenshilfe, Münster 1997).

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Im „Readers Digest (Sept 1987, S. 6) wird eine amerikanische Untersuchung zitiert, der zu-folge Opernsänger ein größeres Lungenvolumen und eine effektivere Herzfunktion und eine deutlich höhere Lebenserwartung besitzen. Karl Adamek (Singen als Lebenshilfe, Münster 1996, S. 180 ff) wies in einer empirischen Untersuchung nach, dass „durch Singen temporär die physische Leistungsfähigkeit erhöht“ wird. „Eine körperliche Belastung, die gleichzeitiges Singen nicht ausschließt, kann singend länger ausgehalten werden als nicht singend“ (185). Adamek untersuchte drei verschiedene Gruppen: - die erste Gruppe bestand aus 51 Personen (30 Frauen, 21 Männer) im Alter von 16 bis 60 Jahren

(Durchschn. 35), die einen ersten Testdurchlauf ohne Singen und einen zweiten nach einer halben Stunde Pause singend absolvieren sollte;

- die zweite Gruppe (48 Personen, 25 Frauen, 23 Männer, Alter 16 bis 64, Durchschn. 34) sollte zuerst die Aufgabe singend und nach der Pause nicht singend erledigen;

- eine Kontrollgruppe (52 Personen, 29 Frauen und 23 Männer im Alter von 16 bis 59, Durchschn. 37) bewäl-tigten die Aufgabe ohne Singen, ebenfalls in zwei Abschnitten mit einer halben Stunde Pause dazwischen.

Die Aufgabe bestand für alle darin, an waagerecht seitlich ausgestreckten Armen Gewichte von 500 Gramm so lange wie möglich zu halten. Die erste Gruppe konnte ihre Leistungen allein durch Singen um 132 % steigern, die nicht sin-gende Gruppe lediglich um 73%; die zweite Gruppe erreichte bei ihrem zweiten Durchlauf ohne Singen lediglich nur 56% ihrer zuvor singend erbrachten Leistung. Adamek spricht dem Singen eine

Energie kanalisierende, eine Energie generierende und eine Energie transformierende

Funktion zu. Erstere betrifft das Abreagieren von Spannungen, zweites die Mobilisierung von Körperkräften und drittes die Umwandlung von psychischen Spannungen in Kräfte des Wachstums und der Genesung im musiktherapeutischen Prozess. Die besonders intensiv belebende und/oder entspannende Wirkung des Singens entsteht auf-grund der direkten Verbindung zwischen „Kehlkopfmuskulatur und dem parasympathischen Vagusnerv“; sie bildet „eine ‚Hotline’ zum vegetativen Nervensystem. Weiterhin beeinflussen die beim Singen beteiligten Vorgänge wie Atmung und Muskeltonus direkt vegetative Prozes-se im Gehirn“ (Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 95). Singen von Mantren, Rezitieren und Beten, insbesondere auch das Rosenkranz – Beten akti-vieren Selbstheilungskräfte und befreien von Stress und Verspannungen (vgl. ebd. 97 f). Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005) beschreibt ausführ-lich die Wirkung des Singens auf die Atemtätigkeit:

1. es verlängert den Prozess des Ausatmens, fördert damit die Entgiftung, Entschlackung und Entsäuerung des Körpers,

2. trainiert die Atemmuskulatur und Lungengewebe, 3. löst muskuläre Verkrampfungen und Verspannungen, 4. steigert die Sauerstoffversorgung des gesamten Organismus’, 5. die beim Singen gesteigerte Zwerchfellaktivität stimuliert alle Organfunktionen in der

Bauchregion, 6. die Vokaltöne fördern die Durchblutung in verschiedenen Körperregionen (s.o.: Vo-

kalspirale), 7. das Atemvolumen wird vergrößert 8. das beim Singen entstehende „natürliche Vibrato, welches mit einer Frequenz von 4 –

7 Schwingungen pro Minute schwingt“ erzeugt vermehrtes Auftreten von sehr lang-

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samen Gehirnwellen (4 – 8 Hertz), welche die Kommunikation mit der rechten Ge-hirnhälfte verbessern und so die Lern- und Erinnerungsfähigkeit sowie assoziatives und kreatives Denken erhöhen (vgl. 100 f).

Rittner, Sabine hat in ihrem Aufsatz „Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in

der Musiktherapie (MU 2008, 201-220) die Ergebnisse von Forschungen über die Wirksam-keit des Singens in der folgenden Liste zusammengestellt (215 f. Hervorhebungen H.K.):

- „Singen intensiviert die Körperinnenwahrnehmung »durch die Vibrationen in den Hohlräumen des Skeletts und durch die Schwingungen der Körperflüssigkei-ten« (Cramer 1998, S. 201).

- Singen steigert die Endorphinproduktion (Endorphine sind körpereigene Opiate, die schmerzstillend und stimmungsaufhellend wirken).

- Singen stimuliert die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin (es lässt Menschen friedfertiger, vertrauensvoller und liebevoller bezogen sein).

- Die Resonanzen von Vokalen (und auch von Strömungskonsonanten wie »sss« oder »mmm«) lösen Durchblutungsverbesserungen in ganz bestimmten Kör-perregionen aus.

- Singen kann überschüssige Magensäure reduzieren und die Durchblutung der Magenschleimhaut verbessern (vgl. Bossinger 2007, 5.148f).

- Singen stimuliert das Knochensystem und unterstützt die Beweglichkeit der Gelenke (vgl. Cramer 1998, S.201).

- Durch die Atemintensivierung und verstärkte Zwerchfellaktivität wird eine Stimulation sämtlicher Organfunktionen in der Bauchregion angeregt und die Verdauung reguliert.

- Singen weckt physische Kraftreserven (vgl. Adamek 1999). Früher halfen dazu die Arbeitslieder. (Hier ist allerdings auch an aggressionssteigernde Kampflieder zu denken.)

- Singen verbessert die Herzratenvariabilität (ein wichtiger Indikator für die Ge-sundheit des Herzens). Speziell das wiederholte Rezitieren von tradierten Laut-formeln, gesungenen Gebeten oder einigen spezifischen Mantras kann die At-mung auf 6 Schwingungen pro Minute einschwingen. Hierdurch wird ein Reso-nanzeffekt mit endogenen Rhythmen des Blutdrucks und des Herzschlages aus-gelöst, der durch Rückkoppelungseffekte harmonische, regenerierende Pulsatio-nen herbeiführt (Herzkohärenz) (vgl. Bossinger 2007, S.130f).

- Singen stärkt das Immunsystem. Beck, der diese Zusammenhänge an der University of California erforschte, fand bei Chorsängern eine Steigerung der Immunglobulins A auf bis zu 240% des Ausgangswertes. Er entdeckte auch Zu-sammenhänge zur inneren Beteiligung der Sänger: »Je leidenschaftlicher und hingebungsvoller die innere emotionale Beteiligung beim Singen, umso stärker ist die heilende Wirkung« (in: Bossinger 2007, 5.157f).

- Aktive Sänger (z.B. Opernsänger) und Menschen, die viel und lustvoll singen, sind gesünder und leben länger als der Durchschnitt der Bevölkerung (L.O. Bygren et al in: Bossinger 2007, S. 132)“.

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Die enge Verbindung zwischen Musik und unbewussten psycho-physischen Vorgängen nutzen Werbestrategen in großem Stil. In Bild der Wissenschaft 11/2001 wird von einem Versuch berichtet , durch den Psychologen der Universität Leicester nachweisen, wie wir beim Einkaufen unbewussten Abläufen zum Opfer fallen. Sie „ließen in einem Supermarkt jeden zweiten Tag französische Akkordeon-Weisen erklingen – prompt wurde dreimal mehr französischer wein als deutscher verkauft. An den anderen Tagen beschallten sie den Laden mit bayerischer Blasmusik – schon griff die Kundschaft verstärkt zu Flaschen aus Deutsch-land“ (72). Isabelle Frohne-Hagemann (Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001) hebt die enge Ver-bindung des Musikerlebens mit der Leiblichkeit hervor. „Der ganze Leib“, der wir sind, (nicht, den wir haben) sei „als totales Sinnesorgan“ bei der Wahrnehmung aktiv. Wir sind Leib, der im „Wahrnehmen und Empfinden von Tonverhältnissen und Tonbewegungen“ mit-schwingt (266 f). Barbara Haselauer schreibt in ihrem Aufsatz „Leise rieselt der Beat“ (Zeitschr. d. Östrr. Be-rufsverb. d. Mthp.3/88, 21-27): „Wir beobachten, dass Menschen ihre gerade statthabende Be-findlichkeit durch Musikwahl noch verstärken. In ruhigen, weichen, träumerischen Situatio-nen wählen die Leute auch entsprechende ruhige, weiche Musik. Umgekehrt lässt ein hekti-scher Mensch im Auto, das ohnehin schon vibriert, aus dem Autoradio Musik in einem Tem-po dröhnen, das geeignet ist, die Körperrhythmen auf ihre doppelte Frequenz zu treiben, statt sie herabzusetzen. Es besteht also eine Tendenz, Lebenslagen zu perpetuieren - grundsätzlich und daher auch vermittels Musik. Schweizer Forscher um Milo Puhan von der Universität Zürich und Otto Brändi von der Züri-cher Höhenklinik Wald weisen in einer Studie nach, „dass das Spielen des australischen Did-geridoo krankhaftes Schnarchen mildern kann. Teilnehmer an der Studie, die über vier Monate das Didgeridoo spielten, waren danach „tagsüber deutlich wacher und schliefen nachts besser.“ Brändi erklärt sich den Effekt folgendermaßen: „Bei krankhaften Schnarchern sind die Muskeln, die die oberen Atemwege offen halten, schwächer ausgebildet. Und genau diese Muskeln werden durch die spezielle Atemtechnik beim Spielen des Didgeridoos stark beansprucht und intensiv trainiert“ („Bild der Wissenschaft“, 3/2006, 11).

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4.8 Anmerkungen zur emotionalen Wirkung von Musik

Spintge und Droh (Musik-Medizin, Stuttgart 1992) weisen darauf hin, dass insbesondere im Limbischen System lokalisierbare Neuronen - Schaltkreise angelegt sind, durch die von allen Menschen "anscheinend gleich" verschiedene Emotionen wie Angst, Wut, Liebe, Freude, Neid, Trauer, Eifersucht, schlechtes Gewissen etc. erlebt werden (S. 22) - sogenannte „neuro-physiologische patterns.“ Impulse des nervus acusticus beeinflussen direkt die im Limbischen System "lokalisierten emotional aktivierenden Strukturen." (S. 20) Klaus-Ernst Behne (Wirkungen von Musik, Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 4 - 9) ist der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß Kinder im Alter von 11 bis 17 Jahren „über Strategien verfügen, Musik kompensatorisch, etwa zur Bewältigung unangenehmer Stimmun-gen und Gefühle einzusetzen.“ Sie sollten angeben, welche Art von Musik sie wählen würden, wenn sie von einem guten Freund bzw. einer guten Freundin enttäuscht worden seien und nun stinksauer seien. Das Ergebnis zeigt, dass Kinder in einer solchen Situation entweder Musik einsetzen, um sich mit ihr zu trösten, oder um in ihre Rachegefühle auszuleben. Zu ersterem neigen eher die Mädchen, zu letzterem eher die Knaben. Aufgrund von Leitfadeninterviews mit 21 Personen und einer repräsentativen teilstandardi-sierten Telefonbefragung von 150 Personen kommen H. Schramm und P. Vorderer (Musik-präferenzen im Alltag. Ein Vergleich zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, in: Müller, R. u.a. (Hrsg.): Jugend, Musik und Medien. Weinheim und München, in Vorb.) zu folgenden Er-gebnissen:

- Ein Drittel der Befragten geben an, bei Wut und Ärger keine Musik hören zu wollen; darunter sind keine Jugendlichen

- Jugendliche benutzen bei Wut und Ärger primär aggressive Musik, wie Heavy Metal, um sich abzureagieren

- Bei Freude, Ruhe und Gelassenheit wird stimmungskongruente Musik gewählt („Iso-Prinzip“)

- Bei Trauer, Melancholie, Wut oder Ärger (auch bei monotoner Hausarbeit) wird kon-trastierende Musik nach dem Kompensationsprinzip gewählt, beispielsweise beruhi-gende Musik in Zuständen des Ärgers (überwiegend ältere Personen)

- Bei Trauer und Melancholie wählen 50% der Befragten nach dem Kompensationsprin-zip lieber fröhliche, aktivierende Musik,

- während die andere Hälfte traurige Musik hört. Ein Drittel dieser Personen gibt an, dass die Musik ihnen helfe, die Trauerarbeit zu intensivieren und somit zu verkürzen. Frauen sind bei dieser Gruppe stärker vertreten

- Ältere Personen greifen bei Melancholie und Trauer eher zu fröhlicher Musik - Jugendliche hören dann vorzugsweise traurige Musik, um die Trauer zu intensivieren,

einige, um sie zu kompensieren. - Musikalische Fähigkeiten scheinen bei diesen emotional motivierten Musikpräferen-

zen kaum eine Rolle zu spielen (Musiktherapeutische Umschau 2002, 271 ff.) Diese Beziehungen zwischen emotionalem Erleben und Musikwahl korrespondieren mit Ge-setzmäßigkeiten bei musikalischen Tagträumereien (Melodien, die einem im Alltagsleben un-vermittelt und unwillkürlich in den sinn kommen, auf deren tiefenpsychologische Bedeutung übrigens bereits C. G. Jung 1907 hinwies). Herma Petri-Wolde kommt in ihrer Dissertation „Wesen und Erscheinungsformen musikalischer Tagträumereien“ aus dem Jahre1958, 164 ff, zu dem Ergebnis dass uns Menschen in bestimmten Stimmungslagen „unbeabsichtigt“ und scheinbar ohne ersichtlichen Grund Melodien - in 80 % der Fälle Melodien mit Text - einfal-len. Jedoch produzieren wir diese Melodien nicht immer richtig in Tempo und Tonlage son-

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dern, je nach Gestimmtheit, zu schnell oder zu langsam, zu hoch oder zu tief. Petri-Wolde hat bei ihren Versuchspersonen herausgefunden, dass die Melodieproduktionen stets einen positi-ven Effekt auf die Stimmungslage haben; bei positiver Ausgangsstimmung bewirke die Melo-dieproduktion gleichbleibende oder gesteigerte positive Stimmung, bei negativer Stimmung Aufhellung. Dabei würden den Personen, wenn sie traurig sind, entweder traurige Melodien einfallen, die kathartisch entlasten, oder es fallen ihnen beschwingte Melodien ein, die sie aber zu tief und/oder zu langsam, also „stimmungsaffin“ produzieren. Im weiteren Verlauf würden sie das Tempo beschleunigen und die Tonlage anheben, wobei es zur Stimmungsaufhellung komme. Solche psychodynamische Selbststeuerungsmechanismen können musiktherapeutisch genutzt werden, wenn Liedauswahl sowie Tempo und Lage von den Patienten selbst bestimmt wer-den, wobei der Therapeut nur insoweit behutsam begleitend mitwirkt, dass der Gesang über-haupt zustande kommt. In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Berufsmusiker Kompositionen so interpretieren können, dass Zuhörer die jeweils auszudrückenden Gefühle wie z.B. Freude, Trauer, Ärger und Feierlichkeit weitgehend identifizieren können. Mergl, Piesbergen und Tunner (Musikalisch - improvisatorischer Ausdruck und Erkennen von Gefühlsqualitäten, in Behne u.a. Hrsg. Jahrbuch der Musikpsychologie 13, 1998, S. 69-81) konnten in einer Studie mit 20 Gymnasialschülern im Alter von 17 bis 20 Jahren sowie mit 74 Studierenden und Be-diensteten einer Behörde nachweisen, dass auch musikalische Laien in spontanen Improvisati-onen auf Xylophonen die Grundgefühle Wut, Trauer und Freude ausdrücken und als Zuhörer erkennen können. Eine ähnliche Untersuchung führten Cordelia Volland und Gabriele Hofmann mit Erwachse-nen sowie Kindern mit und ohne psychischer Behinderung anhand der Gefühle Freude, Trauer und Wut durch. Dabei zeigte sich unter anderen, dass Kinder, insbesondere auch diejenigen mit psychischer Behinderung Darstellungen von Gefühle besser erkennen können als Erwach-sene (Darstellung und Erkennen des emotionalen Ausdrucks in musikalischen Improvisatio-nen bei Kindern und Erwachsenen, Musiktherapeutische Umschau 2003, 205-214) Das allgemein menschliche Vermögen, mittels Musik Gefühle zu kommunizieren zu können, führt Klaus Ernst Behne auf das Phänomen der Geste zurück; bestimmten Gefühlen entspre-chen bestimmte Körpergesten, z. B. Handbewegungen, die in den Bewegungen der Klänge wiedererkannt werden. Anhand von Handzeichnungen zu bestimmten Gefühlen konnte Behne diesen Zusammenhang auch kulturübergreifend nachweisen (Musik - Kommunikation oder Geste?, Musikpädagogische Forschung 1982, S. 125-145). Jaak Panksepp und Günther Bernatzky (Emotional sounds and the brain; the neuro-affective foundations of musical appreciation, Behavioural Process 60 / 2002, 133-155) berichten von einer Untersuchung der Stimmungsveränderung bei 16 Studenten im Alter von 19 bis 23 durch Musik, die von ihnen als traurig oder fröhlich eingeschätzt wurde. An vier Messzeit-punkten der insgesamt vierzigminütigen Musik-Sitzungen sollten die Versuchspersonen auf einem siebenstufigen Selbsteinschätzungsbogen ihre jeweiligen Gefühlslage in Bezug auf Trauer, Freude, Ärger und Angst angeben. Als musikalischer Stimulus diente die zufällige Auswahl aus Titeln, die die Studierenden selbst zu den Sitzungen mitbrachten (hauptsächlich populäre amerikanische Titel der frühen 1990er Jahre. Wie zu erwarten hellten sich verstärkten sich die Gefühle von Freude und Trauer nach dem zehnminütigen Anhören der jeweiligen Musik signifikant. Im Verlauf der folgenden 20 Minuten, während derer die Versuchsperso-nen Sachen aufschreiben konnten, die ihnen in den Sinn kamen und während derer sie nach jeweils zehn Minuten erneut ihre Stimmungslage angaben, pendelten sich die Gefühle wieder im Bereich der Ausgangslage ein. Ärger und Angst waren nach dem Anhören der Musik deut-

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lich reduziert, stiegen anschließend wieder an, blieben aber unter dem Ausgangniveau (vgl. 144-146). Harm Willms führte Befragungen bei psychiatrischen Patienten durch, in welchem Umfang Gefühle wie Freude, Trauer, Wut, Angst, Neugier, Überraschung, Verachtung, Mitleid, Ekel, Schuldgefühle und Scham musikalisch ausgedrückt werden können. Es ergaben sich keinerlei Unterschiede zwischen dem Ausdruck von Gefühlen in der Improvisationsgruppe und den Ge-fühlen, die beim Hören von Musik empfunden wurden. Darüber hinaus zeigten die Ergebnisse aber eine sehr signifikante Beschränkung des Gefühlsausdrucks durch Musik auf die Gefühle von Freude, Trauer und Wut. In einem geringen Maße gab es auch einen musikalischen Bezug zu Angst und Überraschung. Bei diesen Gefühlen handelt es sich um diejenigen, die während der symbiotischen Entwicklungsphase, also in der 4. bis 26. Lebenswoche der Entwicklung des Menschen, erscheinen und in dieser Zeit bestimmend sind. Auf diesem Hintergrund er-klärt er beispielhaft soziopsychologische Phänomene wie z.B. die Beeinflussung interperso-neller Beziehungen im Sinne von Nähe und Distanz (Ist Musik die Sprache der Gefühle? Mu-sik, Tanz und Kunst-Therapie 2004, 113-119). Karl Adamek bezeichnet in diesem Zusammenhang Singen als die Möglichkeit zur Bewälti-gung von emotionalen Spannungen und schwierigen Lebenssituationen und Lebenslagen. Da-bei spielt es keine Rolle, ob der betreffende Mensch Lieder singt oder nur „intonisiert“, d.h. Töne und Tonfolgen frei hörbar oder auch im Stillen vor sich hinsingt. Allerdings hängt es sehr von den musikalischen Vorerfahrungen ab, ob und in welchem Maße der Mensch diese Möglichkeit der emotionalen Regulation nutzen kann: Die„Formel des individuellen, durch Intonisation (Singen) erreichbaren Bewältigungspotenti-als“ macht das Zusammenspiel der dabei wirksamen Faktoren deutlich: (Singen als Lebenshilfe, Münster 1996) GL + B + K + L

Bi = ( ) X (H + W + Ref + Bef) 1 + S Trauma

Bi Bewältigungspotential erste Klammer: Elemente der Ontogenese GL Die Erfahrung der Gestaltungsmöglichkeit durch Lautgebärden im Säuglingsalter B Intensität und Häufigkeit des frühkindlichen Singens mit der Mutter oder einer anderen

Bezugsperson K Intensität und Häufigkeit von vergangenen und aktuellen Erlebnissen in der persön-

lichen Lerngeschichte, in denen durch Singen kritische Lebenssituationen bewältigt wurden

L Summe der Intensität und Häufigkeit aller vergangenen und aktuellen positiven Erlebnisse mit dem eigenen Singen in der persönlichen Lerngeschichte, die über B und K hinausgehen S Trauma Traumatische Verletzungen in Bezug auf das Singen in der persönlichen Lebens- geschichte zweite Klammer: Elemente der Aktualgenese H aktuelle physiologische Hörfähigkeit W aktueller Grad der erlernten Ausschöpfung der Fähigkeit zur Wahrnehmung Ref aktueller Grad der erlernten Ausschöpfung der Fähigkeit zur Reflexion Bef aktuelle physische und psychische Befindlichkeit

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4.9 Kulturspezifische Aspekte des Musikerlebens

Ruth Bright (Cultural aspects of Music Therapy, Springfield 1993) spielte Hörproben aus Eu-ropa und Asien verschiedenen Gruppen von kaukasischen Testpersonen vor: Studenten, Ar-beitern und alten Menschen. Sie kam zu folgenden Ergebnissen: Vertraute Musikstücke wurden von den Testpersonen ähnlich wie von den Komponisten be-absichtigt aufgefasst, War die Musik unvertraut, wurde sie weniger differenziert beurteilt als vertraute Musik, Viele Teilnehmer, vor allem die Schüler, erkannten in unvertrauter Musik keine Ausdrucks-qualität und hielten sie für dumm und bedeutungslos, In einem Fall hielten die meisten Hörer eine Musik für traurig, die in ihrem Herkunftsland als fröhlich gilt, Warum auch immer: Schüler sind deutlich weniger bereit, in asiatischer Musik einen Stim-mungsausdruck wahrzunehmen als Erwachsene (vgl. June Boyce Tilman: Constructing Musi-cal Healing. The Wounds that Sing, London 2000, 226).

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4.10 Wahrnehmungspsychologische Aspekte des Musikerlebens

Paul Hindemith weist auf die besondere Beschaffenheit des Ohres hin: „Das Auge und das Tastgefühl können Größenverhältnisse und Mengen nur aufgrund der Erinnerung und des Vergleichens mit anderen Größen annähernd genau abschätzen. Auch das Gefühl für die zeit-liche Ausdehnung erlaubt uns nur Urteile von ungefährer Treffsicherheit. Das Ohr hingegen erweist sich als das einzige Sinnesorgan, das die Fähigkeit besitzt, Abmessungen und Propor-tionen mit unfehlbarer Zuverlässigkeit zu erkennen und zu beurteilen.“ ( Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940, S. 40) Zu diesem Phänomen siehe auch das Kapitel „Das Ohr rechnet“ in: J.E. Berendt: Das dritte Ohr, Reinbek 1985 Auf das Hören als kreativen, schöpferischen Vorgang weist Werner Pütz in seinem Aufsatz „Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit“ (Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 49/1989, S. 20-25) hin. Hören als „höchst aktive und individuelle Tätigkeit“ ist „von Anfang an bereits als interpretierender Akt zu verstehen“; „aus der Fülle der uns umgebenden Geräu-sche und Klänge wählt unser Ohr“ aus. „Der Mensch hört nicht etwas, das von außen auf ihn eindringt, sondern er schafft aktiv und individuell das, was er hört als ein Zusammenspiel in ihm liegender Fähigkeiten mit einem äußeren akustischen Angebot“. Das Ohr nimmt eine kre-ative Rolle „als ein Informationen suchendes Wesen“ ein. Wie Musik unser unbewusstes Handeln beeinflusst, konnten Psychologen der Universität Lei-cester zeigen: Sie „ließen in einem Supermarkt jeden zweiten Tag französische Akkordeon-Klänge erklingen – prompt wurde dreimal mehr französischer Wein als deutscher verkauft. An den anderen Tagen beschallten sie den Laden mit bayerischer Blasmusik – schon griff die Kundschaft zu Flaschen aus Deutschland“ (Bild der Wissenschaft 11/2001, 72). Jörg Harries führt in seinem Aufsatz „Musikerleben als Herausforderung“ (in: Hermann J. Kaiser (Hrsg.): Musikalische Erfahrung, Essen 1992, S. 66-82) diesen Gedanken weiter: Mu-sik sei, wie wir sie wahrnehmen, unsere Erfindung und für diese Wahrnehmung seien wir selbst verantwortlich. „Alle Antworten auf die Frage ‘was ist Hören?’ müssen unvollständig bleiben und führen immer zu neuen Fragen. Eine kognitionspsychologische Beschreibung des Hörvorgangs verdeckt eher, dass das Phänomen des Hörens letztlich ein Geheimnis bleibt (so wie das Leben)“. Es gehe nicht nur um die Art des Musikerlebens, sondern immer auch gleichzeitig um die Lebensmethode und das Selbstkonzept, das der musikalischen Erfah-rung und „ihrer Art und Weise der Wahrnehmung zugrunde liegende Selbstkonzept“ also den „Erlebenden selbst.“(72,73)

O.G. Wittgenstein zitiert in seinem Aufsatz „Kunst - Therapie und Kunst – Therapeuten“ (Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 1/89, 10-14) Martin Buber, der 3 Arten der Wahr-nehmung kennzeichnet:

1. Wahrnehmen als Beobachter = katalogisch 2. Wahrnehmen als Betrachter = analogisch... mit "schwebender Aufmerksamkeit"

(Freud) 3. Wahrnehmen als "Innewerden" = dialogisch... "wenn mir ein Mensch begegnet,

der mir etwas sagt." Kunst sei von ihrem Ursprung her wesenhaft dialogisch: "alle Musik ruft einem Ohr, das nicht das eigene des Musikers, alle Bildnerei gilt einem Auge, das nicht das eigene des Bildners ist. Sie alle sagen dem Empfangenden etwas, was eben nur in dieser Sprache sagbar ist, - nicht ein Gefühl, sondern ein wahrgenommenes Geheimnis." (S. 12)

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4.11 Anmerkungen zum Thema „Musikerleben als Zeiterleben“

„Musikzeit ist eine intensiv erlebte Zeit“; die Wirksamkeit von Musik besteht darin, „dass sie in das Zeitgefühl und in das Zeitbewusstsein des Menschen eingreift und es durchgreifend modelliert...ein musikalischer Prozess ist eine Art Zeitreise, die ihr eigenes Tempo, die Phasen der Beschleunigung und Beruhigung, Anfang und Ende hat.“ Reinhard Schneider knüpft in seinem Aufsatz „Musikzeit“ (Musik und Unterricht, Heft 14, 1992, S. 4-11) an diese Kennzeichnung der Musikerfahrung als Zeiterfahrung den Hinweis auf die enge Beziehung zwischen Musik und den elementaren Grunderfahrungen des Lebens an: „Da der spezifische Umgang mit der Zeit - die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Messung und Planung von Zeit, die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, des Lebens und des Todes ein Hauptmerkmal der menschlichen Existenz ist, kommt einer Kunst..., deren Inhalt die Zeit ist, eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Frage nach der zeit-lichen Seinsweise der Musik lässt sich nicht trennen von der Frage nach der Seinsweise des Menschen.“ Für Wickel erschließt sich Musik „als Zeitkunst“ und als „gestaltete Zeit“ in ihrer „Ganzheit, indem Vergangenes, also bereits Verklungenes, Gegenwärtigen, also gerade Ertönendes und noch zu Erwartendes, aber bereits innerlich Vorgehörtes zusammensetzt. „Ein einmal erklun-gener Ton verschwindet unwiederbringlich im Medium Luft, eine musikalische Gestaltung bleibt damit streng genommen einmalig und unwiederholbar, sie löst sich auf in der Zeit (Mu-sikpädagogik in der Sozialen Arbeit, Münster 1998, 141). Wenn man bedenkt, dass die Zeitdauer, die vom Kurzzeitgedächtnis noch als psychologische Gegenwart erlebt wird, etwa drei Sekunden beträgt (vgl. David Aldridge: „Leben als Jazz“ (in: Haase, Ulrike und Stolz, Antje (Hrsg.) Improvisation – Therapie – Leben, Crossen 2005, 482) bezugnehmend auf: Gerstner, G. & Goldberg, L., 1994: Evidence of a time constant associ-ated with movement patterns in six mammalian species. In: Ethnology and Sociobiology 15, 181-205). „Das Leben bedeutet auf den Tod zuzugehen also sterben. So gibt es immer gegenläufiges, immer Spannung, immer beides: die Zeit aufhalten und das Verrinnen der Zeit. So geht es auch in der Musik um beides. Um trennen, also strukturieren, und verschmelzen, also wieder-vereinen. Musik ist geordnete Zeit. Und gemeinsam musizieren (oder Musik hören, H.K.) be-deutet, an der gemeinsamen Zeit teilzunehmen, die gemeinsame Einteilung von Zeit zu akzep-tieren, die gleiche Identität anzunehmen“ (Willms s.u. S. 161). Harm Willms hat in seiner Arbeit „Umgang mit der Zeit und musikalisches Verhalten bei Zwangsneurotiker“ (in: Klaus-Ernst Behne (Hg.): Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Regensburg 1991, S. 157-166) die Zeiterfahrung in der Musik auf musiktherapeutische Prob-lemstellungen angewandt. Eine eigene Zeiteinteilung zu haben sei Ausdruck des autonomen Selbst (Individuation); „in gleicher Zeit etwas zu erleben, das Eintauchen in die gleiche Zeit, bedeutet Vereinigung und nähert sich dem Zustand vor dem Bewusstsein von Zeit.“ (Ver-schmelzung/Auflösung)

Nach Martin Drewer (Gestalt, Ästhetik, Musiktherapie, Münster 2000) hat Musik mit „öko-logischer Zirkularität“ zu tun, weil „Prozesse der Durchdringung von Gegensätzen ... gerade-zu als eines ihrer Grundmerkmale angesehen werden können. ... Im Leben, in der Evolution, im Ästhetischen ist häufig der Umweg die in Wahrheit kürzeste Verbindung. In der Therapie versucht man heute zumeist, ein Ziel zu avisieren, um es sodann auf dem effizientesten Weg schnell zu erreichen. Das Schema der Gravitation, des technischen Zeitalters, modellhaft dafür

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unser Verkehrswesen: Die schnellste Verbindung zwischen Hamburg und Berlin sind eine ge-rade Autobahn, ein Flugzeug oder die Hochgeschwindigkeitstrasse. Hätte der Weg noch Er-lebniswert, so reichte eine einfache Landstraße. Entscheidend ist aber nicht mehr wie wir ir-gendwohin gelangen, sondern wie schnell. Zeit, heute nicht mehr zirkulär begriffen, ist da-durch knapp geworden. Weder die biologische und die menschliche Evolution noch die Sozialgeschichte scheint der-gestalt verlaufen zu sein; auch in der Musik bestimmt nicht der Wunsch, zu einer schnellen Lösung zu gelangen. Verläufe werden gedehnt, Auflösungen verzögert und verschoben, Um-wege verstärken die Spannung und erzeugen so erst die Sehnsucht nach ihrer Entladung. Vom Standpunkt eines konservativen Unternehmers wäre das pure Verschwendung“ (108 f). Bei Luis Zett heißt es: „Was gibt uns der Rhythmus? Ist es das Gefühl des Versichert seins – versichert gegen die dumpfe Angst, wir könnten aus der Welt herausfallen, aus der Ordnung von Raum und Zeit ins konturlose, haltlose Chaos? Oder ist Rhythmus ganz einfach ein biologischer oder überhaupt stofflicher Grundfaktor? Auch eine Zelle hat ja ihren Lebensrhythmus, auch ein Elektron schwingt im Takt. Was sagt uns der Mythos? Schon am Beginn der Genesis schied Gott Tag und Nacht, instal-lierte den Wechsel, die Wiederkehr, das Gleiche, das niemals gleich ist, denn es ist jedes Mal ein anderer Tag und eine andere Nacht. (stimmen, einstimmen, übereinstimmen, unv. Ms. 2003, 54)

Alle Musikalischen Parameter1 Klangfarbe, Tonhöhe, Melodie (als Abfolge verschiedener Tonhöhen) und Harmonie (als gleichzeitiges Erklingen verschiedener Tonhöhen) stellen

Quantensprünge des Rhythmus dar, und Rhythmus selbst ist strukturierte Zeit.

Elemen-tarteil-chen

Atome Moleküle Ober-töne Klang-farbe

Ton-höhe

Rhyth-mus

Form Lebens-rhythmen Atem, Puls, Zeiteintei-lung, Ent-wicklungs-phasen, etc

Kosmische Rhythmen, Tag und Nacht, Jah-reszeiten, Planeten-phasen etc

Mikrorhythmen in der Materie

MUSIK

Makrorhythmen in der

Materie David Aldridge hebt hervor, dass sich Musik besonders hinsichtlich ihrer rhythmischen Qua-lität „als wirkungsvolles und dabei subtiles Kommunikationsmittel“ darstellt, das sich „iso-morph“ zum Lebensprozess verhält Aufsatz „Leben als Jazz“ (in: Haase, Ulrike und Stolz, Antje (Hrsg.) Improvisation – Therapie – Leben, Crossen 2005, 473-487). „Beim Zuhören bewegen wir uns synchron zu der Artikulationsstruktur des Sprechenden.“

1 Musikalische Parameter: die Eigenschaftsmerkmale der Musik Klangfarbe, Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke

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„Jeder synchronisiert die Rhythmen erst für sich, dann geht der Zuhörer auf die rhythmische Struktur des Sprechenden, Singenden bzw. Spielenden ein“ (478). Die Klänge, welche während der pränatalen Entwicklung „durch den mütterlichen Herzschlag und ihre Schritte vermittelt werden,“ dienen entscheidend „zur Konditionierung der Wahr-nehmung von Rhythmen.“ (...) Dabei handelt es sich nicht nur um „eine strukturelle Eigen-schaft des Gehirns, sondern um einen Ausdruck dafür, wie wir mit unserer Umgebung inter-agieren.“ Diese Erfahrungen von Periodizität bilden sind die Grundlagen jeglicher Art von Kommuni-kation. Das wir besonders bei der Arbeit mit Menschen im Koma deutlich, die zu verbaler Kommunikation nicht fähig sind. Dennoch sind Verstehensprozesse Möglich. Ihr Schlüssel ist die Periodizität der Vitalrhythmen Puls und Atmung. Sie bieten den Ausgangspunkt für die Musik des Therapeuten. So kommt es zu gemeinsamen Bewegungsmustern die nicht nur eine gemeinsame Hirnaktivität darstellen sondern gleichzeitig „eine Interaktion zwischen Person und ihrer Umgebung.“ Maschinengeräusche können einen solchen Kontext nicht herstellen, „in dem sich Menschen als gegenwärtig erleben und ihre Bewegungen dadurch koordinieren. Indem man mit dem Pa-tienten singt oder musiziert, erhält man eine Zeitstruktur, die einen solchen Kontext bietet“ (482). Darüber hinaus sind alle „grundlegenden Elemente menschlicher Kommunikation (...) musi-kalischer Natur. Physiologische, psychologische und soziale Aktivitäten finden in einem zeit-lichen Kontext statt, der dynamisch und von musikalischer Struktur ist. Menschliche Aktivitä-ten sind grundlegend als Hierarchie rhythmischer Anpassungsprozesse organisiert, und zwar innerhalb des Individuums als Selbstsynchronisation und in Beziehungen als interaktionale Synchronisation.“ Beim „Zusammenbruch der Synchronisation des Verhaltens tritt das Pathologische hervor“ (484). Demzufolge kann man annehmen, dass eine Therapie mit improvisierter Musik (...) ein wirksames Mittel darstellt, um Kommunikation im Sinne einer personellen und interpersonel-len Integration zu fördern. Es könnten alternative, kreative Dialoge innerhalb der einzelnen Person gefördert werden, damit sie nicht von sich selbst oder von anderen Personen entfrem-det werden. Zudem sollten Kliniker unabhängig davon, aus welchem Fachbereich sie kom-men, dazu angeregt werden, den musikalischen Komponenten der Kommunikation Beachtung zu schenken. Auf diesem Wege könnten die Künste wie auch die Wissenschaft die medizini-sche Praxis bereichern“ (485). „Eine kreativ gestaltende Musiktherapie bietet die Möglichkeit, auf dynamische Weise das In-dividuum als ganzheitliches Selbst, auch in Beziehung zu einer anderen Person zu hören. Wir können hören, wie die Person in ihrem Dasein zutage tritt, indem er oder sie eine Beziehung in der Zeit aufbaut. Durch die Musiktherapie erhalten die beteiligten Personen außerdem die Möglichkeit, sich konkret in der Zeit zu erfahren; sie hören, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Selbst im Sein. Wenn das überleben des Menschen bestimmt wird von dem Repertoire an flexiblen Re-aktionen, um innere Bedürfnisse und äußere Anforderungen zu bewältigen, dann wird viel-leicht beim musikalischen Improvisieren auf akustischem Weg Kreativität vermittelt, mit der eine Person diese Anforderungen bewältigt. Vielleicht kann man Krankheit als einen Zustand beschreiben, bei dem die Person in ihren Möglichkeiten eingeschränkt ist, kreativ zu improvisieren (d.h. neue Lösungen für ein Prob-lem zu entwickeln) oder nur ein begrenztes Repertoire an Bewältigungsformen besteht. Durch die Förderung der Entwicklung von kreativen Reaktionsformen ließen sich dann die Möglichkeiten für eine Genesung schaffen“ (485).

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In ihrem Aufsatz über „die Zerdehnung des seelischen Augenblicks und den zerdehnten Musik-Augenblick am Beispiel psychosomatischer Patienten“ (in: BVM (Berufsverband der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland) Hrsg. Jahrbuch Musiktherapie, Wiesbaden 2006, 101-117) kennzeichnet Shushanik Sukiasyan das seelische Befinden des Patienten als „eingeengten Zustand, in dem er nur seine Probleme wahrnimmt“ (105). Diesen Augenblick müsse man „zerdehnen“, wodurch ihm „eine andere Sichtweise auf seine Proble-me und sein Leiden“ eröffnet werden kann (106). Die Musik kann in diesem Zusammenhang als Zerdehnung des Augenblicks verstanden werden, was die Autorin an der „Analyse des Me-lodischen“ veranschaulicht: Im Moment hört man immer nur einen Ton. Indem man ihn aber mit den jeweils folgenden in einen sinnvollen Zusammenhang bringt, wird es möglich, die ganze Melodie als Gegenwart zu empfinden. Das lässt sich auch auf die Erfahrung des forma-len Geschehens übertragen: Formteile oder Motive werden wiedererkannt und fügen sich im Erleben des Hörers zu übergeordneten Strukturen zusammen, deren sinnvolle Eingliederung in die sich vollendende Gesamtgestalt der Hörer erwartet. Auf diese Weise kann sich die sub-jektiv erlebte Gegenwart des Musikerlebenden weit in Vergangenheit und Zukunft hinausdeh-nen, so dass mit dem veränderten Zeitempfinden auch veränderte Bewusstseinszustände mög-lich sind. .Die Patienten können, so folgert Shushanik Sukiasyan, „in der musikalischen Improvisation der Musiktherapie eine unmittelbare Möglichkeit der Zerdehnung des seelischen Augenblicks erleben“ (111). Gleichzeitig bringt die musikalische Improvisation „das Typische der Lebensmethode“ hervor und ermöglicht durch den Prozess der Zerdehnung, der im musikalischen Augenblick ge-schieht, „dass die in dieser Lebensmethode kristallisierten Stockungen und Probleme einen breiteren Ausdruck bekommen. Dadurch hat der Patient die Möglichkeit während der Impro-visation sowohl die problematischen Formenbildungen als auch Lösungschancen (...) gleich-zeitig in der Gegenwart wahrzunehmen, zu benennen und sich damit auseinander zu setzen“ (112).

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4.12 Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens

Viele Autoren verbinden frühste Klang- und Musikerlebnisse des Menschen mit der Erfah-rung von Angst und ihrer Bewältigung. Harm Willms weist auf die Besonderheit hin, in der der Säugling Geräusche im Gegensatz zu anderen Reizen erlebt: „Bei optischen Reizen kann er die Augen schließen, bei taktilen Reizen ist es ihm nach wenigen Tagen bereits möglich, sich zu entziehen. Dem Geräusch gegenüber besteht jedoch eine gewisse Wehrlosigkeit, die als Ausgeliefertsein oder ausgesetzt Sein erlebt werden muss. So kommt es zu einer frühen Verbindung zwischen dieser präverbalen akustischen Erfahrung, dem Geräusch, und einer als bedrohlich erlebten Außenwelt. Etwas später macht der Säugling auch noch andere akustische Erfahrungen, die angenehmer sind: die beruhigende Stimme und das Singen der Mutter. Das Kind erkennt die Stimme der Mutter wieder und wirkt durch die konstante Zuwendung beru-higt. Das Wiedererkennen bedeutet außerdem ein Lusterlebnis da es möglicherweise entstan-dene Angst wegen des Nichtvorhandenseins der Mutter wieder löst.“ (Harm Willms: Musik-therapie bei psychotischen Erkrankungen, Stuttgart 1975, S. 25 ff.) Umgekehrt schreit der Säugling bei Erfahrungen von Unlust und lernt bald, dass sein Schreien die Mutter herbeiruft, die ihn füttert und trocken legt usw.. Er macht die Erfahrung, dass er mit Hilfe seiner eigenen klanglichen Äußerung die bedrohliche klangliche Außenwelt beeinflußt, prägt, verändert und mit diesem akustischen Eingriff in die ihn umgebenden Klangwelt seine Lebensumstände verändert (die Mutter kommt herbei und wendet sich ihm zu).

Insofern kann man auch sagen, dass der Schmerz die „ursprüngliche Quelle der Musik“ sei (Dezsö Mosonyi, Die irrationalen Grundlagen der Musik, in: IMAGO, S. 21, Leipzig 1935, S. 207), denn im Schmerz werde die Musik als wirksame Kraft erlebt, indem sie ihn einzuordnen versucht in einem größeren Sinnzusammenhang. So z.B. nimmt der Klagegesang „den erleb-ten Schmerz auf und bindet ihn ein in die im Gesang körperlich nah vergegenwärtigte Erfah-rung des Geordneten, Guten und Sinnhaften, beruft sich auf sie und hält an ihr fest.“ (Frieder Harz: Musik, Kind und Glaube, Stuttgart 1982, S. 73)

Für Sigmund Freud ging es bei der „Verbindung der Hörsphäre mit der Angst“ um die Angst „vor dem Über-Ich, vor den Stimmen der magisch-allmächtigen Eltern.“ Feuerbach schrieb 1851: „Das Ohr ist das Organ der Angst...hätte der Mensch nur Augen, Hände, Geschmacks- und Geruchssinn, dann hätte er keine Religion, denn all jene Sinnesorgane sind Organe der Kritik und des Skeptizismus. Und Luther sagte: In der Kirche Gottes wird nichts verlangt au-ßer hören - wir denken auch an gehorsam, gehorchen und Hörigkeit. Sowohl Luther wie Beet-hoven litten an quälendem Ohrensausen.“ (Felix de Mendelssohn: Von der Musik der Psy-choanalyse zur Psychoanalyse der Musik, Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 3/1989, S. 20-40). De Mendelssohn hat beobachtet, dass auditive Patienten (insbesondere Frauen), die schreckhaft auf Geräusche reagieren, gleichfalls hohe Sensitivität für autoritäres Vatergehabe zeigten. (S. 32) Er weist auch auf die zwiespältige Erfahrung beim kindlichen Spracherwerb hin; auf der einen Seite sei die Erfahrung, dass das Kind an der sprachlichen Verständigung teilhaben kann, mit Befriedigung verbunden; gleichzeitig enthalte sie aber auch den Schmerz darüber, dass die ur-sprüngliche Übereinstimmung mit der Mutter im frühkindlichen Zustand der Symbiose vor und jenseits aller sprachlichen Verständigungsbemühungen verloren gegangen ist.

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Projektion (Wir „legen etwas in die Musik hinein“; die Musik wird zur Projektionsfläche,

auf der sich innerpsychisches Geschehen abbildet)

Identifikation (wir erleben die musikalischen

Prozesse, als wären sie unsere eigenen seelischen

Bewegungen)

Regression (im Dienste des Ich)

(wir gehen auf frühere

Erlebnisweisen und

Gefühlszustände zurück;

Phantasietätigkeit, Tagträumerei)

Boris Luban-Plozza bringt in seinem Buch „Musik und Psyche“, Basel 1988 folgendes Zitat von C.G. Jung:

„Das eröffnet eine ganz neue Forschungsrichtung, von der ich mir nie hätte träumen lassen. Das, was Sie mir heute gezeigt haben...lässt mich fühlen, dass Musik von jetzt an ein wesentlicher Bestandteil einer jeden Analyse sein müßte. Sie gelangt zu tiefem archetypischem Material, zu dem wir in unserer analytischen Arbeit mit Patienten nur selten gelangen.“ (S. 154)

Nach Claudia Schumann (Musiktherapie und Psychoanalyse, Freiburg 1982) sind musikali-sche Erfahrungen „mit Erlebnissen oder Erinnerungen aus meist sehr frühen Stadien der indi-viduellen Entwicklung“ verknüpft. Insofern hat die Musik „für jeden einzelnen, der sie hört oder ausübt, eine ganz individuelle Bedeutung.“ (S. 31) Nach Stanislav Grof (Das Abenteuer der Selbstendeckung, München 1987) kann das Musikerleben alte Emotionen mobilisieren, Erfahrungen intensivieren und vertiefen und psychische Abwehrmechanismen durchbrechen. (S. 224) Friedrich Klausmeier (Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, Reinbek 1978) nennt als psychische Aktivitäten, die beim Musikhören wirksam werden: die Projektion und die Identi-fikation; bei der Projektion legen wir etwas in die Musik herein, die Musik wird zu einer Pro-jektionsfläche, auf der sich psychisches Geschehen abbildet, als wäre es außerhalb des Hörers; bei der Identifikation erlebt der Hörer sich, bzw. Teile von sich in der Musik wieder, er er-lebt musikalische Prozesse, als wären sie seine eigenen seelischen Bewegungen. Beide psy-chischen Aktivitäten, die Projektion und die Identifikation vollziehen sich im Zustand der

Regression im Dienste des Ich, bei der der Hörer auf frühere Erlebnisweisen und Gefühlszustände zurückgeht, Phantasietätigkeit und Tag-träumerei. (S. 231) Überhaupt kann Musikhören mit der Traumtätigkeit verglichen werden. Das legen auch Untersuchungen von Träumen nahe, in denen

Musik als Trauminhalt auftaucht (vgl. Harrer, Gerhard Hrsg. Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart 1992). Dann träumen die Versuchspersonen von ihr als sol-cher, „nicht aber –wie man annehmen würde- in verschlüsselter, symbolhafter Form. Die Mu-sik wird also ohne die sonst übliche Übersetzung in die Traumsprache direkt in den Traumin-halt übernommen. Die Erfahrung, dass gerade die zum Teil aus primitiven Kulturkreisen stammende Musik, ohne das Tor des Verstandes passieren zu müssen, sozusagen direkten Eingang in die für die Steuerung der Emotionen und vegetativen Vorgänge verantwortlichen Hirnstrukturen findet“ (32), belegt nicht nur die zuvor ausgeführten neurophysiologischen Vorgänge, sondern lässt die besondere Bedeutung der Musikerfahrung für tiefenpsychologi-sche Prozesse aufscheinen. Wenn man dem energetischen Modell Freuds folgend beim seelischen Geschehen zwischen Primärprozessen (Prozessen des Unbewussten) und Sekundärprozessen (bewusste Prozesse) ausgeht, stellt man fest, dass Musik „einzigartig mit der psychischen Energie“ korrespondiert. Klausmeier (1984) hat die Prozesse des Musikerlebens mit den neun Gesetzen, die Freud für

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ES - Funktion (Vitalität, Sexualität) drückt sich im

Rhythmus aus (Ausagieren motorischer Impulsivität).

Ich - Funktion (Verstand, Wille) drückt sich in der

Melodie aus (die Freude spendende Fähigkeit, selbst Klänge hervorzubringen und sie geordnet wahrzunehmen).

Über - Ich - Funktion (Moral) drückt sich in der

Harmonie aus (im „richtigen“ Zusammenklang verschiedener Klänge, nach den Regeln der ästhetischen Konvention oder dem bewußten Verstoß gegen diese).

den seelischen Primärprozess festgestellt hat, verglichen und dabei viele Übereinstimmungen entdeckt. Zunächst verläuft die primärseelische Logik wie „alle Musik in der Zeit als Energie-strom ab und korrespondiert damit einzigartig mit der psychischen Energie“ (123). Die neun Gesetze im einzelnen können folgendermaßen auch im musikalischen Geschehen wiederer-kannt werden:

1. Gegenstände können stellvertretend füreinander stehen. 2. Musik ist (im Gegensatz zur Sprache) präsentative Symbolik. 3. Sie existiert nur in der Gegenwart. 4. Es gibt keinen Ausdruck von Abwesenheit und Negation 5. Es gibt keine Konditionalia oder einschränkende Negationen 6. Ob etwas positiv oder negativ gemeint ist, ergibt sich nur aus dem Zusammenhang. 7. Es kann mehreres gleichzeitig geschehen. 8. Gegensätze können friedlich nebeneinander stehen. 9. In Teilen zeigt sich das Prinzip das Ganzen (Verdichtung)

(vgl. Friedrich Klausmeier; Der psychische Primärprozess und die musikalische Interpretation, Musiktherapeutische Umschau 1984, 115-129).

Nach Heinz Kohut ist das Musikerleben mit den psychischen Funktionen Es, Ich und Über-Ich verbunden, indem Musik sinnliche Lust verschafft, insbesondere in der Rhythmuserfahrung, die mit Sexualität in Beziehung steht (Es-Funktion); in Beziehung zum Ich steht das Musikerleben insofern, als es eine Freude spendende Form des Beherrschens beinhaltet, insbesondere in der Melodiebildung. (Überwindung von Geräuschangst durch die Fähigkeit, selbst Klänge hervorzubringen und geordnet wahrzunehmen); die Beziehung zur

Über-Ich-Funktion vollzieht sich in der Unterwerfung unter eine Reihe ästhetischer Regeln (Harmonielehre) oder auch in kreativem Umgang mit ihnen (Rebellion), wodurch der Musiker ein Gefühl von Befriedigung und Sicherheit erhält, „das verwandt ist mit der moralischen Befriedi-gung, recht gehandelt zu haben“ (Heinz Kohut: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse,

Frankfurt/M. 1977, S. 218 - 243). Rainer Dollase (Musikpräferenzen und Musikgeschmack Jugendlicher. In: Dieter Baake (Hrsg.) Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998) erläutert die Entstehung von Musikprä-ferenzen als Ergebnis tiefenpsychologischer Prozesse im Spannungsfeld zwischen Es, Ich und Über-Ich. Musik wird als „Ersatzbefriedigung der Triebe in der Phantasie“ bezeichnet, wobei der Musiker oder Produzent seine Triebproblematik in musikalische Symbole verschlüsselt und sich dadurch von seinem Es-Über-Ich-Konflikt befreit. Der Zuhörer wiederum entschlüs-selt diese musikalischen Symbole und erlebt dabei eine ähnliche Ersatzbefriedigung wie der Musiker (347 f). Arbeiten über psychoanalytisches Verständnis von Musik beziehen sich nach Bernd Oberhoff (Psychoanalyse und Musik. Eine Bestandsaufnahme, Gießen 2002) in der Zeit von 1910 bis 1950 auf die sexuelle Triebdynamik, von 1950 bis 1975 auf die Bewältigungsmechanismen

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des Ichs und in der Zeit danach auf die präverbalen Prozesse der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. Ludger Kowal-Summek, Musiktherapeutische Umschau 2003, 403). Wiesmüller, Edith weist in ihrem Aufsatz „Zum Umgang mit den Begriffen Übergangsobjekte und Objektbesetzungen in der Musiktherapie“ (Musiktherapeutische Umschau, 2005, 39-49) auf die Bedeutung und musiktherapeutische Relevanz von Objektbeziehungen hin. Anhand von Übergangsobjekten und Objektbesetzungen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und anhand von Therapiebeispielen beschrieben: „Im musiktherapeutischen Prozess sollte die Therapeutin wissen, ob es sich bei Musik und beim Instrument um ein Übergangsobjekt oder um ‚bloße’ Objektbesetzung handelt:

- Das Übergangsobjekt ist durch den intermediären Raum gekennzeichnet. Diese Sphä-re, die von der Therapeutin respektiert und geschützt wird, erlaubt der Patientin ein Regredieren auf eine frühkindliche Ebene. Das an Regression gebundene Übergangs-objekt tritt nur in solchen Zuständen in Erscheinung. Die Objektbeziehung muss nicht an Regression gebunden sein und kann sämtliche Entwicklungsstufen mit ihren jewei-ligen Objektbeziehungen repräsentieren.

- Das Übergangsobjekt darf seitens der Patientin im musiktherapeutischen Geschehen von der Therapeutin und den Gruppenteilnehmern meist nicht verwendet (gespielt) werden. Bei Objektbesetzungen dürfen seitens der Patientin andere die Musik und das Instrument verwenden und verändern.

- Das Übergangobjekt hat Anfang und Ende. Es verliert im Laufe des Therapieprozesses an Bedeutung. Die Objektbesetzung ist dynamisch und kann innerhalb des Therapie-prozesses ‚kommen und gehen’“ (49).

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4.13 Lerntheoretische Aspekte des Musikerlebens

Beim klassischen Konditionieren Musik, die in unerfreulichen Situationen gehört wurde, wird negativ bewertet. Musik, die in erfreulichen Situationen gehört wurde, wird positiv bewertet Beim operanten Konditionieren wirkt die Anerkennung von Gleichaltrigen für den Kauf einer bestimmten Platte oder den Besuch eines „richtigen“ Konzerts als Verstärkung Rainer Dollase: Musikpräferenzen und Musikgeschmack Jugendlicher. In: Dieter Baake (Hrsg.) Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998, 349

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4.14 Anmerkungen zur sozialen Dimension des Musikerlebens

Wenn man bedenkt, dass "die Reaktionsstärke des menschlichen Organismus auf akustische Reize erheblich größer als die auf optische und taktile Berührungsreize" ist, dass "die Hörzel-len schon auf Reizenergien, die rund 10 Millionen mal kleiner sind als die beim Berühren," reagieren, wenn man berücksichtigt, dass schon der Embryo "spezifische Reaktionen auf akus-tische Reize" zeigt, sich also "gegenüber dem, was die Mutter hört oder spricht - kurz, wie sie sich akustisch - kommunikativ verhält - nicht neutral verhält," und dass "das entscheidende pränatale Erlebnis Mutter ein akustisch - rhythmisches" ist, "erlebt im rhythmischen Wiegen des Ganges, im rhythmischen Auf und Ab der geräuschvollen Atmung und im rhythmischen Schlag des Herzens," so kann zusammengefasst werden, dass es vor allem auch das Medium Schall ist, welches dem Individuum jene ersten - und wohl intensivsten - passiven wie aktiven Kommunikationserfahrungen ermöglicht, die die Herausbildung eines sozialen Selbstver-ständnisses entscheidend prägen. (Hermann Rauhe, Bilden - Helfen - Heilen. Zur anthropolo-gischen Begründung und Ausrichtung eines ausgewogenen Musikunterrichts für alle Stufen der allgemeinbildenden Schule, in: Musik und Bildung, Heft 1/1978, S. 4) Jene sozialen Urerfahrungen des ausgesetzt Seins, des Auf-sich-aufmerksam-machen-Könnens und des angenommen Werdens sind soziale und zugleich akustische Erfahrungen. Später tritt die Sprache in die Sozial- und Kommunikationserfahrung hinein; sie wirkt wie ein Riß zwischen Mutter und Kind, der in Musikerfahrung symbolisch für kurze Zeit gekittet zu werden scheint. Sprache wirkt wie ein "zweischneidiges Schwert - einerseits werden durch das Verhandeln von Bedeutungen zwischen Eltern und Kind die Gefühle von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit bereichert, andererseits verliert das Kind seine Ganzheit, indem es spürt, dass seine vorsprachlichen Erfahrungen nicht durchgängig in Sprache übersetzbar sind." In der Musikerfahrung ist dieser „Riß in unserem Dasein“, wenn auch nur für kurze Zeit, gekit-tet. Die Musik als vor- und außersprachliches Geschehen, "als Gefühlsausdruck von gelebter Zeit, von Lebzeit," verbindet uns auf dieser ursprünglichen Ebene des Gleichklangs und Gleichschwingens mit der Mutter; indem sie jedoch verklingt, "kann sie uns Trauer und Schmerz nicht ersparen, Trauer und Schmerz die uns nicht sprachlos machen dürfen." Deshalb erfordert musikalisches Erleben immer wieder die sprachliche Vergewisserung. (Felix de Mendelssohn, Von der Musik der Psychoanalyse zur Psychoanalyse der Musik, in: Zeitschr. d. Östrr. Berufsverb. d. Mthp. 3/1989, 27 f. und 38) Musikalisches Geschehen ist immer auch ein soziales Ereignis. Das hängt schon damit zu-sammen, dass Klänge in der Lage sind, Räume zu überschreiten und die Ohren und den Kör-per von anderen Menschen als Vibration zu erreichen, sei es gewollt oder ungewollt. Musiker-leben ist auch immer mit sozialen Gesellungsformen verknüpft. Wir formieren uns zu einer hörenden Gemeinschaft oder einem singenden Chor, oder einem spielenden Orchester oder einer Improvisationsrunde. Jede Musik hat ihre speziellen Versammlungs- und Gesellungs-formen. Heiner Gembris („Wie der Flügelschlag eines Engels“ -Anmerkungen aus der Musikpsycho-logie, Musiktherapeutische Umschau, 28, 3 (2007), S. 201-204) beschreibt die besondere Ver-bundenheit, die bei Menschen entsteht, die miteinander Musik erleben, folgendermaßen: „Die musikalische Zeit, die ich mit anderen verbringe, ist geteilte Zeit. Der musikalische Raum wird in der Musik zum gemeinsamen Raum. Für die Dauer dieser geteilten Zeit ist das, was uns im Alltag voneinander trennt, aufgehoben. Im gemeinsamen Singen oder Musi-zieren, aber auch im Musikhören erleben wir die Abwesenheit von Missverständnissen, die

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(A. Anshel & D.A. Kipper: The influence of group singing on trust and cooperation, Journ. Of music therapy 3/88, 145-155

Film Betrachten Gedicht Rezitieren Musik Hören Singen

„Vertrauen“

„Kooperation“

Soziale Wirkungen desMusikerlebens

uns voneinander trennen und das Miteinander im Alltag oft erschweren. Die Musik, die wir hören oder die wir selbst erzeugen, führt zu einer Synchronisierung mit anderen Menschen. Sie bewirkt eine gemeinsame Fokussierung der Aufmerksamkeit. Sie lenkt die Kognitionen und kanalisiert die Gedanken in die gleiche Richtung. Die Ausdrucksmotorik derer, die singen oder musizieren oder auch nur Musik hören, wird synchronisiert. Das emotionale Er-leben fokussiert sich auf den gleichen Gegenstand, dieselben Inhalte und Themen. Die Musik erzeugt Gefühle und Emotionen, die wir teilen. Und als Mitfühlende sind wir einander nahe. Wenn wir uns aber nahe sind, können wir nicht einander Feind sein. So hat Musik auch friedensstiftendes Element. Das gemeinsame Singen ist auch Ausdruck gemeinsamer Identität und Orientierung. Auf diese Weise vermittelt Musik uns Sicherheit, wir erleben Geborgenheit in der Musik. Die gemeinsam erlebte oder musizierte Musik wird so zur Brücke zum anderen Menschen, den wir auf andere Weise vielleicht nicht erreichen könnten. Das ist auch der Grund, warum Mu-sik in der Therapie ein einzigartiges, bei manchen Krankheitsbildern sogar das letzte und ein-zige Kommunikationsmittel sein kann, das eine Verbindung zu anderen schafft, und zwar ge-rade dann, wenn alle anderen Möglichkeiten der Kommunikation nicht mehr funktionieren. Klaus-Ernst Behne berichtet über eine israelische Studie, der zufolge Versuchspersonen "ei-ne Stunde lang in sehr verschiedene Situationen gebracht wurden: einmal wurde gemeinsam gesungen (Musik/Aktivität), ein andermal wurden gemeinsam Gedichte rezitiert (nicht Mu-sik/Aktivität), in einer dritten Situation wurde Musik vom Band gehört (Musik/Passivität) und in der letzten Gruppe wurde gemeinsam ein Film betrachtet (nicht Musik/Passivität). Nach diesen unterschiedlichen Erfahrungen sollten die Teilnehmer, die sich vorher noch nicht kann-ten, den Grad des Vertrauens zu ihrem Nachbarn in einem Fragebogen angeben und danach in dem berühmten Gefangenendilemma-Spiel demonstrieren, zu wieviel Kooperation sie bereit wären.

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Den Versuchspersonen war nicht bewusst, dass „Vertrauen“ und „Kooperationsbereitschaft“ die relevanten Aspekte in dieser Studie waren, und ihnen war auch nicht bewusst, dass sie sich jeweils in einer von vier unterschiedlichen Situationen kennengelernt hatten. Die Ergebnisse zeigen ganz eindeutig, dass ein musikalischer Kontext (Singen oder Hören) uns dazu veran-laßt, mehr Vertrauen zu einem Nachbarn zu haben als in einer nicht musikalischen Situation, dass hingegen Aktivität (Singen oder Rezitation) die Bereitschaft zur Kooperation erhöht. Ins-gesamt ergaben sich für die beiden Aspekte beim Singen in der Gruppe die höchsten Werte (Klaus-Ernst Behne, Wirkungen von Musik, in: Musik und Unterricht, Heft 18/1993, S. 7 f.). Rittner, Sabine berichtet, dass Singen die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin stimuliert, das „Menschen friedfertiger, vertrauensvoller und liebevoller bezogen sein“ lässt“ (in: „Der Wirkfaktor Stimme in der Psychotherapie / in der Musiktherapie (2008, MU, 29, 215). Außerdem verbinde Singen in Gemeinschaft die Menschen untereinander und wirke „krankma-chender Vereinsamung entgegen“ (ebd. 216). Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005) weist darauf hin, dass bei erfolgreich miteinander kommunizierenden Menschen die Frequenzspektren ihrer Stimmen einander annähern, „wir schwingen uns also auf ‚gleiche Wellenlänge’ ein. Sobald wir kommunizieren und ganz besonders beim gemeinsamen Singen, tendieren sowohl unsere physiologischen Zustände durch wechselseitige ‚organismische Resonanz’1, als auch unsere Frequenzspektren dazu, sich zu synchronisieren“ (34). Außerdem kommt es zur Synchronisie-rung „von gemeinsamen Atemmustern über synchronisierte Herzfrequenzen und Blutdruck-schwankungen bis zur Synchronisation und Harmonisierung neuronaler Netzwerke in unseren Gehirnen.“ Deshalb kann geschlossen werden, „dass Gesang ein ideales Mittel zur Schaffung sozialer Verbundenheit darstellt und er kann sogar eine Resonanz auf der Ebene biologischer Körperrhythmen bewirken“ (35). In der Säuglingsforschung spricht man von hochwirksamen „Bindungs-Duetten“ zwischen Müttern und Kindern, die auch im Tierreich beobachtet werden können (ebd. 35 f). Bossinger berichtet über einige Studien, die belegen, „dass Singen in Chören und Gruppen Gefühle der Verbundenheit und Gemeinschaft stärken kann und sogar teilweise therapeutische Effekte hat“ (65). Besonders eindrucksvoll der Bericht über den Chor der Wohnsitzlosen („Homeless-Choir“), gegründet1996 in Montreal, Kanada. Er „ging ursprünglich zurück auf die Initiative eines jungen Mannes, der als Helfer in einer Suppenküche für Wohnungslose mitarbeitete. Die Idee hierzu bekam der junge Mann und spätere Chorleiter, als er sich an sei-ne eigene Zeit im Chor erinnerte – an seine damaligen Gefühle der Freude und Zufriedenheit. Er erhoffte sich ähnliche Auswirkungen auf die Wohnsitzlosen.“ Später heißt es in der wis-senschaftlichen Begleitstudie zu dem Projekt: „Viele der wohnsitzlosen Chorsänger litten an emotionalen Problemen, Alkoholismus und/oder Drogenabhängigkeit, diskfunktionalen Be-ziehungen und unglücklichen Lebensumständen. einige zeigten Verhaltensweisen, die konsi-stent mit Symptomen von depressiven, manisch-depressiven und schizophrenen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen waren. Einige von ihnen hatten viele Jahre auf der Straße gelebt. Diese Männer waren soziale Außenseiter, die wenig Hoffnung hatten, jemals ein produktives und erfülltes Leben zu führen“ (74). Die Interview der Teilnehmer des Chores ergab:

1 Sabine Rittner (im Lexikon Musiktherapie (Hrsg. Decker-Voigt et al Göttingen 1996) S. 359-368) beschreibt un-willkürliche wechselseitige neuromuskuläre Übertragungsvorgänge zwischen Gesprächspartnern, von denen der gesamte Organismus betroffen ist, weil der Nervus Vagus und über ihn das gesamte vegetative Nervensystem mit der Kehlkopfmuskulatur verbunden ist.

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1. aktive Teilnahme am Gruppensingen verringert depressive Stimmungen und fördert emotionale und körperliche Gesundheit;

2. Die Wechselwirkung zwischen dem Chor und dem Publikum scheint den Chorsängern sowohl ein Gefühl von persönlicher Bestätigung zu geben, wie auch ein Milieu zu schaffen, in welchem die Kluft überbrückt werden kann, die sie von den normalöen Netzwerken getrennt hat;

3. Der Chor bietet den Chormitgliedern eine familiäre Atmosphäre, in der sie ein ange-messenes interpersonelles Verhalten entwickeln können, welches wiederum das Errei-chen von Gruppenzielen ermöglicht und

4. Die Konzentration, welche erforderlich ist, um der Repertoire zu erlernen und auszu-führen, fungiert als ein Stimulus für geistige Beschäftigung. Während dieser Zeiten ist die Aufmerksamkeit abgelenkt von störenden internalen Gedankenreflektionen und kann helfen, emotional ausgeglichenere Gedankenprozesse zu etablieren“ (75).

Michael Grossbach und Eckart Altenmüller (Musik und Emotion – zu Wirkung und Wirkort von Musik, in: Tillmann Bendikowski u.a. (Hrsg.): Die Macht der Töne. Musik als Mittel po-litischer Identitätsbildung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, 13-22) erinnern daran, dass Menschen die miteinander musizieren, „ein starkes Gefühl der zumindest vorübergehenden Verbundenheit“ empfinden, „das oft als auf einer anderen Ebene lokalisiert oder intensiver wahrgenommen wird als alltägliche Interaktionen mit Mitmenschen. Die Wirkung beispielsweise von Marschliedern wird dem Umstand zugeschrieben, dass, wer singt, keine Zeit zum Nachdenken hat, also keine Angst davor bekommen kann, was ihm möglicherweise im Feld erwartet – ein ähnliches Phänomen wie bei dem pfeifenden einsamen Spaziergänger, der im Wald von der Dunkelheit überrascht wurde-; die Synchronizität der marschierenden Mitkämpfer unterstreicht möglicherweise beim Individuum den Eindruck des einheitlichen Handelns und stärkt so das Gefühl der Geborgenheit in der Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel. Letzteres spielt wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle bei den Stadiongesängen von Fußballfans, die allerdings je nach aktueller Spielsituation zwischen Unterstützung des Vereins, Beschimp-fungen der gegnerischen Mannschaft und Spielkommentierungen wechseln (vgl. R. Kopiez / G. Brink: Fußballfangesänge. Eine Fanomenologie, Würzburg 1998). Die Synchronisierung der gemeinsamen Arbeit, wie z.B. des Straßenbaus, war Ziel der ‚chain-gang’-songs der Ge-fangenen in nordamerikanischen Gefängnissen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Bei politischen Liedern kann zunächst eine Meinungsbeeinflussung vermutet werden, also Schaffung einer Stimmungskongruenz einander persönlich häufig unbekannter politisch Ähn-lichdenkender. Einen noch stärker manipulativen Charakter haben Nationalhymnen, die gera-de in Kriegszeiten die Loyalität gegenüber den Herrschenden sowie die Opferbereitschaft er-höhen sollen, sowohl bei der Zivilbevölkerung als auch bei der kämpfenden Truppe“ (17). Die Autoren vermuten auch, dass sich die genetische Verankerung der Fähigkeit, und „erhöhte Bereitschaft zum gemeinsamen Singen (Grunzen, Schreien etc.) bei den Frühmenschenvor-teilhaft auf die Überlebenskraft und kulturelle Entwicklung der Frühmenschen ausgewirkt hat. „Auf diese Weise wird eine anstrengende, häufig monotone und manchmal sogar gefährliche Tätigkeit erleichtert durch emotionale Aufhellung und verstärktes Zusammengehörigkeitsge-fühl. Letzteres führt wiederum zu einer Selbstbelohnung“ (18). Hans Günther Bastian weist in einer 1999 veröffentlichten Studie nach, dass Kinder, die aus Schulklassen mit Musikgruppen (Chor oder Orchestergruppen) sozialer eingestellt sind als Kinder ohne solche besondere Förderung (Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64 f). Die Studie selbst hat den Titel: Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berli-ner Grundschulen, Mainz 2000.

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Eine ähnliche Langzeitstudie ist in der Schweiz durchgeführt worden und unter dem Titel Patry, Jean-Luc u.a. (Hrsg): Musik mach Schule. Bericht an den Schweizer Nationalfonds ü-ber den Schulversuch „ Bessere Bildung durch mehr Musik“, Freiburg/CH, 1993. Beide Studien werden ausführlich diskutiert in dem Sammelband Gembris, Heiner u.a. (Hrsg.) Macht Musik wirklich klüger? Musikalisches Lernen und Transfereffekte, Augsburg 2001. Transfereffekte zwischen Musik und sozialem Verhalten sind nicht leicht sicher nachzuwei-sen. An ihrem Zustandekommen sind immer viele Faktoren beteiligt, die nicht nur ausschließ-lich etwas mit Musik zu tun haben, wie etwa die Einstellung und das Verhalten der Lehrer, die Situation im Elternhaus etc.

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In seiner frühen Entwicklung stellt der Mensch unterschiedliche Beziehungsqualitäten im Kontakt mit sich selbst, den ihn umgebenden Dingen und mit seinen Bezugspersonen her. In Anlehnung an Daniel N. Stern hat Karin Schumacher in ihrer Arbeit mit autistischen Kin-dern 6 Modi der Beziehung beschrieben, mit deren Hilfe sie die Entwicklung des behandelten Kindes und den Fortgang der Musiktherapie einschätzt (Musiktherapie und Säuglingsfor-schung, Frankfurt am Main 1999, 249 f). Musiktherapeuten verwenden diese Modi auch als Diagnose- und Evaluationsinstrument für jede Musiktherapie: Einschätzung der Beziehungsqualität aus Sicht des Kindes: Modus 0 Ich ohne mich Kontaktlosigkeit Modus 1 Ich bemerke etwas Kontakt-Reaktion Modus 2 Ich verwende Personen oder Instrumente

für meine Bedürfnisse Funktional-sensorischer Kontakt

Modus 3 Ich höre mich und bemerke, dass ich der Urheber des Spiels bin

Kontakt zu sich

Modus 4 Ich höre mich und will wissen, ob der An-dere mein Spiel wahrnimmt

Kontakt zum Anderen

Modus 5 Ich höre dich und mich Beziehung zum Ande-ren

Modus 6 Ich höre uns und freue mich über das ge-meinsame Spiel

Begegnung

s. Folie: Beziehungsqualität in der Musiktherapie

Einschätzung der Beziehungsqualität aus Sicht des Therapeuten: Modus 0 Du bemerkst mich und meine Angebote nicht. Kontaktlosigkeit Modus 1 Du bemerkst etwas. Kontakt-Reaktion Modus 2 Du verwendest mich wie einen Gegenstand und die

Instrumente als wären sie ein Teil deiner selbst. Funktional-sensorischer Kontakt

Modus 3 Du hörst dir zu, und ich achte darauf, dass du be-merkst, dass du der Urheber des Spiels bist.

Kontakt zu sich

Modus 4 Ich verfolge mit großer Aufmerksamkeit dein Spiel und zeige die meine Anteilnahme.

Kontakt zum Anderen

Modus 5 Ich spiele mit dir und du mit mir. Beziehung zum Ande-ren

Modus 6 Wir erfreuen uns am gemeinsamen Spiel, wir spie-len zusammen.

Begegnung

Hans-Helmut Decker-Voigt (Schulen der Musiktherapie, München 2001) sieht in diesen ent-wicklungspsychologischen Erkenntnissen Begründungen dafür, warum Musik als nonverbales Medium auf besondere Weise heilsam wirken kann: „Die Erfahrungsstufen des Säuglings in der Entwicklung vom auftauchenden Selbst zum verbalen Selbst und synchron im Bereich seiner Bezogenheit zur Mutter und anderen Bezugspersonen, bedeuten das Erlernen von Kompetenzen und Ausprägen erster Potentiale im auditiven, elementar-musikalischen Bereich (...), die wir bereits mit in diese Welt aus der des Uterus bringen, über weitestgehend mediale Ebenen des Fühlens, Hörens, Bewegens, Sehens, Lautlallens, Singens, aktiv wie rezeptiv. Un-

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sere lebenslange Dialogfähigkeit mit uns selbst und anderen haben wir im Uterus und in frü-her Kindheit im prä- und elementar musikalischen Ein- und Ausdruck disponiert, und diese Disposition ist Basis für sämtliche verbalen und nonverbalen Kompetenzen des gesamten Lebens, bis es uns verlässt“ (31) (Hervorhebung H.K.). In Interaktionszusammenhängen betrachtet, lassen sich nach Wolfgang Mahns (Das Musik-konzept in der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, 1984, 295-305) vier übergeordnete Funktionen für Musik benennen:

1. Musik dient der Abkapselung von der Umwelt. (Funktion der Einhüllung) Beispiel: Lallmonologe des Säuglings, der – sich selbst einhüllend – sich in den Schlaf singt.

2. Musik dient der Verdoppelung des eigenen Selbst. (Funktion der Selbstverdoppelung). Indem ich auf meinem Instrument spiele, verschaffe ich mir ein Gegenüber, werde zu zwei „Personen“: Körper-Ich und musikalischer Symbolausdruck. (...)

3. Musik dient der symbolischen Berührung mit den anderen Menschen. (Kontaktfunkti-on) Im Singen oder Spielen eines Tons berühre ich einen anderen Menschen, sofern dieser anwesend ist. Auf symbolischer Ebene findet Berührung statt (...)

4. Musik dient der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. (Funktion der Auseinan-dersetzung) Durch die Erforschung der äußeren Natur der Gegenstände erfahren Men-schen ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen (301).

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4.15 Anmerkungen zur Ästhetik des Musikerlebens

Alexander Gottlieb Baumgarten (1717-1762) gilt als Begründer der deutschen wissenschaft-lichen Ästhetik. Neben Logik (Erkenntnislehre; was ist Wahrheit? Was ist richtig, was ist falsch?) und Ethik (Morallehre; was ist gut, was ist böse?) als Lehre von der sinnlichen Er-kenntnis (was ist schön, was ist hässlich?) gilt sie als eine der drei Fundamentaldisziplinen der Philosophie. Im Laufe der Geschichte wurde Ästhetik zur „Lehre vom Schönen“ verkürzt und lediglich auf die Bewertung künstlerischer Produkte bezogen. Die Phänomene des Ästheti-schen hingegen sind wie denken und wollen als Empfindung von schönem und hässlichem im gesamten Leben des Menschen gegenwärtig. Sie betreffen nicht nur die Kunst. „Das Ästheti-sche stellt einen festen Bestandteil des gesamten Lebens dar“; es ist „integraler Bestandteil“ der Entwicklung der Menschheit wie des einzelnen Menschen. Es gehört zur Grundausstat-tung der Gattung Mensch; so wie er denken und erkennen, so wie er sich sozial entwickeln kann, so vermag er seine „immateriellen Emotionen und Phantasien“ in Symbolen zu kodifi-zieren (Martin Drewer, Gestalt, Ästhetik, Musiktherapie, Münster 2000, 80 ff). Das sind nicht nur Bilder, Musikstücke etc., das ist auch die je spezielle Art, wie der Mensch sich wohnlich einrichtet, kleidet etc. (Alltagsästhetik). In diesen Symbolen kommen auch Utopien zum Aus-druck; das Ästhetische transzendiert die bloße Zweckdienlichkeit. Drewer charakterisiert das Ästhetische auch als „Suchbewegung“ zwischen Chaos und Ord-nung, was besonders in den musikalischen „Polaritäten von Konsonanz und Dissonanz, Har-monie und Disharmonie“ u.s.f. zum Ausdruck kommt. Das gesamte Leben vollzieht sich in solchen Bewegungen. Und die Art, „wie wir Musik wahrnehmen und einordnen, ob als schön oder hässlich, sagt etwas aus über das Verhältnis einer Person zu sich selbst, zum Anderen, zur Welt“ (Gestalt – Ästhetik – Musiktherapie, Münster 2000, 83 f.). Damit ist die Brücke ge-schlagen von der Kunst zum Leben; gleichzeitig liegt hier die eigentliche Begründung der Musiktherapie. Die ästhetische Auseinandersetzung ermöglicht erst die Vorstellung des Trans-fers zwischen Musikerfahrung und Alltagsleben, das meint die Vorstellung davon, dass sich durch die musikalische Erfahrung, die der Patient in der Musiktherapie macht, etwas in sei-nem Leben verändert. Auch Paolo Knill, der Begründer der Ausdruckstherapie vertritt eine „nicht-restriktive Kunst-auffassung“, der zu Folge Kunst „nach dem direkten unmittelbaren Gefühlsausdruck das ur-sprünglichste Ausdrucksmittel des Menschen ist, um dem, was ihn emotional in seinem Sein bewegt, um seiner Selbst und der Welterfahrung äußere Gestalt zu geben und es in dieser Ver-äußerung mitteilbar zu machen“. In archaischen Kulturen sei der 2künstlerische Ausdruck nicht von dem direkten Gefühlsausdruck abgespalten (Sabine Bach, Musik in der Ausdrucks-therapie, in: Hans Helmut Decker-Voigt: Schulen der Musiktherapie, München 2001, 294). Während Wissenschaft die Gesetze sowie die Ordnungen dieser Welt entwerfe und Philoso-phie sinnstiftende Zusammenhänge herstelle, bringe der Mensch in der Kunst „seine kreative Wahrnehmung der Dinge und seiner selbst“ zum Ausdruck. „Der ursprüngliche Gefühlsaus-druck ermöglicht dem Menschen eine gesunde regulierende und sinnstiftende Kommunikation mit sich und der Welt. Ist dieser Ausdruck gestört, erlaubt Kunst, der Notwendigkeit von Ausdruck und dem Bedürfnis nach Mitteilung eine Weg zu bahnen.“ Insofern seien Kunst und Heilkunst öriginär miteinander verknüpft und sei „künstlerischer Ausdruck nicht nur Medi-um, sondern Methode zugleich“ (ebd. 295). Ästhetik definiert Moissej Kagan „als die Wissenschaft von der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen.“ (Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 1974, S. 13) Ästhetische Aneignung ist gebunden an die Voraussetzung eines sinnli-

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chen Kontaktes, an Geistestätigkeit und an „Uneigennützigkeit“. (S. 105 ff.) Für den psycho-therapeutischen Prozess sind ästhetische Erfahrungen deshalb so bedeutsam, weil sie nicht zweckgebunden sind und deshalb Zugänge zu Möglichkeiten eröffnen, „die dem zielgerichte-ten Verhalten aufgrund dessen Einengung verschlossen sind“ (Drewer 91). So kann Neues, noch nicht Gedachtes, noch nicht Erkanntes entstehen und erfahren werden. Ich habe diese Dinge in unserem Buch „Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranke“ unter dem Kapitel „Musiktherapie als besondere Form der ästhetischen Aneig-nung“ (S. 45 - 52) im einzelnen erläutert. Auch Drewer bemüht sich um eine solche ästhetische Begründung der Musiktherapie und warnt vor einer bloßen Orientierung an den etablierten Therapierichtungen (Psychoanalyse, Gestalt oder Verhaltenstherapie). So betont er , „dass musikalisch-improvisatorische Prozesse primär der (Organ-)Logik folgen“ und dass Erkenntnis nicht nur im Organischen wurzelt, sondern bereits dort stattfindet (z.B. als Engrammierung in den Zellen) (96 f). Das Ästhetische ist für ihn ein „auf allen körperlichen und geistigen Ebenen vermittelter Austausch von Sys-temen, Individuen, Subjekt und Mitwelt“, Erkenntnis, die auf dissipativen Strukturen im mo-lekularen, zellulären und organischem Bereich basiert. Auch Isabelle Frohne-Hagemann (in: Decker-Voigt (Hrsg.): Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001, 259-294) hält die Untersuchung der von vielen Theoretikern vernachlässig-ten ästhetische Dimension der Musiktherapie für hilfreich bei der Entwicklung einer musik-therapeutischen Metatheorie. ausgehend von den alten Griechen, Pythagoras, Heraklit, Platon, Aristoteles, in Mittelalter, Renaissance, Barock, Romantik bis Kant, Nietzsche und Adorno und hebt dabei den metaphysischen Charakter der verschiedenen Auffassungen hervor, bei dem Leiblichkeit zugunsten von Bewusstseinsleistungen vernachlässigt wird, bzw. als im Ar-tifiziellen zu transzendieren erscheint. Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Bedeutung von aisthesis, als der Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung seien die metaphysischen Rich-tungen eigentlich als „anästhetisch“ zu betrachten, weil Sinnlichkeit Teil der Physis ist, mehr noch, der ganze Leib totales Sinnesorgan ist (vgl. die Organ-Logik bei Drewer). Sie plädiert deshalb für eine „Ästhetik vom Leibe aus“ (289), die Leiblichkeit als zentrale Instanz für künstlerische Verstehensprozesse anerkennt. Isabelle Frohne-Hagemann betont, dass die Patienten beim Spielen und Experimentieren mit Klängen ihre Wirklichkeit ästhetisch hervorbringen. Ihr ästhetisches Handeln sei „Erzeugung, Darstellung, Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit“ und habe „existentielle Bedeu-tung“. Als „ästhetische Konstruktion“ seien sie „eine ständige Suchbewegung und Auseinan-dersetzung mit Erfahrungen, Vorstellungen, mit Möglichkeiten, Impulsen, Wünschen, Ängs-ten, Reflexionen, die durch die vorfindliche Gegenwart ausgelöst werden“ (ebd. 287). Der Ästhetik Adornos folgend, die das Hässliche umschließt, „das weh tut, weil es die Un-wahrheit der Gesellschaft ans Licht bringt“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 53, zit. n. Frohne-Hagemann, 2001, 289) sei „auch in der Musiktherapie die Kakophonie legitimiert. Damit ist nicht nur ein in Kauf nehmen missklingender oder chaoti-scher Musik gemeint, sondern die Wertschätzung des Mühsamen, Hässlichen, Verqueren, des Haderns und Trotzens, des zeitweiligen Steckenbleibens und Resignierens, u.s.w., weil das al-les ebenso zur Ästhetik gehört wie das Schöne, Erfreuliche, Stimmige, Ausgewogene, Leichte und Erleuchtete. Heilung bedeutet unter ästhetischen Gesichtspunkten nun, auch tief in die Abgründe hineinzuschauen und sie nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen und auszu-drücken. Das ist für den/die Klienten/in oft schambesetzt, schmerzvoll und unerträglich und verlangt vom Therapeuten bzw. der Therapeutin Kraft, Zuversicht und Liebe bei der Beglei-tung. Und wenn dies dazu beiträgt, dass das sich öffnende Bewusstsein für die tieferen und höheren Dimensionen unseres Seins auch die Dimension der Spiritualität einbezieht, dann soll

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das Irdische und Sinnliche nicht ausgeklammert werden, sondern willkommen geheißen“ sein(289 f.). Grundlage der Ästhetischen Situation ist die „Wechselwirkung zwischen Subjekt und Ob-jekt“, denn „das ästhetisch Empfundene haftet den Gegenständen nämlich nicht an, sondern es entwickelt sich erst in der Beziehung zum Subjekt“ (ebd. 264). Wie jedes Kunstwerk, wie jedes Musikstück sind auch die Improvisationen der Patienten „ein komplexes Symbol“, welches „von den Bedingungen, unter denen wir es betrachten, ab-hängt.“ Jede Wahrnehmung sei bereits eine Interpretation, die von unseren „eigenen ästheti-schen und therapietheoretischen Vorannahmen“ bestimmt ist (ebd. 287). Daraus resultiert die besondere Qualität der therapeutischen Beziehung in der Musiktherapie. Diese Auffassungen basieren auf semiotischen Analysen zu Musik und Sprache von Peter Faltin, die verdeutlichen, dass die Bedeutung musikalischer Gestalten sich auf völlig anderem Wege ereignet als die von Sprache (Bedeutung ästhetischer Zeichen, Musik und Sprache, Aa-chen 1985). Musik ist zwar auch „sinnvolle Struktur, aber sie „bedeutet“ zunächst einmal nichts. Bedeu-tungen legen wir in Abhängigkeit von unserem Vorwissen, (auch Vorurteilen), der Situation und den ablaufenden Konsensprozessen in sie hinein, und jeder hört nur dann und nur das aus der Improvisation heraus“, was er selbst in das Werk hineingelegt hat (Frohne-Hagemann 2001, 290 f.). Deshalb müssen die Improvisationen der Musiktherapie hermeneutisch interpre-tiert werden, das heißt, dass man „sowohl von der gegenstandsnahen Wahrnehmung als auch von der leiblichen Empfindung und Resonanz auf die ästhetischen Phänomene ausgeht, bevor in einem elevatorischen Vorgang von dieser aisthesis zur ästhetischen Sinngebung fortge-schritten wird“ (ebd. 291), d.h.: zuerst wahrnehmen, Wahrnehmungen beschreiben, sowohl im Blick auf die Musik als auch im Blick auf den Körper, Emotionen, Gedanken, Einfällen, At-mosphären, Gruppenprozessen, und erst dann nach Bedeutungen fragen und Bedeutungen fin-den. Der tschechische Philosoph Jan Mukarovský kennzeichnet die ästhetische Aneignung, dh. die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit ästhetisch zu erleben, als die Fähigkeit, „ästhe-tische Zeichen“ herzubringen und zu rezipieren; ästhetische Zeichen sind z.B. Musikstücke:

ästhetische Zeichen ...

... bilden die Wirklichkeit als

Ganzes ab ...

... nach dem Bild der Einheit des

Subjekts unifiziert

... zielen auf einevereinheitlichende Verhaltensweise

d.h.: in ihnen können

prinzipiell alleAspekte derWirklichkeit enthalten sein

d.h.: sie enthalten die Wirklichkeitals Ganzes nach der subjektiven Sichtweise des

einzelnenvereinheitlicht

d.h.: sie provozieren

Bewegungen derSinne, des Körpers,

des Denkens, in denen eine

bestimmte Art, sich der Wirklichkeit

gegenüber zu verhalten, erlebt

wird

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Mukarovský, Jan: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1971 Boris Assafjew beschreibt das Musik - Erleben (das Anhören einer Musik) als Prozess der Umwandlung von Energie: „Wenn ein Komponist bei seinem Schaffen eine Arbeit durchführt und dabei ein Teil seiner Lebensenergie aufwendet, dann wird die konkrete Form dieser Ar-beit, das musikalische Werk, zu einer Form der Umwandlung der Energie des Komponisten.“ Es geschieht eine Reihe von Energie - Unwandlungen, „angefangen von ihrem ersten Keimen in der Vorstellungskraft des Komponisten unter dem Einfluss seiner Umwelt bis hin zur ihrer Rezeption durch den aufmerksamen Hörer.“ (Die musikalische Form als Prozess, Berlin 1976, S. 57 f., s. hierzu auch John Diamond: Lebensenergie in der Musik, Zürich 1981.)

Eine Musik zu verstehen bedeutet für Assafjew: „Die Zweckdienlichkeit der Vor-wärtsbewegung des gehörmäßig wahrgenommenen Klangflusses erfassen und sich darüber klar zu sein, warum sich die Bewegung, bald konstatierend, bald ausdehnend, fortsetzt.“

Um ein musikalisches Werk zu verstehen, vergleichen die Menschen instinktiv die Momente der vorbeifließenden Musik miteinander und prägen sich im Gedächtnis ähnliche und häufig wiederkehrende Klangkomplexe ein. Allmählich fixieren sich diese Klangkomple-xe im Bewusstsein und werden zu leicht erkennbaren, bekannten und angenehmen gebildet. Beim Hören jedes neuen Musikwerkes vergleichen die Menschen die unbekannten Klang-komplexe mit den bekannten und treffen eine Auswahl, wobei sie besonders ungewohnte Verbindungen ablehnen. Wiederholtes Hören führt jedoch allmählich dazu, dass in Unge-wohntem Beziehungen zu bekannten Klangelementen erkannt werden... . Ein ähnlicher Pro-zess des Anklammerns an gewohnte Klangverbindungen oder deren Zurückweisung, Ver-gleich und Auswahl vollzieht sich auch beim Komponisten während der schöpferischen Ar-beit. Trägheit oder Aktivität im kompositorischen Schaffen hängt mit ab von einer solchen Wahl zwischen den passiv im Gedächtnis gespeicherten, seit eh und je befestigten Klangver-bindungen einerseits... und "noch nicht bewältigtem Material" andererseits, also zwischen ei-nerseits völlig rational begründeten Klangverbindungen und andererseits einstweilen uner-klärbar, irrational erscheinenden Einfällen." (S. 34 f.)

„Musik klingt nicht als Summe einzelner hörbarer Töne, sondern sie wird in unseren Ohren Musik durch ein sinnenhaftes Wahrnehmen und Empfinden von Tonverhältnissen und Tonbewegungen. ... Musik besteht nicht aus Tönen, sondern aus ‚Kraftfeldern’, Zwischen-räumen, Beziehungen. ... Wenn wir Musik ästhetisch hören, hören wir Beziehungsgefüge und dieses er-fahren wir mit dem Leib als totalem Sinnesorgan.“ Das geht nur, „wenn wir uns da-für öffnen und leiblich mitschwingen“ (Frohne-Hagemann 2001, 267). Georg Böhme, betont in einem Interview mit Eckhard Weymann und Martin Deuter die Not-wendigkeit einer ökologischen Ästhetik ... eine „Theorie des Empfindens“ ... atmosphärische Erfahrung sei zugleich eine Erfahrung der eigenen leiblichen Anwesenheit ... unsere ganzen Bewegungs- und Kommunikationsformen sind technikvermittelt, und das drängt die Atmo-sphären immer in den Hintergrund ... Musik ist eigentlich das mächtigste Mittel zur Erzeu-gung von Atmosphären ... Atmosphären sollten auch klanglich und damit in zeitlicher Dimen-sion begriffen werden und nicht immer nur räumlich (letzteres sein geradezu eine Berufs-krankheit der Architekten). ... Die Industrie hat ungefähr seit den 1950er Jahren eine „Eskalation der Speicher- und Wieder-gabegeräte“ betrieben. Aus dem Grundbedürfnis nach Musik ist heutzutage „ein Kompensati-onsbedürfnis geworden, weil ja die technische Zivilisation im Grunde darauf abzielt, das Normalleben möglichst ereignisarm, das heißt auch affektiv neutral zu machen. Alle Men-schen müssen sich ja sehr funktional und cool verhalten, so dass durch die Musik, aber auch

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MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADITION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES TOTAL MUSICAL FREEDOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES TO UNDERPIN IT.

June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing,

London 2000, 246

die Fernsehindustrie eine Kompensationsleistung erbracht wird: es wird ein harmloser Bereich des Auslebens von Gefühlen bereit gestellt. Die Industrie entwickelt hier die Steigerungsmög-lichkeiten über die Geräte und auch über die musikalischen Moden, die sich ständig erneuern müssen. Es wird von der Kulturindustrie ein systematischen Veralten geplant, sowohl der Ge-räte als auch der Musik.“ So müsse „das Bewusstsein vom Lebensvollzug wieder gewonnen werden“ und „die Musik hätte, so ähnlich wie das Atmen, die Möglichkeit, den Menschen die Erfahrung zu vermitteln, gegenwärtig zu sein (Die Musik modifiziert mein Gefühl, im Raum zu sein, Musiktherapeutische Umschau 2005 307-313

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4.16 Kognitive Aspekte des Musikerlebens

In ihrem Aufsatz „Musikalität und Leistungen in nichtmusikalischen Bereichen“ (Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 40, 1987, S. 22 - 28) referieren Arnold Feil und Marianne Hass-ler die Ergebnisse vieler Untersuchungen, die alle zum Ergebnis kommen, dass musikalisch praktizierende Menschen im allgemeinen höhere Intelligenz aufweisen als andere. Ihre eigene Untersuchung in Tübingen mit 60 Jungen und Mädchen ergibt, „dass Jungen und Mädchen mit musikalischer Begabung, die überwiegend musikalisch ausübend sind, einen deutlichen Entwicklungsvorsprung in nichtmusikalischen Bereichen haben, verglichen mit ihren Freun-den,...die musikalisch nicht ausübend sind. Und obwohl die Nichtmusiker nach Eintritt der Pubertät dank eines großen Entwicklungsschubes die Musiker - zumindest teilweise - wieder einholen, kann in einer Schülerlaufbahn in der Zeit vor der Pubertät schon einiges geschehen sein, bei dem die Musiker einen Vorteil hatten.“ (S. 28) Helmut Moog weist in einer Untersuchung "Transfereffekte des Musizierens auf sprachliche Leistung" (in Kemmelmeyer / Probst: Quellentexte zur pädagogischen Musiktherapie, Re-gensburg 1981, S. 307-320) nach, dass durch regelmäßiges tägliches Singen das Sprach- und Lesevermögen von sprach- und lernbehinderten Kindern sehr deutlich verbessert werden konnte. Psychologen der Universität Hongkong fanden heraus, dass frühzeitiger Musikunterricht die sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen dauerhaft verbessere (Nature Bd. 396, S. 128, Mu-siktherapeutische Umschau 1999, S. 64) In einem Schulversuch von 1972 bis 1979 in der Schweiz erhielten die Schüler 5 Stunden Musik- und Gesangsunterricht wöchentlich und dafür je eine Stunde weniger Unterricht in den sprachlichen Hauptfächern Deutsch und Französisch sowie Mathematik. Dennoch verbesser-ten sich ihre Leistungen in diesen Fächern (Ernst Weber, Intelligenter durch Musik? Zeitschr. f. Musikpäd. 23/1983, S. 33-36. Eine Dissertation an der Universität Washington (D.T. Lu, 1986) kommt zu demselben Ergebnis. Eine Langzeitstudie, die in der Schweiz durchgeführt wurde, kommt zu ähnlichen Ergebnis-sen. Sie ist erschienen unter dem Titel Patry, Jean-Luc u.a. (Hrsg): Musik macht Schule. Be-richt an den Schweizer Nationalfonds über den Schulversuch „ Bessere Bildung durch mehr Musik“, Freiburg/CH, 1993. Eine Studie zu diesem Thema von Hans-Günther Bastian zeigt, dass Kinder in Klassen mit regelmäßigem Musikunterricht zwei Stunden pro Woche und zusätzlicher Musikpraxis im Chor oder Musikgruppen verbunden mit Instrumentalunterricht in allen übrigen Schulfächern deutlich bessere Lernfortschritte machen, als Kinder in Klassen ohne Musikgruppen. An die-sem Versuch nahmen 2400 Schüler aus Berliner Stadtteilen teil, die zu großen Teilen auch aus sozialen Brennpunkten kamen (Musiktherapeutische Umschau 1999, S. 64 f, Bastian: Beein-flusst intensive Musikerziehung die Entwicklung von Kindern? Zwischenbilanzen einer Lang-zeitstudie an Berliner Grundschulen, Musikforum 86/1997, S. 4-22). Die komplette Studie trägt den Titel: „Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grund-schulen“, Mainz 2000. Die Studie zeigte auch, dass Kinder mit mehr Musikerfahrungen in besseres Sozialverhalten zeigten, insbesondere gab es in diesen Klassen weniger Außenseiter. Amerikanische Studien, wonach regelmäßiges Anhören von Mozart Musik Intelligenzleistun-gen, vor allem das räumliche Vorstellungsvermögen steigerten („Mozart Effekt“), werden von Sozialwissenschaftlern bisher noch mit Skepsis betrachtet. Überhaupt ist fraglich, inwieweit solche „Transferleistungen“ überhaupt einzig auf die Musikerfahrung zurückzuführen sind und wie lange sie Bestand haben.

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S. hierzu auch die zusammenfassende Darstellung über die Musikpädagogische Forschung zur Steigerung sozialer Kompetenz, Gewaltprävention und Intelligenzförderung bei Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 59 - 63). Naheliegend erscheint der positive Einfluss des Musikerlebens auf die kognitive und soziale Entwicklung besonders, wenn man das von Luc Ciompi beschriebene Phänomen der fraktalen Affektlogik zu Grunde legt (vgl. Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1997 und: Die affektiven Grundlagen des Denkens - Kom-munikation und Psychotherapie aus der sicht der fraktalen Affektlogik, in: R. Welter-Enderlin und B. Hildenbrand (Hrsg.): Gefühle und Systeme, Heidelberg 1998). Dem zufolge wirken Fühlen und Denken zirkulär zusammen: „Einerseits lösen bestimmte Erlebnisse, Wahrneh-mungen oder Gedanken bestimmte Gefühle aus, und andererseits beeinflussen diese Gefühle dann ihrerseits das Denken und Wahrnehmen in einem viel höheren Ausmaß, als wir gemein-hin für wahr halten“. Die hohe affektive Qualität des Musikerlebens erscheint in diesem Zu-sammenhang als „Energielieferant“ für kognitive Entwicklung, denn es handelt sich bei Af-fekten „um bestimmte biologisch sinnvolle Energieverteilungen sowohl im Körper wie in der Psyche und im Gehirn. Sie „sind evolutionär gekoppelt mit wichtigen Verhaltensweisen wie Flucht, Kampf, Kommunikation, Geselligkeit, Sexualität, Nahrungssuche u.s.w.“ Sie „kop-peln sich erlebnis- und situationsabhängig mit bestimmten Wahrnehmungs- und den entspre-chenden Denk- und Verhaltensweisen. So bilden sich funktionell integrierte ’Fühl – Denk - Verhaltensprogramme’, die in ähnlichen Situationen immer wieder aktiviert werden“ („Wer nicht sucht, findet!“ Das Phänomen aus Sicht der Affektlogik. Interview mit Luc Ciompi in: ringgespräch über gruppenimprovisation LXIX, 2003, 33). s. zur Affektlogik im einzelnen das Kapitel „Das Schizophrenieverständnis der Affektlogik und seine therapeutischen Implikationen“ (in: Luc Ciompi u.a. (Hrsg.): Wie wirkt Soteria, Bern 2001, S.49-68) sowie Luc Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens, Göttingen 1997 Neuerdings stellt man enge klangliche Beziehungen zwischen Sprachklang und Musik fest. „In praktisch allen menschlichen Sprachen werden bestimmte Tonhöhen lauter gesprochen als andere“, und diese hervorgehobenen Frequenzen bilden genau die chromatische Tonleiter, welche die Grundlage fast aller Formen von Musik darstellt (Musiktherapeutische Umschau 2003, 409 f.). Andererseits erscheinen manche Tonfolgen „dem Menschen harmonischer als andere, weil sie physikalisch den Mustern der Schallenergie ähnlich sind, die den Hörern von der Sprache her vertraut sind (ebd. 411).

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4.17 Politische Aspekte des Musikerlebens

„Politisches impliziert Kunst jedenfalls insofern, als in ihr ein formaler Zusammenhang zwi-schen einzelnen Teilen hergestellt wird; Form als Zusammenhang alles Einzelnen vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis. Es gibt kein Formales ohne inhaltliche Implikate und diese reichen bis zur Politik“ (Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1979, S. 379). Das heißt, die Art und Weise, wie im musikalischen Kunstwerk die Töne zueinander gefügt sind, wie die Musizierenden sich zueinander verhalten, miteinander umgehen, das alles ist ein Abbild eines gesellschaftlichen Zustandes. Nun können diese Beziehungen hierarchisch, nach dem Muster von Herrschaft organisiert sein oder demokratisch bzw. anarchistisch. Politisches kann also in Musik einmal insofern enthalten sein, als bestehende gesellschaftliche Verhält-nisse sich in ihr abbilden oder insofern, als diese bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse transzendiert, abgeschafft werden und ein utopischer (noch nicht realisierter) gesellschaftli-cher Zustand dargestellt wird. Ersteres ist „Alte Musik“ (die bestehende gesellschaftliche Zu-stände lediglich abbildet) - letzteres ist „Neue Musik“ (die bestehende gesellschaftliche Zu-stände überwindet). Einen historischen und politischen Kontext zwischen Musik und Politik sieht Joachim Ernst Berendt (Das Leben – ein Klang, München 1996) in den von Ilya Prigogine beschriebenen dissipativen Strukturen und Prozessen der Selbstorganisation, wie sie für die Improvisation in der Musik typisch sind. „Er hat gezeigt, dass Störungen, Fluktuationen, Turbulenzen, die ein System bestürmen, dieses eher befestigen und kräftigen, solange sie nicht über eine be-stimmte Grenze hinausgehen. Überschreiten sie diese Grenze, ‚kippt’ das System um. Es ent-steht Chaos, das aber kreativ ist, denn chaotische Systeme tendieren dazu, neue, noch ‚höhere’ Ordnungen und Strukturen aus sich heraus neu zu erschaffen. Sie tun das in – dies wurde ein Schlüsselwort – ‚Selbstorganisation’. Dissipative Strukturen sind allgegenwärtig. Nicht nur in der Physik und Chemie. Auch in der Gesellschaft (zum Beispiel bei der Bildung von Lichterketten, bei einem sich auflösenden Verkehrschaos, bei einem sich herausschälenden Konsens, in Sitzungen, Versammlungen etc.) Und natürlich in der Musik. Dieses letztere zu untersuchen, könnte durchaus ein paar Genera-tionen von Musikwissenschaftlern in Atem halten. Selbstorganisation ist auch hier ein sehr viel stärker herausforderndes Konzept als alles, was der Musikwissenschaft bisher am Herzen lag“ (371 f). Allerdings ist „die Vorstellung, ästhetisch anspruchsvolle und fortgeschrittene Kunstmusik transportiere automatisch positive politische Grundwerte (...) eher Wunschtraum denn Wirk-lichkeit (Peter Bubmann, Tönend bewegte Freiheit, in ders. Hrsg.: Menschenfreundliche Mu-sik, Gütersloh 1993, 35-57, 50). „Beide, politisches Ethos und ästhetische Kunst zehren von der kommunikativ begriffenen Freiheit der Handelnden und Hörenden. Musik kann spiele-risch Erfahrungen der Freiheit und Gemeinschaft für die Dauer des Erklingens stimulieren. Sie wird in solchen musikalischen Freiheits- und Kommunikationsprozessen zum Hoffnungs-zeichen des politischen Ethos, ohne selbst diese Hoffnungen einlösen zu können“ (ebd. 54). „Das spielerische Musizieren fördert die Konzentration und die Geduld, ermöglicht eine ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung“, allerdings garantiert es „noch keine politische Mün-digkeit.“ „Ohne diesen sozialisierenden Beitrag der Musik zur Gesellschaft jedoch wäre die Welt sicher fried- und trostloser als sie es ist. So unterstützt Musik zunächst auf indirekte Weise die Bemühungen um eine menschenfreundlichere Gesellschaft“ (ebd. 55). Für Adorno gehört auch zur Ästhetik das Hässliche, „das weh tut, weil es die Unwahrheit der Gesellschaft ans Licht bringt“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973,

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53). Deshalb ist es auch Aufgabe der Musiktherapie, „nicht nur die Erscheinungen und Hin-tergründe, sondern die Bedingungen für bestimmte gesellschaftlich determinierte Lebenswirk-lichkeiten aufzuspüren. Musiktherapie befasst sich ja mit dem Unerhörten und Ungehörten auch nicht nur im Seelenleben, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext. Man muss vor-sichtig sein mit ‚rein’ klinischen Diagnosen, die das Individuum stigmatisieren. Eine musik-therapeutische Improvisation kann zwar das Weben und Walten einer sich im Individuum manifestierenden Störung sozialer und gesellschaftlicher Genese hinweisen, doch muss diese immer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehnisse ge-sehen werden. Die Improvisation ‚bedeutet’ in ihrer ästhetischen Gestaltung also nur etwas vor diesem Hintergrund“ (Frohne-Hagemann, Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001, 290). Zum Verhältnis von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung eines Volkes und seiner Tanz-kultur: (Interview mit dem Choreograf und Theoretiker Alphonse Tiérou von Jasmina Sopova in: UNESCO-Kurier 7/8, 2000, 65 f) „Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes hängt nicht allein von Geld und Arbeit ab“. Die großen Theorien sind überholt, denen zufolge „Faktoren wie Rohstoff, Kapital, Arbeit, Produktion, Investition und Wachstumsrate als Triebfeder der Volkswirtschaft sehen.“ Stattdessen sind „kulturelle Werte, die bislang nur eine Nebenrolle spielten, als entscheiden-der Katalysator des Fortschritts“ hervorzuheben. (vgl. Alain Peyrefitte: La Société de confiance, 1995) Gerade „die immateriellen Werte“ prägen „die Mentalität eines Volkes“. „Der schöpferische Akt ist für die Emanzipation des Einzelnen bekanntlich von entscheiden-der Bedeutung.“ „Der Tanz kann in der Gesellschaft etwas bewegen. Denn nur eine Gesellschaft, die sich aus freien, selbstbewussten Menschen zusammensetzt, wird ihre Schwierigkeiten meistern.“ Allein bereits „die Tatsache, dass wir über den Tanz nachdenken, bedeutet ja, dass wir uns selbst zu akzeptieren beginnen.“

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4.18 Anmerkungen zum religiösen/spirituellen Charakter von Musik

„Musik gestattet es uns, an die Grenze des Lebens zu treten und wieder zurück zu kommen, einen Übergang zu erleben, einen Moment der Veränderung und Transzendenz. Musik belebt wie Sauerstoff, sie spricht von der Folge der Dinge. Sie ist der Bogen, der sich von der Ver-gangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft spannt.“ (Susan Munro, Musiktherapie bei Sterbenden, Stuttgart 1986, S. 88) Musik hat es mit dem Unsagbaren, dem Unsichtbaren und Vergänglichen zu tun. (s. dazu auch: Hartmut Handt: Vorspiel der Ewigkeit. Musik und Transzendenz, in: Peter Bubmann, Hrsg.: Menschenfreundliche Musik, Gütersloh 1993, 84-99) Das Musikerleben hat es mit dem „Unaussprechlichen“ zu tun: „Die Grenzen der Sprache sind nicht die Grenzen der Welt; es gibt nichts 'Genaueres' als das „ästhetische Zeichen“ selbst, das man sieht, hört, fühlt oder riecht.“ Man kann ein Musikstück mit den Mitteln der Sprache nicht durchdringen, um es genauer zu fassen; es besteht nur eine Möglichkeit: halt-machen und hinnehmen. Denn im Bereich des Ästhetischen gibt es kein 'Weil' oder 'Denn', da wir am Ursprung des 'Denn' sind. Die Welt des Ästhetischen unterscheidet sich von an-deren Welten - etwa von der Verstandeswelt - eben dadurch, dass hier kein Erklären möglich ist." Wenn überhaupt: man beschreibt den tönenden Prozess, nicht aber die Musik; könnte man es, wäre Musik damit überflüssig. Außerdem: Aussagen des Gefallens oder Mißfallens, weinen oder stöhnen, können weder richtig noch unrichtig sein. Das Musikerleben konfron-tiert uns unausweichlich mit der Tatsache, „dass es auch jenseits der beschreibenden Sprache eine Welt gibt, deren Teil die ästhetische Welt ist, dass es hier nicht nur das gibt, worüber man streng logisch sprechen kann, sondern auch das, worüber man nur dichten oder eben schweigen kann, und dass man nicht über alles, was man nicht beschreiben kann, unbedingt schweigen muss.“ (L. Wittgenstein, in: Peter Faltin: Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache. Aachen 1985, S. 149 ff.) David Aldridge (Über den Sinn hinaus - eine transzendentale Sichtweise von Musik in der Therapie, Musiktherapeutische Umschau, 28, 3 (2007), 293-301) zitiert Lucanne Magill: „So viel von dem, was wir tun, geht über Worte hinaus, und gerade wegen dieser transzendie-renden Natur der Musik können wichtige Heilungsprozesse in der Musiktherapie überhaupt stattfinden und finden überhaupt statt“ (294). Musiktherapie ist für ihn einer „ökologischen Sichtweise“ verpflichtet; deshalb plädiert er da-für, zu der Auffassung zurückzukehren, dass „menschliche Wesen und menschliche Natur als etwas Heiliges zu sehen“ sind (295). Er sieht auch die Gefahr, emotionale Erfahrungen mit religiösen zu verwechseln. Durch Musik herbeigeführte Ausnahmezustände sind zunächst nur psychologischer Natur. Die spiri-tuelle Qualität ist damit nicht unbedingt gegeben. Die Verwechslung von Emotionen mit Spi-ritualität kann zur Entwicklung von Abhängigkeiten führen (298 f). Thomas Ostermann, Arndt Büssing (Spiritualität und Gesundheit: Konzepte, Operationalisie-rung, Studienergebnisse, Musiktherapeutische Umschau, 28, 3 (2007), S. 217-230) fordern, dass trotz der immer noch sehr schwierigen Kommunikation zwischen Therapeuten und Pati-enten über Spiritualität“ insbesondere „im Bereich der künstlerischen Therapien“ eine „auch die Spiritualität umfassende Patientenversorgung“ aufgegriffen werden und „nicht als eine zu delegierende Aufgabe aus der Therapeuten-Patienten-Begegnung herausgelöst werden“ sollte. Dabei könnte auch auf die „Möglichkeiten der Krankenseelsorge und der psychologi-schen Beratung“ zurückgegriffen werden (226).

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Für Isabelle Frohne-Hagemann (Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001) vermittelt Mu-sik „sozusagen zwischen Himmel und Erde“, weshalb Musiktherapeuten ihre eigene Haltung zur Entwicklung von Bewusstsein und Spiritualität reflektieren sollten, damit Patienten wis-sen, auf was sie sich einlassen. Sie zitiert Helen Bonny mit der Definition von Spiritualität als innere und äußere Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Antworten über Leben und Tod, nach tieferem Wissen über sich selbst, aus dem Hingabe und die Akzeptanz der anderen folgt und die Erfurcht vor der Heiligkeit des Lebens“ (Bonny, 2001, 60 (übers. H.K.) in Frohne-Hagemann 2001, 271).“ Für Carolyn Kenny „Wird spirituelle Weisheit als „embodied spiritu-ality“ erfahrbar (ebd. 272). Heilung bedeutet für Isabelle Frohne-Hagemann auch, „tief in die Abgründe hineinzuschau-en und sie nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen und auszudrücken. Das ist für den/die Klienten/in oft schambesetzt, schmerzvoll und unerträglich und verlangt vom Therapeuten bzw. der Therapeutin Kraft, Zuversicht und Liebe bei der Begleitung. Und wenn dies dazu beiträgt, dass das sich öffnende Bewusstsein für die tieferen und höheren Dimensionen unse-res Seins auch die Dimension der Spiritualität einbezieht, dann soll das Irdische und Sinnliche nicht ausgeklammert werden, sondern willkommen geheißen“ (289 f.). Musik und ästhetisches überhaupt konfrontiert uns mit „dem Gefühl für das Unbegreifliche des Seins.“ Sie führt uns in Situationen, wo „der Horizont des Erwartbaren durchbrochen wird“ und wo „sich das Gefühls- und Begriffsvermögen mit dem netzlosen Hier und Jetzt konfrontieren“ muss. „Für MusiktherapeutInnen bedeutet dieser Aspekt von Ästhetik, dass sich ein traumatisierter Mensch nach dem ersten Schock nicht vom Fühlen abspaltet, sondern dem Leibe die Möglichkeit gibt, dem Trauma einen musikalischen, d.h. in der Zeit eingebette-ten Ausdruck zu ermöglichen, welcher das Leid, die Angst und die Trauer so bindet, dass die Erlebnisse intersubjektiv geteilt werden und dadurch verarbeitet werden können“ (ebd. 293). Der Aufbau von Hoffnung ist Grundvoraussetzung jeder Therapie. Sie orientiert sich an den Stärken des Patienten und an dem, was bereits in seinem Leben funktioniert, und projiziert das in die zu erwartende Zukunft (vgl. Synder et al. (2001): Grundlage des gemeinsamen Faktors Placebo und Erwartung. In: Hubble, M.A. et al. (Hrsg): So wirkt Psychotherapie. Empirische Ergebnisse und praktische Folgerungen, Dortmund: verlag modernes lernen, 193-219). Hoff-nung ist wie der Glaube, von dem es heißt er sei eine „Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Bibel, Heb 11, 1). In der Musiktherapie kann Hoffnung entstehen, indem konsequent und verlässlich die Auffas-sung gilt, dass es keine richtigen und falschen Antworten auf musikalisches Geschehen gibt und dass die Improvisation als ein Spiel in sicherem und geschütztem Rahmen erlebt wird (Ju-ne Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 219).

Einmal fragte mich eine Patientin: „Glauben Sie an mich?“ Und, als ich mit der Antwort zögerte, fuhr sie fort zu fragen: „glauben Sie, dass ich gesund werde?“ Schwierig, ehrlich zu antworten, wenn man den schulmedizinisch – psychiatrischen Befund kennt und die Auffassung der psychiatrischen Fachleute, der zufolge Schizophrenie nicht heilbar ist. Ich konnte ehrlich sagen, dass ich in ihrem musikalischen Spiel so viele „gesunde Anteile“ erkenne, die mich an sie glauben lassen, die mir den Mut geben, mich auf ihre Selbstheilungskräfte zu verlassen. Das war noch aus der Rolle des Musiktherapeuten gespro-chen. In der Tat habe ich in ihren musikalischen Aktionen, auch in ihrer Fähigkeit, ihre Träume zu bear-beiten, Bilder zu gestalten und ähnlichem, immer wieder Ansatzpunkte gefunden, destruktive und neuro-tische Handlungs- und Denkmuster zu überwinden. Aber würde dieses Potential ausreichen, die hoff-nungslose medizinische Prognose zu annullieren? In meinem Inneren spürte ich, dass es um noch etwas anderes ging. Glaube und Hoffnung waren gefragt und die Zuversicht, dass auch Unerwartetes gesche-hen kann. Von diesem Tag an habe ich begonnen, für diese Patientin zu beten. Heute, nach einem Pro-zess von etwa vier Jahren, sind die psychotischen Symptome verschwunden, und die Ärzte haben ihre Diagnose korrigiert. Ich will damit nicht behaupten, die Patientin sei durch das Gebet geheilt worden.

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Ich weiß es im Letzten nicht, was die Heilung in diesem Symptombereich bewirkte. Ich könnte auf eine empirische Studie mit 191 Testpersonen und einer Kontrollgruppe mit 201 Personen aus den USA ver-weisen, die belegt, dass es bei den Patienten, für die gebetet wurde, signifikant weniger Komplikationen, Bedarf an Antibiotika und Todesfälle gab (Randy Byrd, Medical Tribune, Jan. 1986) Eine andere Unter-suchung von Platon J. Collipp kommt ebenfalls zu positiven Ergebnissen (Medical Times; alles nachzu-lesen in der Zeitschrift „esotera essenz, S. 48-51). Für das therapeutische Selbstverständnis scheint mir wichtig zu sein, dass solche Dinge nicht instrumentalisiert werden können, aber dass man in seinem Ge-genübertragungserleben an einem bestimmten Punkt der Therapie die „Energie der Hoffnung“ benö-tigt, um die therapeutische Beziehung fortsetzen zu können, und das war für mich in diesem Falle nur auf dem Wege der seelsorgerlichen Auseinandersetzung mit der Patientin, mit mir und mit Gott (sprich: im Gebet) möglich. Zynismus und Resignation, denen wir bei Therapeuten allzu oft begegnen, haben auch darin ihre Ursa-che, dass den Helfern die spirituelle Sinngebung für ihr Handeln fehlt.

Heiner Gembris („Wie der Flügelschlag eines Engels“ -Anmerkungen aus der Musikpsycho-logie, Musiktherapeutische Umschau, 28, 3 (2007), S. 201-204) stellt ebenfalls heraus, dass das „Element der Utopie, das Element der Hoffnung, ohne die wir nicht leben können, in Musik und Religion gleichermaßen zu finden ist. Diese »Sehnsucht nach dem ganz Anderen«, die der Philosoph Max Horkheimer als das Wesen der Theologie beschrieben hat, findet ihren Ausdruck nicht nur in der Religion, sondern auch in der Musik .... Der gesungene oder mit In-strumenten musizierte Ausdruck dessen, wonach ich mich sehne, gibt mir bereits etwas vom Gegenstand meiner Sehnsucht. Der musikalische Ausdruck meiner Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsucht lässt mich (203) ein Stück von dem empfinden, was ich in der Realität entbehre. Wenn man ein Bild gebrauchen wollte, könnte man sagen: Die Musik ist wie der Flügelschlag eines Engels, der uns berührt, und die flüchtige Anwesenheit von etwas Größerem fühlen lässt, das uns über die Grenzen unserer Befangenheit in der Welt hinausträgt“ (204). „Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt und zugleich verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selbst zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen“ (Theodor W. Adorno, Fragment über Mu-sik und Sprache, ges. Schr. Band 16, S. 252). Sabine Bach hebt hervor, dass es in künstlerischen Therapien zu echten Begegnungen im zwi-schenmenschlichen Bereich kommt, deren Qualität sich dadurch auszeichnet, „dass die betei-ligten Menschen unter Verzicht auf ein Machtgefälle ganz bewusst und offen für Unbestimm-tes, Unvorhersehbares in der Begegnung eintreten“ (Musik in der Ausdruckstherapie, in De-cker-Voigt, Schulen der Musiktherapie, München 2001, 299). Unvorhersehbares ist die wört-liche Übersetzung von Improvisation; wenn in der therapeutischen Beziehung Offenheit für Unvorhersehbares besteht, kann sich etwas für alle Beteiligten Überraschendes, Neues ereig-nen. Es fassendes, aber eben auch nicht zu leugnendes Phänomen“ (ebd.). Im Zusammenhang mit therapeutischen Prozessen stellt sich immer auch die Frage nach dem Glauben. Jesus wies viele der Patienten, die er heilte darauf hin, dass ihm „sein Glaube“ ge-holfen habe. Der SPIEGEL berichtete in seiner Ausgabe 45/1994 zusammenfassend über Ergebnisse der Placebo - Forschung. Vielfach wird die Wirksamkeit des Glaubens des Patienten an die Wirksamkeit eines Medikaments bestätigt, auch wenn das Medikament objektiv nicht wirk-sam ist. Auch wird über die Wirksamkeit des Glaubens des Therapeuten berichtet, wenn z.B. der Arzt ohne es zu wissen ein Placebo verabreicht, das dem Patienten hilft.

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„Stewart Wolf von der Oklahoma University berichtet über einen Patienten, dessen Asthma auf erprobte Medikamente nicht anspricht. Als der Arzt von einer Pharmafirma Proben eines neuen, vielversprechen-den Mittels bekommt, probiert er es gleich bei dem Asthmatiker aus. Die Symptome verschwinden um-gehend, kommen aber, als Wolf das Medikament stoppt, sofort zurück. Er versucht es mit Placebo, doch die Krankheitszeichen bleiben. Etliche Male wiederholt er den Wechsel vom Wirkstoff zum Placebo und zurück, jedesmal hilft nur das Mittel. Nunmehr sicher, ein wirksames Pharmakon für den Asthmatiker gefunden zu haben, bittet der Arzt die Herstellerfirma um Nachschub. Zu seinem Erstaunen erfährt er, das Unternehmen habe ihm vorher we-gen fälschlich gemeldeter Bedenklichkeiten gar keine Arznei, sondern nur Placebos geschickt.

Die Wirkung von Placebos untermauert eine im Journal of Psychiatry (Nr. 159, 2002, S. 122-129) veröffentlichte Studie der Universität von Kalifornien. Sie enthält den Nachweis, dass Placebos den Stoffwechsel im Gehirn beeinflussen. „Bei depressiven Patienten, die posi-tiv auf die Scheinmedikamente reagierten, war ein bestimmtes Areal der Großhirnrinde – der präfrontale Kortex – besser durchblutet als vor der Studie. Keine veränderte Hirnaktivität fan-den die Ärzte bei Patienten, bei denen weder das Placebo noch der echte Wirkstoff erfolgreich war. Vermutlich beruhen 50 bis 75 Prozent der Wirkung von Antidepressiva auf dem Placebo - Effekt“ (Bild der Wissenschaft 4, 2002, S. 33), das bedeutet also, auf der psychischen Akti-vität des Patienten, davon überzeugt zu sein, dass die Zuwendung des Arztes, und geschehe sie auch nur auf dem Wege der Medikation, ihm helfen werde. Für Herzkranke zu beten hat eine nachweisbar heilende Wirkung - das behaupten zumindest amerikanische Mediziner. Ihre Studie lege außerdem nahe, dass streng wissenschaftliche Un-tersuchungen über den Nutzen ungewöhnlicher Behandlungen wie etwa das Beten möglich seien, schreiben sie in der angesehenen Fachzeitschrift "American Heart Journal". Die Forscher um Mitch Krucoff vom medizinischen Zentrum der Duke Universität beobachte-ten 150 Patienten mit akuten Herzproblemen, die alle für eine Herzoperation vorgesehen wa-ren. Alle Patienten erhielten eine Standardtherapie. Einige Patienten bekamen zusätzlich un-konventionelle Behandlungen, wie aktiven Stressabbau, "heilende Berührungen" oder fürspre-chende Gebete. Gebetet haben bei den Versuchen Buddhisten, Katholiken, Juden und Vertre-ter anderer Religionen. Ob für einen Patienten gebetet wurde oder nicht, wussten dabei weder die Ärzte noch die Patienten. Nach dem Abschluss des Versuches zeigte ein Vergleich: Die besten Heilerfolge hatten Pati-enten, für die gebetet wurde. Sie starben nicht so oft und litten seltener unter Herzversagen oder Herzattacken als die anderen Patienten. "Geistige Unterstützung wie Stressabbau oder heilende Berührungen helfen den Leuten, sich zu entspannen", vermuten die Forscher. "Das unterstützt die Genesung." Warum die Gebete den stärksten Effekt zu haben scheinen, können sie jedoch nicht erklären. In weiteren Studien wollen die Mediziner das Phänomen genauer erforschen. "Wir wissen, dass sich Patienten sehr für diese Art der Behandlung interessieren – vor allem für den Ein-fluss von Spiritualität und Gebet auf die Gesundheit", sagt Krucoff (Bild der Wissenschaft 11, 2001). Heiner Gembris („Wie der Flügelschlag eines Engels“ -Anmerkungen aus der Musikpsycho-logie, Musiktherapeutische Umschau, 28, 3 (2007), S. 201-204) hebt hervor, dass gemeinsam erlebte und gespielte Musik eine Brücke zum anderen Menschen schlägt; sie ist geteilte Zeit im geteilten Raum, fokussiert die gemeinsame Aufmerksamkeit, synchronisiert die Aus-drucksmotorik und die Emotionen, vermittelt Identität, Orientierung, Sicherheit und Gebor-genheit. „Auf die gleiche Weise kann Musik, das gemeinsam gesungene Lied im theologi-schen Sinne zur Brücke des religiösen Glaubens werden, zu einer Brücke, auf der spirituelle Dimensionen und Inhalte zum anderen Menschen getragen werden. Diese Brückenfunktion,

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diese spirituelle Dimension, kann prinzipiell jede Art von Musik besitzen. Das spirituelle Po-tenzial ist nicht ein Privileg dieser oder jener Musik, sondern es kann jeder prinzipiell jeder Musik oder jedem Musikstil eigen sein. Entscheidend ist nicht der einzelne Ton, sondern sein Kontext“ (203). Auch Peter Bubmann setzt sich mit der Frage auseinander, welche Musik unter welchen Be-dingungen spirituelle Funktionen erfüllen kann und wie sie dabei mit heilenden Wirkungen verbunden sein kann. Er konstatiert, dass „nahezu alle Theorien zur Verbindung von Musik-therapie und Religion den therapeutischen Wert der Musik schöpfungstheoretisch bzw. kos-mologisch begründen: Die Musik könne die Ordnung des Kosmos und dessen Harmonie wi-derspiegeln, sie spreche die universale Schöpfungssprache und ermögliche die Erfahrung der Urtöne des Lebens. Dabei transzendiere sie die Möglichkeiten des rationalen Verstandes und führe in tiefere (z.B. archetypische) Bewusstseinsschichten (Heilender Klang II, Der Kir-chenmusiker 1993, 130). In diesem Zusammenhang führt er insbesondere Joachim-Ernst Be-rendt, Peter Michael Hamel, John Beaulieu, Steven Halpern, Marianne Kawohl, Ingo Stein-bach, John Diamond und andere an (vgl. Heilender Klang I, Der Kirchenmusiker 1993, 91). Von diesen kosmologischen Theorien abgesetzt entwickelt er eine christlich-theologische Begründung des therapeutischen Musikeinsatzes. Dabei wird die transpersonale Qualität der Musiktherapie nicht mit einer spekulativen Kosmologie erfolgen begründet sondern „von dem durch das Evangelium ergriffenen geschichtlichen Menschen und damit letztlich von Je-sus Christus her“ (130 f.). Der Mensch sei „als ‚der erste Freigelassene der Schöpfung’ (J.G. Herder) ... auch in seiner musikalischen Tätigkeit befreit von der Knechtschaft kosmischer Gesetzmäßigkeiten. Als Christ und Christin jedoch ist sie und er gleichzeitig ‚Knecht’ Christi und damit allen und allem in Liebe und Verantwortung ‚untertan’. Christ/innen/en sind befreit zum therapeutischen Dienst am anderen Menschen. Dazu können sie sich durchaus solcher Musik bedienen, die sich durch ihre Nähe zu kosmischen oder psychisch-archetypischen Strukturen als heilsam-ordnend für den Menschen erwiesen hat. Kein kosmo-religiöser ideo-logischer Überbau, sondern allein geschichtliche Erfahrungswerte sowie Ergebnisse der mu-sikwissenschaftlichen Wirkungsforschung bestimmen die Wahl der für Heilungsprozesse ge-eigneten Musik und Techniken. Weder Rockmusik noch Zwölftonkompositionen sind daher prinzipiell auszuschließen“ (ebd.). Die christlich begründete Anwendung von Musik ergebe sich aus der Tatsache, dass der Mensch sowohl Teil der Schöpfung als auch „in die Freiheit gesetzt und mit der verantwortlichen Kultivierung des Erdkreises beauftragt“ ist. „Der Mensch ist befreit von vollständiger Instinktsteuerung und damit von vielen Zwängen der Natur. Wie bereits die Vögel ein über die rein signalhafte Verständigung hinausgehendes zweckfreies Singen kennen, so kann der Mensch mit Tönen, Klängen und Rhythmen im freien Spiel ziel- und zweckfrei umgehen. Die Freiheit der Totalbestimmung durch Naturgesetze findet im mu-sikalischen Spiel, in freier Improvisation wie in der Ästhetik der autonomen Kunstmusik (des l’art pour l’art) einen charakteristischen Ausdruck. Die aus der Funktionalisierung unserer Welt herausgelöste freie Musik wird damit auch zum Symbol für die voraussetzungslose An-nahme der Menschen durch Gott“ (ebd.). Die Freiheit der Christen, so Bubmann weiter, sei al-lerdings „keine selbstgenügsame oder gar egoistische Freiheit.“ In ihrem Kontext ist „Musik für und mit anderen“ ... „diakonische und therapeutische Musik.“ Bei der diakonische Musik gehe es „um den Protest gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Sexismus, Rassismus etc.“ Therapeutische Musik ziele auf die „Heilung von Schädigung aller Art, auf Stabilisierung der Identität, auf eine ganzheitliche Lebensweise und auf mehr Lebensfreude“ (ebd.) Wolfgang Bossinger berichtet von Transzendenzerfahrungen beim gemeinsamen Singen (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 172 ff). Zum Beispiel könnte hierbei eine

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morphische Resonanz mit den „Gesangsfeldern aller Kulturen und Zeiten der Menschheit ent-stehen und ozeanische Gefühle transpersonaler Verbundenheit erlebt werden (vgl. 184 f). Wolfgang Strobel (Klänge als Wegbereiter zu Spirituellem Erwachen Musiktherapeutische Umschau, 2007, 286-289 führt verschiedene Musikinstrumente an, de-nen er „spirituelles Potential“ zuschreibt: ihr gleichmäßiges „Rauschen der Oceandrum the-matisiert das Tao, den nicht manifestierten Urgrund der reinen Potentialität allen Seins, die Fülle des Nirwana, aus dem alle Form (auch der Mensch) hervorgeht und in die sich alles wieder auflöst. Das Monocord macht das (noch vorbewusste) Einssein mit der Schöpfung - also mit der Mut-ter, der Welt, der Natur, dem Geliebten - erfahrbar (und immer auch dessen Störungen). Das Herzmetrum auf der Rahmentrommel fokussiert auf die Entstehung der Ichheit in der Be-gegnung mit einem Du und vermag jene narzisstischen Störungen zu bereinigen, die der Er-fahrung einer bedingungslosen Liebe und eines unbedingten Selbst(wert)gefühls im Wege stehen. Der gleichmäßig fließende Klang des Gongs Chau Lou führt über die Schwelle von Geburt und/oder Tod in die Welt und in transzendente Bereiche. Letztlich macht er die Unsterblich-keit des Lebens erfahrbar. Die Shrutibox lenkt das Bewusstsein auf die Qualitäten der Beziehungen der Menschen unter-einander und auf die transformierende Kraft seiner Beziehung zu Gott. Das Didgeridoo, »untere Oktav« des OM, singt das Lied der Erde, der Materie, das Lied von Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Es vermag alle Beeinträchtigungen aufzulösen, die der Er-kenntnis im Wege stehen, dass auch diese Ebene heilig ist. Die Klangschale schließlich lädt den in seiner Ichheit gefestigten und in seinem Willen ge-stärkten Menschen dazu ein, alles Erreichte wieder hinzugeben. In seiner Entscheidung »nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!« geht er mit nun entwickeltem Bewusstsein wieder ein in die Einheit. Damit kommt er am ersehnten Ziel der inneren Heimat an - dem einen SELBST.“ Einschränkend betont der Autor, dass die Klänge keinesfalls an sich wirken, sondern „immer nur in Verbindung mit dem Bewusstsein dessen, der sie erzeugt , und dem Entwicklungsstand und der Offenheit dessen, der sie rezipiert“ und der sie anbietet (288)

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5 Hörerfahrungen in Grenzbereichen

Überblick:

1. Hören vor der Geburt

2. Erfahrungen im „Pränatalraum“ und zum „Snoozelen“

3. Zum Hören von Gehörlosen und Ertaubten

4. Musiktherapie bei Patienten in komatösen Zuständen

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5.1 Hören vor der Geburt

Anmerkungen zum Thema: „Ich höre - also bin ich“ (Berendt) - Ausführungen über die Ur-sprünge des Hörens. Intrauterines Hören, das Hören vor der Geburt. Über erste intrauterine Hör- und Kommunikationserfahrungen berichtet u.a. Bernd Vogel im Kapitel „Pränatale Psychologie“ (S. 57 ff.) seines Buches „Lebensraum: Musik“ (Stuttgart 1991). Er berichtet, dass der Embryo in den ersten Tagen seines Lebens mit dem Stoffwechsel der Mutter verbunden ist und so „permanent Anteil an ihrer Gefühlswelt“ hat. Die Mutter infor-miert das Kind unbewusst mittels der Variationen ihres „Hormonspiels“ „über die reale Lage in der Welt um sie herum“. Man hat nachgewiesen, dass der Embryo in dieser frühen Ent-wicklung bereits Reaktionen zeigt, indem z.B. „sein Herz schneller schlägt, während er sich sonst ganz still verhält(58).“ Der französische Hals-Nasen-Ohren-Arzt Alfred A. Tomatis stellt in seinem Buch „Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - die Anfänge der seelischen Entwick-lung“ (Reinbek 1987), heraus, dass entgegen der bisherigen Ansicht, zuerst würden vom Fötus die tiefen Klänge gehört, erste Hörerfahrungen eher im Bereich um 4000 Herz anzunehmen sind. Tonfall und emotionale Prägung im Obertonbereich der mütterlichen Stimme werden über das Knochengerüst in die Flüssigkeit des Uterus als subtile Information eingegeben; dort sei es die Corti-Zelle, jene erste spezialisierte Zelle des Embryos, die imstande ist, mechani-sche, chemische und molekular/atomare Prozesse mit Hilfe feinster Zilien in der sie umge-benden Umwelt zu registrieren und als Information aufzunehmen, in einem „zellulären Ge-dächtnis“ zu speichern und in neuronale Energie umzuwandeln, mit Hilfe derer sich alle wei-teren sensorischen und neurologischen Prozesse beim Wachstum des Embryos entfalten. Die-ser Urklang wird von Tomatis als „Klang des Lebens“ bezeichnet; in fernöstlichen Meditati-onstraditionen wird die Aufmerksamkeit gezielt auf diese Urerfahrung gerichtet; siehe dazu auch die entsprechende Schilderung von Joachim-Ernst Berendt in „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“ (Reinbek 1983, S. 28 - 36). Dieses Urhören wird als harmonikales Ereignis angenommen, da die atomaren bzw. moleku-laren Schwingungsprozesse harmonikale Struktur haben. Harmonikal bedeutet Schwingungen im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen. Harmonikal strukturiert sind aber auch die Vokale der Sprache sowie die Töne der Musik. Hören bedeutet insofern auch: Aufnehmen von Energie, mit deren Hilfe die Hirntätigkeit akti-viert wird. „In der Schnecke befinden sich im Bereich der Wahrnehmung hoher Frequenzen vielmehr Sinneszellen als im Bereich der tiefen. Hohe Frequenzen setzen sich somit in eine unverhältnismäßig größere Zahl von Impulsen um, die eine wahre Aufladung, eine Belebung der kortikalen Tätigkeit bewirken; d.h. Bewusstseinsprozesse wie Denken, Engrammierung (Gedächtnis), Vitalität, Emotionen, Kreativität.“ (Gela Brüggebors, Einführung in die Holistische Sensorische Integration (HSI), Dortmund 1992, S. 92). „Die Wahrnehmung der Mutterstimme in Verbindung mit rhythmischen Erfahrungen, die über die Fortbewegung der Mutter erworben werden, haben hohen Anteil an der Bildung des neu-ronalen Netzes und hinterlassen Spuren, auf denen neue Erfahrungen aufgebaut werden kön-nen“ (Peter Brünger: Singen im Kindergarten, Augsburg 2003, 29). Der Dirigent „Brott berichtete, dass er genau die Cellostimmen bei seinen Konzerten auswen-dig kannte, welche seine Mutter – wie er später herausfand – als Berufscellistin einstudiert

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hatte, als sie mit ihm schwanger war“ (Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 51). Näheres hierzu in: R. Parncutt: Pränatale Erfahrung und die Ursprünge von Musik, in: L. Ja-nus und S. Haibach (Hrsg.): Seelisches Erleben vor und während der Geburt, Neu-Isenburg 1997, 225-240).

s. auch Folie „Das Klangspektrum der Mutterstimme“ „Pulsschläge während der Schwangerschaft“

„Mutterleib musikalisches Milieu“ In der sechsten Woche sind äußeres, Mittel- und Innenohr angelegt. In der siebten Woche bilden sich die Synapsen, welche Informationen von Zelle zu Zelle wei-terleiten (Vogel, 58), zwischen 6. und 8. Woche nimmt das Hautsinnesorgan „als erstes Wahr-nehmungssystem“. In der zehnten Woche ist der Fetus etwa vier Zentimeter groß. Sein Vestibularsystem („Laby-rinth“) „ist dann so weit differenziert, dass es u.a. Reflexe, fetale Bewegungsabläufe und Muskeltonus steuert“ (59). In der 18. Woche ist das Corti-Organ reaktionsfähig; damit sind die anatomischen Vorausset-zungen für das Hören vollständig gegeben. Ab der 24. Woche hat sich der Hörnerv so weit ausgebildet, dass das Gehör funktionstüchtig ist.

s. auch Folie „Pränatale Entwicklung des Gehörs“ Mehr als 25 Millionen Mal ereignet sich während der Schwangerschaft der Pulsschlag der Mutter. Dieser Rhythmus hat prägende Bedeutung, die man darin erkennen mag, dass auf der ganzen Welt die ersten Kinderworte eine zweisilbige Rhythmik besitzen: Mama, Papa. Ein Puls von ca. 72/min hat auf Säuglinge beruhigende Wirkung (Die Untersuchung von Lee SALK, 1960: „Einer Gruppe von Neugeborenen wird ein gleichmäßiger Herzschlag von 72/min vorgespielt. Die meisten Säuglinge schlafen ein bzw. werden sehr ruhig. Wird das Tonband abgeschaltet, wachen die meisten Säuglinge auf und fangen an zu weinen. Läuft das Tonband wieder weiter, beruhigen sie sich spontan. Den Kontrollgruppen wird bei gleicher Lautstärke ein Herzschlag mit 128/min und ein Galopprhythmus vorgespielt. Die Reaktionen sind sehr eindeutig: die meisten Säuglinge beginnen zu schreien, die bereits schlafen, wachen auf“, Vogel a.a.O. 61). Bei einem anderen Versuch wurde 102 Säuglingen von Geburt an bis zum vierten Tag rund um die Uhr der 72/min Herzschlag vorgespielt. Bei diesen Kindern schien ein oder mehrere Kinder während 38,4 % der Zeit, in der Kontrollgruppe während 59,8 %. Außerdem zeigten die „Herzschlag-Kinder“ deutlich stärkere Gewichtszunahme. Rechtshändige Mütter nehmen zu 83%, linkshändige zu 78% ihre neugeborenen Kinder an die linke Brust bzw. auf die linke Schulter (SALK 1973, in Vogel). MUROOKA fand heraus, dass die Beschallung mit dem gesamten intrauterinen Klanggesche-hen stärkere beruhigende Wirkung besitzt, als nur der bloße Herzschlag. Sänger berichten, dass Ungeborene während des Singens ruhiger sind. Instrumentalisten beobachten größere Aktivität des Fetus während bzw. kurz nach dem Spielen – insbesondre während der letzten drei Schwangerschaftsmonate (BUNT 1994, 76). Feten reagieren mit scharfen, kantigen und aufgeregten Bewegungen bei stimulierender und mit fließenden, sanften Bewegungen bei ruhiger Musik. Tempowahrnehmung scheint ein sehr früh angelegtes Vermögen und eine angeborene Musikkompetenz zu sein (BUNT, ebd.). Kinder prägen sich Geräusche und Klänge ein, die sie während der Schwangerschaft aufge-nommen haben, und gewöhnen sich an sie. ANDO und HATTORI (1970) stellten fest, dass 13 % der Säuglinge von Müttern, die während der ersten fünf Monate ihrer Schwangerschaft

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in unmittelbarer Nähe eines Flugplatzes wohnten, bei Fluglärm aufwachen, während 85 % der Säuglinge von Müttern aufwachen, die erst während der letzten vier Schwangerschaftswochen in das gleiche Wohngebiet gezogen sind (Vogel ebd.). Eine auf sieben Jahre angelegte Untersuchung von Donald SCHELTER hat ergeben, dass Kin-der, die einer großen vorgeburtlichen musikalischen Stimulation ausgesetzt waren, höher or-ganisiertes und artikuliertes Sprachvermögen besitzen (BUNT ebd.). Martin DORNES berichtet in seinem Buch „Der kompetente Säugling“ (Frankfurt am Min 1994 (41 f.):

- Hohe Töne sind beruhigender als tiefe, leise beruhigender als laute - Bereits intrauterin werden akustische Zeichen mit bemerkenswerter Genauigkeit

wahrgenommen, und unmittelbar nach der Geburt besteht eine ausgeprägte Präferenz für die mütterliche Stimme: Eine Geschichte, die intrauterin gehört wurde, wird einer neuen vorgezogen, insbesondere, wenn sie mit der mütterlichen Stimme vorgetragen wird.

- Weniger als 24 Stunden alte Babys orientieren sich bereits zur Mutterstimme hin (BUNT, ebd.).

- Schon Neugeborene bemerken den Unterschied zwischen synthetisch erzeugten Ge-räuschen und der menschlichen Stimme. Sie erzeugen mehr Geschrei bei echtem Säug-lingslärm als bei synthetischem.

- Säuglinge erkennen ihre Mutter am Geruch und bevorzugen den Geruch der Mutter. s. auch Folie „Das Klangspektrum der Mutterstimme“

Durch eine geschickte Versuchsanordnung wurde Säuglingen „die Möglichkeit gegeben, mit-tels Saugfrequenz an ihrem Schnuller zwischen mehreren Angeboten von Märchen zu wählen, die ihnen von unterschiedlichen Tonbändern vorgespielt wurden. Während der Schwanger-schaft waren die Mütter der Kinder gebeten worden, aus einem vorgegebenen Pool von Grimmschen Märchen ein Märchen auszuwählen und es ihrem Ungeborenen im Verlauf der Schwangerschaft öfter vorzulesen. Das Ergebnis verwundert eigentlich nicht: Alle Kinder auf das Märchen ein, welches ihnen schon aus der vorgeburtlichen Lebenszeit heraus bekannt war“ (Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005, 53). Diese und weitere Untersuchungen werden bei Otto H. Schuppan: Frühe Erfahrungen – frühe Prägungen, MU 1993, 90-98 dargestellt. Hans Helmut Decker-Voigt fasst in seinem Buch „Mit Musik ins Leben“ (Kreuzlingen 1999) viele Erkenntnisse über das pränatale Hören zusammen. Er empfiehlt, in der Schwangerschaft zu singen, zu tönen und Musik zu genießen. Monika Nöcker-Ribaupierre berichtet in der Musiktherapeutischen Umschau (Heft 4, 1992, S. 239-248) und in ihrem Buch „Auditive Stimulation nach Frühgeburt“ (Stuttgart 1995) über die pränatale Wahrnehmung akustischer Phänomene. Sie setzt gezielt Tonbandaufnah-men mit der Mutterstimme bei Frühgeborenen ein. Dabei bezieht sie sich u.a. auf die Entde-ckung, dass pränatal gehörte Texte wieder erkannt werden können. „Studien haben ergeben, dass die intrauterinen Erfahrungen den Fötus noch vor der Geburt in die Lage versetzen, männliche und weibliche Stimmen zu unterscheiden. Schon wenige Tage nach der Geburt kann der Säugling die Klangstruktur der Mutterstimme wiedererkennen. Dar-über hinaus zeigen Neugeborene schon zwei Tage nach der Geburt eine Präferenz für die Mut-tersprache, die sie aufgrund ihrer prosodischen Struktur als solche wahrnehmen“ (Brünger a.a.O.). Siehe dazu ebenfalls: H. Papousek: „Anfang und Bedeutung der menschlichen Musi-kalität“, in: H. Keller: Handbuch der Kleinkindforschung, Bern 1997.

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In dem von Monika Nöcker-Ribaupierre herausgegebenen Buch „Hören – Brücke ins Leben. Musiktherapie mit früh- und neugeborenen Kindern. Forschung und klinische Praxis“ (Göt-tingen 2003) sind Beiträge zur Entwicklung des intrauterinen und postnatalen Hörens, der prä- und postnatalen Mutter-Kind-Interaktion, der Traumatisierung durch Frühgeburt und zur mu-siktherapeutischen Arbeit im Kontext der Neugeborenen-Intensivmedizin enthalten. Was hört der Fetus tatsächlich? Die fetale Geräuschwelt besteht aus einer Vielzahl im Körper erzeugter Geräusche und aus Lauten, die aus der Umgebung der Mutter stammen. Sie werden durch das flüssige Medium in der Gebärmutter modifiziert. Während das erwachsene Hörvermögen im Bereich von 20-20.000 Hz liegt und seine größte Empfindlichkeit im Bereich von 300-3000 Hz aufweist, hört der Fetus in einem wesentlich eingeschränkteren Bereich. Der Überblick über Forschungen zum pränatalen Hören ergibt, dass Feten über Knochenleitung und aus der akustischen Außenwelt unterschiedlich hören und auf akustische Signale reagieren. Dabei scheinen tiefe Signale eher das Hörvermögen zu erreichen als hohe. Lärm scheint die Entwicklung des Hörvermögens bereits im Uterus zu be-einträchtigen. Auf einer Intensivstation für Frühgeborene müssen schädliche Wirkungen durch das akustische Milieu besonders beachtet werden (vgl. Gerhardt, Kenneth J., Abrams, Robert: Das fetale Hören: Implikationen für das Neugeborene Suzanne Maiello stellt fest, dass die ausgeprägten rhythmischen und klanglichen Hörerfahrun-gen des Fetus, insbesondere auch im Bezug auf die Mutterstimme psychoanalytische Entwick-lungsspuren bis in die vorgeburtliche Zeit hinein zu verfolgen erlauben. Bei zu früh geborenen Säuglingen ist diese Entwicklung unterbrochen und muss durch geeignete auditive Stimulati-on gefördert werden (vgl. „Die Bedeutung pränataler auditiver Wahrnehmung und Erinnerung für die psychische Entwicklung – eine psychoanalytische Perspektive. Das doppelte Trauma des frühgeborenen Kindes“, in: M: Nöcker-Ribaupierre, Monika 2003, a.a.O. 85-108). Forscher um Rochelle Newman von der Universität von Maryland haben herausgefunden, dass zu viel Krach und laute Hintergrundgeräusche Kleinkindern das Erlernen von Sprache schwer machen (Development Psychology 41/2, 2005). Kinder lernen Sprache vor allem durch Zuhören. Ist zu viel Krach im Raum, bemerken die Kinder nicht, dass mit ihnen geredet wird. Bei geringem Hintergrundgeräusch konnten 5 Monate alte Kinder noch gut ihren Namen heraushören: sie wandten den Blick Richtung Stimme. Bei höherem Geräuschpegel ging das schon nicht mehr (vgl. MU 2005, 333 f). Zum Thema Singen für Frühgeborenen und bei der Geburt berichtet Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005) die folgende Begebenheit: Bei der Geburt kommt es zu einem Herzstillstand beim Kind. Die Hebamme ermutigt die Mutter, eine „stu-dierte Opernsängerin, aus voller Kehle zu singen, und tatsächlich fing, in dem Moment als sie zu singen begann, das Herz des Kindes wieder zu schlagen an und das Kind konnte bald dar-auf zur Welt gebracht werden“ (55). David Aldridge betont, dass die Klänge, welche während der pränatalen Entwicklung „durch den mütterlichen Herzschlag und ihre Schritte vermittelt werden,“ entscheidend dazu dienen, die Wahrnehmung von Rhythmen zu koordinieren. Dabei handelt es sich nicht nur um „eine strukturelle Eigenschaft des Gehirns, sondern um einen Ausdruck dafür, wie wir mit unserer Umgebung interagieren“ (in: Haase, Ulrike und Stolz, Antje (Hrsg.) Improvisation – Therapie – Leben, Crossen 2005, 482).

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Monika Nöcker-Ribaupierre, Gisela M. Lenz und Gerald Hüther (Die Wirksamkeit musik-therapeutischer Interventionen aus entwicklungspsychologischer Sicht. In: BVM (Berufsver-band der Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten in Deutschland) Hrsg.: Jahrbuch Musik-therapie, Wiesbaden, 137-156) führen aus: „Das ungeborene Kind ist über die physiologische Einheit mit seiner Mutter gleichzeitig mit ihrem psychischen Zustand verbunden. Auf das Hören bezogen bedeutet dies: über die Stimme der Mutter vermittelt sich dem Ungeborenen (142) ihr emotionaler Zustand, ihre Stimme verändert sich, und gleichzeitig auch ihr Herz-schlag, ihre Atmung und der Hormonspiegel im Blut. Diese Stimme ist also mit sich verän-dernden rhythmischen Erfahrungen durch Sprache und Herzschlag verbunden, zusätzlich zu Vibrationen über das taktile Erleben und den Auswirkungen der hormonalen Veränderungen. Das bedeutet, dass das vorgeburtliche Hören beispielsweise der Stimme der Mutter gleichzei-tig über mehrere Sinne erfolgt und über diese Verschaltungsmuster als eine Gesamterfahrung im Gehirn verankert wird“ (143). „In der Zeit nach der Geburt werden solche Koppelungsphänomene vielfältiger und nun auch deutlicher beobachtbar. Leicht nachweisbar sind hierbei Koppelungen von Sprache, Ge-sang oder Musik mit bestimmten, damit einhergehenden und gleichzeitig ausgelösten Körper-erfahrungen: im positiven Fall mit Wiegen und Schaukeln, Streicheln und Bewegen, Sättigung und Befriedigung basaler Bedürfnisse. All die damit einhergehenden Körpererfahrungen wer-den mit der von der Mutter ausgehenden Stimme, ihrer Sprachmelodie, mit einzelnen Wörtern oder ihrem Gesang verbunden“ (143). Durch solche Koppelungsphänomene werden die vom Kind über verschiedene Sinneseingän-ge gemachten Wahrnehmungen nicht nur miteinander, sondern auch mit dem dadurch ausge-lösten Gefühl“ verknüpft. „Auf diese Weise werden gewissermaßen als ‚Gesamtbild’ im Ge-hirn in form miteinander verkoppelter neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschal-tungsmuster verankert. Je stärker die emotionalen Zentren im limbischen System dabei miter-regt werden, desto intensiver wird die entsprechende Verkoppelung mit den in dieser Situati-on besonders eindringlich wahrgenommenen Sinneseindrücken, d.h. dem jeweils Geschehe-nen, Gehörten, Gerochenen oder Gespürten“ (144). Die vor der Geburt stattfindenden physiologischen Austauschprozesse erlauben es, „von ei-nem psychosomatischen Gedächtnis“ zu sprechen. „Diese Erfahrungen sind dem Bewusst-sein nicht zugänglich, aber sie werden – das belegt die Hirnforschung heute – in den tiefen Schichten unseres Gehirns (in den teilen des limbischen Systems, vor allem der Amygdala) gespeichert und komplex verschaltet. Von dort steuern und beeinflussen sie (uns nicht be-wusst) unser gesamtes späteres Leben. Die Chance von Psychotherapie ist es, diese unbewussten frühe Erfahrungen zu erreichen“ (149). Nach G. Roth (Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt 2003) könne die Wirkung der Psy-chotherapie darin bestehen, „dass im Laufe einer Therapie aufgrund andersartiger Erfahrungen (...) in der Amygdala ‚Ersatzschaltungen’ angelegt werden“ (439 f.). Nöcker-Ribaupierre, Lenz und Hüther betonen aber, dass die unser Denken, Fühlen und Handeln verantwortlichen Strukturen „nur schwer und, wenn überhaupt, dann nur über die gleichzeitige Aktivierung der emotionalen Zentren im limbischen System veränderbar“ ist (vg. auch Gerald Hüther: Ebenen salutogenetische Wirkungen von Musik auf das Gehirn. Musiktherapeutische Umschau 2004, 21). Worte allein wirken nicht, betonen Nöcker-Ribaupierre, Lenz und Hüther. „Einsichten verän-dern nichts grundlegend, sie sind auch nicht in der Lage, neue kompensatorische Netzwerke aufzubauen. Sprache dient allein der verbalen Kommunikation. Entscheidungen darüber, was wir letztlich tun oder nicht tun, treffen wir auf der Grundlage unserer unbewussten emotiona-len Erfahrung. Die gilt es in unserem Fall mithilfe von Musik zu erreichen.“ Sie kann in ihrer komplexen Verknüpfung von Rhythmus, Klang, taktilem, motorischem und emotionalem Erleben

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zugleich als Reinszenierung frühester basaler Beziehungserfahrungen angesehen werden und mit dieser Qualität „eine Wandlung einschränkender impliziter Muster“ anregen „und sie in ihrer eingefrorenen Dynamik wieder in Schwingung“ versetzen“ (152).

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5.2 Erfahrungen mit dem „Pränatalraum“

Zugrunde liegt die Idee des argentinischen Musiktherapeuten Rolando O. Benonzon, der ausgehend von den frühsten intrauterinen Klangerfahrungen Musik und Tanz versteht als „un-bewusste Versuche des Menschen, ähnliche sensorische Erfahrungen wieder zu machen, wie er sie aus seiner pränatalen Existenz kennt“ (Einführung in die Musiktherapie, München 1983, S. 26). „Die Musik ist wie die Erinnerung an die Mutter und ein Wiederaufnehmen der Beziehung zu ihr und zur Natur“ (25). Frank Rotter bezeichnet Musik als „Mutterersatz“ (Musik und Kommunikation 10, 1985, 25). Benonzon hat Kinder während des Spielen oder Malens mit Uterusgeräuschen beschallt und die therapeutische Wirkung beschrieben. Die Weiterentwicklung und konsequente Umsetzung dieses Ansatzes finden wir in der Präna-talraum – Therapie von Berndt Vogel ,beschrieben im Aufsatz „Der Pränatalraum. Ein The-rapieansatz für schwerst und mehrfach Behinderte, Musiktherapeutische Umschau 1987, S. 204 - 224) und außerdem im Buch: Lebensraum: Musik, Stuttgart 1991. Die Anschrift von Berndt Vogel: Feldbusch 2, 74934 Reichartshausen.

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5.3 Die Hörerfahrung von Gehörlosen und Ertaubten

Auch Gela Brüggebors (Einführung in die Holistische Sensorische Integration (HSI), Dort-mund 1992, S. 92 f.) unterstellt Apathie und Depressivität bei Gehörlosen mit zunehmender Schwerhörigkeit. Sie begründet dies folgendermaßen: "In der Schnecke befinden sich im Be-reich der Wahrnehmung hoher Frequenzen vielmehr Sinneszellen als im Bereich der tiefen. Hohe Frequenzen setzen sich somit in eine unverhältnismäßig größere Zahl von Impulsen um, die eine wahre Aufladung, eine Belebung der kortikalen Tätigkeit bewirken, d.h. Bewusst-seinsprozesse wie Denken, Engrammierung (Gedächtnis), Vitalität, Emotionen, Kreativität." Bei Gehörlosen würde diese energetische Aufladung des Gehirns nachlassen bzw. fortfallen. Jedoch schränkt sie diese Auffassung zugleich wieder ein, indem sie fortführt: „Direkt neben der Cochlea (Schnecke) sitzt der Vestibularis-Apparat, das Gleichgewichtsorgan. Labyrinth und Schnecke vereinen sich zu einem Nerven (vestibulo cochlearis) und bilden sozusagen ei-ne Funktionseinheit. Die Cochlea ist nach Schätzung von Tomatis mit ca. 30 % und das Laby-rinth mit ca. 60 % an der energetischen Hirnaufladung (= 90 % aller Prozesse) beteiligt.“ Auf die Bedeutung des Vibrationssinns bei Gehörlosen weist Antonius van Uden hin. (Das gehörlose Kind, Heidelberg 1980) Der Frequenzumfang, der über den Vibrationssinn aufge-nommen wird, liegt bis zu 500 Hz. Der Frequenzbereich der Lautsprache beginnt erst bei der Obergrenze dieser Körperrezeption mit den Vokalen. Die Konsonanten sind in einem höheren Frequenzbereich zu finden. Demnach ergibt sich, dass tiefe Töne, von 16 bis 380 Hz ausge-hend als Vibrationen von Becken an aufwärts beginnend bis in den Kopf im Körper zu spüren sind. Im Kopfbereich sind die hohen Frequenzen zu spüren. (S. 45) Gehörlose beschreiben z.B. die Vibration des Tamtams (Gongs) „als Prickeln auf und unter der Haut...mehr rechts als links...man fühlt sich "von innen her massiert“ und berichtet über eine „angenehme Wärme im Rumpfbereich“; die Wirkung der großen Baßtrommeln wird als "Vibrieren der Knochen des Skeletts" beschrieben. „Die Muskulatur scheint sich in der Folge um die Knochen zu lockern. Als satter tiefer Ton wird die Baßtrommel eher im Beckenbereich gespürt.“ (Gerd Treschhaus, Musiktherapie mit Gehörlosen, Diplomarbeit Siegen 1993) Bei der Frage, inwiefern „Gehörlose“ fähig sind, Musik zu erleben ist auch zu berücksichti-gen, dass die Hörtests sich im allgemeinen auf die Fähigkeit beziehen, Sprache zu vernehmen. Der Klangschwerpunkt der Sprache liegt allerdings nur im Bereich von etwa 80 bis 380 Hz, also einem relativ kleinen Ausschnitt des gesamten Hörbereichs, der von 16 bis 20.000 Hz. liegt. Mit Hilfe von Hörresten können manche als gehörlos diagnostizierte Menschen beträcht-liche Teile der Musik (die ja über das gesamte Hörspektrum reicht) wahrnehmen. 16 Hz 80 Hz 800 Hz 1.600 Hz 20.000 Hz 380 Hz

Sprach-klang-

schwer-punkt

menschlicher Hörbereich

Klangbereich der Musik

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Das Frequenzspektrum der Musik gibt Prause mit ca. 16-4608 Hz, das der Sprache mit ca. 200-2000 Hz an (2001, 180) Jedenfalls erreicht die Musik Hörreste, die vom Sprachklang nicht erfasst werden. Deshalb können von Hörminderung betroffene Menschen über noch be-stehende Hörreste von Musik eher erreicht werden als durch Sprache. Jutta Polzius (Afrodance in der Schule, Beispiele aus Tansania, in: Hörgeschädigten Pädago-gik Heft 2, 1992, S. 110 - 116) beschreibt folgendes Beispiel aus der afrikanischen Musikpä-dagogik mit Gehörlosen: „Um den Vibrationssinn zu sensibilisieren, wird folgende Übung eingesetzt: Die Schüler stehen mit dem Rücken zum trommelnden Lehrer. Auf ein optisches Zeichen hin beginnen die Schüler zu tanzen. Nun dürfen sie nicht mehr zum Lehrer schauen. Dann stoppt der Lehrer seine Tätigkeit. Die Gehörlosen sollen das Fehlen der Trommelrhyth-men wahrnehmen und aufhören zu tanzen. Trotz des Zementbodens in den Klassenräumen konnte eine Reihe von Schülern die Aufgabe erfüllen." (S. 113) Die Musikpädagogik mit Gehörlosen von Claus Bang wird im Heft 2, 1984 der Zeitschrift Hörgeschädigtenpädagogik sehr ausführlich beschrieben. Claus Bang kommt jährlich einmal nach Deutschland und hält Weiterbildungen in Musiktherapie und musikalische Sprachthera-pie bei Hörgeschädigten und mehrfach behinderten Kindern in der Deutschen Landjugend-Akademie in Fredeburg; Kontaktadresse: Internationale Gesellschaft für musikpädagogische Fortbildung IGMF e.V., Johannes Hummel Weg 1 57392 Schmallenberg (Telefon-Nr. 02974 9110), Email: [email protected] Die Musiktherapeutische Umschau (2002, S.93) berichtet von Forschungsergebnissen, die an der University of Washington (Neuroscience Letters, 28.11.2001) veröffentlicht wurden. Da-nach können Gehörlose mit jenem Teil des Gehirns, der eigentlich Töne verarbeitet, Vib-rationen wahrnehmen. Die Wissenschaftler hatten verglichen, wie zehn Gehörlose und elf hörende Testpersonen auf Vibrationen an den Händen reagierten. Hirnstrommessungen zeigten, dass bei allen Personen die für Vibration zuständige Hirnregion aktiviert wurde. Bei den Gehörlosen wurde aber zu-sätzlich auch die Hörrinde, der auditive Kortex, angesprochen. Die Region ist eigentlich auf die Verarbeitung von Tönen spezialisiert. Die Hörrinde ist aber offenbar nicht von Geburt an auf diese Aufgabe beschränkt. Die Versuche mit Gehörlosen zeigen, dass das Gehirn brach liegenden Bereichen neue Aufgaben zuweisen kann. Die Verarbeitung von Vibrationen ist nicht mit dem Hören identisch, eröffnet aber Gehörlosen zusätzlichen Sinnesreize. Die Betrof-fenen sollten deshalb schon im Kindesalter regelmäßig diese Fähigkeiten schulen, raten die Forscher. Manuela-Carmen Prause (Musik und Gehörlosigkeit. Therapeutische und pädagogische As-pekte der Verwendung von Musik bei gehörlosen Menschen unter Berücksichtigung des ang-loamerikanischen Forschungsgebiets, Köln Rheinkassel 2001) hebt Ansätze und Möglichkei-ten hervor, jenseits der musikalischen Förderung zum Sprachtraining und Sprachentwicklung unter Ausnutzung von Vibrationssinn, Bewegung und Visualisierung die „Musik (auch) als Wert an sich, als Kulturgut zu vermitteln“, „welche vielfältige „Möglichkeiten der Teilhabe eröffnet, die es auszunutzen gilt“ (440). In ihrem Aufsatz: „Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musikerleben und die musiktherapeutische Arbeit“ (in: Tüpker, Rosemarie; Wickel, Hans Hermann (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster 2001, 177-197) schreibt Manuela-Carmen Prause: „Der be-sondere Vorteil der Musiktherapie in der Arbeit mit altersschwerhörigen Menschen besteht

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darin, dass zum einen die nach der Hörminderung dringend erforderliche psychologische Betreuung erfolgen kann und zum anderen die sich in der rein verbalen Therapie ergebenden Kommunikationsprobleme aufgrund der im Vergleich zur Sprache besseren Zugänglichkeit von Musik ausgeschaltet werden können. Im Gegensatz zur verbalen Situation, bei der der al-tersschwerhörige Mensch stets unterlegen ist, findet er hier eine autonome, stressfreie Hand-lungsmöglichkeit, bei der er gleichwertig mit seinem Gegenüber (bzw. den Mitspielern) agie-ren und kommunizieren kann“ (191). Bei der Improvisation können „von der Hörminderung verursachte psychosoziale Konflikte“ aufgegriffen werden. Es kann „zum Entstehen eines Gemeinschaftsgefühles“ beigetragen „und damit einem weiteren Rückzug Altersschwerhöri-ger in die Isolation“ entgegengewirkt werden (ebd.). In Anlehnung an Fengler hebt sie hervor, dass es letztlich um die Versöhnung mit sich selbst gehe (vgl. Hörgeschädigte Menschen. Beratung, Therapie und Selbsthilfe, Stuttgart 1990), und in der Musiktherapie „ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das Hören und die Hörschä-digung ‚Prozesse der Aneignung und des Verlernens, des Unterscheidens, Verlierens und Wiederfindens’ sind“ (Fengler ebd.) und man sich nicht als „Opfer der Hörschädigung be-trachtet“ sondern sich ihr gegenüber stellt, „’sie als Begleiter zu betrachten und mit ihr ins Ge-spräch zu kommen, wie die z.B. von manchen Personen mit Tinnitus berichtet wird’“ (Fengler ebd.). Zur Realisation der Musiktherapie mit Hörgeschädigten und Gehörlosen empfiehlt Prause, dass nur wenige und ausgewählte Instrumente zum Einsatz kommen sollten; besonders geeig-net sind „einfache Rhythmus- und Melodieinstrumente wie Sopran-, Alt- und Bassxylophon, Metallophone, Gitarren und mittelgroße Trommeln“; auch ist bei der Instrumentenauswahl an die „vibratorische Ergänzungsinformation“ zu denken (193). „Frauenstimmen werden von Al-tersschwerhörigen häufig als ‚schrill’ empfunden (194). Bei der Musiktherapie mit altersschwerhörigen Menschen in Gruppen ist darauf zu achten, dass

a) möglichst nur eine Person spricht und zu allen Blickkontakt hat, b) der altersscherhörige Mensch beim Sprechen angeschaut wird und c) nicht von hinten und von der Seite angesprochen wird, d) man ruhig und etwas langsamer als normal, nicht zu laut spricht, e) man das von anderen Gesagte wiederholt, f) dafür zu sorgen, dass der Betroffene alles Gesagte versteht (keine Zensur im Sinne von

„egal, ist nicht so wichtig“), g) auf das Pfeifen von Hörgeräten einfühlsam hingewiesen wird damit die Einstellung

korrigiert werden kann, h) Störgeräusche und Lärm weitestgehend ausgeschaltet wird (194 f.)

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5.4 Musiktherapie mit Koma - Patienten

Musiktherapie mit komatösen Patienten Dissertation von Dagmar Gustorff (Universität Witten Herdecke), sowie das Buch, das sie zusammen mit Hans-Joachim Hannich herausgegeben hat: Jenseits des Wortes. Musiktherapie mit komatösen Patienten auf der Intensivstation, Göttingen 2000 außerdem ein Gutachten zur Wirksamkeit der Musiktherapie in der Zeitschrift „not“, 4/1996, herausgegeben vom „Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.“, Bayreuther Straße 33 in 92224 Amberg wichtige Arbeiten auch von Silke Jochims unter anderem in der Musiktherapeutischen Umschau; Silke Jochims hat viele Musiktherapie - Stunden mit Patienten im sog Wach - Koma auf Video aufgenommen, die auf eine Auswertung warten. Die Aufnahmen be-legen, dass mit Koma Patienten über die Musik Kommunikation hergestellt werden kann und sie die Musik nutzen können, um den Prozess der Trauerarbeit zu führen, insbesondere die Gefühle Schmerz und Wut ausleben können. Silke Jochims, Claudiusring 4i, 23566 Lübeck (Tel. und Fax: 0451/6110238) Man beachte auch die Arbeiten von Dümpelmann (Musiktherapie mit Patienten auf der Intensivstation) und Klettke-Drawert (Musiktherapie mit Menschen im Wachkoma) im FORUM MUSIKTHERAPIE UND SOZIALE ARBEIT.

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6 Schlaglichter auf die historische Entwicklung der musikalischen Heil-

kunst

Frühgeschichte Felsmalerei ca. 24000 v. Chr. Heilungszeremonien bei „Naturvölkern“ Musiktherapie in der altjüdischen Tradition David und Saul; zwei musiktherapeutische Modelle einer Therapeut – Patient - Beziehung ca. 1000 v. Chr. Pythagoreer mathematische Ordnung in Kosmos, Natur, Körper und Seele ca. 550 v. Chr. Plato Das harmonikale Prinzip in Wille, Charakter, Moral und Gesellschaft ca. 300 v. Chr. Aristoteles Das Element der Katharsis ca. 280 v. Chr. Stoiker Lehre vom Pneuma ca. 180 v. Chr. Korpus Hippocratium Elemente- und Säftelehre ca. 0 v. Chr. Boethius „musica mundana - musica humana - musica instrumentalis“ ca. 500 n. Chr. Mittelalter Krankheit als göttliche Fügung Psalmodie und Krankenheilung Renaissance pneumatische und Säfte - Lehre in Verbindung mit Intervall- und Tonartenlehre ca. 1500 n. Chr. Aufklärung „iatromechanisches Menschenbild“; Ablösung der musikalischen Kosmologie durch Affektenlehre ca. 1650 n. Chr. Romantik Gegenbewegungen gegen das iatromechanische Menschenbild; Vitalismus; Körper – Seele - Ganzheit 20. Jahrhundert statistische Empirie in Medizin, Psychologie und Musikwissenschaft. Revolution des Musikbegriffs; Neue Musik und Gruppenimprovisation als Ausgangspunkt für neue Konzepte der Musiktherapie Geschichte und gegenwärtiger Entwicklungsstand der Musiktherapie Musik wurde während aller Epochen der Menschheitsentwicklung und in allen Kulturräumen umfassend genutzt, um zu heilen bzw. Krankheit und Not zu lindern. Ausführlich dokumen-tiert sind der Einsatz von Musik bei den Naturvölkern und in den Hochkulturen des Alter-tums. Bei den Naturvölkern ist die Behandlung von Krankheiten an die Anwesenheit der musizie-renden und tanzenden Stammesangehörigen gebunden. Es besteht eine unauflösliche Einheit von Religion, Medizin, Musik, Tanz und Öffentlichkeit.

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Die Musik besteht aus der Wiederholung von immer gleichen übereinandergeschichteten Rhythmen (patterns), durch die sich die Menschen, oft noch mit zusätzlichem Gebrauch von psychotropen Substanzen in Trance oder Ekstase versetzen. („Alle rhythmischen Figuren in der afrikanischen Musik beziehen sich auf durch 2 oder 3 teilbare Perioden von z.B. 10, 12 oder 24 Grundschläge.“ Solche „Periodizität ist aber genau das Element, das bewusstseinsver-ändernde Wahrnehmung hervorruft.“ FLENDER 1993, 14). Wolfgang Bossinger (Die heilende Kraft des Singens, Norderstedt 2005)weist darauf hin, dass viele Höhlenmalereien an Stellen angebracht sind, „die besondere Resonanzphänomene her-vorrufen“ und „sich genau an den Stellen befinden, an denen die stärksten Resonanzphäno-mene auf die Singstimme auftreten. Außerdem wurden auch Tanzspuren entdeckt, „die auf

kultische Tänze hindeuten“ (39). In allen Hochkulturen, seit dem 5. Jahrtausend v. Chr., z.B. bei den Chinesen, Babyloniern oder Ägyptern, gibt es „die Symbiose von Musik und Zahl. ... Die ewige Wiederkehr der Sternenkonstellation wird entdeckt“ und die Musik gilt als Wiederspiegelung der kosmischen Ordnung. Pythagoras war „das letzte Glied in der Kette“ von Vertretern der Einheit von Kos-mologie und Musik. FLENDER sieht noch in unserem heutigen Tonsystem frappierende Verbindungen zur modernen

westlichen Zeitrechnung: „Die zwölf Töne werden abgeleitet aus der Abfolge von 12 Quinten. Sind jedoch diese Quinten rein, d.h. genau im Verhältnis 2/3 gestimmt, erreichen wir nicht genau den Ausgangston. Eine Differenz, kleiner als ein Halbton, das sogenannte pythagorei-sche Komma, bleibt als Differenz. Ebenso müssen wir jedem Monat ein paar Tage hinzufü-gen, um auf 365 Tage zu kommen, die das Sonnenjahr dauert. Mondjahr (=Quintenzirkel) und Sonnenjahr (=Oktavzirkel) müssen aufeinander abgestimmt werden. Genau das tun wir im so-genannten temperierten Tonsystem“ (17). Berühmt und immer wieder angeführt werden die Behandlung des an einer schweren Depres-sion erkrankten König Saul durch David im alten Israel (ca. 1000 v. Chr.) oder die von Pytha-goras, Plato und Aristoteles angeregten musikalischen Praktiken zur Heilung und Prävention von körperlichen und seelischen Krankheitszuständen (vgl. LINKE 1977, KÜMMEL 1977, MÖLLER 1971, 1974, SPINTGE & DROH 1992, 2-12). Der Blick in die Musikgeschichte offenbart zwei unterschiedliche Ansätze bei der Verwen-dung von Musik im therapeutischen Kontext: Mal steht stärker die der Musik innewohnende Ordnung im Vordergrund (Musik gilt als Abbild der natürlichen Strukturen des Mikro- und Makrokosmos), die auf den körperlich oder seelisch “in Unordnung geratenen“ also erkrank-ten Menschen einwirkt; mal wird mehr die expressive Funktion der Musik hervorgehoben, die es dem Menschen erlaubt, sich von Emotionen und sprachlich nicht oder nur schwer fassbaren Erlebnisinhalten zu befreien und sie mit anderen zu teilen. FROHNE-HAGEMANN beschreibt die Entwicklung ästhetischer Positionen in der Geschich-te, ausgehend von den alten Griechen, Pythagoras, Heraklit, Platon, Aristoteles, in Mittelalter, Renaissance, Barock, Romantik bis Kant, Nietzsche und Adorno und hebt dabei den metaphy-sischen Charakter der verschiedenen Auffassungen hervor, bei dem Leiblichkeit zugunsten von Bewusstseinsleistungen vernachlässigt, bzw. transzendiert wird. (2001, 275-288) Auch in der modernen Musiktherapie wird die Frage nach den Wirkfaktoren der Musikthera-

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pie immer wieder aufgeworfen; wirkt die Musik oder wirkt die therapeutische Beziehung? In-zwischen werden Verfahren, bei denen ausschließlich die Beeinflussbarkeit des Organismus’ durch Klänge genutzt wird, wie etwa in der Anästhesie oder bei chirurgischen oder zahnmedi-zinischen Behandlungen, als “Musik Medizin“ und nicht als Musiktherapie bezeichnet (vgl. DECKER-VOIGT & ESCHER 1994, HARRER 1982, SPINTGE & DROH 1987, 1992, STERN 1987). Der Beginn der neuzeitlichen Musiktherapie - Entwicklung kann auf den Anfang des 20. Jahr-hunderts datiert werden. In Londoner Krankenhäusern spielten Gruppen von Sängerinnen und Instrumentalisten den Patienten beruhigende Musik vor (vgl. BUNT 1998, S.13). Wie in sol-chen frühen angloamerikanischen Projekten entwickelten auch in Deutschland Therapeuten Konzepte für solchen eher unspezifischen Einsatz der Musik (vgl. KOHLER 1971, SCHWA-BE 1969). Im angloamerikanischen Bereich beeinflusste der hohe Anteil an Veteranen des 2. Weltkriegs in den Krankenhäusern die Entwicklung der Musiktherapie nachhaltig. Musiker und Musik-lehrer wurden als reguläre Teammitglieder in Krankenhäusern eingestellt. Gleichzeitig wurde es erforderlich, musiktherapeutische Behandlungen indikationsspezifisch zu systematisieren und Musiker oder Mediziner für die spezielle musiktherapeutische Arbeit auszubilden. So ent-standen die ersten Schulungskurse für Musiker, die ihre Fähigkeiten im therapeutischen Gebrauch von Musik weiterbilden wollten, 1944 in den USA, 1958 in Großbritannien (vgl. BUNT 1998), in den Siebziger Jahren in Ost- und in den Achtziger Jahren in Westdeutsch-land. Heute ist Musiktherapie als wissenschaftliche Disziplin an Universitäten und Hochschu-len in fast allen europäischen Ländern in den USA, in Südamerika, Südafrika, Israel, Austra-lien, Japan, China und in osteuropäischen Ländern vertreten und erscheint als eine global ver-netzte Wissenschaftsdisziplin. Musiktherapie ist von der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen als förderungswürdiges Verfahren der Psychotherapie anerkannt. Eine umfassende wissenschaftliche Fachdiskussion findet in vielen Monographien, Sammelbänden, Periodika und Fachzeitschriften sowie auf regelmäßigen nationalen und internationalen Kon-ferenzen ihren Niederschlag. Musiktherapie ist heute fester Bestandteil des Psychotherapieangebots an vielen Allgemein-krankenhäusern, an fast allen psychiatrischen Landeskrankenhäusern, an Universitätsklinken und an den verschiedensten Fachkliniken. Dort wird sie unter der Verantwortung habilitierter Chefärzte angewandt und evaluiert bzw. gelegentlich auch von promovierten und habilitierten Medizinern oder Psychologen, jedenfalls von gründlich ausgebildeten Musiktherapeuten durchgeführt. In Großbritannien gibt es eine eigene gesetzlich geregelte Berufs- und Besoldungsstruktur für Musiktherapeuten. In anderen Ländern, so auch in Deutschland werden Musiktherapeuten im Rahmen von privatrechtlichen Vereinbarungen tätig. Die Qualität der musiktherapeutischen Leistungen wird durch Berufsverbände sichergestellt. Literatur zur Geschichte der Musiktherapie Bunt, L.: Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe, Weinheim 1998 Decker-Voigt, H.H. & Escher, J. Hrsg.: Neue Klänge in der Medizin, Bremen 1994 ders.: Geschichtlicher Abriss der Musiktherapie in der BRD – aus höchst persönlicher Sicht, in ders. (Hrsg.): Schulen der Musiktherapie, München 2001 Flender, Reinhard: Vom Dreifachen Ursprung der Musik, in: Peter Bubmann: Menschenfreundliche Musik, Gü-tersloh 1993, 9-20 Frohne-Hagemann, Isabelle: Fenster zur Musiktherapie, Wiesbaden 2001 Harrer, G. HE: Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie, Stuttgart 1982 Kohler, C. Hrsg.: Musiktherapie, Theorie und Methodik, Jena 1971 Kümmel, Werner Friedrich: Musik und Medizin, Freiburg 1977 Linke, Norbert: Heilung durch Musik? Wilhelmshaven 1977 ders.: Musik gegen Wahnsinn, Stuttgart 1971

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Möller, Hans-Jürgen: Psychotherapeutische Aspekte der Musikanschauung der Jahrtausende, in: W.J. Revers u.a. (Hg.): Neue Wege der Musiktherapie, Düsseldorf 1974, 51-160 Schwabe, Christoph.: Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen, Jena 1969 Schwabe, Christoph: Aktive Musiktherapie für erwachsene Patienten, Stuttgart 1983 Spintge, R. & Droh, R. Hrsg.: Musik in der Medizin, Berlin 1987 Spintge, Rolf & Droh, Rolf: Musik-Medizin, Stuttgart 1992, 2-12 Stern, R.: Musiktherapie in der zahnärztlichen Praxis, in: SPINTGE, R. & DROH, R. Hrsg. a,a,O. 217-222

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7 Musiktherapie in der Psychiatrie

Aus dem Merkblatt einer psychiatrischen Klinik: Musiktherapie ergänzt und vertieft das psychotherapeutische Angebot der psychiatrischen Ab-teilung. Sie verfolgt den bio-psycho-sozialen Ansatz einer ganzheitlichen Psychotherapie. Aufgrund ihres nonverbalen Charakters (Improvisation und Interaktion mit Musikinstrumen-ten) wird sie tiefenpsychologisch genutzt, um den Patientinnen und Patienten zu introspekti-ven Verstehensprozessen verhelfen. Aber auch in verhaltenstherapeutischer Hinsicht liefert sie über das gemeinsame Spiel an Mu-sikinstrumenten wertvolle Beiträge zur Modifikation pathologischer Einstellungs- und Le-bensmuster. Musiktherapie erreicht besonders Patienten, die sich sprachlich kaum oder gar nicht artikulie-ren können oder die nur sehr schwer und auf sprachlichem Wege gar nicht Zugang zu ihren Gefühlen bekommen. Darüber hinaus werden in der Musiktherapie Patienten mit frühen Störungen erfolgreich be-handelt, da klangliche Erfahrungen und Musik früheste und pränatale Erlebnisschichten an-sprechen.

1. Was geschieht in der Musiktherapie? In der Musiktherapie leiten wir die Patientinnen und Patienten an, auf leicht spielbaren Mu-sikinstrumenten miteinander zu musizieren. Im allgemeinen spielen wir den Patientinnen und Patienten keine Musik vor, weil die Erfahrung lehrt, dass die Patientinnen und Patienten intuitiv die Instrumente wählen, die ihnen in der jeweiligen Situation gut tun und auch ent-sprechend auf ihnen spielen. Die auf der Klangwirkung und den Aktionen an und mit den In-strumenten beruhenden Effekte psycho-physischer Beruhigung, Belebung oder Abreakti-on werden zugelassen, begleitet und - sofern möglich- reflektiert.

2. Ablauf der Musiktherapie-Sitzungen In den Musiktherapie-Sitzungen wechseln Musikphasen, in denen wir musikalische Grup-penspiele mit Instrumenten oder auch mit der Stimme durchführen, je nach Wunsch der Pati-entinnen und Patienten auch Lieder singen und instrumental begleiten, Bewegungsspiele oder Musik-Mal-Aktionen durchführen, mit Gesprächsphasen ab, in denen wir das Erlebte be-schreiben und in Beziehung setzen zu unseren sonstigen Lebenserfahrungen. Das führt zum Einstieg in eine weitere Musikphase, in der neue Handlungsmöglichkeiten ausprobiert werden können, über die anschließend wieder gesprochen wird u.s.f.

3. Wirkung der Musiktherapie Je nach praktizierter Arbeitsweise treten folgende drei Wirkungsbereiche der Musiktherapie in den Vordergrund:

a) vorbewusste psycho-vegetative Regulation

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Physiologische Reaktionen beim Musik-Erleben sind durch vielfältige Forschungen belegt und beschrieben. Der Einfluss auf Vitalfunktionen wie Atmung und Blutdruck bedingt verändertes Körpergefühl und Ich-Bewusstsein. Psychische Erlebnisbereiche können im Spiel symbolisch und vorbewusst verarbeitet werden.

b) 2. Bewusstwerden pathogener Lebenserfahrungen Die Patientinnen und Patienten werden dazu angeregt, über ihre musikalischen Erfah-rungen zu sprechen (sofern das möglich ist) bzw. sie tun es auch von sich aus. Indem sie das musikalische Geschehen beschreiben oder mit ihm verbundene Einfälle mittei-len, können unbewusste Erlebnisinhalte ins Bewusstsein treten, die dann mit ge-sprächspsychotherapeutischen und mit musikalischen Mitteln bearbeitet werden.

c) Bewusstwerden pathogener Verhaltensweisen Das Handeln am und mit dem Instrument, in Beziehung zu den Mitgliedern der Grup-pe und zu den Therapeutinnen und Therapeuten symbolisiert und thematisiert sinnfäl-lig Verhaltensmuster, die auch das sonstige Leben bestimmen; Grenzen, Ängste, Hemmungen und schädliche Reaktionsweisen bei der Gestaltung von sozialen Bezie-hungen und auch im Umgang mit sich selbst können erkannt und im musikalischen Spiel verändert werden, wobei soziale Kompetenzen entdeckt und auf das Leben au-ßerhalb der Therapie angewandt werden.

4. Indikationsstellung für die Musiktherapie

Für Patientinnen und Patienten in chronischen oder akuten psychotischen Zuständen bie-ten wir eine Gruppe an, in der der Wirkungsbereich der psycho-vegetativen Regulation im Vordergrund steht; die musikalischen Aktionen sind vorstrukturiert (Spiele mit Instrumenten nach vorgegebenen Regeln, Lieder singen und mit Instrumenten begleiten), kurze Gesprächs-phasen dienen als Feed-back-Möglichkeit. Bei erkennbarer Introspektionsfähigkeit und -bereitschaft und einer absehbaren Verweildauer von mindestens vier Wochen bieten wir für Patientinnen und Patienten in post-akut psycho-tischen Phasen und bei reaktiven Depressionen, Neurosen und psychosomatischen Stö-rungen Gruppen an, in denen neben psycho-vegetativer Regulation auch an pathogenen Le-benserfahrungen und Verhaltensweisen, sofern sie von Patientinnen und Patienten themati-siert werden, gearbeitet wird. Das musiktherapeutische Behandlungsprinzip ist hier die freie musikalische Improvisation (z.B.: „wir spielen, wie uns heute zu Mute ist und versuchen dabei, mit unseren Klängen Kontakt zueinander herzustellen;“ oder: „wir führen ein Gespräch ohne Worte, nur mit Klängen“); bei der verbalen Aufarbeitung leiten wir die Patientinnen und Patienten dazu an, die Musikerfahrung zu beschreiben (d.h. sich bewusst zu machen, was sie gespielt haben, wie sie mit sich selbst, mit den Musikinstrumenten und der Gruppe umgegan-gen sind und wie das Handeln der anderen auf sie eingewirkt hat). Wir bearbeiten Lebensthe-men, Assoziationen, Erinnerungen etc., die von den Patientinnen und Patienten genannt wer-den, indem wir weiterführende Musikaktionen (z.B. ich spiele einmal nach dem Motto „ich lasse mich nicht mehr bevormunden“, oder: „wir spielen Angst“, oder wir machen ein musika-lisches Rollenspiel etc.) anbieten. Diese neuen musikalischen Erfahrungen werden anschlie-ßend wieder im Gespräch aufgearbeitet werden usf. Maximale Gruppengröße: 6 Patientinnen und Patienten. An den Gruppen nimmt stets eine Vertreterin/ein Vertreter des Personals in Co-Therapeuten-Funktion teil, die die Informationen über den Therapieverlauf bei den Stationsbesprechungen weitergibt.

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5. Ärztliche Anordnung und Evaluation

Die Musiktherapie wird nur auf Anordnung der Ärzte und Psychologen durchgeführt. Der je-weils behandelnde Arzt oder Psychologe gibt ein dafür vorgesehenes Formular, auf dem er die erforderlichen diagnostischen und indikationsspezifischen Angaben einträgt und sich über mögliche Behandlungsziele äußert, an die Station, von wo aus zurückgemeldet wird, ob und ab wann die Musiktherapie möglich ist. Ärzte und Psychologen, die musiktherapeutische Be-handlungen zu verschreiben beabsichtigen, sollten einige Sitzungen in der Musiktherapie hospitieren, um die Möglichkeiten dieser Behandlungsform sicher einschätzen zu können. Von den Ärzten und Psychologen, die musiktherapeutische Behandlungen verschreiben, wird erwartet, dass sie die Patienten über die Musiktherapie informieren und sich insbesondre mit ihnen über die Behandlungsziele verständigen; in den Arzt- und Psychologengesprächen sol-len auch die Erlebnisse aus der Musiktherapie thematisiert werden. Die Musiktherapie wird in den Pflegeakten dokumentiert. Die Musiktherapeuten sind bei den großen Übergaben zugegen, um über die Therapien zu be-richten und mit dem therapeutischen Team das weitere Vorgehen zu beraten.

6. Ergänzende musiktherapeutische Angebote Ergänzende Angebote der Musik haben präventiven Charakter und steigern die Lebensqualität während der psychiatrischen Stationärbehandlung und sowie in der nachstationären Zeit.. Sie bestehen aus regelmäßigen offenen Gruppenangeboten in folgenden Bereichen:

a) Musik und Bewegung, Tanz

Das Erleben von einfachen Folkloretänzen, meditativen Tänzen und Sitztänzen vermit-telt das Erlebnis von Genuss und Lebensfreude in der Gemeinschaft. Körperliche Lo-ckerung, Entspannung und Stärkung sowie emotionale Aktivierung und positive sozia-le Erfahrungen unterstützen den Heilungsfortschritt und helfen, den Rückfall in patho-gene Verhaltensweisen zu vermeiden.

b) offenes und geselliges Singen

Singen aktiviert Atem- und Kreislauffunktionen und belebt durch die Vibration des Stimmorgans den gesamten Körper. Es aktiviert positive Gefühle und die Bereitschaft, zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Bei Demenzstörungen aktiviert das Sin-gen bekannter Lieder Fähigkeiten des Gedächtnisses und der Sprache.

7. Ambulante Anschlussbehandlung

Patientinnen und Patienten, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus die Fortsetzung der Musiktherapie wünschen, können mit den Musiktherapeuten entsprechende Vereinbarun-gen über ambulante Einzel- oder Gruppenmusiktherapie treffen. Außerdem vermitteln wir an niedergelassenen Musiktherapeuten weiter. Zur Wahrnehmung der ergänzenden musiktherapeutischen Angebote wird die Teilnahme an Gruppen außerhalb der Klinik empfohlen, die von niedergelassenen Musiktherapeuten geleitet werden, mit denen die psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses zusammenarbeitet.

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Literatur Musiktherapie bei Depression Jürgen Preckel: Das Erscheinungsbild der Depression. Wege zum Verständnis, in Musiktherapeutische Umschau 1993, 126-133 Musiktherapie bei Psychosen Wolf Schmidt: Mit der Mundharmonika gegen den Wahnsinn, in Musik und Kommunikation 6 / 1981 Wolfgang Strobel: Musiktherapie mit schizophrenen Patienten, in Musiktherapeutische Umschau 1985, 177-208 und im READER MUSIKTHERAPIE, Wiesbaden 1999, S. 25-64 Harm Willms: Musiktherapie bei psychotischen Erkrankungen, Stuttgart 1975 Außerdem: die entsprechenden Kapitel in Leslie BUNT, Musiktherapie, Weinheim 1998

Peter Hess (Die Rolle archaischer Musik in der Musiktherapie, in: Einblicke 13, 2002, 72-86) fasst die Organisation der Musiktherapie in der Psychiatrischen Abteilung des Städtischen Allgemeinkrankenhauses in Frankenthal in folgender Tabelle zusammen: Auf-trag

Behandlung von Krankheitsursa-chen

Behandlung von Krank-heitsfolgen

Förderung von Ressourcen

Setting Gongtherapie Tischtrommelkonferenz

Musiktherapie auf der Akut-station „offene“ Musiktherapie-gruppe „Freitags-„ Musiktherapie-gruppe Märchen & Musiktherapie-gruppe

Morgen-Musikgruppe Trommel-Gruppe Instrumentenbau Förderung von Instrumentalspiel, z.B. Didgeridoo, Gitarre

Ziele Verständnis für die Erkrankung ge-winnen Herausarbeiten von Vulnerabilitäts-faktoren Entschlüsselung pathologisch wir-kender innerpsychischer Systeme Traum-Bearbeitung „Korrigierende Erfahrung“ Reinstallierung innerer Grenzen

Loslösen aus der Isolation Zurückkommen in das Hier und Jetzt Schaffung einer angstfreien Begegnungsebene Aufbau basaler Beziehungs-strukturen Reflexion der Eigen- und Fremdwahrnehmung Entwicklung von Verhal-tensalternativen

Entdecken von Ressourcen Kreativitätsförderung Spielfreude

(Hess 2002, 80)

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7.1 Musiktherapie bei Schizophrenie

Im Gegensatz zu den neurotischen Störungen, bei denen Probleme im Bereich der Emotionali-tät vorrangig sind, stehen bei den psychotischen Störungen, deren wichtigste die Schizophre-nie ist, Störungen des Denkens und der Wahrnehmung im Vordergrund. Grundsymptome der Schizophrenie

Störungen des Denkens zerfahren, zusammenhanglos, Gedanken abreißen, Begriffszerfall, Kontaminationen, Beg-riffsverschiebung, Symboldenken (Gespräche unter gesunden Angehörigen klingen nicht selten wie der zerfahrene Gedanken-gang eines Schizophrenen) geordnetes und zerfahrenes Denken nebeneinander Die Sprache wirkt manieriert, gespreizt, verschroben, Wortneuschöpfungen Bei der Wahrnehmung erhalten Wesens- und Ausdruckseigenschaften ein Übergewicht ge-genüber Struktur und Beschaffenheit der Gegenstände

Störungen der Affektivität Verstimmungen verschiedenster Art; dabei karikaturhaft, albern, läppisch (Hebephrenie), ent-hemmt, laut, ausgelassen; daneben: depressive Verstimmungen Angst ist sehr häufig vorherr-schendes Gefühl inadäquate Affektivität (Parathymie); Stimmungslage und gegenwärtige Situation passen nicht zusammen, die Einheit des Erlebens, die Zusammengehörigkeit von Gefühl und Ausdruck ist aufgehoben. Ambivalenz; unvereinbare Erlebnisqualitäten stehen beziehungslos nebeneinander, wie es im „normalen“ nicht möglich ist

Autismus Ich - Versunkenheit und Verlust der Realitätsbeziehungen Passivität Wahnerleben Ich - Störungen Depersonalisation Desintegration Akzessorische Symptome der Schizophrenie

Wahnerleben (Beziehungs- Beeinträchtigungs-, Verfolgungs-, Eifersuchts-, Größenwahn u.a.); die Wahnidee gehört der Vorstellungswelt des Kranken an. Einer richtigen Wahrnehmung wird eine abnorme Bedeutung beigelegt. Wesens- und Ausdruckseigenschaften am wahrgenommenen Gegenstand erhalten Überge-wicht. Eigenschaften der Struktur und Beschaffenheit treten in der Wahrnehmung zurück Halluzinationen akustische Halluzinationen; Stimmen, die den Pat. Ansprechen, seinen Namen rufen, Hand-lungen kommentieren etc. optische Halluzinationen; Trugwahrnehmungen des Gesichtssinns olfaktorische Halluzinationen; z.B. Wahrnehmung von ausströmendem Gas etc. gustatorische Halluzinationen; Trugwahrnehmungen des Geschmacks taktile Halluzinationen; z.B. elektrischer Strom im Körper, ferngesteuerte Schläge, Stiche, se-xuelle Manipulationen an Genitalien etc. Zönästhetische Halluzinationen; Störungen des Körperschemas akustische Halluzinationen; Stimmen, die den Pat. Ansprechen, seinen Namen rufen, Handlungen kommentieren etc.

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Katatone Symptome psychomotorische Phänomene der Schizophrenie Stupor; Pat. Ist weitgehend reglos Mutismus; ohne sprachliche Äußerung wichtig: Patienten haben auch in dieser Verfassung ein völlig waches Bewusstsein und kön-nen später ihre Erlebnisse genau schildern Katatonismen; Leerlaufstereotypien und Dyskinesien, Echophänomene

Quelle: Schulte, Tölle 71985, Mundt, in Faust 1995, 96 f

Hinweise zur Musiktherapie: Schizophrenie kann man verstehen als die Unfähigkeit, geeignete Symbole für Emotionen zu finden. In der Therapie wird der musikalische Ausdruck zur Symbolisierung bedrängender Gefühle, die in der Improvisation mitgeteilt werden können, seien es Gefühle der Übertragung, der Ge-genübertragung oder neu geschaffene Symbole der therapeutischen Beziehung (vgl. Hanne Mette Kortegaard: Music Therapy in Psychodynamic Treatment of Schizophrenia, in Heal and Mead (eds) Music Therapie in Health and Education, London 1993, 61 zit. n. June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 222). Bei schizophrenen Patienten sollte zuerst einmal ein sicherer, relativ reizarmer therapeutischer Rahmen hergestellt werden. Auch die musikalischen Erfahrungen sollten überschaubar und vertraut sein. Die Sitzungen werden von wiederkehrenden Eingangs- und Abschiedsritualen umrahmt. Wenig Instrumente. Einfache Improvisationsspiele oder auch Lieder und Tänze fin-den Verwendung. Bei längerer Therapiedauer können auch freie Improvisationen hilfreich sein. Vielfach wird bei akuten Zuständen von Musiktherapie abgeraten. Es gibt aber Erfahrungen, die belegen, dass hilfreiche Therapieschritte gerade in akuten Phasen mit Musik gemacht wer-den. Gerade wenn Patienten sprachlich nicht erreichbar sind, können Klänge helfen, ihre Ge-fühle auszuagieren und sich in einer basal stimulierenden Atmosphäre zu entängstigen. Peter Hess arbeitet als Oberarzt und Musiktherapeut an der Psychiatrischen Abteilung eines Städtischen Allgemeinkrankenhauses (Frankenthal) mit rezeptiven und aktiven Methoden un-ter Verwendung von archaischen Klängen von Trommeln, Monocord, Gongs, Klangschalen, Didgeridoo, Berimbao und anderen. Über die „Bedingungen, unter denen eine solche intensi-ve Therapie mit schwer gestörten Patienten überhaupt möglich ist“ schreibt er: (Einblicke, 13, 2002, 72-86) „Entgegen den alten Dogmen der Psychiatrie, nämlich, dass die Psychose uneinfühlbar sei und unverständlich und nach eigenen Gesetzen ablaufe, die nur durch drastische Mittel, wie Neu-roleptika und Elektrokrampftherapie zu beeinflussen sei, gehen wir davon aus, dass die Psy-chose von Erfahrenen einfühlbar und unter Einbeziehung aller Bewusstseinsschichten auch voll erklärbar ist. Die alte Psychiatrie hielt eine Heilung, außer mit biologischen Methoden, die es noch zu entdecken gilt, für nicht möglich und aufdeckende Therapie und Entspan-nungsverfahren seien besonders bei Psychosen contraindiziert. Wir dagegen sind der Auffas-sung, dass eine kausale Therapie und echte Heilung möglich ist, weiche Behandlungsmetho-den erfolgreich sind, besonders, wenn man spirituelle transpersonale Dimensionen der Psy-chose mit ein bezieht. Selbstverständlich sind psychodynamische und familientherapeutische Therapiemethoden unverzichtbar“ (79). Während des Akutstadiums der Psychose wird „großer Wert gelegt auf die Schaffung einer schützenden, geborgenheitsvermittelnden Atmosphäre. Die Instrumente sind gut aufeinander abgestimmt, meist pentatonisch und dienen vor allem dazu, wieder auf die Erde zurückzu-

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kommen und Wege aus der Isolation zu eröffnen. Im Remissionsstadium der Psychose geht es dann mehr um die Entdeckung und Ausbau kreativer Fähigkeiten mit gemeinsamen Musizie-ren mit leicht spielbaren Instrumenten. Es geht aber auch um Eröffnung neuer Handlungs-spielräume in der freien Gruppenimprovisation. Je gesünder der Patient wird, um so mehr Chaos kann in den Gruppen dann wieder zugelassen werden. Die Skalen sind dann nicht mehr begrenzt. Außerdem geht es dann in der Gongtherapie auch um einen kausalen Behandlungs-ansatz“ (81). Indikationen und Kontraindikationen ergeben sich „weniger aus dem Krankheitsbild an sich, sondern eher an der individuellen Bereitschaft, sich auf körperorientierte Therapie einzulas-sen.“ „Eine besondere Behandlungschance ergibt sich immer dann, wenn akustisch gespeicherte Traumata vorliegen“ (83). (Peter Hess: Die Rolle archaischer Musik in der Musiktherapie, in: Einblicke 13, 2002, 72-86) Einzelheiten zur Organisation der Musiktherapie bei Hess s. unter Kapitel 7. Aufbau der Gongtherapie (Ritual mit Life-Musik) nach Hess (2002, 78): Thomas Wosch (in: Hans-Helmut Decker-Voigt (Hrsg): Schulen der Musiktherapie, München 2001, 183-207) beschreibt musiktherapeutische Einzelmusiktherapie mit schizophrenen Pati-enten in der Akutpsychiatrie auf Grundlage von „verstehender Psychiatrie“. Dieser Ansatz geht auf antipsychiatrische Reformbewegungen der sechziger Jahre zurück und basiert auf der Erkenntnis, dass „die schizophrene Störung nicht primär als Denkstörung“ zu verstehen ist, „wie sie als Phänomen im ICD 10 und DSM IV als ein notwendiger Faktor beschrieben wird, sondern vor allem als affektive Störung.“ Die beschriebene Auflösung des Denkens und der Sprache sei eine Folge der Affektstörung und nicht umgekehrt, wie allgemein beschrieben, dass die Affektlabilität Folge einer Grundstörung im Bereich der Kognition sei. Mit Hilfe von EEG-Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass bei „Menschen mit akuten schizo-phrenen Störungen eine intensive Überlagerung der Gefühlslandschaft mit dem Affekt Angst“ gegeben ist (195). Als weiteres Argument gegen die Auffassung des Primats einer Denkstörung bei Schizophre-nen führt Thomas Wosch Ergebnisse von Untersuchungen mit dem Integrierten Psychologi-schen Therapieprogramm (ITP) an, bei dem der angenommene kognitive Symptomkomplex (Denkstörungen) mit kognitiver Therapie durch Training von semantischen Bezügen und Re-

Einstimmen der Instrumente und der Teilnehmer Verbale Trance-Induktion mittels geführter Meditation Klangtrance

- Monocord - Monocord und Obertongesang - Tanpura und Gesang (Wiegenliedähnlich) - Tanpura und Tabla - Tanpura, Didgeridoo und Oceandrum - Gong - Stille

Rücknahme der Trance - Koto oder Flöte und Tabla unterstützt von der Shrutibox

Aktive Gruppenimprovisation Spontanes Maler und/oder Gedicht Verbale Integration mittels Kreisritual mit zweimaliger Runde Schriftliche Integration mittels Eigenprotokoll 1-2 Tage nach der Sitzung

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aktionsfähigkeit beeinflusst werden sollte. Dabei zeigte sich, dass die Patienten zwar neue Denkmuster lernen konnten, sich aber im Bereich der sozialen Wahrnehmung und Problemlö-sung keinerlei Veränderungen zeigten. Die beiden Autoren (Roder und Brenner, a.a.O.) ka-men auf diesem Wege „zu der Annahme, dass zu Beginn der Therapie ‚an eine stärkere Be-achtung psychophysiologischer und emotionaler Prozesse’“ zu denken ist, denn es seien „star-ke emotionale Blockaden im späteren Verlauf des Erlernens sozialer Fertigkeiten zu beobach-ten“ gewesen (196). Die positiven Erfahrungen im Bereich der Soteria Projekte in Amerika (Mosher, L.R. und Burti, L. Psychiatrie in der Gemeinde, Bonn 1992) und Schweiz (Aebi, E., Ciompi, L., Han-sen, H.: Soteria im Gespräch, Bonn 1994) erhalten durch diese Untersuchungen zusätzliche Begründung und Bestätigung. Hier „wird dem gestörten überdimensionalen Affekt Angst mit den Mitteln zwischenmenschlicher Beziehungen und einer Wohngemeinschaft begegnet. Zu dem besonderen Milieu gehört für die verstärkt akuten Erscheinungen von Schizophrenie e-benfalls das ‚weiche Zimmer’ mit der 1:1-Begleitung rund um die Uhr“ (196). Aus alledem folgert Wosch die Indikation einer musiktherapeutischen Einzelmusiktherapie für Patienten in akuten schizophrenen Zuständen, deren Wirksamkeit er an Hand von zwei sti-lisierten Fallbeispielen nachweist (198-204). Das Setting ist: zweimal wöchentlich jeweils ei-ne Zeitstunde in der verlässlichen Dyade mit Methoden der musikalischen Improvisation auf Instrumenten und anderen vom Patienten angeregten musikalischen Aktivitäten. In diesen Fäl-len erwies es sich auch als sinnvoll, „die pharmakologische Behandlung nur gering zu halten und der Klientin eine Möglichkeit des Ausagierens und Verstehens ihres Zustandes zu geben“ (201).

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7.2 Musiktherapie bei Depression

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zum Thema Depression“ aus Henk Smeijsters: Grundlagen der Musiktherapie, Göttingen 1999 Versteht man „abnorme Trauer“ als Ausgangspunkt depressiver Erkrankungen, haben sich „die Psychoanalyse und Interpersönliche Therapie (Klerman)“ insofern bewährt, als sie „durch Äußerung der nach innengekehrten Aggressionen einen Trauerprozess in Bewegung“ bringen. Die bei Depressiven zu beobachtenden „disfunktionellen Kognitionen beeinflussen Emotio-nen“ und „negative Ereignisse“ werden „dem eigenen Unvermögen“ zugeschrieben. Sie leiden unter einem „Defizit an Verstärkung“. In der Therapie haben sich emotionale Äußerung, ins-besondere von gegen sich selbst gerichteten Aggressionen, bewährt, ebenso der „Ersatz von disfunktionellen Kognitionen durch funktionelle Kognitionen“ (kognitive Therapie), die Ver-hinderung von Hilflosigkeit und die Vermehrung von angenehmen Aktivitäten (Verhaltens-therapie) (147). Bei der Musiktherapie lassen sich tiefenpsychologische, kognitive und verhaltenstherapeuti-sche Zugänge nicht voneinander trennen, weil musikalische Erleben einerseits eng mit pri-märpsychischen Prozessen, mit Emotionen und präverbalen Erfahrungsinhalten verbunden ist und andererseits interaktive Handlung und symbolischer Ausdruck von sozialen Beziehungs-mustern ist. Die depressiven Symptome zeigen sich im musikalischen Verhalten der Patienten

1. durch Analogien, „die in der Musiktherapie noch nicht spezifisch musikalisch sind“, z.B. nicht auswählen können oder keine Initiative ergreifen

2. durch Analogien, die in der Behandlung einzelner musikalischer Parameter durch die Patienten erkennbar werden, „z.B.: - leise klingende Instrumente auswählen (Xylophon); - extrem empfindlich sein für Dynamik (sich abwenden von Klavier, Schlagzeug); - innerhalb eines begrenzten melodischen Umfanges spielen; - monotones und nicht rhythmisches Spiel; - in einem langsamen Tempo spielen; - musikalische Symbiose“ (149).

Theoretisch wäre zu erwägen, wie sich im Verlauf der Therapie die Bereitschaft,

- zu wählen und Initiative zu ergreifen, - Lautstärke zuzulassen, - Melodien zu entdecken und zu gestalten, - Rhythmen und Tempi bewusst und abwechslungsreich zu gestalten, und - eigenständig zwischen musikalischer Verschmelzung und Übereinstimmung (Symbio-

se) sowie Abgrenzung und Kontrast (Individuation) entwickelt (vgl. 148). Die oben dargestellte Symptomübersicht verdeutlicht, dass es bei der Therapie darum gehen muss, einen Zugang zu abgespaltenen und nicht mehr zugänglichen Emotionen zu öffnen, so-wie neue Erfahrungen im Bereich der sozialen Beziehungen zu finden. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit biographischen Situationen, in denen Verlusterfahrung nicht ausrei-chend betrauert wurde, in denen die natürlichen Gefühle nicht ausgelebt wurden und in denen persönliche Kränkungen nicht wahrgenommen und verarbeitet wurden. Die nachfolgende Fallgeschichte verdeutlicht einen solchen Therapieprozess:

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Fallbeispiel Frau N; Diagnose „Depression“ (endogen?) Alter: 62 Jahre, verheiratet; eine Tochter, Mitte 30, ledig; der Ehemann ist Stahlarbeiter. ___________________________________________________________________________ 1. Sitzung (12.11./S.63): Es sind sechs Patientinnen gekommen. Ich stelle die Instrumente vor und lasse sie von Patientin zu Patientin wei-tergeben und ausprobieren. Anschließend sprechen wir darüber. Eine Mitpatientin (Frau W.) berichtet, dass sie beim Klang der großen Klangschale und den Glockeninstrumen-ten Angstgefühle und eine „Friedhofsstimmung“ erlebt hat sowie starke Unruhe; den Impuls verspürte „Raus! Nichts wie weg hier!“; dabei ist sie sehr aufgeregt und presst ihre Fäuste in den Nacken; ich halte ihr die Hand-trommel hin und bitte sie, darauf zu spielen, was sie in den Händen spürt; es kommt daraufhin zu drei wilden Aggressionsausbrüchen auf der Trommel. Anschließend ist Frau W. erleichtert, äußert aber auch Schuldgefühle, dass sie sich so habe gehen lassen. Daraufhin sagen Frau N. und ebenso Frau S., sie wünschten sich, auch einmal so aus sich herauszukommen. Wir beschließen nach dieser Sitzung, Frau N. zusammen mit Frau S. und Frau W. in einer Musiktherapiegruppe zu behandeln. ___________________________________________________________________________ 2. Sitzung (19.11./S.67): Ich bitte die drei Patientinnen, jede solle sich ein bis zwei Instrumente wählen, um darauf zu spielen, wie es ihnen geht; Frau N. will auf der Mundharmonika Lebensfreude spielen aber sie wisse nicht, wie das geht; ich gebe ihr die Hilfe, sie solle sich vorstellen, wie ein vierjähriges Kind das machen würde. Wir spielen dann alle gemeinsam mit ihr „Lebensfreude“. Beim anschl. Austausch sagt Frau W., es gehe ihr schlecht, sie hätte am liebsten das Instrument (Glockenspiel und Flöte) in die Ecke geworfen; sie befinde sich „in einem Loch.“ Sie spielt, wie sie sich fühlt; kurze Tonfolgen auf dem Glockenspiel mit Filzschlegel. Danach sagt sie, das seien „klagende Hilferufe“; ich frage: „wer klagt da?“; Frau W. sagt, ein kleines Mädchen auf einer Wiese, das verzweifelt ist, keinen Weg sieht, im Kreis herum läuft und weint. Wir spielen die Wiese; Frau W. das Mädchen. Frau N. berichtet von einem Bild, das sie irgendwo einmal gesehen habe, sie wisse aber nicht mehr wo; es zeige eine abschüssige Wiese, die an einen Abgrund stößt; am Rand des Abgrundes steht ein kleines Mädchen, und hinter ihm ihr Schutzengel. (Am Ende der Sitzung fällt ihr ein, dass dieses Bild über ihrem Kinderbettchen hing.) Frau W. wird während des Erzählens unruhig; sie wirft plötzlich das Glockenspiel auf den Boden, nimmt sich ei-ne Handtrommel, auf die sie mit den Fäusten einschlägt, bis das Trommelfell reißt. Ich bitte sie, auf der Conga weiterzutrommeln, was sie auch tut, wobei es ihr allerdings zunehmend schwerer fällt zu stehen; schließlich sinkt sie an der Conga zusammen und kauert am Boden. Sie sehe ihre Mutter und Schwester vor sich, die sie verspot-ten, mit den Fingern auf sie zeigen und ihr sagen, sie solle sich zusammenreißen, sich nicht so gehen lassen u.s.f.. Sie setzt sich auf einen Stuhl; sie sei „ganz unten“. Sie hat die Augen geschlossen, und ich frage sie, was sie sieht; sie stehe wieder am Abgrund; jetzt trete sie all-mählich zurück; jetzt drehe sie sich um und laufe über die Wiese einen Weg entlang; sie sehe jetzt auch Blumen und Schmetterlinge. Die anderen spielen die Wiese. Jetzt komme sie an einen Bach, den sie mit Hilfe einer schmalen Brücke, die aus zwei Planken besteht, überquere. Sie sehe ein Haus; dort stehe eine Gestalt, die ihr zu-winkt und sie zu sich ruft; es sei ihr Vater. Der habe sich vor sieben Monaten das Leben genommen. Ich frage, was sie jetzt tun wolle. Sie geht nicht zu ihm; sie sagt ihm, was er ihnen angetan habe, sie so einfach im Stich zu lassen, macht ihm Vorwürfe und läuft dann wieder fort, den Weg zurück, der Tod hinter ihr her, bis sie wieder vor dem Abgrund steht. Dort entschließt sie sich, zu leben; sie sagt dem Tod und dem Vater: „Ich will leben.“ Sie erzählte dann noch über die näheren Umstände des Suizids ihres Vaters, über die Beerdigung, an der sie nicht teilgenommen habe. Am Ende der Sitzung sprechen wir über Ursachen der Depression, z.B. unerledigte Trauerarbeit. ___________________________________________________________________________ 3. Sitzung (26.11./S. 81): In dieser Sitzung ist das Thema die Familien der Patientinnen; die einzelnen Rollen werden mit Musikinstrumen-ten dargestellt. Im Verlauf der Arbeit thematisiert Frau N. die Beziehung zu ihrem Ehemann; wir stellen die mu-sikalisch dar; sie wählt für ihre Rolle die Klanghölzer; mir weist sie die Rolle des Ehemannes zu, die ich auf der Handtrommel musikalisch darstellen soll; sie spielt mit leisen Schlägen und sanftem Reiben, wobei sie mich zu äußerst leisem Spiel zwingt, um sie nicht zu übertönen. Am Ende schlägt sie deutlich und für alle vernehmlich gegen das hintere Ende des Instruments; ich beschreibe ihr Spiel; vorne leise und sanft spielen und von hinten ei-nen Schubs geben. Dabei wird viel gelacht. Frau N. erkennt, wie sie den Kontakt bestimmt und dass ihr Mann dabei durchaus nicht immer in der stärkeren Position ist. ___________________________________________________________________________ 4. Sitzung (3.12./ S. 96): Frau N. kommt nicht zur Musiktherapie. ___________________________________________________________________________

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5. Sitzung (9.12./S. 103): Frau W. kommt sehr bald zum Thema; zunächst äußert sie Wut auf eine Mitpatientin; dieses Gefühl drückt sie mit Rasseln aus; ich antworte ebenfalls mit Rasseln; dann kommt die Wut gegen ihren Schwager zum Ausbruch; zugleich empfindet sie Schuldgefühle und macht sich Vorwürfe wegen ihres Wunsches nach Zärtlichkeit und se-xueller Befriedigung. Über diese Thematik kommt sie an die Wut gegen ihren Ehemann, von dem sie sich ver-nachlässigt fühlt. Es kommt zu einem Dialog zwischen 2 Seiten in ihr: Die eine die sich abgrenzt, Wut empfindet gegen die Männer, von denen sie sich schlecht behandelt fühlt; die andere, die sich nach Zärtlichkeit und sexuel-ler Befriedigung sehnt, der sie nun auch ihrer Berechtigung zuspricht; bisher habe sie diese nur abgewehrt bzw. sich ihrer geschämt oder sie moralisch abgewertet („schmutzig, dreckig, etc.“), zugleich ihr aber in Form von Selbstbefriedigung oder Nachgiebigkeit dem Schwager gegenüber Raum gegeben. Im Akzeptieren dieser Seite empfindet sie zugleich die Wut gegen ihren Mann; als sie die ausagiert (in Form eines tätlichen Angriffs gegen mich), spürt sie die Verlassenheitsangst und, dass sie ihren Mann sehr liebt. Zum Abschluss spricht sie ihre Angst an, sie könne „zum Triebtäter werden“, die sich nach diesem Erleben aber auflöst. Wir betrachten die Beziehung Wut - kalte Wut - Hass - Entladung nach innen oder außen. Die Notwendigkeit, ihrem Ehemann in diesen Prozess mit einzubeziehen und zu lernen, Wut zu zeigen wo sie entsteht in den einzelnen Situationen (z.B. gegenüber den Mitpatienten). Frau N. begleitet den ganzen Prozess und erkennt die Parallelen zu ihrem eigenen Leben; „mein Mann würde mich auf der Stelle verlassen wenn ich ihm offen meine Wut zeigen würde; er liebt mich nicht; andererseits aber ist er eifersüchtig; d. h., er liebt mich wohl doch.“ Die Problematik besteht darin, dass die verhüllte Wut auch die Liebe verhüllt. ___________________________________________________________________________ 6. Sitzung (16.12./S. 116): Frau N. beschreibt die Beziehung zu ihrem Ehemann; insbesondere dass sie seit 2 Jahren nicht mehr bei (und mit) ihm schläft („wegen Alkohol“; - sie hat ihn irgendwann einmal vor die Alternative gestellt: „entweder die Kneipe oder ich“) - sie hat deswegen Schuldgefühle. Andererseits ist diese Abgrenzung notwendig gewesen, viel-leicht aber nicht konsequent genug; Frau N. betont ihre Schwierigkeiten Konflikte konsequent auszutragen. Wir spielen dann „Streit“, wobei Frau N. sich anschließend nicht erleichtert fühlt; sie spürt Angst („das dicke Ende kommt nach“). In diesem Zusammenhang berichtet sie über ihre Kindheit und ihren jähzornigen und frommen Vater, der sie mit einem Riemen verprügelte, an dessen Ende sich eine Schnalle mit der Aufschrift befand: „Gott mit uns.“ Diese alte Angst ist jetzt noch spürbar, wenn sie sich mit ihren Angehörigen auseinandersetzt. Frau W. spürt einen spitzen, schwarzen Kloß mit vielen Zacken im Magen; mit den Fingernägeln macht sie ein kratzendes, nagendes Geräusch auf der Handtrommel. Bei Unterstützung mit der Stimme kommt der Kloß her-aus; sie wirft ihn symbolisch hinter sich, ist erleichtert und Gesicht und Schultern entkrampfen sich. Sie bringt im Gespräch den Kloß mit den permanenten „Sticheleien und Verletzungen durch den Ehemann“ in Beziehung.

1. Musikmalen (18.12./S. 122): Frau N. malt zur Musik von Jade Warrior mit Wachsmalstiften eine Bildergeschichte; die Herzschlagkurve mit unterschiedlichen Phasen; die Herzschmerzen (ein rotes Herz), dass die ihr immer dazwischen kommen. Ein Baum und eine grüne (Hoffnung) und eine dunkle (traurige) Blume, die eigentlich so schön hell sein könnte, als Ausdruck für die „Sehnsucht nach einem natürlichen Leben“. Ein farbenfroher Kreis von vielen Gefühlen, der aber schwarz eingerahmt ist („da bekomme ich immer eins auf den Hut“), ein „Schwänzchen von den Gefühlen“ ragt aus dem schwarzen Kasten, der rechts unten leicht durchbrochen ist, heraus.

___________________________________________________________________________ 7. Sitzung (21.12./S. 124): Frau N. spielt die Traurigkeit mit Klanghölzern; eine Art „klagender Kreislauf“ - vor und zurück, vor und zurück..; die Aufgabe, solange zu spielen bis sie den Wunsch spürt, etwas zu verändern, führt sie aus, indem sie sehr lange das monotone,

anhaltend klagende Spiel fortsetzt, das dann ganz allmählich in einen anapästischen Rhythmus einmündet, in dem sie sich ganz wohl fühlt; wir, die anderen in der Gruppe, stimmen in diesen Rhythmus ein (Tabla, Schellenring, Xylophon); es entsteht „eine richtige Melodie“ (Frau N.), der sie sich gern überlässt; sie berichtet dann, dass es ihr zu Hause wesentlich besser gegangen sei; keine Symptome seien aufgetreten; sie habe an scheinbar kleinen Dingen (Adventskranz, Plätzchen, zum Kaffeetrinken fahren) Freude gehabt. ___________________________________________________________________________ 8. Sitzung 28.12./S.127):

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Frau N. und Frau W. nehmen an der Sitzung teil; außerdem eine Schülerin und Frau Dr. K. als Co-Therapeutin; beide Patientinnen wählen Rasseln als „ihr“ Instrument; Frau N. (sie sagt sie sei sehr müde) die hölzerne (lei-sen), Frau W. die laute (aus Plastik); im Spiel findet eine Auseinandersetzung statt, in deren Verlauf Frau W. kurzzeitig heftig spielt, Frau N. aber dreht das Instrument beständig, „ausdauernd“ (Frau W.) leise, so dass Frau W. schließlich „aufgibt“ („hör auf damit - das ist als wenn ständig jemand um mich herumschleicht!“); sie (Frau N.) sei die stärkere. Frau N. sagt, dass dies nur so scheine, in Wahrheit sei sie schwach und sehr traurig (weint); zu Hause könne sie sich (insbesondere vor ihrem Mann) nie schwach zeigen; am dicken Ende müsse sie doch immer wieder alles ausbügeln, sie müsse die Starke sein; ihr Mann habe sie wohl noch nie schwach gesehen. Frau W. wiederum hat Frau N. auch nie so schwach gesehen, sie komme ihr ganz fremd vor; sie selbst habe sich zuerst von Frau N’s Tönen (langsames Drehen der Rassel) bedrängt gefühlt, dann will sie sie trösten, was ich a-ber verhindere; sie solle langsam Schritt für Schritt auf sie zugehen; sie zuerst anschauen, dann fragen, ob sie zu ihr kommen solle, und dann erst auf sie zugehen, wenn sie es will. Das aber kann sie nicht; sie benennt ihre Schwierigkeit, Blickkontakt zu haben. Solange Frau N. ihrem Mann nicht ihre schwache Seite zumutet, kann dieser nicht auf eigenen Füßen stehen, wird er auf seine schwache Seite festgelegt. Nun habe sie hier ihre schwache Seite gezeigt und fühle uns gegen-über Scham. Sie holt sich Feedback von jedem aus der Gruppe, dass sie sich nicht zu schämen braucht. Frau W. beschreibt ein „Feuer“ in sich, das ihr sagt, sie solle weiter vorangehen und nicht zurück oder seitwärts auswei-chen. Sie habe Mühe mit einem schwachen Gegenüber umzugehen, es sei alles in ihr verwirrt (früher hat Frau W. gesagt, Frau N. sei der ruhende Pol, der allen Halt gibt; nun kann die Beziehung in der alten Weise nicht mehr fortbestehen. Es muss etwas neues gefunden werden; das sollen, so meine Anweisung, sie in den nächsten Tagen üben: Einander Schwachheit zuzugestehen und sich zu sagen, was sie brauchen, wenn sie schwach sind.) ___________________________________________________________________________ 9. Sitzung (6.1./S. 133): Frau W. ist zuversichtlich und teilt mit, sie habe bei Frau N. die Beobachtung gemacht habe, dass sie stärker und sicherer geworden sei, sich besser durchsetzen könne etc. Frau N. kann diese Fremdbeobachtung nicht annehmen und teilt mit, dass sie sich ausgesprochen schwach und elend fühle, Angstgefühle (auf der Brust) spüre. Sie weint. Es gelingt ihr auch, die Kränkung zurückzumelden darüber, dass Frau W. etwas anderes in ihr sehen will, als tat-sächlich der Fall sei. Sie spricht die Angst aus, dass Frau W. sie nicht mehr mögen würde, wenn sie wirklich ihr Schwachsein zur Kenntnis nähme. Frau W. spricht von Schuldgefühlen (weil sie Frau N. verletzt habe) und von Verwirrung und innerer Leere („ich spüre nichts in mir“); da wo das Bild der starken Frau N. war, ist es nun leer. Sie könne Frau N. nicht mehr ver-stehen. Ich frage ob sie sie denn verstehen wolle und wie sie das bewerkstelligen wolle. Ich rege an, dass sie sie anschaut und sich klarmacht, was sie sieht; soweit kommt sie. Dann spürt sie ihre Schuldgefühle und schaut nach innen; sie solle sich entscheiden was sie nun anschauen wolle, Frau N. oder ihre Schuldgefühle; sie berichtet, dass sie sich ihrer Familie gegenüber schuldig fühle, weil sie nun schon solange weg sei etc. Nun spüre sie ihre eigene Schwachheit. Ich richte die Frage an Frau N., was sie an Frau W. sehe und was sie machen wolle; wir üben detailliert wahrzu-nehmen (ist traurig), zu fragen, (was wünschst du dir von mir?) und zu entscheiden (was will ich, was kann ich von dem Wunsch erfüllen?) und Rückmeldung geben und es dann tun. Zusammenfassend gesehen war es ein nachträgliches Erledigen der Weisung vom letzten Mal (wahrzunehmen wie es dem anderen geht und was er wohl auch tatsächlich braucht); beim abschließenden musikalischen Gespräch spielt Frau W. dieselbe Musik, die sie bei der schwachen Frau N. aufgeregt hat und die sie unter keinen Umständen mehr hatte hören wollen („hör auf damit, das ist als ob jemand um mich herum schleicht und was von mir will!“, 28.12.): Holzrassel leise um-drehen. Damit hat Sie Frau N’s Frage, ob sie sie auch als schwaches Gegenüber mögen würde, bereits musika-lisch beantwortet. _________________________________________________________________________________________ 10. Sitzung (13.1./S. 147): Frau N. äußert Angst, dass sie bereits nun schon entlassen werden soll, wo sie sich noch unfähig fühlt. Ich frage, was sie mit der Angst machen wolle? Sie versucht sie zu verharmlosen, sie wegzuerklären, sie weint, sie malt sich alles mögliche aus, nur handeln tut sie nicht und die zuständige Ärztin fragen, die ja (als Co-Therapeutin) neben ihr sitzt (!); als ich sie darauf hinweise, sagt sie, dass sie wohl auch daran gedacht habe aber nicht wisse, „ob man das hier dürfe.“ Außerdem, als klar ist , dass sie es darf, hat sie nicht den Mut, zu fragen („vielleicht später, wenn ich sie mal zu-fällig treffe, frage ich ob sie mal Zeit für mich hätte“); schließlich fasst sie allen Mut zusammen und fragt; an-schließend fühlt sie sich „um 6 Zentner erleichtert“. Im weiteren Verlauf erzähle ich das Märchen von der Frau mit dem schweren Korb; wir spielen dieses Märchen mit den Instrumenten; Frau W. meint, das Abladen (des schweren Korbes) sei Stück für Stück in der Musikthera-pie geschehen. Frau N. sagt sie könne nicht „schreien, wenn sie wütend ist.“ ___________________________________________________________________________

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2. Musikmalen (15.1./S. 154): Frau N. malt zur Musik von „Rondo Veneziano“ ein „Meer von Traurigkeit“ mit einem einsamen schwarzen Raben und einer kleine roten Sonne (Fingerfarbe). _________________________________________________ 11. Sitzung (20.1./S. 159): Heute nehmen wir Abschied von Frau W., die entlassen wird. Wir spielen alle Gefühle des Zauberspruchs. Bei der Darstellung des Gefühls Wut sind alle hinterher sehr erheitert. Frau N. spielt danach das Lied „An der Saale hellem Strande“, zum Thema Freude. Ich gebe ihr zum Schluss der

Sitzung die Mundharmonika mit, damit sie für sich selbst üben kann. ___________________________________________________________________________ 12. Sitzung (21.1./S. 164): Auf Wunsch der Patientin eine Einzelsitzung; sie übe das Spiel auf der Mundharmonika, doch ihr Mann nehme sie ihr immer wieder weg, um selbst zu spielen. Er hat zwei Wünsche zu seinem Geburtstag: eine Mundharmoni-ka und mit ihr zu schlafen (nach 2 Jahren); sie sei dazu noch nicht weit genug, sie würde seine Unsauberkeit (lan-ge Fingernägel und zotige Witze) ekeln; sie wünsche sich vielmehr Zärtlichkeit, die er ihr nicht zu geben gelernt habe. Vorschlag meinerseits: zu sagen, dass sie wohl gerne mit ihm schlafen wolle, aber dazu ihre Bedingungen und Wünsche formulieren solle. In der jetzigen Therapiephase sei es wichtig, nachdem sie die Traurigkeit zulas-sen könne, auch die Aggressionen anzunehmen. ___________________________________________________________________________

3. Musikmalen (22.1./S. 168): Frau N. malt (mit Fingerfarben) zum 2. Satz der 6. Sinfonie von Beethoven einen Wildwasserfluss, ein Kanu, eine Wiese, keinen Berg (!), obwohl sie einen habe malen wollen; dann hätte sie aber nicht mit dem Boot bei den Steinen ans Ufer gehen und der Gefahr ausweichen können; aufgrund technischer Unzulänglichkeiten (?!) sei es ihr nicht gelungen, den Berg und die Felsen zu malen, die das verhindert hätten. Das Bild zeigt deutlich Möglichkeiten, mit Aggressionen umzugehen. _________________________________________________ 13. Sitzung (27.1./S. 175): Es ist die letzte Musiktherapiesitzung vor der Entlassung aus der Klinik; Thema Abschiednehmen. Ich lade sie ein, sich damit auseinander zu setzen, was sie

mitnimmt und was sie hier lässt. Was sie mitnimmt, sei das Gefühl bzw. die Erfahrung, Verständnis und Geduld von uns bekommen zu haben außerdem: ihre Krankheit; diese (als Klangschale symbolisiert) enthält: Angst (Trommel), Verzweiflung (Holzrassel), Kummer (Plastikrassel), Traurigkeit (Melodie „Die alte Kapelle“ auf der Mundharmonika. Letztere legt sie nicht in die Klangschale (Klangschale gleich Krankheit), sondern legt sie neben sich; später kommt ihr Mann in der Sitzung dazu und setzt sich ihr gegenüber; die Schale steht zwischen ihnen; ich frage Frau N., was sie sich von ihm wünsche; sie wünscht sich von ihm, dass er, wenn sie Angst hat, nahe bei ihr ist - aber (im Bild) die Klangschale ist beiden im Weg; die Schale steht zwischen ihnen wenn er et-wa zu ihr sagt, sie solle sich zusammenreißen etc.; das wäre so als wenn sie die Schale allein auf dem Schoß hät-te. Ich sage, es sei ihre gemeinsame Aufgabe, die Schale beiseite zu schaffen; mit dieser Aufgabe lassen wir sie eine Weile allein im Raum und warten, bis sie uns wieder herein holt; danach holt Frau N. uns wieder in den Raum: Sie hätten den Weg zueinander freigemacht. Damit endet die Therapie. Sie sitzen nebeneinander auf der Couch und haben die Mundharmonika zwischen sich liegen. Ich empfehle ihnen zum Abschluss, mit der Thera-peutin ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen und eine psychotherapeutische Weiterbehandlung anzustreben.

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Die nachfolgende Übersicht zeigt, wie der therapeutische Prozess zwischen Themen aus dem Bereich der Emotionalität und des Beziehungsgeschehens hin- und herpendelt. Neue Zugänge zur Emotionalität ermöglichen Veränderungen auf dem Gebiet der Beziehungsgestaltung. Un-terschiedliche Instrumente dienen hierbei als emotionale Katalysatoren. Sitzung Nr.:

Ereignisse im Bereich der Emotionalität

Ereignisse im Bereich der Beziehungen

Musikinstrument

1. „ich möchte aus mir he-rauskommen können“

2. Lebensfreude als Ziel klagendes Mädchen am

Abgrund

Mundharmonika

3. Kontakt zum Ehemann: „zu-rückziehen und einen klei-nen Schubs von hinten“

Klanghölzer

4. „ich kann nicht wütend sein“,

Sehnsucht nach Liebe

5. Angst Ehebeziehung: Alkohol, kein Sex,

Erlebnisse mit dem prügeln-den Vater

Trommel

1. Musik-Malen

Herzschmerzen, Hoffnung, froher Kreis von Gefühlen in

schwarzem Kasten, mit „Schwänzchen“

6. Traurigkeit; aus klagendem Kreislauf wird eine richtige

Melodie

Klanghölzer

7. Schwäche zeigen, Bedürf-nisse äußern,

Rassel

8. Abgrenzung gegen Mitpati-entinnen

Rassel

9. Angst vor Entlassung Mut gegenüber der Ärztin 2. Musik-Malen

„Ein Meer von Traurigkeit“

10. Lied mit der Mundharmoni-ka

Wut spielen erheitert

Mundharmonika Trommel

11. Ekel gegenüber Ehemann, erotische Wünsche

3. Musik-Malen

Wildwasserfuß, Wiese, Boot, kein Berg

12. gemeinsame Sitzung mit dem Ehemann

(Integration von emotionaler und sozialer Thematik)

Alle Instrumente in der Klangschale

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„Aufgrund der oft massiven Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten“ bei depressiven Pati-enten hält auch Cornelia Tonn (Musiktherapeutische Umschau 2003, 120-133) Gruppenmu-siktherapie für „in der Regel indiziert“ (122). In Anlehnung an Yalom folgt sie der These, „dass eine Depression für sich alleine nicht behandelbar sei. Yalom übersetzt den Begriff ‚Depression’ in ihre interpersonalen Elemente: Passivität, Abhängigkeit, Isolierung, Unter-würfigkeit, Überempfindlichkeit gegenüber Trennung und Unfähigkeit, Wut auszudrücken.“ In ihrer langjährigen Praxis an der psychosomatischen Klinik in Bad Saulgau hat sie festge-stellt, dass sich in den musiktherapeutischen Gruppen mit Frauen „depressionsspezifische Themen“ zeigen die besonders sinnvoll mit musiktherapeutischen Mitteln, insbesondere der freien Improvisation, bearbeitet werden können:

- Leistungsorientierung - Aggression und Aggressionshemmung - Außenorientierung

„Die Fähigkeit zu verschmelzender Einfühlung in die tatsächlichen oder ver-meintlichen Ansprüche und Gefühle des Anderen, die häufig mit der Unfähig-keit einhergeht, sich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen“ (125).

- Harmoniestreben - Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein

„Depressive haben gelernt, „schmerzliche Situationen hilflos zu ertragen und eine aktive Bewältigung ihrer Situation, die das Risiko des Scheiterns und der Enttäuschung in sich birgt, von vornherein eher zu vermeiden“ (126).

- Bedürftigkeit „Hinter dem scheinbaren Altruismus depressiver Patienten stehen unbewusste überhöhte Erwartungen an die Umwelt gegenüber“ (127).

- Neid und Schuldgefühle - Realitätsflucht - Rücksichtnahme und unterdrückte Selbstbehauptung - Kontaktvermeidung

Markus Münsterteicher: Musiktherapie mit einer depressiven Patientin, in: Rosemarie Tüp-ker, Hans Hermann Wickel (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster: Lit, 2001, 168-176 Es geht dem Autor darum, musiktherapeutische Prozesse und Behandlungsmethoden vorzu-stellen und an einer konkreten Behandlungssituation beispielhaft zu verdeutlichen und zu er-klären. Die musiktherapeutische Behandlung bezieht sich dabei auf eine 62-jährige Patientin, die über einen Zeitraum von 2 Monaten einzel- und gruppentherapeutisch behandelt wurde. Sie war zu dieser Zeit Patientin der gerontopsychiatrischen Abteilung einer psychiatrischen Landesklinik und bereits das dritte Mal wegen einer depressiven Erkrankung in Behandlung (168). Zum Behandlungsprinzip des Autors gehört, „gemeinsam einen Behandlungsauftrag schon im ersten Vorgespräch miteinander zu entwickeln“ . Er sieht darin „den Vorteil, Verlässlichkeit und Überprüfbarkeit der Patientin gegenüber zu gewährleisten (169) Außerdem würden die Patienten in der Klinik nur allzu oft erfahren, „dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird“ (170). Nun sollen sie einen Raum erleben, in dem sie ihre psychosozialen Prozesse autonom gestalten können.

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Musikalisches Verhalten

Die erste Improvisation über spielt sie auf dem Xylophon durchgängig denselben Rhythmus:

(170) Therapeut spielt dazu auf dem Klavier stützend und „Halt gebend“, indem er „langsam, ak-

kordisch und ruhig“ das Spiel der Patientin untermalt; das Spiel der Patientin kommt ihm wie ein „Festhalten an einer Idee“ vor, von dem sie sich auch nicht abbringen lässt, als er sie

durch größere Melodiebögen und vielseitigere Motive zu musikalischer Weiterentwicklung animieren wollte, was aber bei der Patientin nicht verfing (171). Während der weiteren Sitzungen:

Das musikalische Prinzip, die ganze Improvisation über an einer Idee festzuhalten zeigt sie auch in der zweiten Sitzung. Sie wählte die Harfe, und spielte sie so leise, dass der Therapeut

Mühe hatte, sie nicht zu übertönen (vgl. 173).

neue musikalische Ideen: z.B. Harfe mit Schlägeln spielen anderen Instrumente

Das starre Motiv wird flexibler ausgeführt; es erklingen Melodiefragmente aus Kinder- und Volksliedern.

bei der Abschiedsimprovisation am Xylophon gleichbleibende Struktur,

die aber ihre starre Eingebundenheit zu Gunsten flexibler gehandhabter Rhythmik verändert,

Variationen und größere Melodiebögen enthält.(176) Emotionen:

- Über sich selbst sagt sie: „Ich muss immer weinen und weiß nicht warum ...“ (169). - fällt ihr schwer, über Gefühle und inneres Erleben zu sprechen; stattdessen themati-

siert sie somatische Beschwerden: Schmerz im linken Arm, für die es aber keine phy-sische Erklärung gibt. Der Autor versteht die als „Nebenschauplatz“, der die eigentli-chen Probleme „nur sehr oberflächlich berührt“, dennoch aber für die Patientin wichtig ist, weil man ihre depressive Stimmungslage nicht sieht, wohingegen die Schmerzen im Arm ihr Ausdruck verleihen, der zu respektieren ist (172).

- Mit der Harfe in der zweiten Improvisation findet sie eine Möglichkeit, „ihre körperli-chen Schmerzen nicht zum Handicap werden zu lassen. Indem sie sich für die Harfe entschied, entschied sie sich für den Umgang mit ihrem Leiden. ... Beim Spielen waren die Schmerzen nun kein Thema mehr“ (173). Die Abschlussimprovisation findet wie-der am Xylophon statt, ohne dass von Schmerzen im linken Arm die Rede ist.

- Verändertes Zeiterleben: dass die Musiktherapiesitzung so schnell um sei (174) - auch Spaß taucht auf (175)

Lebensthemen:

- Zu Anfang gilt ihre Sorge „fast ausschließlich der Sorge um ihren Ehemann, der „ohne sie zu Hause zurecht käme“ (169).

- „unvollständig verarbeitete Tod der Mutter und häusliche Konflikte“ (174); - das Ausblenden von eigenen Erfolgen oder Fortschritten (Leistungen, die sie beim

Ausrichten des Geburtstags ihres Ehemannes vollbracht hat (174). Kindheitserinnerungen Szenen aus Kindheit und Jugend werden zur Musik assoziiert.

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Ein Forscherteam am Centre Hospitalier Université Laval in Quebec hat ein Gen („P2RX7“) identifiziert, dessen Inaktivität sie für die Auslösung schwerer Depressionen verantwortlich machen. „Der Zustand von Mäusen, die an depressionsähnlichen Symptomen litten, verbes-serten sich erheblich, wenn man ihnen Substanzen verabreichte, die die Aktivität des Gens er-höhten. Umgekehrt stellten die Wissenschaftler fest, dass Stresshormone die aktivität von P2RX7 reduzieren. Daraus schließen sie, dass Stress einen Mechanismus auslösen kann, der Depressionen zur Folge hat,“ wobei es allerdings „auch auf weitere Faktoren“ ankommt, „wie etwa Umwelteinflüsse oder die Lebensumstände“ (Bild der Wissenschaft 11 / 2006, 14).

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7.3 Musiktherapie bei Abhängigkeitserkrankungen

Eine Abhängigkeitserkrankung liegt vor, wenn die Person sich zwanghaft auf die unablässige Einnahme eines Stoffes oder die Wiederholung bestimmter Handlungen (spielen, essen, arbei-ten etc.) fixiert, ohne damit aufhören zu können; sie erlebt dabei den Verlust sozialer Bindun-gen, den eigenen psychischen und physischen Zusammenbruch, ohne sich dem entziehen zu können. Die Krankheitsursache wird in „frühen Störungen der mitmenschlichen Kommunika-tion“ (Tölle, 1985, 162) gesehen, unter denen sich „Urvertrauen in diese Welt“ nicht entwi-ckeln konnte (Jores, 1981, 86). Die Wirksamkeit der Musiktherapie bei Suchtkranken resultiert aus der Tatsache, dass sich im nichtsprachlichen Melodie-, Klang- und Rhythmusereignis der Musik die frühe prä- und postnatale Mutter-Kind-Symbiose re-inszeniert. „Musik ist Mutterersatz“ (Rotter, 1984, 25). Auch die Droge kann die frühe Mutterbeziehung symbolisieren: Sie bietet Trost, befreit von Angst (z. B. Alkohol), sie gibt das Gefühl von Wärme und Geborgenheit (z. B. Heroin) oder sie wiegt in Träumen, erzählt Märchen und Phantasiegeschichten (etwa Haschisch oder LSD), sie ermuntert, spornt an und bestätigt (Kokain und Ecstasy). So wird kurzzeitig im Rauscher-lebnis der existentielle Mangel aufgehoben „die Sehnsucht nach Verschmelzung der Gegen-sätze und der Gegenüber“ gestillt; wie sich der Säugling einer guten Mutter, so kann sich der Konsument der Droge überlassen: Ihre Wirkung tritt zuverlässig ein, die Wünsche werden er-füllt, die Sehnsucht gestillt, das „Absolute“ verwirklicht „ohne Weg dorthin" (Dörner, 1984, 247). Auch in anderer Weise ist die Droge „Mutterersatz“: Sie re-inszeniert traumatische Ver-letzungen, indem sie am Ende die Rauschwirkung entzieht und den Süchtigen sich selbst überlässt. Der Abhängige sucht diesen Ort frühen seelischen Geschehens immer wieder auf, sucht das Verlassenheitstrauma zu überwinden, indem er den Glückszustand gelungener Sym-biose im erneuten Rausch erlebt, um letztendlich doch wiederum dem Trauma ausgesetzt zu sein und so fort. Unterdessen verarmt sein Wirklichkeitsbezug immer mehr, bis sein Denken und Handeln schließlich nur noch um die Droge kreist. Die Psychodynamik der Sucht ist zwanghafte Regression mit der Folge der Auflösung der Ich-Funktionen. Auch das Musikerleben ist mit Regression verbunden und basiert auf Projektion und Identifi-kation (Klausmeier, 1978, 231 ff). Bei musikogener Regression fühlt man sich verstanden und aufgehoben vor und jenseits des sprachlichen Begriffs. Wie die intrauterine Flüssigkeit oder die zärtlichen Berührungen der Mutterhände umgibt und stimuliert Klang als vibrierende Luft die Haut und dringt wie nahrhafte Muttermilch ins Innere des Menschen, was sich in psycho-physischer Resonanz bemerkbar macht (vgl. Willms, 1975, 25). Pulsschlag- und Atemfre-quenz, galvanischer Hautwiderstand, Hormonhaushalt, Stoffwechsel, Verdauung, Muskelpo-tentiale, Blutdruck, Status des Immunsystems und anderes verändern sich (vgl. Auerbach, 1982, 45, Scheytt, 1983, 222 ff, Liedtke, 1985, 219ff, Haselauer, 1986, Bolin, 1994, 32 ff, Ewers, 1994, 85, Müller, 1994, Jourdain, 1998, Neugebauer, 1998, Spitzer, 2000, Panksepp, & Bernatzki, 2002, Koelsch 2005). Claudia Schumann sieht die Gefahr der Sucht, der Abhän-gigkeit von Musik nicht nur bei Hörern von populärer Musik, sondern auch bei Klassikfans: Die Rauschfunktionen von Wagner-Opern werde in den „sich immer wieder erhebenden Ent-rüstungsstürmen bei zeitgemäßen Neugestaltungen“ deutlich; die Protestierenden fühlten sich „des Wiedererkennungswertes, dem sie ihr erhebendes Gefühl verdanken, beraubt“ (1982,30). Verlässlichkeit, wie sie eine gute Mutter bietet, verlangt der Regredierende von der Droge wie von der Musik. Aber auch bei der Musikausübung kann es zu suchtähnlichem Verhalten kommen, da sie eine Art von Gefühlsersatz zu bieten vermag. So könne man sich etwa „über Probleme, die das Zusammenleben mit anderen Menschen bringt, hinwegtäuschen, indem man sich in eine musikalische Welt illusionären Verständnisses flüchtet“ (ebd. 32). Musik erfüllt die Kriterien, „die die Voraussetzung zur Suchtentwicklung darstellen, nämlich: Regression in den primären Zustand, Einschränkung der Ich-Funktion, Kompensation struktu-

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reller Mängel durch narzisstische Ersatzbefriedigung“ (Frohne, 1985, 246). Dennoch ist sie in ihrer psychotropen Wirksamkeit der Droge nicht vergleichbar. Der entscheidende Unterschied liegt in dem ihr innewohnenden Appell an die Ich-Funktionen; sie öffnet nicht nur den Weg in die Regression, wie die Droge, sondern auch den in die Progression; sie ermöglicht Regressi-on im „Sinne vorübergehender Rekreation“, bei der der Mensch neue Kräfte sammelt, Ideen oder Visionen erhält, mit denen er sich gestärkt und motiviert der ihn umgebenden Wirklich-keit zuwendet (vgl. Haselauer, 1986, 89). Auch das Musikerleben reinszeniert frühe Traumata, jedoch in anderer Art als die Droge. Akustische Erfahrung basiert nämlich nicht nur auf frü-hen Verschmelzungszuständen mit der Mutter, sondern ebenfalls auf frühen Trennungserfah-rungen: Geräuschangst gegenüber der akustischen Umgebung (vgl. Willms, 1975, 26) wehrt der Säugling in seinem Schreien ab und verändert damit die ihn umgebende und beunruhigen-de Umwelt. Aus dieser wesensmäßigen Spezifik des Musikerlebens wurden musiktherapeuti-sche Vorgehensweisen abgeleitet, die zunehmend in der Arbeit mit Suchtkranken angewandt werden. Dabei wird gezielt die regressionsfördernde Qualität des Musikerlebens eingesetzt, durch die der Patient in Kontakt zu frühen Traumata kommt. Die dabei erlebten Gefühle von Schmerz, Angst und Wut, die sonst mit Hilfe der Droge umgangen wurden, können jetzt in gemeinsamer Improvisation und verbaler Reflexion erlebt, gestaltet, bearbeitet und integriert werden. Musiktherapie in der ambulanten Suchtkrankenberatung und –behandlung Ambulante Behandlung Suchtkranker setzt nach einer intensiven Beratungsarbeit ein (Motiva-tionsphase), während welcher der Klient Kontakt zu einer Beratungsstelle aufnimmt, sich zur Entgiftung entschließt, die i. a. stationär erfolgt, um dann auf Grundlage eines Behandlungs-vertrages, zu lernen, suchtmittelfrei zu leben. Adressaten dieses Behandlungsangebotes kön-nen auch Angehörige von Suchtkranken sein. Es besteht aus Einzel- und Gruppenarbeit. Zur Anwendung kommen psychoanalytische Therapie, Verhaltenstherapie und systemische The-rapie (Fuchtmann 1994, 29, 75 ff). Musiktherapie wird in diesem Kontext relativ selten praktiziert, obwohl die in der Literatur berichteten Praxisbeispiele positive Wirkungen aufzeigen. „Gute Prognosen“ sprechen Schmidtbauer/vom Scheidt „Konsumenten von Cannabis und anderen auch stärkeren Halluzi-nogenen (LSD, Meskalin)“ bei ambulanter Therapie zu, „wenn die Persönlichkeit noch nicht zu sehr verändert ist.“ Durch die „Arbeit mit Träumen und anderen, den Gefühls- und Trieb-bereich direkt ansprechenden Methoden“, wie z.B. durch Musik unterstützte Meditation lasse sich „verhältnismäßig rasch ein Ausgleich für den Verzicht auf die Räusche schaffen“ (1981, 539). Edda Klessmann schlägt als Therapiemöglichkeit bei jüngeren Drogenabhängigen in Er-ziehungs- und Beratungsstellen katathymes Bilderleben mit z.T. psychedelischer Musikbeglei-tung vor. (vgl. 1978,401). Peter Michael Hamel berichtet von Gruppen des Würzburger Klarinettisten und Psychothera-peuten Ernst Flackus, in denen „Tiefenentspannung durch Musikhören" praktiziert wird. Wäh-rend Entspannungs- und Meditationsübungen werden leise Zen-Meditationsmusik, später auch elektronische Musik oder Aufnahmen mit Naturgeräuschen eingespielt, deren unterschwellige Wirkung den Vorgang der Entspannung und Versenkung verstärken sollen. In Anlehnung an Kayser wird ein „Akkordbad“ empfohlen, dessen regelmäßiger Genuss tief angelegte libido-nöse Mangelerfahrungen auszugleichen vermöge (vgl. Hamel 1976, 197 ff, Smeijsters 1994, 149). Neben solchen rezeptiven Arbeitsweisen finden wir Hinweise auf aktive Musiktherapie bei Marx (1985,169 und 179) und Hartgenbusch (1993). Das zunächst lockere Spiel lasse bei immer mehr Leuten den Wunsch entstehen, ein Instrument zu erlernen, um mit anderen Rockmusik zu machen. Dabei werde Musikmachen als Möglichkeit entdeckt, „den Kick“ zu

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finden ohne Droge. Bei vielen sei diese Erfahrung „so sensationell, dass sie ihre Drogenprob-lematik u.U. geregelt kriegen" (161). Neben solchen sozialpädagogisch orientierten Ansätzen, bei denen die Betroffenen quasi „ei-nen gesunden Ersatz für die Drogen" und zugleich ein „Lernfeld für das Leben ohne Drogen“ (Butzko 1979, 148) kennen lernen, stehen tiefenpsychologisch orientierte Arbeiten, gestaltthe-rapeutisch inspirierte Therapie mit Suchtkranken bei Fritz Hegi (1986,) oder Isabelle Frohne & Maria-Magdalena Maack (1976). Harald Butzko folgt in seiner Behandlung dem Prinzip der freien Gruppenimprovisation als eines regulationsfreien Erfahrungsraumes, den die Grup-penmitglieder aufgrund ihrer gemeinsamen psychosozialen Erfahrungen in einer Weise ein-grenzen, die ihnen sinnvoll erscheint: Das Vermögen, akzeptable Lösungen in konfliktbesetz-ten Sozialbeziehungen zu finden, wird zunächst musikalisch und als symbolhaftes Handeln für Änderungen im Alltag gelernt; ästhetisches und konsumtives Verhalten kann sich neu or-ganisieren (1985, 4) und die Bereitschaft, sich mit der eigenen Sozialisation auseinander zu setzen und das Alltagsleben bedürfnisgerecht zu gestalten, wächst bei dieser Arbeit nachweis-lich (Butzko 1979, 159 f). Der Anteil derer, die Abstand von der Drogenszene nehmen und den Entschluss fassen, eine stationäre Entwöhnungsbehandlung aufzunehmen, wird mit 50% angegeben (Merkt 1986, 29). Auch Haardt und Klemm (1982) arbeiten in ihrer ambulanten Therapie mit Suchtkranken auf der Grundlage musikalischer Improvisation, nach dem Prinzip der Themenzentrierten Interak-tion (Cohn 1975), wobei die Aufmerksamkeit aller Beteiligten in der Balance zwischen „der Einzelperson mit ihren Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Schwierigkeiten“, dem Ich, der „Gruppe mit ihren speziellen Gruppenstrukturen, ihren Gruppenprozessen“, dem Wir, sowie dem Thema, das hier die Musik bzw. die durch sie aktualisierten Konflikte und Lebensprozes-se beinhaltet. Sie verbinden bei ihrer Arbeitsweise Improvisation mit Gruppenkompositionen (Haardt & Klemm 1982, 21 ff). Kapteina & Hörtreiter dokumentieren in ihrem Buch „Musik und Malen in der therapeuti-schen Arbeit mit Suchtkranken“ langjährige musiktherapeutische Erfahrungen in einer Sucht-kranken Beratungs- und Behandlungsstelle. Die Musiktherapie ist eingebunden in den Ge-samtplan der Beratungsstelle, poststationäre sowie präventive Behandlungsphasen umfasst. Musiktherapie geschieht je nach Therapieverlauf im Gruppen- oder Einzelsetting als integrier-ter Bestandteil der Gesprächstherapie, gestalttherapeutischen Übungen und primär- bzw. emo-tionaltherapeutisch orientierten Prozessen nach Cassriel (1975). Dabei werden durch Schreien Gefühle aktiviert und frühe traumatische Lebenssituationen aktualisiert. Die regredierende Person wird von der Gruppe musikalisch begleitet, mit Instrumenten oder der Stimme, und auch wieder aus dem erreichten Ausnahmezustand herausgeführt (vgl. entsprechende Fallbei-spiele bei Kapteina & Hörtreiter 1993, 132f, 139f und 141 t) Bei diesem Konzept werden die Möglichkeiten des Musikmalens besonders genutzt. Die Arbeit wendet sich gleichermaßen an Suchtkranke wie an deren Angehörige und Famili-en; dabei gelten die Partnerinnen von Suchtkranken als gleichermaßen schwer belastete Per-sonen, die den Suchtkranken brauchen, um eigene, meist depressive Persönlichkeitsanteile ab-zuwehren. Der Ausstieg aus der Sucht bei einem Familienmitglied hat eine Umstrukturierung des gesamten Familiensystems zur Konsequenz, die von ambulanten Hilfsangeboten naturge-mäß besser begleitet werden kann als von stationären. Kapteina und Kröger (2004) beschrei-ben eine musiktherapeutische Arbeit mit Kindern aus Suchtfamilien. Durch gemeinsames Mu-sizieren können die Kinder neue soziale Erfahrungen machen; insbesondere beim Malen nach Musik können sie belastende Erfahrungen in ihren Bilddarstellungen verarbeiten. Häufig wird aktiver Musikpraxis suchtpräventive Bedeutung zugesprochen. Rockmusik-Praxis wirke auf gefährdete Jugendliche „stabilisierend und befriedigend", fördere „Bestän-digkeit und Initiative" und trage zur Entwicklung sozialer Kompetenz bei (Fey 1993,158, vgl. auch Barthel & Fierlings 1985, 85, Dentler 1993, 2001, 2006a und b, Hartgenbusch 1993,

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Merkt 1984, 32, Peter, 1987, 29, Pleiner & Müller 1997, Rieger 1992, 21, Wahl 1987,27); ob in der Justiz-Vollzugsanstalt, ob mit jugendlichen Aussiedlern, ob in Kinderheimen oder Ju-gendhäusern: Das kathartische Ausagieren intensiver aggressiver und lebensbejahender Ge-fühle in Lautstärke und Rhythmus, die erfahrene Wertschätzung und Anerkennung in der Gruppe und von Seiten des Publikums und die Genugtuung darüber, ästhetische und emotio-nale Bedürfnisse autonom zu befriedigen, ohne auf die Konsumartikel der Musikindustrie an-gewiesen zu sein, entfalten offensichtlich die Perspektive, dass es lohnend erscheint, suchtmit-telfrei oder zumindest von Suchtmitteln unabhängig zu leben. Dentler, der mit delinquenten und gewaltbereiten Jugendlichen gearbeitet hat, hebt hervor, dass die Rolle des Pädagogen und Therapeuten darin bestehen, den Jugendlichen den Zugang zu Instrumenten und Proben-raum zu ermöglichen und sie zu beraten, wenn sie auf ihn zukommen. Geplantes pädagogi-sches Vorgehen lässt den Prozess von Vornherein scheitern (2001, 2006 a und b). Als Alternative zum Konsum gilt neben der Eigenaktivität die aktive Aneignung genießenden Hörens. Der Süchtige kann nicht genießen. Genuss zu lernen ist folglich auch Gegenstand der Suchtprävention. Lutz (1987) schlägt eine „Kleine Schule des Genießens“ für das Musikhören vor. Man solle sich „Zeit schaffen und Zeit lassen“ zum Hören, sich die Erlaubnis geben, einmal nichts weiter zu tun, als nur der Musik zuzuhören und zu genießen und dabei das in-ternalisierte Verbot des genussvollen Müßiggangs bewusst für sich aufheben. Man solle sich der Erfahrung des Klanggeschehens überlassen, sich ihr uneingeschränkt zuwenden, nicht „nebenbei" hören; für sich selbst herausfinden, welche Musik einem gut tut, ohne auf den all-gemeinen Musikgeschmack zu achten. Des weiteren solle man sich bewusst Ruhephasen im Alltag schaffen für diesen Musikgenuss und unter der Masse der Genussmöglichkeiten einiges wenige aussuchen. In diesem Zusammenhang kann auch das Entspannungstraining nach Christoph Schwabe Anwendung finden (1987).Arnold beschreibt eine ambulante Musik- und Tanztherapie, bei der rezeptive Verfahren mit Bewegungsimprovisationen verbunden werden (2003). Auch der Musikunterricht in der Schule kann sich die „Erweiterung und Vertiefung des Erle-bens und Wahrnehmens“ sowie „der ästhetischen Genussfähigkeit“ zum Ziel setzen. Sucht-prävention bedeutet hierbei, dass die Lehrenden eine Unterrichtsatmosphäre schaffen, in der Lebensfreude, Genuss und Ekstase ohne Drogen möglich sind (Kapteina 1994). Anselm Ernst fordert, dass im Unterricht Musik praktiziert wird, in der sich die Person als Ganzes erlebt (vgl. 1982, ebenfalls Pütz 1987, 1989), bei der alle Beteiligten von Musik als einem Ereignis sprechen, das sie persönlich angeht. Anregungen und Materialien für solch ganzheitlichen Musikunterricht sind bei Auerbach (1971), Holthaus (1993), Küntzel-Hansen (1993), Friede-mann (1971, 1973,1983), Meyer-Denkmann (1970, 1972), Seidel (1976), Schwabe (1992), Tischler (1990) und anderen zu finden. Von 1983 bis 1989 führte Christoph Schwabe an der Hochschule für Musik „Karl Maria von Weber“ in Dresden ein Forschungsprojekt durch, bei dem eine übergreifende musikpädagogische Konzeption für alle denkbaren schulischen, au-ßerschulischen Lernsituationen entwickelt wurde. Als Zielbestimmung dieser„musikalischen Elementarerziehung" wird die „stabile und ‚reiche’ Persönlichkeit angegeben, die in der Lage ist, sich Anforderungen und Belastungen ohne Gefahr von Behinderungen, aber auch von Schädigungen und frühem Verschleiß stellen zu können“. Die vier „psychischen Eigenschaf-ten“, die über den musikpädagogischen Prozess gefördert werden sollen, sind „Fähigkeit zum differenzierten Wahrnehmen, Fähigkeit zur sozialen Kommunikation, Fähigkeit zum differen-zierten Umgang mit Emotionalität und Fähigkeit zur spontanen und ausdauernden Handlungs-fähigkeit“ (Schwabe & Rudloff 1997, 49). (Literatur: Mthp. beim Kapitel Musiktherapie bei Abhängigkeitserkrankungen) Musiktherapie in der Stationären Behandlung von Suchtkranken

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Eine nicht repräsentative Untersuchung aus dem Jahre 2000 bei 25 Fachkliniken und Suchtab-teilungen in Landeskliniken ergab, dass in 41% der stationären Einrichtungen Musiktherapie vertreten ist (Mehlmann 2000). In den psychiatrischen Klinken kommt es in Abeilungen für stationäre Entgiftung i.a. zu sehr kurzen Therapieaufenthalten, so dass psychotherapeutisch ausgerichtete Maßnahmen selten angezeigt sind. Ein Konzept für den Einsatz von musikali-schen Erfahrungsmöglichkeiten, die das Angebot der Qualifizierten Entgiftung hilfreich be-gleiten, wird bei Kapteina (2004, 255 ff) beschrieben. Es orientiert sich an der bewussten Ein-bindung musikalischer Erfahrungen in das therapeutische Milieu der Suchtstation mit dem Ziel ästhetischen Genuss anstelle von süchtigem Konsum zu stellen. Der unkontrollierte indi-viduelle Konsum von Musik über private Abspielgeräte wird untersagt. Statt dessen kommen Musikzeiten für die gesamte Station und Hörübungen, Musikmalen, Singen und Tanzen in therapeutischen Gruppen zur Anwendung. Auch in anderen Kliniken darf Musik nur im Auf-enthaltsraum gehört werden, wobei die Mitarbeiter zuweilen auch die Musikauswahl vorneh-men (vgl. Roth, 1977, 58; auch Formann-Radl & Kryspin-Exner, 1976, 88 f). Stattdessen werden die Patienten zur aktiven Teilnahme an der Musikkultur und zu eigenem musikali-schen Ausdruck ermutigt. Längere musiktherapeutische Behandlungen in psychiatrischen Kliniken sind möglich, wenn Doppeldiagnosen vorliegen, wie z.B. bei Doris Sondermann beschrieben (2003, 5). Dann werden Abhängigkeitsstörungen im Zusammenhang mit anderen Diagnosen, wie Depression oder Angst mitbehandelt. Hinsichtlich der therapeutischen Ausrichtung stehen bis etwa Mitte der 1980er Jahre eher frei-zeit- und kulturpädagogische Zielstellungen im Vordergrund, wie etwa „Erziehung zur Selbst-disziplin, Steigerung der Lern- und Merkfähigkeit, Verbesserung des Konzentrations- und Auffassungsvermögens, Erweiterung des Interessenhorizontes, Hinführung zu kultureller Tä-tigkeit, Vermittlung von Gemeinschaftserlebnissen, Aufbau mitmenschlicher Kontakte, Mobi-lisierung des Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins, Förderung der Fähigkeit zur Teilnah-me an einem echten Leistungswettbewerb, Anregung zur Mit- und Selbstgestaltung sowie Förderung der Wissensbildung“ bei Formann-Radl & Kryspin-Exner (1976, 91), wobei die Musikerfahrung „Ersatzbefriedigung gegenüber der Droge" vermitteln solle (92, auch Lecourt 1979, 101). Das Handlungsrepertoire besteht aus „Musik hören, gemeinsamem Singen und Musizieren, Improvisation, Rollenspiel und Musiktheater.“ Es soll das Gemeinschaftserlebnis fördern und zum Gespräch über persönliche Probleme anregen (v. Schulz, 1982, 101; vgl. auch Breitenfeld, 1971, 141 f; Bullinger & Will, 1981; Rothenbacher & Truöl, 1981, 201 ff). Wolfgang Munderloh berichtet über die Wirksamkeit von Rockmusik-Praxis in der Therapie mit Drogenabhängigen. Blueskadenzen und Rockriffs ermöglichen schon bei relativ geringem Instrumentalkönnen Erfolge im Zusammenspiel. Damit werde der Wunsch vieler Jugendli-cher, ein Instrument zu spielen und sich musikalisch auszudrücken aufgegriffen. Bei diesem aktiven Musizieren sei die emotionale Beteiligung sehr groß, so dass „Gefühle wie Wut, Är-ger, Aggression oder Trauer" aufbrechen, die bis dahin oft mühsam mit den Rauschmitteln un-terdrückt oder reguliert wurden.“ Das aktive Musikzieren biete besondere Möglichkeiten, „Spannungen zu entladen und den Stimmungen Ausdruck zu verleihen.“ Große Lautstärke und Rhythmus erzeugen eine Art „High-Zustand, der als Gegenentwurf zur Praxis des Dro-genkonsums zu sehen“ sei. Die Skepsis, durch Rockmusik-Praxis werde die Rückfallgefahr erhöht, sieht Munderloh durch seine therapeutischen Erfahrungen nicht bestätigt. Vielmehr würden die Jugendlichen, je länger sie aktiv musizieren, desto eher beginnen, langfristige Per-spektiven für ihr Leben zu entwickeln (vgl. 1993, 154f). Die Anwendung rezeptiver Musiktherapie-Verfahren ist umstritten, kann sich doch im Hörer-lebnis süchtiges Konsumverhalten wiederholen, zumal bestimmte Musikarten mit Orten und Situationen assoziiert werden können, die unmittelbar mit der Suchterfahrung zusammenhän-gen, wodurch Rückfallängste und -phantasien ausgelöst werden können. Deshalb muss die

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Hörerfahrung in ein psychotherapeutisches Setting integriert sein, das die Patienten zu aktiver Hörhaltung führt, wie etwa beim Musikmalen (vgl. Kapteina & Hörtreiter 1993, 53 ff u. 211 ff, Arnold 2003), oder bei der Kombination mit instrumentaler (vgl. Pfeiffer, Timmermann u. a. 1986, 237f; Purdon & Hutschenreuter, 1983) oder mit tänzerischer Improvisation (Arnold 2003). Während die Musiktherapie, die Bullinger & Will dokumentieren noch eher als freizeitpäda-gogische Animation akzentuiert ist - sie basiert auf gemeinsamem Gesang, Kontaktspielen, Konzentrations- und Entspannungsübungen mit Musik, auf Nachspielen z. B. von kleinen Beat-Stücken, Volkstänzen und Improvisation in Verbindung mit bekannten Instrumentalstü-cken oder über Dreiklängen (vgl. 1981), tritt mit stärkerer psychotherapeutischer Betonung bei den neueren Therapiekonzepten die freie Improvisation in den Vordergrund, wie etwa bei Purdon & Hutschenreuter (1983). Fritz Hegi hebt für seine Musiktherapie in einer Drogenkli-nik hervor, dass die Patienten in die angstbesetzte Situation geführt werden, sich ohne Drogen auf Gefühle und Beziehungen einlassen zu müssen. Die improvisierte Musik als Drogensub-stitut ermögliche einerseits als Verhaltensspiegel neue Orientierung, anderseits könne sie aber auch zur „Ersatzdroge“ werden, die das suchtspezifische Verhalten bestätigt und den Musik-therapeuten zum „Dealer“ macht (vgl. 1986, 194 und 199). Holger Ehrhardt beschreibt die Musiktherapie innerhalb eines Modellversuches an der Abtei-lung für Abhängigkeitskranke der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin. Sie ist eingebun-den in ein psychotherapeutisches Konzept, das sich ausschließlich auf nonverbale Methoden stützt: Autogenes Training, Bilderleben, Elemente des Psychodramas und verschiedene kunst-therapeutische Verfahren (1985, 247). In der Musiktherapie stehen die Entwicklung von Phan-tasie und Aktivität, emotionale Erlebnisse, Beziehungsstörungen, Schuld- und Minderwertig-keitsgefühle sowie Zukunftsprojektionen und Verhaltensmodelle im Vordergrund. Außerdem soll „durch musikalische Betätigung aus dem Stegreif Spannungs- und Affektabfuhr ohne Suchtmittel erlebt" werden (252). Zentrale Behandlungsmethode ist die Improvisation nach Spielregeln, die vom Therapeuten vorgegeben werden. Bei Schwabe wird zusätzlich zur instrumentalen Improvisation in der Gruppe jeweils einmal pro Woche Bewegungsimprovisation nach „klassischer" Musik als musiktherapeutische Inten-sivtherapie sowie einmal pro Woche Gruppensingtherapie als Training geselligen Miteinan-ders ohne Droge empfohlen (vgl. 1983, 193). Bei Klaus Finkel wird die Verbindung von Musikimprovisation und Psychodrama dargestellt (1979, 175 f). Ursula Jetter (1986, 1991) verknüpft sie mit musikalischem und szenischem Rollenspiel, bei dem Puppen-, Masken- und Schattenspiel hinzutreten, Malaktionen, Bewe-gungsimprovisationen u. a.m.. Durch diese vielfältigen Handlungsanreize sollen die Risikobe-reitschaft gefördert ;werden, die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten und -bedürfnisse der Patienten berücksichtigt werden und das Prinzip der Improvisation als auf andere Erlebnisbe-reiche übertragbar und schließlich als Lebensprinzip erfahren werden, das neue Möglichkeiten im Umgang mit sich selbst und sozialem Kontext enthält (vgl. Kapteina & Hörtreiter, 1993, 228 f.). Annette Golomski (2007) beschreibt eine Musiktherapie auf der Akutstation für Suchtpatien-ten an einem Psychiatrischen Krankenhaus. Ihre Hauptmethode ist die musikalische Improvi-sation, die sie situationsgemäß themenorientiert, nach Spielregeln, mit dynamischen Elemen-ten, an Gegensatzpaaren orientiert, nach vorgegebenen Klangbildern oder Gefühlszuständen oder auch frei gestaltet und im therapeutischen Gruppengespräch reflektiert. Prozessuale Dia-gnostik und Evaluation geschieht über differenzierte Dokumentation „der musikalischen Pa-rameter Tempi, Lautstärke, Struktur und Dynamik, Intensität, Pausen, etc sowie Instrumen-tenwahl und die Gestaltung von Anfang und Ende der Improvisation, Stimmungen und Atmo-sphären, die musikalischen Beziehung der PatientInnen untereinander sowie auffallende Mi-

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mik und Körperhaltungen.“ Außerdem werden die Themen erfasst, die während der Reflexion aufkommen (9). Mund hebt hervor, dass bei auf Instrumenten gemeinsam improvisierter Musik „durch die symbolische Gestaltung musikalischen Materials und musikalisch-improvisatorisches Probe-handeln“ „pathologische Affektivität und Beziehungsgestaltung sowohl vermittelt zugänglich als auch vermittelt wandelbar“ werden. Deshalb trage „Instrumentalimprovisation mit dazu bei, dass der Suchtkranke pathologische Objektbeziehungen zugunsten größerer Autonomie korrigieren kann und die Fähigkeit zur Sublimation“ erwirbt (2000, 353). Veränderungen während der stationären Therapie in der Klinik für Suchtkranke wie in der forensischen The-rapie Abhängigkeitskranker konstatiert er auf der „Symbolebene“, wenn Patienten ihr musika-lisches Handlungsspektrum erweitern und differenzieren, auf der „Ebene der Emotionen“, wenn sie insbesondere nicht akzeptierte Gefühle zulassen können, und auf der „Ebene der Be-ziehungsgestaltung“, wenn die Patienten flexible, eindeutige, autonome und sichere Bezie-hungen aufnehmen und gestalten können (2000, 356 und 2005, 343). Zum Nachweis solcher Therapieerfolge hat er ein verlaufsdiagnostisches Messinstrument entwickelt, das aus einem Patienten-Fragebogen und einem Beurteilungsbogen besteht (2000, 357 f, 360 f und Flögel 2005, 347 f). Einzeltherapien werden selten beschrieben (vgl. Langenberg, 1983; Timmermann, 1983) und scheinen in der stationären Suchttherapie entsprechend wenig durchgeführt zu werden. Über-haupt wäre die Ansiedlung der Musiktherapie im stationären Setting zu problematisieren. Wegen ihrer hohen Effizienz und Wirkungsdynamik sollte sie nicht als Begleittherapie durch-geführt werden. Kapteina & Hörtreiter beschreiben, wie Musiktherapie in die psychotherapeu-tische Gesprächsgruppe integriert werden kann, indem der gesprächstherapeutische Prozess durch musikalische Spiele oder thematisch orientierte Improvisationen zu gerade aktuellen Themen wie z. B. Rückfall, Abschied oder körperlichen Empfindungen etc. vertieft und inten-siviert werden kann (1993, 232ff). Musiktherapie in einem „Wohnheim für chronisch mehrfachbelastete alkoholabhängige Men-schen“ beschreibt Anna Maria Unz (2007). In dieser soziotherapeutisch ausgerichteten Grup-penarbeit werden die Methoden „Lieder singen, instrumentale und vokale Improvisation, Mu-sikspiele, Malen mit Musik, Bewegung, Tanz, Entspannungsübungen und Instrumentenbau“ angewandt (14). Nach langer Behandlungszeit wird erkennbar, dass Musiktherapie auch bei diesem Klientel die Möglichkeit bietet, in sicherem Rahmen „neue Erfahrungen auf sich wir-ken zu lassen und daran wachsen zu können“ (23). Leideckers Studie „Klänge der Betäubung“ (2002) dokumentiert musiktherapeutische Grup-pen- und Einzeltherapie auf Grundlage der morphologischen Psychologie bei chronisch alko-holkranken Männern mit Korsakow Syndrom. Trotz massiver Gedächtnisstörungen, „brüchi-ger Bindung an Spiel- und Kommunikationsregeln“, rascher Ermüdbarkeit oder „’tröpfelnder’ Motivation“ können eigene Töne der Patienten „als ihr ureigenes“ und „unverwechselbar er-lebbare Klangaussage“ erfahren werden und als „Ausgangspunkt für neue seelische Beweg-lichkeit“ gelten (147). Die Untersuchung einzelner Therapieausschnitte erfolgt „im Stile mor-phologischer Beschreibungen“ nach dem Anhören von Tonaufzeichnungen anhand von Asso-ziationen, „Bildern, Gedanken, Erinnerungen,“ die von einer Studentengruppe zusammenge-tragen werden (121). Literatur Arnold, O. (2003): Musik- und Tanztherapie in der ambulanten Rehabilitation Drogenabhängiger. Begründung,

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Page 133: Skript Zur Vorlesung. 2009

133

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Musiktherapie als Element der Qualifizierten Entgiftungs-therapie

ERSTE STUFE:

MILIEUTHERAPIE

(Keine Abspielgeräte auf den Zimmern. offene Hörprogramme für die ganze Station 30 - 40 min. 2-3 x tägl.; offene Hörstun-den, 30 min. 2-3 x wöchentlich mit einführenden Erläuterungen und kurzen Feedback - Runden, mit thp. Personal)

ZWEITE STUFE:

“GENUSSTHERAPIE”

(ärztl. verordnet, 2 x wöchentlich an den neun Kriterien für das genussvolle Musik Erleben orientiert; offene Therapiegruppe, mit Musik- und Cotherapeut)

“SINGTHERAPIE”

(1 x wöchentlich verpflichtende Teilnahme an der offenen Sing-gruppe mit Musik- und Cotherapeut)

“MUSIK UND BEWEGUNG”

(1 x wöchentlich verpflichtende Teilnahme an der offenen Tanzgruppe mit Musik- und Cotherapeut)

DRITTE STUFE:

MUSIKTHERAPIE

(Sensibilisierung für Klang und Körpererfahrung, musikalische Kommunikation in der Gruppe mit Musik- und Cotherapeut)

Das Angebot der Qualifizierten Entgiftung richtet sich an suchtkranke Patienten, die bei einer Verweildauer von maxi-mal 18 Tagen die Entgiftung in einer Suchtstation mit dem Einstieg in eine psycho-therapeutische Entwöhnungs-Behandlung verbinden wollen. Für diese Form der Entgiftung habe ich im Team der psychiatrischen Abteilung eines Allgemeinkrankenhauses das nebenstehende Konzept einer begleitenden Musiktherapie entwickelt. Die Erste Stufe gilt für alle Patienten der Entgiftungsstation und be-stimmt das therapeutische Klima der Einrichtung. Die zweite Stufe gilt für Patienten, die in einen psychothera-peutischen Behandlungs-prozess eintreten wollen, und die dritte Stufe können Patienten nutzen, die aus besonderen Gründen (z.B.

wegen einer Doppeldiagnose) längere Verweildauern haben.

Musik Erleben - Genießen Lernen - Suchtverhalten Abbauen Der Unterschied zwischen Sucht und genießendem Verhalten liegt im Wechsel von Askese und Befriedigung (R. Lutz 1987, 415) Voraussetzung für musikalischen Genuss ist das Zulassen von Stille (Liedtke 1985, 214)

Grundsätze für den genußvollen Umgang mit Musik: 1. Zeit Schaffen und Zeit Lassen 2. Nichts anderes tun, als nur der Musik zuhören 3. Das Verbot des genußvollen Müßiggangs aufheben 4. Nicht nebenbei hören 5. Der Wahrnehmung gestatten, sich der Musik uneingeschränkt zuzuwenden 6. Die Eigenschaften der Musik beschreiben 7. Eigene Bewertungskriterien herausfinden (was tut mir gut, was nicht?) 8. Bewußt Ruhephasen für den Genuß von Musik im Alltag schaffen 9. Einiges Wenige aus dem Angebot musikalischer Genussmöglichkeiten auswählen

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7.4 Musiktherapie mit alten und demenzkranken Menschen

Zum Hören bei älteren Menschen: Mit zunehmendem Alter nimmt die Lautstärkewahrnehmung ab; Bei den über 50-Jährigen kann man feststellen, „dass Männer schlechter hören als Frauen.“ Trotz der Möglichkeiten, Hördefizite mit Hörgeräten auszugleichen, „ergeben sich Probleme für das Musikhören. Ein alternder Mensch hat trotz des Nachlassens seines Gehörs eine Präferenz für ein Klangspektrum von Musik. Die Korrektur der Hördefizite mit einem Hörgerät verändert den subjektiven Höreindruck gravierend. So ist es nicht verwunderlich, dass berichtet wird, wie ältere Menschen im Konzertsaal ein anderes (möglicherweise älteres) Hörgerät verwenden oder den Apparat sogar vollständig ausschalten“ (Herbert Bruhn: Musikalische Entwicklung im Alter, Musiktherapeutische Umschau 2003, 134-149, 135 f).

„Ältere Menschen hören Musik lieber leiser als jüngere, obwohl sie schlechter hören.“ Das hat mit den Hörgewohnheiten zu tun; erst Verstärkeranlagen der letzten zwanzig Jahre geben Mu-sik laut und unverzerrt wieder. Außerdem gibt es auch physiologische Gründe: höhere Laut-stärke verbessert nicht den Höreindruck bei Schwerhörigen, „sondern führt im Gegenteil zu Verzerrungen, die als unangenehm empfunden werden“ (ebd. 143 f.). „In Institutionen für ältere Menschen wie Pflegeheimen und Tagesstätten lässt sich Musik nicht einfach verordnen. Effekte hat Musik nur, wenn sie auf den individuellen Musikge-schmack eingehen kann. Vor Hintergrundmusik ist im Allgemeinen abzuraten“ (ebd. 143). „Grundsätzlich spricht nichts dagegen, noch in hohem Alter mit dem Musizieren zu beginnen. Es gibt keine signifikanten Korrelationen zwischen den Ergebnissen von Begabungstests und dem Alter. Auch die Lernfähigkeit scheint mit dem Alter nicht nachzulassen. Klavierunter-richt mit Erwachsenen zwischen 60 und 84 Jahren erwies sich als erfolgreich, wenn die Teil-nehmer daran interessiert sind. Der Lernfortschritt übertraf die Erwartungen der Teilnehmer oft, obwohl sie bedauerten, zu wenig Zeit zum Üben einsetzen zu können“ (ebd. 142). „Das Hören von Evergreens aus der Jugendzeit aktiviert signifikant wirksam die Erinnerung an frühere Lebensereignisse“. Das resultiert daraus, dass die für das Langzeitgedächtnis zu-ständigen Speicherareale mit den Sinnesorganen verbunden sind. „Auch der emotionale Ge-halt von Musik wird in dieser Gehirneinheit verarbeitet (ebd. 139). „Bei Demenz bleiben die rhythmischen Fähigkeiten bei Musik am längsten erhalten“. Rhyth-mus scheint als „motorische Repräsentation“ in einer Art Körper-Gedächtnis unabhängig von gestörten kognitiven Fähigkeiten lange funktionstüchtig zu bleiben (ebd.).

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Eine Besprechung von 38 klinisch empirischen Studien im Zeitraum von 1986-1998 aus dem angloamerikanischen Raum (M. Brotons: An overview of the Music Therapy Literature Re-lating to Elderly People, in: David Aldrige (Hrsg.): Music therapy in dementia Care, London and Philadelphia 2000, 33-62) belegt, dass durch Musik in der Pflege von an Demenz erkran-ken alten Menschen Verbesserungen in folgenden Bereichen herbeigeführt werden können:

- der Beteiligung an musikalischen Aktivitäten überhaupt, - den sozial-emotionalen Fähigkeiten, - der physische Begleitsymptomatik sowie - bei den kognitiven Fähigkeiten.

(vgl. Susanne Landsiedel-Anders: Ein Triptychon: Fallstudie eines schwer dementen Alten-heimbewohners, Einblick 14, 2003, 116).

Nachgewiesene Effekte aktiven Musizierens und Musikhörens auf das Ver-halten von Demenzkranken:

Musikhören verringert Verwirrtheit, Ängstlichkeit und Depression Musiktherapie in Verbindung mit Verhaltenstherapie verbessert die Orientierung, die soziale Kommunikation und das Schlafverhalten Musikhören und aktive Musiktherapie reduzieren zielloses Herumirren und agitiertes Verhalten Das Anhören von ruhiger Musik wirkt beruhigend, schnelle Musik ist eher ohne Effekt Musikhören reduziert unruhiges Verhalten bzw. agitiertes Reden beim Essen Musikhören beim Essen veranlasst alte Menschen, mehr zu sich zu nehmen Musikhören beim Waschen und Baden verzögert den Ausbruch aggressiver Abwehr, so dass die Dementen kooperativer erscheinen, Musikhören vermindert das unvermittelte Schreien von dementen Klienten Tägliches Musikhören hat positiven Einfluss auf die Länge und Ruhe des Nachtschlafs

zusammengestellt von Herbert Bruhn 2000 (121)

Ziele musiktherapeutischen Handelns mit alten Menschen: Emotionale Aktivierung Erinnerungsaktivierung Förderung sozialer Verhaltensweisen und Kommunikation Freude Gedächtnistraining / Realitätsorientierung Musikalische Kreativität / Ausdrucksfähigkeit / Fantasie Steigerung des Selbstwertgefühls Trauerarbeit

nach Grümme (1997) zusammengestellt von Herbert Bruhn 2000 (121)

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Konsequenzen für die Pflege

ein passendes musikalisch – klangliches Milieu herstellen - Stille Phasen herstellen - Naturklänge ermöglichen - Vertraute Geräusche zulassen, fremde Geräusche meiden - Biographie der musikalischen Präferenzen

(wann und in welchen Zusammenhängen wurde welche Musik gehört) - ein Musikprogramm herstellen

(zusammen mit Bewohnern und Angehörigen) - mit kurzen Musikzeiten (max. ½ Stunde) den Tagesablauf strukturieren - gemeinsames Musikhören in regelmäßig gestalteten Musikstunden

(Höratmosphäre schaffen, Kommentare, Gedichte etc.) - mit Konzerten, Choreinladungen etc. den Jahresablauf markieren - im häuslichen Umfeld: welcher Sender, bevorzugte Sendungen, bevorzugte Hörzeiten

berücksichtigen musikalische Aktivitäten

Singen - Biographie des Singens erstellen - Liedpräferenzen ermitteln - Gesangssituationen ermitteln - Singen in Sondersituationen (Singstunde) - Alltägliches Singen Musizieren - Mit Alltagsgeräuschen Tätigkeiten begleiten - Mit Perkussionsinstrumenten Lieder begleiten - Fantasieren am Klavier - An musikalischen Kompetenzen anknüpfen

Bruce Barber (Musik im Alter, Musik und Gesundheit 4/2002, 12-14) berichtet von For-schungen aus dem nationalen Alterns-Forschungsinstitut in Melbourne, bei denen „hirnelekt-rophysiologische Untersuchungen (EEG) über musikinduzierte funktionale Veränderungen in verschiedenen Strukturen und Regionen des Neokortex“ bei Alzheimer-Patienten durchge-führt werden. Trotz der im Labor gegebenen beeinträchtigenden Rahmenbedingungen (Mess-instrumente, Skalp-Elektroden, Druckmesskammer am Arm) zeigen die Untersuchungen, dass die „Patienten sehr stark auf die eingesetzten musikalischen Stimuli reagieren, wobei aus frü-heren Lebensabschnitten bekannte Musik die größten Reaktionen hervorruft.“ Er schildert exemplarisch den Fall von Dorothy, einer Alzheimer-Patientin:

„üblicherweise sitzt sie in ihrem Krankenzimmer mit dem Blick ins Leere gerichtet, ohne Wünsche zu äußern, ohne Erwartungen auszudrücken, sie hat keine besonderen Bedürfnisse nach Komfort, menschli-cher Begleitung oder intellektueller Ansprache. Soziale Kontakte finden nicht statt. Versuche sprachli-cher Kommunikation scheitern an entweder fehlenden Antworten oder an Antworten ohne jeden erfass-baren Sinn.“ Im Labor verhält sie sich völlig passiv, duldet aber das Anlegen der Untersuchungsinstru-mente. Nach dem Anhören eines Stückes von Edward Elgar äußert sie sich mit einem einzigen Wort: „Liebe“ und lächelt. Als ihr aber eine Aufnahme von Art Tatum „Gone with the wind“ aus dem Jahre 1938 vorgespielt wird, beginnt ihre linke Hand, den Beat der Musik zu klopfen, sie lächelt und der Ausdruck der Gleichgültig-keit schwindet aus ihrem Gesicht. Auf Anfrage schildert Dorothy, wie sie früher mit ihren drei Freun-dinnen samstags zum Tanzen ging. „Für die folgenden 5 Minuten sprach Dorothy im Wechselgespräch

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Fragen der Forschung: Auch anhaltende Veränderungen durch Musikwirkung? Musikwirkung auf andere Personen über-tragbar? Ist nur autobiographisch bedeutsame Musik wirksam? Sind spezifische musikalische Strukturen maßgeblich für die Verbesserung der Wir-kung?

ohne erkennbare Beeinträchtigungen über Erinnerungen aus ihrem Leben. Danach fiel sie in ihren alten Zustand zurück“ (13).

Anschließend führt Barber aus, dass die fortschreitenden und irreversiblen pathologischen Veränderungen der Alzheimer Demenz zu Störungen des Gedächtnisses, zu Verhaltensabwei-chungen, emotionalen Störungen und sozialer Isolation führen. Dennoch scheint es bei der Musikwirkung zu zeitlich begrenzten, aber nachweisbaren Über-brückungen der gestörten Verbindungen zwischen Primärbewusstsein (Formatio Reticularis und Limbischem System) und den Funktionen des Neokortex zu kommen. „In Dorothys Fall hat die Musik eindeutig ihren Bewusstseinszustand auf ein höheres Niveau anheben können. Möglicherweise kann Musik so intensiv als Stimulus einwirken, dass limbi-sche, subkortikale und kortikale Strukturen des Gehirnes auf ein quasi normales Aktivitätsni-veau vorübergehend angehoben werden können, in dem neue Pfade geöffnet werden, die ih-rerseits zuvor beeinträchtigte Funktionen des ZNV wieder möglich machen. In jedem Fall sind derartige Veränderungen des Bewusstseinszustandes, wie wir sie bei Dorothy beobachten konnten, ein wichtiges Ziel für zukünftige Forschung. Zum Beispiel ist die Frage zu klären, ob derartige Veränderungen auch anhaltend sein können und auf andere Personen übertragbar sind. Kann eine noch zu entwickelnde musik-therapeutische Methodik Demenz-Patienten auch längerfristig auf einer höheren neurofunktionalen Leistungsebene halten? Kann nur autobiographisch bedeutsame Musik wir-ken, oder gibt es spezifische musikalische Strukturen, mit denen man die Wirksamkeit verbes-sern kann? Sicher ist, dass bei der zunehmenden Pharmakologisierung der Demenz-Behandlung auch Raum sein muss für nicht-pharmakologische Interventionen, will man dem Menschen als Ganzem gerecht werden“(14).

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„Was das Musikerleben von Altersschwerhörigen betrifft, so kann grundsätzlich gesagt wer-den, dass Musik für sie besser zugänglich ist als Sprache: Aufgrund des erheblich größeren Umfangs des Frequenzspektrums von Musik(ca. 16 bis 4608 Hertz) verglichen mit Sprache 250 bis2000 Hertz) ist ein Zugang über das Ohr selbst dann noch möglich, wenn Sprache nicht mehr auditiv wahrgenommen werden kann“ (180). Manuela-Carmen Prause: Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musi-kerleben und die musiktherapeutische Arbeit, in: Rosemarie Tüpker, Hans Hermann Wickel (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster: Lit, 2001, 177-197 Prause, Manuela-Carmen: Hörschädigungen im Alter und ihre Konsequenzen für das Musi-kerleben und die musiktherapeutische Arbeit, in: Tüpker, Rosemarie; Wickel, Hans Hermann (Hrsg.): Musik bis ins hohe Alter, Münster 2001, 177-197 "Der besondere Vorteil der Musiktherapie in der Arbeit mit altersschwerhörigen Menschen besteht darin, dass zum einen die nach der Hörminderung dringend erforderliche psychologi-sche Betreuung erfolgen kann und zum anderen die sich in der rein verbalen Therapie erge-benden Kommunikationsprobleme aufgrund der im Vergleich zur Sprache besseren Zugäng-lichkeit von Musik ausgeschaltet werden können. Im Gegensatz zur verbalen Situation, bei der der altersschwerhörige Mensch stets unterlegen ist, findet er hier eine autonome, stressfreie Handlungsmöglichkeit, bei der er gleichwertig mit seinem Gegenüber (bzw. den Mitspielern) agieren und kommunizieren kann" (191). Bei der Improvisation können "von der Hörminde-rung verursachte psychosoziale Konflikte" aufgegriffen werden. Es kann "zum Entstehen ei-nes Gemeinschaftsgefühles" beigetragen "und damit einem weiteren Rückzug Altersschwer-höriger in die Isolation" entgegengewirkt werden (ebd.). Frequenzspektrum der Musik: ca. 16-4608 Hz; der Sprache: ca. 200-2000 (180) Therapeutische Aspekte: ...letztlich geht es um die Versöhnung mit sich selbst (vgl. Fengler, Hörgeschädigte Men-schen. Beratung, Therapie und Selbsthilfe, Stuttgart 1990), .. in der Musiktherapie „ein Be-wusstsein dafür zu entwickeln, dass das Hören und die Hörschädigung ‚Prozesse der Aneig-nung und des Verlernens, des Unterscheidens, Verlierens und Wiederfindens’ sind“ (Fengler ebd.) und man sich nicht als „Opfer der Hörschädigung betrachtet“ sondern sich ihr gegenüber stellt, „’sie als Begleiter zu betrachten und mit ihr ins Gespräch zu kommen, wie die z.B. von manchen Personen mit Tinnitus berichtet wird’“ (Fengler ebd.). Es sollten wenige und ausgewählte Instrumente zum Einsatz kommen; besonders geeignet sind „einfache Rhythmus- und Melodieinstrumente wie Sopran-, Alt- und Bassxylophon, Me-tallophone, Gitarren und mittelgroße Trommeln“; auch ist bei der Instrumentenauswahl an die „vibratorische Ergänzungsinformation“ zu denken (193). „Frauenstimmen werden von Alters-schwerhörigen häufig als ‚schrill’ empfunden (194).

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Bei der Musiktherapie mit altersschwerhörigen Menschen in Gruppen ist darauf zu achten, dass

1. möglichst nur eine Person spricht und zu allen Blickkontakt hat, 2. der altersscherhörige Mensch beim Sprechen angeschaut wird und 3. nicht von hinten und von der Seite angesprochen wird, 4. man ruhig und etwas langsamer als normal, nicht zu laut spricht, 5. man das von anderen Gesagte wiederholt, 6. dafür zu sorgen, dass der Betroffene alles Gesagte versteht (keine Zensur im Sinne von

„egal, ist nicht so wichtig“), 7. auf das Pfeifen von Hörgeräten einfühlsam hingewiesen wird damit die Einstellung

korrigiert werden kann, 8. Störgeräusche und Lärm weitestgehend ausgeschaltet wird (194 f.)

Jan-Peter Sonntag (MU 2005, 261-274) weist auf die Bedeutung der Hörwelt (das Sonambien-te) hin, das auf demente Bewohner von Pflegeheimen einwirkt. Es sei „leicht vorstellbar, dass manch aggressives Verhalten oder auch Zustände von Apathie der Pflegeempfangenden besser verstanden werden können, wenn die Betreuenden ihre eigenen Sinne einsetzen, um die verur-sachenden (Schall-) Quellen auszumachen.“ Die Entwicklung der Wahrnehmungskompeten-zen derer, die mit der Betreuung dementiell Erkrankter tätig sind, ist dafür erforderlich (267). Bei seinen Vorschlägen für die Entwicklung einer „ambientalen Perspektive“ am Beispiel des Altenpflegeheims betont Sonntag, „dass Klänge eine Beziehung zwischen uns und unserer Umwelt herstellen“, für die wir sensibel werden müssen. „Wir sind aktiv an der Gestaltung der Soundscapes beteiligt,“ ... auch wenn wir „Stille in die Klanglandschaft hinein“ komponieren (271). „Nähern wir uns dem Lebensraum Pflegestation aus musiktherapeutischer Perspektive, so wrid sich an dem Wohlbefinden der dort lebenden und arbeitenden Menschen einschätzen las-sen müssen, ob sie ihren Bedürfnissen entspricht. Hierbei müssen wir uns auf unsere Beo-bachtungsgabe und intaktes Einfühlungsvermögen verlassen können.“ Man kann mit „Musik-einspielungen als Klangkulisse“ experimentieren, z.B. während der gemeinsamen Mahlzeiten.

- „Anregungen, im klingenden Miteinander zu experimentieren (272 f): - Anbindung an vertraute Klänge - Verwendung von geräuschdämpfenden Stoffen - Anpassung an veränderte Hörfähigkeit - Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit ... Ein-

hüllung von Klängen“ - Verwendung klanglicher Stimuli - Klangquellen, die zu Begegnung und Interaktionen einladen - Unterstützung zeitlicher und räumlicher Orientierung

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8 Musiktherapie mit Kindern

Standardwerke sind: Jutta Brückner u.a. Musiktherapie für Kinder, Berlin 1991 Beate Mahns: Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Kindern, Stuttgart 1997 Stiff und Tüpker (Hrsg.): Kindermusiktherapie. Richtungen und Methoden, Göttingen 2007. Es biete einen aktuellen Gesamtüberblick über die in Deutschland vertretenen bedeu-tenden kindermusiktherapeutischen Schulen:

- Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie (Karin Schumacher und Claudine Calvet),

- Kindermusiktherapie, die in der ehemaligen DDR entwickelt wurde und heute noch maßgebliche Bedeutung besitzt (Jutta Brückner),

- Analytische Musiktherapie (Wolfgang Mahns und Natalie Hippel), - Morphologische Kindermusiktherapie (Rosemarie Tüpker und Bernd Reichert), - Musiktherapie nach Paul Nordoff und Clive Robbins (Lutz Neugebauer) und die - Orff-Musiktherapie (Melanie Voigt und Christine Plahl).

Jeder Beitrag liefert eine theoretische Grundlegung, eine Darstellung des jeweiligen methodi-schen Behandlungsprinzips (anhand von Fallbeispielen) und eine Erörterung der jeweils an-gewandten Evaluations- und Forschungsmethoden zur Feststellung der Wirksamkeit. Kathrin Grewe-Heitfeld beschreibt in ihrem Beitrag „Musiktherapie mit Kindern und präven-tive Methoden der Musiktherapie in Musikschule und Frühförderung“ (http://www.musiktherapie.uni-siegen.de/forum/kinder/vortraege/219_grewe_heitfeld.pdf) im Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit folgende musiktherapeutischen Ansätze:

- Medizinischer Ansatz Hierbei geht es insbesondere um die Beeinflussung von Krankheitssymptomen wie Schmer-zen oder Schädigungen. Zugrunde liegt die Annahme einer psychophysischen Wirkung von Musik auf den Menschen. „Musik sollte so beschaffen bzw. arrangiert sein, dass sie die Vor-gänge hinter den Symptomen oder die Symptome selbst beeinflussen kann“. Arbeitsfelder sind beispielsweise die Schmerztherapie und die Arbeit mit Frühgeborenen. (Monika Nöcker-Ribaupierre).

- Verhaltenstherapeutischer Ansatz Hierbei handelt es sich um therapeutische Verfahren, die das positive oder negative Erleben von Musik und der sich daraus ergebenden Situation nutzen, um unangemessenes Verhalten zu verringern bzw. erwünschtes Verhalten zu verstärken. Vertreter dieser Arbeitsweise sind eher in den USA als im deutschsprachigen Raum zu finden (vgl. Wolfgang Mahns in: Musik-therapeutische Umschau 1998, 154).

- Humanistischer Ansatz Musiktherapie wird als ein kreativer Prozess beschrieben, der von der Beziehung zwischen Therapeut/in und Kind lebt. Diese Beziehung bietet den Rahmen für Kommunikationserfah-rungen, ggf. auch Grenzerfahrungen, welche die Persönlichkeitsentwicklung bzw. den kindli-chen Wachstumsprozess fördern. Der Focus liegt somit mehr auf der Entfaltung der individu-ellen Möglichkeiten als auf der Behandlung der Symptome (Vertreter sind u.a. L. Bunt 1993, P. Nordoff / C. Robbins 1986, J. Alvin 1988).

- Psychoanalytischer Ansatz Analytische Arbeit ist biographisch orientiert. Sie geht davon aus, dass in unserer Art des Mu-sikmachens unsere verborgenen Seiten und damit verbunden unsere frühesten Erfahrungen zum Klingen kommen. Zwischen dem musikalischen Dialog und dem Dialog zwischen Mut-ter und Säugling werden Analogien gesehen, weshalb im musikalischen Dialog zwischen Kind und Therapeut/in frühe Erfahrungen, Traumatisierungen und Konflikte des Kindes bear-

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beitet werden können (vgl. Niedecken, Dietmut, Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. Ein Buch für Psychologen und Eltern, München 1989, Beate Mahns, Musiktherapie bei verhal-tensauffälligen Kindern. Praxisberichte, Bestandsaufnahme und Versuch einer Neuorientie-rung, Stuttgart, 1997).

- Anthroposophischer Ansatz Kennzeichen des anthroposophischen Denkmodells ist die Arbeit mit den „musikalischen Ur-elementen“ (dies sind Einzeltöne, Intervalle und Rhythmen) und die Auswahl bestimmter In-strumente( z.B. Leier, Streichpsalter). Während der Behandlung tritt je nach ärztlicher Diag-nose (besonders in Medizin und Heilpädagogik zu finden) entweder Melodie, Rhythmus oder Harmonie in den Vordergrund vgl. (vgl. Gerhard Beilharz (Hrsg.) Erziehen und Heilen durch Musik, Stuttgart 1989, Julius Knierim, Zwischen Hören und Bewegen, Wuppertal 1988, Hei-ner Ruland, Musik als erlebte Menschenkunde, Stuttgart 1990).

- Kombinierte Verfahren Hier wäre die Orff Musiktherapie als eine multisensorische Therapie zu nennen, die davon ausgeht, dass es insbesondere für behinderte Kinder nicht ausreichend ist, nur den Hörsinn an-zusprechen. Die Therapie soll ganzheitlichere Erfahrungen ermöglichen, die mit allen Sinnen erlebt werden, und so die Möglichkeit bieten, dass Defizite in einem Sinnesbereich durch För-derung anderer Sinne kompensiert werden (s. hierzu: Gertrud Orff, Musiktherapie und Ent-wicklung von Gestaltbewußtsein beim Kind, in: Frohne-Hagemann, Isabelle (Hrsg.): Musik und Gestalt. Klinische Musiktherapie als integrative Psychotherapie. Kunst Therapie Kreativi-tät, Paderborn 1990, 37-48 und Christine Plahl: Entwicklung fördern durch Musik. Evaluati-on musiktherapeutischer Behandlung, Münster 2000). Als kombiniertes Verfahren gilt auch die Musiktherapie von Karin Schumacher. Sie arbeitet vor allem mit autistischen Kindern und verbindet dabei Musik-, Bewegungs- und Sprachspie-le, über welche die „Beziehungsqualität“, d.h. die jeweils vorhandene Fähigkeit des Kindes, mit der Bezugsperson in Beziehung zu sein, erlebt und weiter entwickelt werden kann (vgl. Schumacher, Musiktherapie und Säuglingsforschung, Frankfurt am Main 1999, 249 f). Ein weiteres kombiniertes Verfahren stellt die morphologische Musiktherapie dar. Sie ver-bindet analytische Musiktherapie mit der Morphologischen Psychologie Salbers. Musikalische Prozesse werden als seelische Prozesse verstanden. Vertreter sind z.B. Barbara Irle und Irene Müller (Raum zum Spielen – Raum zum Verstehen, Musiktherapie mit Kindern, Münster 1996).

- Musiktherapie und nondirektive Spieltherapie Häufig werden Verfahren angewandt, bei denen der Wichtigkeit des kindlichen Spiels Rech-nung getragen wird. Einerseits mögen Kinder nicht immer Musik machen, andererseits – und dies ist entscheidender – ist das Spiel die dem Kind eigentlich entsprechende Ausdrucksform. Deshalb ist das Spiel mit verschienenen Materialien und mit allen Sinnen gleichbedeutend wie das mit Klängen und Musikinstrumenten. Häufig ist die Kombination von nicht direktvier Spieltherapie, psychoanalytischem Denkhintergrund und musikalischer Improvisation (vgl.: Dietrich Petersen und Eckhard Thiel, Tonarten, Spielarten, Eigenarten, Göttingen, 2001 sowie auch: Jutta Brückner, Ingrid Mederacke und Christel Ulbrich, Musiktherapie für Kinder, Ber-lin 1991). Musiktherapie mit Kindern impliziert das Wissen um die Entwicklungspsychologie des Kindes allgemein und um die musikalische Entwicklung im Besonderen. Dieses Wissen er-möglicht es, an den altersspezifischen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Kindes anzusetzen, wobei zu berücksichtigen ist, dass jedes Kind hat ein individuelles Entwicklungstempo hat. Die musikalische Entwicklung beginnt bereits im Mutterleib. Da das Hörorgan früh entwi-ckelt ist, kann man davon ausgehen, dass Musik und Klänge bereits früh auf das Kind einwir-ken. Verschiedene Forschungsarbeiten lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die

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Auswirkungen des Hörens allgemein und insbesondere des Hörens von Musik in größerem Ausmaß, als anregend und positiv eingeschätzt werden (Helmut Moog, Das Musikerleben des vorschulpflichtigen Kindes, Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege, Mainz 1968; Heiner Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998; Les-lie Bunt, Einführung in die Musiktherapie, Weinheim 1993, 86-144). Klangbezogene Aufmerksamkeit In der frühen Kindheit stehen die geäußerten Klänge eines Babys in Zusammenhang mit sei-nem seelischen Befinden. Sein Wohl- oder Unwohlsein drückt es klanglich aus. Umgekehrt reagiert ein Baby in der Regel beruhigt auf Wiegenlieder und interessiert auf Klangquellen allgemein. Bereits in den ersten Monaten können Babys Melodien auseinanderhalten, sechsmonatige Kinder halten inne, wenn in eine Melodie ein unpassender Ton eingeflochten wird. Erstes Singen Während das erste Lebensjahr musikalisch gesehen durch die Aufmerksamkeit auf Klänge ge-prägt ist, herrscht im zweiten Lebensjahr die motorische Aktivität als Antwort auf Musik vor. Ab dem 2. Geburtstag beginnen Kinder zu singen. Sie entwickeln Lieder, die Mischungen aus Bekanntem und Eigenem enthalten, zunächst im Tonumfang der Quart und Quint, später in der Oktav. Mit 4 Jahren singen Kinder mehr oder weniger genau, mit 5 Jahren halten sie unge-fähr ein Tempo ein. Bevorzugen von dissonanter Begleitung Kinder im Vorschulalter empfinden Harmonien offensichtlich anders als Erwachsene. Kinder sind zwar in der Lage, harmonische Veränderungen wahrzunehmen (s.o.), bevorzugen aber auch gerne eine dissonante Begleitung. Erst mit 5einhalb bis 6 Jahren beginnt eine stetig an-steigende Bevorzugung einer harmonischen Begleitung. Rhythmische Fähigkeiten entwickeln sich vor metrischen.

Die musikalische Entwicklungsspirale nach Keith Swanwick und June Tillman (The Sequence of Musical Development. British Journal of Music Education, vol. 3, No. 3, 1986; außerdem: Swanwick, K. Music, Mind and Education, London: Routledge, 1988)

1. Sensorische Entwicklungsstufe

0-3 Jahre Das Kind befasst sich mit Klangeindrücken, ist besonders fasziniert von Klangformen und dynamischen Abstufungen. Es erforscht nicht nur Musikin-strumente im engeren Sinn, son-dern alles was klingt. Das Kind möchte die Natur des Klanges, d.h. sein Entstehen untersuchen, was man z.B. daran erkennt,

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dass Fell und Holz einer Trommel bespielt werden oder verschiedene Teile der Hände genutzt werden oder verschiedene Instrumente gegeneinander geschlagen werden. Variationen in der Musik entstehen eher zufällig, das Kind intendiert damit noch keine Aussage.

2. Manipulative Entwicklungsstufe 4-5 Jahre Das Kind hat mehr Kontrolle in der Handhabung der Instrumente erworben, auch ist die Ten-denz zu regelmäßigerem Metrum zu erkennen. Das Interesse an Klangfarben und -effekten verändert sich in Richtung Interesse an besonderen Spielweisen, wie Glissandos, Tonleitern oder Trillern. Improvisationen sind häufig lang und „wirr“ und eher durch die Gegebenheiten der Instrumente als durch Absichten des Kindes geprägt. Die zunehmenden Fähigkeiten des Kindes werden deutlich und damit einher geht das Bedürfnis, Materialien zu beherrschen und ggf. auch das gemeinsame Spiel zu bestimmen.

3. Personal gerichteter Ausdruck 4 – 9 Jahre Individuelle Ausdrucksfähigkeiten werden zuerst im Lied deutlich, in Instrumentalstücken be-sonders durch Tempoveränderungen und Dynamik. Höhepunkte werden durch Schneller- und Lauterwerden gestaltet. Einfache musikalische Phrasen sind zu erkennen und die Tendenz zu beginnender Strukturierung. Die improvisierte Musik wirkt spontan und unkoordiniert. Sie ist vom unmittelbaren, nicht reflektierten Gefühlserlebnis des Kindes bestimmt.

4. Phantastisch imaginatives Spiel ca 10 – 13 Jahre Das Kind ist experimentierfreudig, hat Spaß am Verändern musikalischer Formen. Es testet Möglichkeiten des musikalischen Spiels aus Es gibt musikalische „Überraschungen“, die sich nicht in den übrigen Stil einfügen. Insgesamt ist das. Oft scheint es aber auch noch so zu sein, dass musikalische Formen im Kopf des Kindes zwar vorhanden sind, aber noch nicht ganz umgesetzt werden können.

5. Mit Bedeutungen besetztes imaginatives Spiel 13 – 14 Jahre Allmählich werden kompositorische Einfälle stärker in einen bestimmten Stil integriert. Die-ser ist meist von Popmusik beeinflusst, bzw. dem Stil der sozialen Gruppe, der man sich zu-gehörig fühlt. Die zuvor entwickelte Fähigkeit zu phantasievollen Musikformen wird nun we-niger genutzt, weil der inzwischen der Jugendliche in erkennbare musikalische Gemeinschaf-ten eintreten will.

6. Meta-Kognition symbolischer Bedeutung Ab 15 Jahre Hier ist die Identifikation mit einzelnen Musikstücken wichtig. Musikalische Stilmittel, die im vorigen Muster sozial wichtig erschienen, werden harmonisch weiterentwickelt und gestaltet. Es existiert wachsendes Bewusstsein für die emotionale Kraft der Musik und damit einherge-hend wachsende Fähigkeit entsprechende Erfahrungen musikalisch ausdrücken zu können. Der individuelle Wert von Musik einschließlich dessen Reflektion ist somit für diesen Ab-schnitt bestimmend. Mit der Entwicklung von übergeordnetem systematischem Verständnis ist die musikalische Reife voll ausgebildet. Dieser Umgang mit Musik wird in der Musiktherapie mit Kindern nicht anzutreffen sein bzw. nur auf der Seite der Therapeuten.

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9 Musik und Musiktherapie in der Sozialen Arbeit

Die Durchsicht von Vorlesungsverzeichnissen der Studiengänge für Sozialpädagogik und So-zialarbeit an Hochschulen in Deutschland ergibt ein vielfältiges Professionalisierungsangebot auf dem Gebiet musikalischer Kompetenzen. Neben Vorlesungen und Seminaren mit theoreti-schen Einführungen reicht das Spektrum von allgemeinen historischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Fragestellungen bis hin zu adressatenspezifischen Reflektionen über „Jugend und Musik“, „Geschlechterrollen in musikalischen Jugendkulturen“ und allgemeine didaktische Grundlagen der Musikpädagogik oder der Musiktherapie in Sozialarbeit und Sozialpädagogik sowie für einzelne Praxisprojekte, wie Rockmusik mit Jugendlichen, Kindermusical, Kinder-kunstwerkstatt, musikalische Spielgruppen und Konzerte mit Kindern, Radiosendungen, Fest- und Feiergestaltung, Musik oder Folkloretanz mit Senioren. Darüber hinaus erhalten Studie-rende in Methodenseminaren und Übungen das methodische Rüstzeug für die musikpädagogi-sche Arbeit mit den verschiedenen Klientengruppen. Es reicht von speziellen musikalisch handwerklichen Angeboten, wie Musiktheorie, Gehörbildung, Rhythmusarbeit, Singen und Instrumentalspiel mit Blockflöte, Gitarre, Rockmusikpraxis, auch Musik mit digitalen Me-dien, Hörspiel- und Videopraxis, über Verbindungen mit anderen Ausdrucksformen, wie Be-wegung, Tanz, Sprache, szenischem Spiel, Instrumentenbau oder Malen nach Musik, bis hin zu musikalischen Selbsterfahrungsgruppen und Einführung in die Orff-Musiktherapie. Mehrfach begegnet uns in den Vorlesungsverzeichnissen die musikalische Gruppenimpro-visation. Sie ist nicht nur eine bewährte musikalische Methode in der Sozialpädagogik, sie repräsentiert vielmehr ein ganzheitliches ästhetisch-didaktisches Prinzip im Umgang mit Mu-sik, welches in der Sozialen Arbeit als verbindlich anzusehen ist. „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Vorgehen, bei dem musikalisches Handeln und Lernen mit seelischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft entwickelt und reflektiert wird. Dabei werden implizit die lebensweltlichen Beziehungen des Menschen und die grundlegenden Be-dingungen seiner Existenz thematisiert. Musikalisches, emotionales, soziales, ästhetisches und politisches Lernen bilden dabei im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller O-rientierung eine sozialökologische Einheit (Kapteina 2001). Die Gruppenimprovisation bietet als „elementare Musik ... einen Rahmen, der es möglich macht, als Einzelner, als Partner, als Gruppe, Erfahrungs- und Entwicklungschancen wahrzunehmen“ (Leidecker 2002, 28). Die Merkmale der Gruppenimprovisation sind auf soziale Gruppenarbeit übertragbar: es muss, ausgehend von den vorhandenen ästhetischen Fähigkeiten der Adressaten, ausreichend Raum und Zeit zur sinnlichen Erfahrung gegeben werden. Dabei können Spielregeln oder freie situations- oder personenorientierte Ideen zu Grunde gelegt werden. Die Ergebnisse wer-den grundsätzlich nicht nach den Kategorien richtig oder falsch bewertet, sondern jede subjek-tive Lösung wird gewürdigt. Der Prozess wird in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion gestaltet, wobei die ästhetischen Erfahrungen zum Alltags-leben in Beziehung gebracht werden (vgl. Mann et al 1995). Die Kompetenz des Sozialpäda-gogen besteht darin, dass er über ein großes Repertoire an Möglichkeiten verfügt, ästhetische Erfahrungen anzuregen. Er ist in der Lage, die Universalität ästhetischer Erfahrung anzuer-kennen und Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen sowie direkte Gefühlsäußerungen der Teilnehmer anzunehmen und für die Entwicklung der Einzel-nen und der Gruppe zu nutzen (vgl. ebd.). Für soziale Arbeit gilt wie für soziale Berufe generell der Grundsatz der Personenbezogen-heit. Sie ist „Beziehungsarbeit“ und dementsprechend „geprägt von situativer Offenheit, kommunikativer Flexibilität und inhaltlicher Ungewissheit“ (Rauschenbach 2005, 805). Mu-sik in der Sozialen Arbeit befindet sich somit im Schnittfeld zwischen Musikpädagogik, „de-

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ren Ziel die Befähigung zum bewussten Umgang mit Musik, dem Verstehen von Musik und der Erlangung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Interpretieren, Komponieren und Impro-visieren von Musik ist,“ auf der einen Seite und Musiktherapie als Psychotherapie auf der an-deren Seite (Wickel 1998, 10). Soziale Berufskarrieren verlaufen nach drei unterschiedlichen Orientierungen: Entweder werden die in der Ausbildung erhaltenen Kompetenzen in das pro-fessionelle Beziehungsgeschehen mit einem bestimmten Klientel integriert oder es werden künstlerische und musikpädagogische Fähigkeiten im Rahmen von gemeinwesenorientierter Kulturarbeit und -management umgesetzt oder sie kommen in therapeutischen, rehabilitativen oder präventiven Maßnahmen des Gesundheitswesens zum Tragen. Entsprechende Zusatz- und Weiterbildungsangebote sind auf dem Markt (vgl. Seidel 1992, Kapteina 2006). Musik und Soziale Arbeit mit Kindern wird von Sozialpädagogen in Vorschuleinrichtun-gen, Frühförderstellen und im Rahmen schulbegleitenden Sozialen Arbeit praktiziert, um die Entwicklung ästhetischer sowie sozialer Kompetenz zu fördern und um bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten vorbeugend oder korrigierend einzugreifen. Spezielle Angebote für gefährdete Kinder werden als begleitende Fördermaßnahmen in Kindergarten und Kinder-hort, Tageseinrichtungen und Schule eingeführt. Spielgruppen für Kinder und ihre Eltern so-wie familienorientierte Angebote, wie Musikfreizeiten, Familienwochenenden etc. unterstüt-zen die familiäre Sozialisation (vgl. Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, in Kapteina 2006). „Mobile Musikschulen“ stellen lebensweltbezogene Projekte der Gemeinwesenarbeit dar (vgl. Kapteina, Klug und Schreiber 2004, auch Tüpker, 2006, 222 f). Auch in der Jugendarbeit haben sich kommunalorientierte mobile Projekte bewährt. Rockmo-bile sind fahrende Musikstudios, zum Beispiel ausrangierte Linienbusse, die soziale Brenn-punkte, Schulen oder abgelegene ländliche Ortschaften anfahren und dort Musikworkshops für Jugendliche und Unterricht im Gitarren-, Bass, Keyboard-, Schlagzeugspiel und Gesang durchführen (vgl. Hill, 1996, 2000, 2004a und b, Dentler 2001). Entwicklungsbedingt spielen in der Jugendarbeit musikpädagogische Maßnahmen auf dem Gebiet der Pop- und Rockmusik eine zentrale Bedeutung. Sie bestimmen auch in stationären Jugendhäusern unter kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft die musikalische Praxis. Sie werden meist in übergeordnete so-zialpädagogische Zielstellungen eingebunden, wie Gewaltprävention und Entwicklung von sozialer Kompetenz und Basisqualifikationen (Dentler 2001, Rieger 2006)) oder Prävention. Neben den bereits erwähnten bei Mann et al. beschriebenen musikalischen Angeboten in der Erwachsenenbildung kommt Musik im Bereich der Sozialen Arbeit bei der Beratung von Er-wachsenen immer dann zum Tragen, wenn der verbale Diskurs die eigentlichen psychosozia-len Problemstellungen nicht hinreichend erreicht. Das wurde für die ambulante Beratung und Behandlung von Suchtkranken und ihren Angehörigen von Kapteina und Hörtreiter exempla-risch dargestellt (1993). Auch in der Ehe- und Familienberatung können Rollenkonflikte, problematische Konstellationen im musikalischen Rollenspiel deutlich erkennbar und Lösun-gen erarbeitet werden. In stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bietet Musiktherapie in den Händen von Sozialarbeitern und -pädagogen mit entsprechender Zusatzausbildung wichtige Beiträge zur wirksamen Bearbeitung vermiedener Emotionen und verdrängter Erlebnisinhalte. Zeuch be-schreibt und evaluiert rezeptive Musikanwendungen im Strafvollzug (2001 und 2004). Des weiteren leistet Musik bei der Altenhilfe in Heimen und Pflegeeinrichtungen einen wich-tigen Beitrag zur psychophysischen Gesundheit. Dabei kommt vor allem dem gemeinsamen Singen herausragende Bedeutung zu. Im Rahmen des Gruppen übergreifenden Dienstes orga-nisieren Sozialpädagogen Singrunden, und Tanznachmittage, oder entwickeln zusammen mit Bewohnern Konzepte für die Gestaltung des akustischen und musikalischen Milieus in den Einrichtungen. „Musiktherapeutische Momente“ (Leidecker 2004, 21 ff) sind dabei implizit.

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In der ambulanten Pflege und Betreuung alter Menschen gewinnen mobile Musiktherapie-Angebote zunehmend Bedeutung (vgl. Mager 2006, Muthesius 2005, 2006). Die Abgrenzung zwischen Musik und Sozialer Arbeit und Musiktherapie verläuft über Diagnostik, Indikationsstellung, therapeutische Beziehung sowie räumlich und zeitlich ange-passtes Setting. Schnittmengen liegen in präventiven und rehabilitativen Funktionen. Der schöpferische und improvisierende Umgang mit Musik, den Patienten in der Musiktherapie erleben, impliziert neue musikalische und psychosoziale Sensibilisierung im Alltag. Hier set-zen gemeindeorientierte Konzepte an, die Musiktherapie und Soziale Arbeit miteinander in Beziehung bringen. Für Almut Seidel begegnen sich Sozialpädagogik und Musiktherapie in ihrer Alltagsorientierung; beide wollen einen Beitrag zur Lösung von Problemen leisten, die im Alltag auftauchen (1996, 348). Es kann sein, dass Musik und Soziale Arbeit bei gefährde-ten Personen wirksam wird, bevor Probleme eskalieren; oder dass sie nach musiktherapeuti-schen oder psychiatrischen Behandlungen zur psychosozialen Stabilisierung beitragen. So richtet sich zum Beispiel das Projekt „Folkloretanz für Jung und Alt“, ein seit vielen Jahren bestehendes offenes sozialräumlich orientiertes Gemeinschaftsprogramm von Universität und Kirchengemeinde an Menschen, die von Vereinsamung und Verelendung bedroht sind. Zugleich ist es Anlaufstelle für ehemalige Patienten der örtlichen Psychiatrie. Schließlich ist es auch ein Beitrag zur kommunalen Kulturarbeit (Kapteina 2000). Die Mitarbeiter sind sozi-alpädagogisch und musiktherapeutisch qualifiziert. Konzeptionell sind solche Projekte an der „Musikalischen Elementarerziehung“ (Schwabe & Rudloff 1997, Johannes Pluto1997, Leid-ecker 2002) sowie der „Sozialmusiktherapie“ (Schwabe & Haase 1998) orientiert. Ein Vorbild bietet auch das Konzept „MUSICSPACE“ von Leslie Bunt (1998), das auf kommunaler Ebe-ne für „Menschen jeden Alters Einzel- und Gruppenmusiktherapie anbietet, bei der Ausbil-dung von Musiktherapiestudenten mitwirkt, Tagesfortbildungen und Workshops über den Einsatz von Musik im Gesundheitsdienst für Kinder und Erwachsene sowie Forschung über die Wirkungen und Prozesse der Musiktherapie koordiniert und Proben und Aufführungen ei-nes möglichst breiten Spektrums unterschiedlicher Musikarten fördert“ (189). Seit 2000 wer-den gemeinwesenorientierte Projekte der Musiktherapie als „Community Music Therapy“ beschrieben und diskutiert (Ansdell 2006). Stige formuliert die Prinzipien, in denen sich Mu-siktherapie und Sozialpädagogik begegnen, orientiert sein müssen: Erweiterte Programme, bei denen sich der Fokus von individuellen Veränderungen hin zum aktiven Interesse an gesell-schaftlicher Veränderung und der Beziehung zwischen Individuum und sozialem Umfeld ver-lagert; Öffnung der Handlungsräume vom diskreten klinischen Setting hin zum öffentlichen oder semi-öffentlichen Angebot; die beteiligten Akteure orientieren sich neu: an die Stelle der Expertenzentrierung tritt Teilhabe, bei der Funktionen und Verantwortlichkeit der handelnden Personen flexibel ausgehandelt werden, und schließlich sollen die Handlungen und ihre schöpferischen Ergebnisse mit breiterer Bedeutung belegt werden: von der Funktion der Mu-sik als Bedeutungsträger und Medium zum Verständnis der Musik als sozialökologische Ver-anstaltung (2005, 128; Übertragung ins deutsche, H.K.). Damit stehen Konzepte, die Soziale Arbeit mit Musik und Musiktherapie verbinden, auf der Linie der Agenda 21, dem „Aktions-programm für eine nachhaltige Entwicklung hin zu einer gesunden Umwelt, einer effizienten Wirtschaft und einer solidarischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ (Wendt 2005, 852).

Literatur: Ansdell, G. (2006): Community Music Therapy – Ein neuer alter Gedanke. In: Musiktherapeutische Umschau

227-238 Dentler, K. H.: (2001): Partytime. Musikmachen und Lebensbewältigung. Eine lebensgeschichtlich orientierte

Fallstudie der Jugendarbeit, Opladen Hill, B. (1996): „Rockmobil“ - eine ethnographische Studie aus der Jugendarbeit. Opladen

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Hill, Burkhard, B. (2000): “Musik-Machen” in Gleichaltrigengruppen als sozialpädagogisches Angebot, Siegen: Universität, http://www.musiktherapie.uni-siegen.de

Hill, B. (2004a): Soziale Kulturarbeit mit Musik. In Hartogh, T. und Wickel, H. H. Handbuch Musik in der Sozi-alen Arbeit, Weinheim: Juventa, 83-100

Hill, B. (2004b): Bandworkshop. In Hartogh, T. und Wickel, H. H. Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim: Juventa, 175-181

Johannes-Pluto, I., Pfaff; F. Hasselberg, B.; von Grüner, W. (1997): Musik praktisch erfahren. Ein Elementarkurs für Erwachsene, Kassel: Bosse

Kapteina, H. (2000): "Im Tanz das Leben spielerisch gelingen lassen". Folkloretänze in Therapie und Prävention. In: Schwabe, Chr. und Stein, I. Ressourcenorientierte Musiktherapie. Crossener Schriften zur Musiktherapie, Crossen, 394-414

Kapteina, H. (2001): Gruppenimprovisation als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe. In: Ringge-spräch über Gruppenimprovisation LXVII, 35-44

Kapteina, H. (2007): Musiktherapeutische Zusatzausbildung für Helfende Berufe, http://www.musiktherapie.uni-siegen.de

Kapteina, H. & Hörtreiter, H. (1993): Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken, Stuttgart Kapteina, H., Klug, H.-D., Schreiber, B. (2004): Musik in der stadtteilorientierten Sozialen Kulturarbeit. In Har-

togh, T. und Wickel, H. H. Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim: Juventa 415-426 Leidecker, K. (2004): Das Leben klingen lassen. Musikinterventionen in der Sozialpädagogik, Essen: Die Blaue

Eule Leidecker, K.: (2002): Musik als Begegnung, Wiesbaden Mager, A. Musiktherapie zuhause. In: Musiktherapeutische Umschau 261-264 Mann, C. et. al. (1995): Selbsterfahrung durch Kunst, Weinheim Muthesius, D. st. al (2005): Balsam für die Seele: Hausmusik. Verbesserung der häuslichen Pflegesituation ge-

rontopsychiatrischer Patienten unter Einsatz von Musiktherapie, Köln: Kuratorium Deutsche Altenhilfe Rauschenbach, T. (2005): Soziale Berufe. In: Kreft, D. und Mielenz, I. (Hrsg.) Wörterbuch Soziale Arbeit, 5.

vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage, Weinheim: Juventa, 801-806 Rieger, G. (2006): Musiktherapie und Gemeinwesenarbeit. In: Musiktherapeutische Umschau 239-248 Schwabe, Chr, & Haase, U. (1998): Die Sozialmusiktherapie. Crossen: Akademie für angewandte Musiktherapie Schwabe, Chr. & Rudloff, H. (1997): Die Musikalische Elementarerziehung. Crossen: Akademie für angewandte

Musiktherapie Seidel, A. (1992): Sozialpädagogische Musiktherapie. Anmerkungen zu einem Praxis- und Ausbildungskonzept.

In: Musiktherapeutische Umschau, 298-306 Stige, B. (2005): Toward an Notion of Community Music Therapy. In BVM (Berufsverband der Musiktherapeu-

tinnen und Musiktherapeuten in Deutschland (Hrsg.) Jahrbuch Musiktherapie, Wiesbaden: Reichert, 107-134 Tüpker, R. (2006): Neue Wege der Musiktherapie. In: Musiktherapeutische Umschau, 216-226) Wendt, W. R. (2005): Sozialökologie. In: Kreft, D. und Mielenz, I. (Hrsg.) Wörterbuch Soziale Arbeit, 5. voll-

ständig überarbeitete und ergänzte Auflage, Weinheim: Juventa, 851-852 Wickel, H. H. (1998): Musikpädagogik in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Münster Zeuch, A. (2001): Rezeptive Musiktherapie im sozialtherapeutischen Strafvollzug. Musik, Tanz und Kunst-

Therapie, 13-20 Zeuch, A. (2004): Ergebnisse musiktherapeutischer Entspannung im sozialtherapeutischen Strafvollzug. Musik,

Tanz und Kunst-Therapie, 16-23

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9.1 Zwanzig Jahre Musiktherapie Ausbildung an der Universität Siegen

Hochschuldidaktischer Kontext Bei der Einführung der Studiengänge Sozialarbeit und Sozialpädagogik („Sozialwesen“) an den Fach- und Gesamthochschulen in den 1970er Jahren wurden die künstlerischen Ausbil-dungsinhalte im Zuge einer damals äußerst intensiv geführten hochschuldidaktischen Diskus-sion in dem neuen Fach „Ästhetik und Kommunikation“ zusammengefasst (vgl. Wrisch 1978), das die Teilgebiete: Kunstpädagogik, Musikpädagogik, Sprach- und Literaturpädago-gik, Spiel- und Theaterpädagogik, Bewegungspädagogik und Pädagogik der Massenkommu-nikation enthält. 20% des Lehrangebots im Studiengang Sozialpädagogik und 10% im Stu-diengang Sozialarbeit sollten durch das Fach Ä&K abgedeckt werden; für jedes Teilgebiet wurden zwei Professorenstellen eingerichtet. Die Studierenden sollen in diesem neuen Stu-dienfach ihre ästhetische Wahrnehmungs- und Kommunikationskompetenz auf wissenschaft-licher Grundlage reflektieren und weiterentwickeln sowie ästhetische Erfahrungsmöglichkei-ten in der sozialpädagogischen Praxis nutzen können (Ministerium für Wissenschaft und For-schung 1976; Kapteina 1977). Musik im Ausbildungsfach „Ästhetik und Kommunikation“ Wie für jedes der Teilgebiete wurden dem entsprechend auch für die Musikpädagogik erzie-hungswissenschaftliche, musikpsychologische, musiksoziologische sowie handlungsorientier-te Studieninhalte definiert. Mit der Musikalischen Gruppenimprovisation (Friedemann 1969a, b, 1971, 1973) stand damals bereits ein Konzept ästhetischer Erziehung zur Verfügung, das weiterentwickelt werden konnte und mit dem die didaktische Herausforderung bewältigt wer-den konnte, Studierenden auf dem Gebiet Musik einen Professionalisierungsprozess zu eröff-nen, das im tertiären Bildungsbereich sonst nur dann offen steht, wenn Studierende sich zuvor spezielle Musikkenntnisse und Fähigkeiten angeeignet haben. Demgegenüber setzt die Mu-sikpädagogik im Sozialwesen bei der „Aktivierung originärer Musikfähigkeit“ (Ernst 1982, 47) an und entwickelt Konzepte, bei denen alles was klingt als Musik akzeptiert wird, die ge-samte Person sich einbringen kann und die im musikalischen Handeln zum Ausdruck kom-menden psychosozialen Inhalte bearbeitet werden (vgl. Seidel 1976, Kapteina 1977, Leidecker 2002). Kernstück der Musikpädagogik im Sozialwesen an der Universität Siegen1 war (bei einem Gesamtstudium im Fach Ästhetik und Kommunikation von 18 Semesterwochenstunden) von Anfang an ein dreisemestriger Kurs über musikalische Gruppenimprovisation im Umfang von jeweils vier Semesterwochenstunden, in dem die musikpraktischen Erfahrungen als Aus-gangs- und Bezugspunkt für die musikpädagogische, -psychologische und –soziologische Theoriebildung dienten und gleichzeitig exemplarisch als Modelle für die Anwendung in der sozialpädagogischen Praxis gelten konnten. Musikpädagogik wurde „neben ihrer erzieheri-schen und therapeutischen Funktion auch als politisches Handlungskonzept begriffen, das zur Einsicht in gesellschaftliche Widersprüche führt, zur Entwicklung von Interessenbewusstsein leitet und in befreienden Aktionen mündet“ (Kapteina 1977, 301). Der durch diesen Studienbereich ausgelöste Professionalisierungsschub im Bereich der Sozia-len Arbeit schlug sich in vielen soziokulturellen Initiativen nieder, wie zum Beispiel Mobile und stationäre Kinder- und Jugendmusikschulen, musikalische integrative Förderprojekte mit

1 Der Studiengang Sozialwesen (Sozialpädagogik und Sozialarbeit) wurde 1971 an der damaligen Fachhoch-schule Siegen-Gummersbach eingerichtet; 1976 in die neu gegründete Gesamthochschule Siegen integriert; später wurde die Bezeichnung Universität-Gesamthochschule eingeführt. Seit 2002 ist die Siegener Hochschule Universität.

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Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung oder Sucht- und anderen psychi-schen Erkrankungen. Ende der 1970er Jahre gründeten Absolventen ihren eigenen Trägerverein für Fortbildungen1, Anfang der 1990er Jahre ein eigenes musiktherapeutisches Fortbildungsinstitut.2 Didaktisches Profil der Musiktherapeutischen Zusatzausbildung Im Verlauf der 1980er Jahre führten einige „Studienreformen“, die weniger an hochschuldi-daktischen als an fiskalischen Zielen orientiert waren, zur sukzessiven Verringerung der An-teile des Studienfachs Ästhetik und Kommunikation. Immerhin wurde die Soziale Arbeit an der Universität Siegen in einen wissenschaftlichen Studiengang integriert, eine seit langem überfällige Maßnahme, durch die sicher gestellt werden kann, dass der wissenschaftliche Nachwuchs sich auch aus den Reihen der Sozialpädagogischen Profession rekrutieren kann. Mit der stärkeren „Verwissenschaftlichung“ ging allerdings auch die Vernachlässigung hand-lungsbezogener Professionalisierungsanteile einher. Der Studienanteil des Faches Ästhetik und Kommunikation wurde sukzessive von ursprünglich achtzehn Semesterwochenstunden auf zwölf und schließlich auf sechs verringert. Im neuen Bachelor Studiengang „Bildung und Soziale Arbeit“ an der Universität Siegen umfasst er 4%. Im entsprechenden Master Studien-gang ist es gar nicht vertreten. Davon unberührt blieb allerdings das Verhalten der Studierenden. Lehrveranstaltungen im Fach Ästhetik und Kommunikation wurden weit über den durch die Studienordnung vorgege-benen Rahmen nachgefragt. Diese zusätzlichen Studienleistungen können seit Mitte der der 1990er Jahre auf eine kulturpädagogische Zusatzausbildung angerechnet werden, die grund-sätzlich allen Studierenden der Universität Siegen zugänglich ist. Nach einer dreijährigen Erprobungsphase wurde die Musiktherapeutische Zusatzausbildung im Februar 1989 vom damaligen Senat der Universität Gesamthochschule Siegen eingeführt. Sie trägt neben der geschilderten hochschulpolitischen Entwicklung auch der inhaltlichen Tat-sache Rechnung, dass ästhetische Aneignungsprozesse, wie die musikalische Improvisation als eine Musikpädagogik im Sinne der „Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit“ (Friedemann 1973, 4), nicht nur Bereiche der politischen und persönlichen Bildung sondern auch solche der künstlerischen Psychotherapien erreichen. Andererseits fallen der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund wachsender sozialer Verelendung und gesundheitspolitischer Engpässe neue, auch psychotherapeutische Funktionen zu. In der sozialpädagogischen Beratungstätigkeit, wie der Drogenberatung, der Familienberatung, usw. werden psychotherapeutische Methoden schon länger angewandt (Lutz von Werder 1977). Ansonsten ist Psychotherapie in der Sozia-len Arbeit insofern wichtig, dass der Sozialarbeiter psychotherapeutische Angebote kennen muss, so dass er seine Klienten entsprechend informieren und beraten kann, wenn er selbst dergleichen nicht anbietet. Das dritte Gebiet, auf dem in der Sozialarbeit psychotherapeutische Methoden Anwendung finden, ist die Supervision. Lutz von Werder weist darauf hin, dass gerade bei der Arbeit mit Menschen aus der gesell-schaftlichen Unterschicht nonverbale und handlungsorientierte Verfahren von großer Wich-tigkeit sind. An dieser Stelle greifen die Möglichkeiten der Musiktherapie (1977). Eine Pilot-studie, die wir von 1985 bis 1987 durchführten, ermittelte den Bedarf an Sozialpädagogen, die musiktherapeutische Arbeitsweisen beherrschen (Kapteina 1989). Heute werden originär sozi-alpädagogische Praxisfelder, wie Prävention, Altenarbeit, schulbegleitende Förderung, Früh-

1 Die Bezirksarbeitsgemeinschaft für Freizeitkulturelle Jugendarbeit e.V. (BAG) ist anerkannter Träger der Freien Kinder- und Jugendhilfe. Sie führt Projekte auf dem Gebiet der ästhetischen Bildung für Kinder und Jugendliche durch sowie Fortbildungsveranstaltungen für Mitarbeiter. 2 Das Musiktherapeutische Institut für Kreative Kommunikation e.V. (MIK) veranstaltet auf Grundlage eines Ko-operationsvertrags mit der Universität Siegen die Seminare und Übungen der Musiktherapeutischen Zusatzaus-bildung für die postgraduierten Teilnehmer.

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förderung, Jugendarbeit, psychosoziale Beratung und Supervision neu als Tätigkeitsbereiche für Musiktherapeuten entdeckt (Tüpker 2006). Vor dem Hintergrund, dass Sozialpädagogen mit musiktherapeutischen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt gute Arbeitsmöglichkeiten haben und auch bei anderen Berufsgruppen, wie Leh-rern, Therapeuten, Psychologen und Ärzten musiktherapeutischer Fortbildungsbedarf besteht, konzipierten wir eine Zusatzausbildung nach dem Baukastenprinzip für Studierende und prak-tizierende Angehörige von Helfenden Berufen. Die einzelnen „Bausteine“, heute spricht man von „Modulen“, können die Teilnehmer ihrer jeweiligen beruflichen Situation oder auch ihrer persönlichen Entwicklung gemäß in weitgehend beliebiger zeitlicher Abfolge studieren. Die Absolvierung der gesamten Ausbildung wäre frühestens in dreieinhalb Jahren möglich. Die Siegener Ausbildung ist wachstumsorientiert, d.h. wir bilden nicht nur in einem therapeu-tischen Verfahren aus, sondern wir begleiten die individuelle Entwicklung und Reifung von „Musiktherapeutischen“ Persönlichkeiten. Am Ende des Studienganges steht demnach keine ritualisierte Prüfung, in welcher Fachwissen und Kenntnisse abgefragt würden. Statt dessen stellen unsere Absolventinnen im Rahmen einer öffentlichen Fachtagung ihr jeweils eigenes, individuelles Konzept vor und schildern, wie sie dessen Grundlage mit Klienten mindestens ein Jahr lang erfolgreich gearbeitet haben. Qualität, Aufwand und Umfang dieses Vortrages entsprechen den Abschlussarbeiten anderer Ausbildungen. Er dokumentiert darüber hinaus aber auch, dass und in welcher Weise der Absolvent die erworbenen Kompetenzen in einem Feld des Sozial- oder Gesundheitswesens zur Geltung bringen kann. Bei dieser Vorgehens-weise erübrigt sich die übliche Kontrolle durch Prüfungen. An ihre Stelle treten intensive Be-ratungen während der gesamten Studienzeit. Die methodische Gestaltung der Ausbildungselemente folgt den Erkenntnissen der aus neuro-wissenschaftlicher Sicht elaborierten Lerntheorie, der zu Folge Lernen „ein ganzheitlicher Prozess ist, der besonders dann gelingt, wenn er dem Entwicklungsprozess“ des einzelnen „und der Gruppe entspricht und aus ihm heraus entstehen darf“ (Frohne-Hagemann und Pet-zold 2006, 15). Es besteht ein Konsens unter allen Ausbildungsstätten an Hochschulen in Deutschland, dass die Kompetenz von Musiktherapeuten auf den vier Säulen Musikpraxis, musiktherapeutische Selbsterfahrung, Praxiserfahrung mit Klienten und medizinisch-therapeutischem Wissen ste-hen muss (Kasseler Konferenz der Musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland, 1998 und 2006). Dieser Richtlinie folgt die Ausbildung an der Universität Siegen mit dem Angebot der im folgenden genauer dargestellten drei „Module“: Sechs Hauptstufen, die jeweils auf ein halbes Jahr terminiert sind und nacheinander studiert werden müssen, wobei zwischen den einzelnen Stufen beliebig lange Pausen eingelegt wer-den. Elf Begleitseminare, die in beliebiger Reihenfolge absolviert werden können. Sechs Zusatzseminare, 100 Stunden Einzel-Lehrmusiktherapie sowie musiktherapeutische Be-rufspraxis nach der Erwerb des Hochschulzertifikats zur Aufnahme in den Berufsverband BVM.1 Nach dem Studium der Module 1 und 2 kann das Zertifikat der Universität verliehen werden, welches bestätigt, dass der Inhaber berechtigt und befähigt ist, musiktherapeutisch im Rahmen seines Berufes zu arbeiten. Ausbildungsstufen I.

1 Gemäß einer am 8.Juni 2002 von der Mitgliederversammlung des DBVMT beschlossene Anerkennungsverein-barung zwischen Berufsverband und Universität Siegen.

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So wie die Sozialpädagogische Musikpädagogik am „musikalischen Nullpunkt“ beginnt (Ernst 1982), entdecken wir in der ersten Ausbildungsstufe der Musiktherapie Ausbildung un-ser „music child“ (Nordoff und Robbins 1986), das heißt die Fähigkeit, sich von den Klängen faszinieren zu lassen, staunend und versunken hören, horchen und lauschen zu können, Stille und Klang als unerschöpfliche Erfahrungsräume erleben zu können. Jenseits von musikkultu-rellen Bewertungen werden die Klänge von Fell-, Rassel-, Metall-, Blas- und Saiteninstrumen-ten, der Stimme oder von schallfähigen Materialien im Raum, im Wald, am Körper usw. und ihre Wirkung auf Körper, Seele und Gruppengeschehen erforscht. Damit einher geht die in-tensive Auseinandersetzung mit den musikalischen Parametern Rhythmus, Melodie, Zusam-menklang und Klangfarbe. Damit werden Begriffe zur Verfügung gestellt, die die differen-zierte Beschreibung musikalischer Erfahrung ermöglichen. Der zweite Schwerpunkt in dieser Ausbildungsstufe ist die Erfahrung und Beschreibung von musikalischer Kommunikation, bei der ästhetische Ereignisse als nicht sprachliche Bedeu-tungsträger erfasst werden. Spiele von Lilli Friedmann (1973) oder Fritz Hegi (1997) erweisen sich als besonders geeignet, die bio-psycho-sozialen Dimensionen musikalischer Ausdrucks-phänomene zu erfassen (vgl. Kapteina 2007). II In einer zweiten Ausbildungsstufe steht die Bearbeitung der durch die musikalischen Erfah-rungen aktualisierten Lebensthemen und biographischen Materialien im Vordergrund (Musik-therapeutische Selbsterfahrung, Lehrmusiktherapie). Während in der ersten Stufe vorrangig Improvisationsspiele angeboten werden, deren Erfahrungsraum durch Spielregeln auf elemen-tare Klang- und Kommunikationserfahrungen eingegrenzt ist, treten in der zweiten Stufe „freie“ Improvisationen in den Vordergrund, bei denen wir „spielen, wie wir uns im Moment fühlen“, oder „was uns gerade einfällt“ oder „wonach es uns gerade ist“ und versuchen, mit-einander musikalisch in Kontakt zu kommen. Dabei werden dann mehr oder weniger zwangs-läufig die Lebensthemen aktualisiert. Das können Episoden aus der Kindheit sein oder aktuel-le Konflikte; wenn sie durch das Spiel und in der anschließenden Reflexion zur Sprache kommen, bieten wir geeignete musikalische Spiele an, die der betreffenden Person helfen, diese Themen weiter zu bearbeiten. Die Bandbreite geht von musikalischen Rollenspielen ü-ber die musikalische Reinszenierung einer bestimmten Familienszene bis hin zur musikali-schen Darstellung eines Gefühlszustands oder eines Körpersymptoms u.a.m. Der Lernprozess orientiert sich an den persönlichen Bedürfnissen der Gruppenmitglieder; die Entwicklung von Introspektionsfähigkeit und Sensibilität in der Gruppe sowie Konfliktfähigkeit steht im Vor-dergrund. Musikalische Lerneffekte ereignen sich dabei als beiläufige Zugabe, indem die Teilnehmer ihre Fähigkeit, genau zu hören, die Instrumente sicher zu handhaben und sich mu-sikalisch auszudrücken, weiterentwickeln. III In der dritten Ausbildungsstufe soll das Leiterverhalten gelernt werden. Die Teilnehmer über-nehmen zeitweise die Leitung der Gruppe, überlegen sich geeignete Spielangebote, die sie der Gruppe vorschlagen, die sie anleiten und mitspielend und beobachtend begleiten; sie führen die reflektierenden Gruppengespräche und machen weiterführende Vorschläge. In Phasen der Meta-Kommunikation erhalten sie Feedback von der Gruppe, teilen selbst mit, wie sie sich in der Leiterrolle erlebt haben und bekommen Feedback vom Dozenten, der die Ausbildungsstu-fe leitet. Im permanenten Wechsel zwischen musikalischer und Selbsterfahrung und methodi-scher Reflexion werden die für wichtigsten Aspekte der psychotherapeutischen Arbeit mit Musik erfasst, wie Therapievereinbarungen, Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen, Rollenklarheit, Abstinenzverhalten u.a. Da Musik direkt auf die subkortikalen Funktionen des limbischen und vegetativen Systems wirkt, ist neben den allgemeinen psychotherapeutischen Kriterien in der Musiktherapie der

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Umgang mit Emotionen und Affekten besonders zu beachten (vgl. hierzu Kapteina und Hörtreiter 1993, 132-168). IV Bei einer Zusatzausbildung für Helfende Berufe (Sozialpädagogen, Therapeuten, Pädagogen, Ärzte und Psychologen) wird vorausgesetzt, dass die Teilnehmer bereits therapeutische Vor-kenntnisse und Erfahrungen mitbringen und die spezifisch musiktherapeutischen Inhalte auf eine Weise vermittelt bekommen, die es ihnen ermöglicht, sie in ihre bereits vorhandene pro-fessionelle Identität zu integrieren. Während der vierten Ausbildungsstufe sollen sie bei der musiktherapeutischen Profilbildung unterstützt werden. Inhalte sind Indikationsstellung und Therapieplanung, Kontraktvereinbarung, Problemanalyse, Zielentwicklung. Anhand von mu-siktherapeutischen Improvisationsübungen werden unterschiedliche therapeutische Vorge-hensweisen, wie z.B. übungszentriert, erlebnisorientiert, aufdeckend, stabilisierend, nährend, konfrontativ, integrierend, etc. erarbeitet. Die erarbeiteten Therapieverfahren werden auch un-ter Gesichtspunkten der Risikoplanung bei z. B. Suizidgefährdung, epileptischen Anfällen, aggressivem Verhalten, Autoaggression, akuten psychotischen und anderen Ausnahmezustän-den usw. erörtert. Die therapeutische Haltung ist partnerschaftlich, akzeptierend. Sie ist freundlich, ermutigend, anerkennend, verständnisvoll, um einfühlendes Verstehen bemüht. Der Therapeut geht nicht direktiv vor. Er macht Vorschläge, lässt dem Gegenüber aber die Entscheidungsfreiheit. Er ist engagiert, bemüht und interessiert. Er stellt die erforderlichen Methoden und Materialien be-reit. Er ist (selektiv) echt, offen, zeigt Gefühle, sagt was er denkt und fühlt, soweit das nicht störend für den Prozess oder die Beziehung ist. So wie in der freien musikalischen Improvisa-tion gilt, dass jeder Klang und jedes musikalische Ereignis gleich wichtig ist (vgl. Charles 1984, 40), sind auch die der Musik zu Grunde liegenden Emotionen wert zu schätzen. Dieses musikästhetische Prinzip der generellen Akzeptanz impliziert, dass Beschreiben und Verste-hen den verbalen Diskurs bestimmen und nicht Interpretationen, Bewertungen und Beurtei-lungen. Hilfreiche Fragen, Feedback, Informationen und Hinweise bestimmen den Dialog zwischen Therapeut und Klient. Des weiteren werden während der vierten Ausbildungsstufe geeignete Methoden der Erfolgs-kontrolle und Qualitätssicherung vermittelt. Ein geeignetes Evaluationsverfahren muss eng auf das Selbstverständnis, das Konzept und die Arbeitsweise des jeweiligen Therapeuten ab-gestimmt sein. Er stellt ein seinem therapeutischen Verständnis entsprechendes Untersu-chungsdesign her, verändert es nach Maßgabe der prozessualen Diagnostik und passt es neuen Erkenntnisse an. Folglich sind Therapiekontrakt und die Anamnese nicht nur die Grundlage der jeweiligen Therapie. Sie bilden gleichzeitig den Bezugs- und Orientierungsrahmen für deren Evaluation. Vereinbarte Therapieziele, festgestellte Krankheiten oder Störungen sind die Faktoren, an de-nen die Evaluation die Bewertung des therapeutischen Prozess ausrichtet. V und VI In der vierten und fünften Ausbildungsstufe wenden die Lernenden mindestens ein Jahr lang ihre Fähigkeiten in der selbständigen Arbeit mit Klientengruppen an. Dabei werden sie durch intensive Ausbildungssupervision begleitet; hier können sie zusammen mit ihren Kollegen In-terventionen, Spiele und musiktherapeutische Inszenierungen, die sie mit ihren Klienten durchführen wollen, probeweise durchspielen, sich beraten lassen, ob und inwiefern sie ge-plante Vorhaben modifizieren sollten. Sie können nachträglich Interventionen, die sie mit ih-ren Klienten durchgeführt haben, mit der Supervisionsgruppe nachspielen, um sich Feedback über ihr Leiterverhalten zu holen. Anhand von Tonband- oder Videoaufzeichnungen werden Praxissituationen analysiert. Persönliche Themen, die durch die Arbeit mit den Klienten aktu-alisiert werden, und Gegenübertragungsgefühle werden mit der Methode der musikalischen Improvisation bearbeitet. Fachliche Defizite werden aufgearbeitet. Die Supervision bedeutet

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außerdem die Verankerung von musiktherapeutischen Konzepten und Evaluationsverfahren in das eigene berufliche Konzept, die Entwicklung der therapeutischen Rolle in der Auseinan-dersetzung mit der bisherigen beruflichen Tätigkeit; Verknüpfung musiktherapeutischer Kompetenzen mit einem sprachlich orientierten psychotherapeutischen Auswertungs- und In-tegrationsverfahren, je nach Grundberuf und vorherigen Ausbildungen (TZI, Gestalt, Ge-sprächsführung, Psychoanalyse, etc.). Am Ende der sechsten Ausbildungsstufe wird eine Praxisdokumentation erstellt, die diagnos-tische Angaben zum Klientel, Ziele der musiktherapeutischen Intervention, Verlaufsanalysen, Ergebnisse der musiktherapeutischen Praxis darstellt. Diese Dokumentation wird als öffentli-cher Fachvortrag vor einem Fachpublikum gehalten. Dabei soll auch gelernt werden, musik-therapeutische Kompetenzen wirksam auf dem Arbeitsmarkt zu präsentieren. Weitere Ausbildungselemente In den 11 Begleitseminaren des zweiten Moduls wird die musiktherapeutische Basiskompe-tenz durch zusätzliche musikpraktische Erfahrungen ergänzt: Elementare Musiklehre, Instru-mentenbau und akustische Klangerkundung, das Arrangement von Rock- und Popmusikstü-cken, Umgang mit Atem und Stimme, Liedersingen und arrangieren sowie Musik, Bewegung, Tanz. Basiswissen wird in Seminaren zur Sozialmedizin, Erziehungswissenschaft, zur Musik-psychologie und die theoretischen Grundlagen der Musiktherapie vermittelt. Außerdem muss sich jeder Teilnehmer eine Methode der Gesprächsführung angeeignet haben. Evaluation Die Universität hat in im Rahmen der Musiktherapeutischen Zusatzausbildung ca. 200 Teil-nehmer pro Jahr betreut. Das Baukastenprinzip impliziert, dass viele Teilnehmer die Absol-vierung der einzelnen Ausbildungsteile zum Teil über mehr als zehn Jahre verteilen. Im Jahre 2006/07 fand eine Absolventenbefragung mittels Fragebogen statt, wodurch der Er-folg der Zusatzausbildung evaluiert wurde1. Neben Informationen über den Grundberuf, auf den die Zusatzausbildung aufbaut, die derzeitige berufliche Beschäftigung, weitere therapeuti-sche Qualifikationen, und die der Zusatzausbildung beigemessene Bedeutung wurde nach Möglichkeiten, Umfang und Bedingungen musiktherapeutischen Wirkens im Rahmen eines Arbeitsplatzes (im Grundberuf) und zusätzlich oder ausschließlich in einem anderen Kontext, wie Honorartätigkeit in einer Einrichtung, freier Mitarbeit in einer Praxis, Selbstständiger Ar-beit in eigener Praxis, sowie nach Präventionsarbeit2 in pädagogischen und sozialtherapeuti-schen Feldern. Des weiteren werden Informationen erhoben über die musiktherapeutischen Schwerpunkte der Absolventen. Die Datenerhebung ergab, dass Dipl. Sozialarbeiter, Dipl. Sozialpädagogen und Dipl. Päda-gogen sind mit 49% die weitaus größte Berufsgruppe ist, die ihre Qualifikation durch die Mu-siktherapeutische Zusatzausbildung erweitert hat; Lehrer, Musik- und Instrumentalpädagogen stellen mit 16% die zweitgrößte Gruppe dar. Eine weitere stark vertretene Gruppe sind Erzie-herinnen (12%). Personen aus dem medizinisch-therapeutischen Bereich wie Ärzte, Psycholo-gen, Krankenschwestern u.a. sind mit 10% vertreten. Unter der Position „Sonstige“ (10%) sind die übrigen Berufsgruppen zusammengefasst, wie z.B. Hebamme, Gerontotherapeut, Er-gotherapeut, Heilpädagoge, Logopäde, Altenpfleger, Gemeindepädagoge, Seelsorger.

1 von 176 versandten Fragebögen kamen bis Juni 2006 139 zurück 2 Eine Besonderheit der Siegener Ausbildung ist es, präventive Methoden mit einzubinden in Form von Begleit-seminaren zu Themen wie Rock- und Popmusik, Tanzen in der sozialen Gruppenarbeit, Singen u.v.a.

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6%10%

12%

6%

2%

2%

10%

6 %

3%

43%

Dipl. Soz. Päd. Soz. Arb.

Dipl. Pädagogen

Lehrer

Musik- und Instrumentalpäd.

Musiker Kirchenmusiker

Erzieherinnen

Kranken-schwester/-Pfleger

Ärzte

Dipl. Psychologen

Sonstige

Grundberuf

Eingesetzt wird Musiktherapie von 78 Personen in ihrem Grundberuf, 49 Absolventen haben eine Honorarstelle, 33 sind in eigener Praxis tätig; teilweise gibt es Kombinationen.

als Honorarkraft

49 Pers.

zur Zeit nicht23 Pers.

in eigener Praxis

33 Pers.integriert im Grundberuf78 Personen

Auch die Gründe für den Nicht-Einsatz wurden erfragt. 5 Personen waren zum Zeitpunkt der Erhebung in Familienpause, 3 auf der Suche nach einer Honorarstelle, bei einer Person steht die Dissertation über Musiktherapeutische Arbeit im Vordergrund, in einem Fall ohne Anga-be. In 13 der 23 Fälle lässt sich Musiktherapie nicht in den derzeitigen Aufgabenbereich integ-rieren. Dies ist noch bei 8 weiteren Personen der Fall, die in ihrem Beruf tätig sind, Musikthe-rapie dort jedoch nicht integrieren können und deshalb zusätzlich eine Honorartätigkeit in ge-ringem Umfang (1-3 Stunden/Woche ) in einer anderen Einrichtung ausüben. Einsatzorte 36 Personen setzen Musiktherapie freiberuflich ein; 105 Absolventen erbringen institutionell eingebettete Angebote1, davon: 78 integriert am Arbeitsplatz bei Beschäftigung im Grundbe-ruf, 22 als Honorarkraft, 10 in Kombination Honorarstelle und freiberufliche Tätigkeit in einer Praxis und 17 kombinieren Beschäftigung im Grundberuf und zusätzlich Honorartätigkeit Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Einsatzorte von Musiktherapie

1 teilweise Überlappungen

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Selbstständig/Freiberufl. in eigener Praxis 33 als freier Mitarbeiter in einer Praxis 3 Div. Heime 23 Kliniken (stat.) 22 Schulen/ Sonderschulen 16 Tageskliniken/-stätten 10 Musikschulen 8 Kindergarten/Kitas 7 Beratungsstellen 6 Förder- und Therapieeinrichtungen 5 Hospize 2 Fortbildungsinstitute 2 Ambulante Pflege 1 Kichengemeinde 1 Werkstätten 1 Familienhilfe 1 Bezüglich des Klientels geben von 116 musiktherapeutisch tätigen Absolventen 68 an, schwerpunktmäßig mit Erwachsenen, 62 schwerpunktmäßig mit Kindern, 40 mit Jugendlichen und 27 mit Senioren, 7 speziell mit Frauen und 10 mit Familien zu arbeiten. Die Behandlungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Die Angaben wurden durch Multiple-Choice-Auswahl ermittelt Verhaltensauffälligkeiten 61 Ängste / Angststörungen 60 Depression 54 Aggression 53 Musiktherapie bei Trauer 38 ADHS 37 Demenz 24 Schmerz 21 in offener Form erfragte sonstige Behandlungs- und Arbeitsschwerpunkte1 Geistige Behinderung 12 Entwicklungsverzögerungen 5 Behinderungen allgemein 9 Sprachstörungen 4 Autismus 9 Down Syndrom 4 Psychische Erkrankungen 8 Rettsyndrom 3 Psychosomatische Störungen 6 Mutismus 3 Persönlichkeitsstörungen 4 Traumata 5 Trennung und Scheidung 4 Wachkoma 3 div. andere 43 Die Frage nach dem präventiven Einsatz musiktherapeutischer Methoden ergab, dass 93 von 139 Absolventen zum Zeitpunkt der Befragung Präventionsarbeit leisteten, 12 davon aus-schließlich. Bei diesen handelt es sich zu ungefähr gleichen Teilen um Dipl. Sozialpädagogen, Dipl. Sozialarbeiter und Lehrer bzw. Diplompädagogen, die Präventionsarbeit in Form von

1 Mehrfachnennungen möglich

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Musizieren, Improvisation, Singen, Tanzen, Bandarbeit, Musikmalen, Trommeln, Klangmas-sage anbieten. Der Ausbildung beigemessene Bedeutung Der signifikante Einsatz von Musiktherapie (116 von 139 Absolventen) lässt bereits vermu-ten, dass der Zusatzausbildung eine erheblich Bedeutung seitens der Absolventen beigemes-sen wird. Befragt danach gaben 1341 Personen an, die Zusatzausbildung als persönliche Be-reicherung zu erleben, 123 gaben an, dass ihre berufliche Perspektive durch diese Zusatzaus-bildung erweitert wurde, 39 Personen haben sich auf Grund der Zusatzausbildung beruflich umorientiert. Fazit Unabhängig von der derzeitigen Arbeitsmarktsituation, die dazu führt dazu, dass immer weni-ger Institutionen sich einen hauptberuflichen Musiktherapeuten leisten können oder wollen, und damit Angehörige anerkannter Professionen mit musiktherapeutischer Zusatzausbildung hervorragende Beschäftigungsmöglichkeiten bekommen, kann sie als Binnenqualifikation in einem pädagogischen, pflegenden oder anderen helfenden Beruf so lange dem Gesundheits- und Sozialwesen als Ressource zur Verfügung zu stehen, bis die Voraussetzungen für die be-rufspolitische Anerkennung der Musiktherapie gegeben sind. Die musiktherapeutische Spezialisierung in einem anerkannten Grundberuf ermöglicht den Zuwachs an Methoden und Handlungsrepertoire und damit einen besseren Zugang zum Klien-tel. Allerdings ist es oft schwierig, den Rahmen musiktherapeutischer Arbeit durch klare Ab-grenzung zu anderen Aufgaben der Institution sicher zu stellen. Ein weiterer Gewinn des Siegener Modells ist der Nutzen der Musiktherapeutischen Ausbil-dung als Erweiterung und Bereicherung des Sozialpädagogikstudiums oder Lehramtsstudiums hinsichtlich Wahrnehmungs- und Kommunikations- und anderer pädagogischer Basisqualifi-kationen sowie Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Erweiterung des methodi-schen Handlungsrepertoires. „Die Erfahrungen in der Ausbildung sind eine Bereicherung für das gesamte Leben, denn sie dienen mir auch heute noch zur Psychohygiene“, so ein Absol-vent in einem Interview über die Bedeutung der Zusatzausbildung (Hesse 2005). Literatur: Charles, Daniel (1984): Musik und Vergessen, Berlin Ernst, Anselm (1982): Musik und Sozialpädagogik – Zur Neuorientierung der Schulmusik. Zeitschrift für Musik-

pädagogik 18: 44-49 Friedemann, Lilli (1969a): Musikalische Bewusstseinsbildung ohne Noten. Musik und Bildung, 500-502 Friedemann, Lilli (1969b): Kollektivimprovisation als Studium und Gestaltung neuer Musik. Wien Friedemann, Lilli (1971): Kinder spielen mit Klängen und Tönen. Wolfenbüttel Friedemann, Lilli (1973): Einstiege in neue Klangbereiche durch Gruppenimprovisation. Wien Frohne Hagemann, Isabelle und Petzold, Hilarion (2006): Lehrtherapie in der Ausbildung von Musiktherapeutin-

nen und Musiktherapeuten – personale, soziale und professionelle Aspekte. Musiktherapeutische Umschau 5-17

Hegi, Fritz (1997): Improvisation und Musiktherapie. Möglichkeiten und Wirkungen von freier Musik, Pader-born

Hesse, Ramona (2005) Die Bedeutung der Musiktherapeutischen Zusatzausbildung für Studium und Praxis. SIEGEN:SOZIAL 68-70

Kapteina, Hartmut (1977) Anmerkungen zum derzeitigen Stand der Musikpädagogik im Sozialwesen. Archiv für angewandte Sozialpädagogik 289-302

Kapteina, Hartmut (1989): Musiktherapie in der Sozialarbeit. Gegenwärtiger Stand und Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung In: Marchal, Peter (Hrsg.): Einführung in das Fach Ästhetik und Kommunikation, Siegen, 100-118. Siegen: Universität

Kapteina, Hartmut (2007): Zur Ästhetik der musikalischen Improvisation in der Musiktherapie. Musiktherapeuti-

1 auch Absolventen, die Musiktherapie derzeit nicht ausüben, machten diese Angabe.

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sche Umschau 5-16 Kapteina, Hartmut; Hörtreiter, Hans (1993): Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken,

Stuttgart Kasseler Konferenz der Musiktherapeutischen Vereinigungen (1998): Thesen zur Musiktherapie. Musiktherapeu-

tische Umschau 232 – 235 Kasseler Konferenz der Musiktherapeutischen Vereinigungen (2005): Erste Konsensbildung zum Berufsbild.

Musiktherapeutische Umschau 77-79 Leidecker, Klaus (2002): Musik als Begegnung. Schöpferisches Handeln zwischen Pädagogik und Therapie.

Wiesbaden Ministerium für Wissenschaft und Forschung, NW (1976): Erlass von September 1976, Nr. IV A 2 6406, Betr.

Ästhetik und Kommunikation. Düsseldorf Nordoff, Paul und Robbins, Clive (1986): Schöpferische Musiktherapie. Individuelle Behandlung für das behin-

derte Kind, Stuttgart Seidel, Almut (1976): Musik in der Sozialpädagogik, Materialien zur Didaktik und Methodik des Musikunter-

richts. Wiesbaden Tüpker, Rosemarie (2006): Neue Wege der Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau 216-226 von Werder, Lutz (1997): Psychotherapeutische Sozialarbeit am Ende des Sozialstaats, Sozialmagazin 5, 26-37 Wrisch, Wolf (1978) Der Lernbereich Ästhetik und Kommunikation. Seevetal

Die Autoren des vorstehenden Textes sind: Inge Kritzer, *1946, Lehrbeauftragte und Lehrmusiktherapeutin der Universität Siegen, Musiktherapeutin (BVM)

mit Heilerlaubnis der Psychotherapie (HPG) in eigener Praxis und an der Musikschule der Stadt Siegen, Su-pervisorin DGSv, Dipl. Sozialarbeiterin, Ausbildungsleiterin der Musiktherapeutischen Zusatzausbildung der Universität Siegen

Karl Heinz Wortmann, *1951, Lehrbeauftragter und Lehrmusiktherapeut der Universität Siegen, Musiktherapeut mit Heilerlaubnis der Psychotherapie (HPG), Supervisor DGSv, Gestaltberater, Dipl. Sozialpädagoge, Musik-schullehrer, Leitender Dozent in der musiktherapeutischen Zusatzausbildung an der Universität Siegen

Ramona Hesse, *1957, Dipl. Sozialpädagogin mit Musiktherapeutischer Zusatzausbildung und Zusatzstudium Kulturpädagogik. Musiktherapeutische Praxis an einer akutpsychiatrischen Klinik, Lehrbeauftragte für Msuik und Bewegung, Tanz an der Universität Siegen

Hartmut Kapteina, *1944, Musiktherapeut (BVM) mit Heilerlaubnis der Psychotherapie (HPG) in eigener Praxis mit erwachsenen Patienten. Professor für Musikpädagogik und Musiktherapie an der Universität Siegen

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Aus dem Titel: Christine Mann u.a.: „Selbsterfahrung durch Kunst“ (Weinheim 1995) gebe ich nachfolgend unter dem Stichwort „Methodik ästhetischer Aneignung in der Sozialpädagogik“ eine kleine Zusammenfassung, die auch mit der Überschrift „ganzheitlicher Unterricht in Kunst, Musik und allen anderen Fächern“ versehen sein könnte:

Methodik ästhetischer Aneignung in der Sozialpädagogik

1. ausreichend Raum und Zeit geben zur sinnlichen Erfahrung 2. es gibt kein richtig und falsch; jede subjektive Lösung würdigen 3. ausgewogenes Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion anregen 4. Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und Alltagsleben herstellen 5. über großes Repertoire an Möglichkeiten, ästhetische Erfahrungen anzuregen, verfügen 6. Vielschichtigkeit (Universalität) ästhetischer Erfahrung anerkennen: Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen, direkte Gefühlsäußerungen der Teilnehmer annehmen 7. Methoden der Gesprächsführung beherrschen und anwenden clientzentrierte Gesprächsführung (Rogers) themenzentrierte Interaktion (Cohn)

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In den Jahren 1987 und 1988 haben wir im Kreis Siegen Wittgenstein eine Befragung bei al-len Trägern sozialer Arbeit über den Bedarf an musikbezogenen Kompetenzen bei Sozialpä-dagogen und Sozialarbeitern durchgeführt (vgl. Musiktherapie in der Sozialarbeit. Gegenwär-tiger Stand und Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung, in: Marchal, Peter (Hg): Ein-führung in das Fach Ästhetik und Kommunikation, Siegen 1989, 100-118); die Ergebnisse zeigten Kompetenzbedarf auf den vier „Säulen der Musiktherapeutischen Ausbildung“ (Kas-seler Konferenz): A. Musikpraxis (Instrumente spielen können, singen können, improvisieren können ...) B. Selbsterfahrung (sich selbst kennen, wissen, wie Musik auf einen selbst wirkt, sich

selbst annehmen und einbringen können ...) C. Praxiserfahrung (musiktherapeutische Settings kennen, Gruppen leiten können, Inter-

aktionen gestalten können, Praxis reflektieren können, Supervision ...) D. Soziologisches, psychologisches und medizinisches Wissen (psychosoziale Konflikt-

felder, Krankheitsbilder, Musikpsychologie ...) Je nach Klientel werden verschiedene Kompetenzen zusätzlich genannt; z.B. für die Arbeit mit

- Heimkindern: A. Instrumentenbau, musikalische Hörstunden veranstalten können, Singen, Tanzen, Im-

provisation nach Regeln B. Einfühlungsvermögen, Frustrationstoleranz, Kreativität, Realitätssinn, konsequentes

Verhalten C. Begeistern können

- In der Jugendarbeit: A. Sich musikalisch ausdrücken können, bestimmte Instrumente mit geringem Schwierig-

keitsgrad spielen können (Gitarre, Schlagzeug, Keyboard1), damit man den Ju-gendlichen eigene Rockmusik – Praxis ermöglichen kann; außerdem wird ver-langt: Singen, Liederrepertoire beherrschen, Tanz und Bewegung

B. Reflexion der eigenen Jugendphase C. Sensibilität für die Geschichte und die besondere Entwicklungssituation der Jugendli-

chen D. Entwicklungspsychologie des Kinder- und Jugendalters, Jugendsoziologie

- Bei der Arbeit mit Behinderten: A. Selbst eine enge persönliche Beziehung zur Musik haben

1 Zur Frage der „Neuheit“ im Bereich der Rock- und Popmusik belegt Wolfgang Jaedke eine ganze Reihe musikalischer Konstanten, die für die Szene seit den 50er mit geringfügigen Abweichungen unverändert gültig sind:

- das Schlagzeug grundiert ein Stück von Beginn bis zum Ende - das Instrumentarium besteht aus Schlagzeug, E-Bass, einer oder mehreren Gitarren, Keyboard, Gesang und ggf. ein

Soloinstrument - diese „spezifische Klangfarbe“ wird durch hinzukommende elektronisch erzeugte Klangeffekte modifiziert. - Rock- und Popmusik ist Vokalmusik mit lyrischer Grundhaltung (Ausdruck eines fühlenden Subjekts), Varianten

sind bei der Behandlung gesellschaftlicher Themen gegeben. - Formales Kompositionsprinzip ist die Liedform (Strophen, Refrain) - Rhythmisch dominiert der 4/4 Takt. „Tempo und Lautstärke variieren fast nie, höchstens in Abhängigkeit von

Schlagfolge bzw. Besetzung“; die Rhythmische Gestaltung ist den bekannten afroamerikanischen Merkmalen ver-pflichtet: Offbeat, Synkopen, Schwerpunkt-Antizipationen, Kreuzrhythmen etc.

(Wolfgang Jaedke: Popmusik als Epochenstil. Versuch einer musikhistorischen und musiktheoretischen Aufarbeitung. In: Helmut Rösing und Thomas Phleps (Hrsg.): Populäre Musik im kulturwissenschaftlichen Diskurs. Beiträge zur Popularmu-sikforschung 25/26, Karben: CODA Musikservice + Verlag, 2000, 201-206)

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B. Eine positive Einstellung zu Behinderungen haben C. Abgestimmte Einstiegesmöglichkeiten kennen und anwenden können, auf die Ge-

schichte und die behinderungsbedingten Besonderheiten eingehen können D. Krankheiten und Behinderungsarten kennen

- In der Beratungsarbeit: A. Offene musikalische Spielsituationen personenbezogen gestalten, begleiten und aus-

werten können B. Persönliche Ausstrahlung, die Mut macht zu musizieren C. Sensibel sein für Situationen, in denen man mit Musik besser weiter kommt als mit

Gespräch

- In der Altenarbeit A. Musik flexibel einsetzen können (im Krankenzimmer, in der Gruppe, bei offenen Ver-

anstaltungen) B. Existenzfragen, z.B. Tod, Glaube, bearbeitet haben C. Liebe, Verständnis für alte Menschen, Geduld D. Alterseinschränkungen und -krankheiten kennen

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Text zum Stichwort MUSIK aus dem Wörterbuch „Soziale Arbeit“, Weinheim 2003: Mit einem Erlass zum Studienfach „Ästhetik und Kommunikation“ legte 1976 das Ministeri-um für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein Westfalen fest, dass zur sozialpä-dagogischen Ausbildung zwingend auch Vorlesungen, Seminare und Übungen gehören, wel-che die Studierenden befähigen, ästhetische Gegenstände differenziert wahrzunehmen und in den kommunikativen Prozessen des beruflichen Handelns schöpferisch zu nutzen. Obwohl der damals festgelegte Umfang des Lehrangebots nie erreicht wurde, ist noch heute die Fähigkeit, Musik reflektiert und methodisch anzuwenden, Bestandteil des sozialpädagogischen Qualifi-kationsprofils. Das belegt ein Blick in die aktuellen Vorlesungsverzeichnisse: Von 22 Hoch-schulen mit sozialpädagogischen Studiengängen in Deutschland erbringen lediglich zwei kein musikpädagogisches Angebot. Im Wintersemester 2002/2003 werden von den untersuchten Hochschulen 17 Vorlesungen und Seminare mit theoretischen Einführungen angeboten. Das Spektrum der Themen reicht von allgemeinen historischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Fragestellungen bis hin zu adressatenspezifischen Reflektionen über „Jugend und Musik“, „Geschlechterrollen in musi-kalischen Jugendkulturen“ und allgemeine didaktische Grundlagen der Musikpädagogik oder der Musiktherapie in Sozialarbeit und Sozialpädagogik sowie für einzelne Praxisprojekte. In 14 Veranstaltungen werden Praxisprojekte begleitet, wie Rockmusik mit Jugendlichen, Kin-dermusical, Kinderkunstwerkstatt, musikalische Spielgruppen und Konzerte mit Kindern, Ra-diosendungen, Fest- und Feiergestaltung, Musik oder Folkloretanz mit Senioren. In 52 Me-thodenseminaren und Übungen erhalten die Studierenden das methodische Rüstzeug für die musikpädagogische Arbeit mit den verschiedenen Klientengruppen. Es reicht von speziellen musikalisch handwerklichen Angeboten, wie Musiktheorie, Gehörbildung, Rhythmusarbeit, Singen und Instrumentalspiel mit Blockflöte, Gitarre, Rockmusikpraxis, auch Musik am Computer und digitale Medien, Hörspiel- und Videopraxis über Verbindungen mit anderen Ausdrucksformen, wie Bewegung, Tanz, Sprache, szenischem Spiel, Instrumentenbau oder Malen nach Musik, bis hin zu musikalischen Selbsterfahrungsgruppen und Einführung in die Orff-Musiktherapie. Mehrfach begegnet uns in den Vorlesungsverzeichnissen die musikalische Gruppenimprovisa-tion. Sie ist nicht nur eine bewährte musikalische Methode in der Sozialpädagogik, sie reprä-sentiert vielmehr ein ganzheitliches ästhetisch-didaktisches Prinzip im Umgang mit Musik, welches in der Sozialen Arbeit als verbindlich anzusehen ist. „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Vorgehen, bei dem musikalisches Handeln und Lernen mit see-lischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft entwickelt und reflektiert wird. Dabei werden implizit die lebensweltlichen Beziehungen des Menschen und die grundlegenden Be-dingungen seiner Existenz thematisiert. Musikalisches, emotionales, soziales, ästhetisches und politisches Lernen bilden dabei im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller O-rientierung eine sozialökologische Einheit (Kapteina 2001). Die Gruppenimprovisation bietet als „elementare Musik ... einen Rahmen, der es möglich macht, als Einzelner, als Partner, als Gruppe, Erfahrungs- und Entwicklungschancen wahrzunehmen“ (Leidecker 2002, 28). Die Merkmale der Gruppenimprovisation sind generell auf kreative soziale Gruppenarbeit übertragbar:

- es muss, ausgehend von den vorhandenen ästhetischen Fähigkeiten der Adressaten, ausreichend Raum und Zeit zur sinnlichen Erfahrung gegeben werden.

- Dabei können Spielregeln oder freie situations- oder personenorientierte Ideen zu Grunde gelegt werden.

- Die Ergebnisse werden grundsätzlich nicht nach den Kategorien richtig oder falsch bewertet.

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- Jede subjektive Lösung wird gewürdigt. - Der Prozess wird in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben

und Reflexion gestaltet, wobei - die ästhetischen Erfahrungen zum Alltagsleben in Beziehung gebracht werden. (vgl.

Mann et. al. 1995) Die Kompetenz des Sozialpädagogen besteht darin, dass er über ein großes Repertoire an Möglichkeiten verfügt, ästhetische Erfahrungen anzuregen. Er ist in der Lage, die Vielschich-tigkeit (Universalität) ästhetischer Erfahrung anzuerkennen und Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen sowie direkte Gefühlsäußerungen der Teilneh-mer anzunehmen und für die Entwicklung der Einzelnen und der Gruppe zu nutzen (vgl. Mann 1995). Musik in der Sozialen Arbeit befindet sich somit im Schnittfeld zwischen Musikpädagogik, „deren Ziel die Befähigung zum bewussten Umgang mit Musik, dem Verstehen von Musik und der Erlangung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Interpretieren, Komponieren und Improvisieren von Musik ist“, auf der einen Seite und Musiktherapie als Psychotherapie auf der anderen Seite (Wickel 1998, 10). Soziale Berufskarrieren verlaufen dementsprechend nach drei unterschiedlichen Orientierungen:

- Entweder werden die in der Ausbildung erhaltenen Kompetenzen in die Sozialpädago-gik mit einem bestimmten Klientel integriert

- oder es werden künstlerische und musikpädagogische Fähigkeiten im Rahmen von gemeinwesenorientierter Kulturarbeit und –Management umgesetzt

- oder sie kommen in therapeutischen, rehabilitativen oder präventiven Maßnahmen des Gesundheitswesens zum Tragen. Entsprechende Zusatz- und Weiterbildungsangebote sind auf dem Markt (vgl. Seidel, 1992, Kapteina 2003)

Musik und Soziale Arbeit mit Kindern wird von Sozialpädagogen in Vorschuleinrichtungen, Frühförderstellen und im Rahmen von Schulsozialarbeit praktiziert, um die Entwicklung äs-thetischer sowie sozialer Kompetenz zu fördern und um bei der Entstehung von Verhal-tensauffälligkeiten vorbeugend oder korrigierend einzugreifen. Spezielle Angebote für gefähr-dete Kinder werden als begleitende Fördermaßnahmen in Kindergarten und Kinderhort, Ta-geseinrichtungen und Schule eingeführt. Spielgruppen für Kinder und ihre Eltern sowie Fami-lienorientierte Angebote, wie Musikfreizeiten, Familienwochenenden etc. unterstützen die familiäre Sozialisation (vgl. Forum Musiktherapie und Soziale Arbeit, in Kapteina 2003). „Mobile Musikschulen“ stellen Projekte der Gemeinwesenarbeit dar, die Konzepte für die musikalische Breitenbildung aus der Nachkriegszeit für die Jugendmusikschule aktualisieren. Musikpädagogisch qualifizierte Sozialpädagogen führen in Stadtteilen oder in abgelegenen ländlichen Gebieten Musikkurse durch, die sich explizit an Kinder aus benachteiligten Famili-en richten (vgl. Schreiber 2003). Auch bei der Jugendarbeit haben sich mobile Projekte bewährt. Rockmobile sind fahrende Musikstudios, zum Beispiel ausrangierte Linienbusse, die soziale Brennpunkte, Schulen oder abgelegene ländliche Ortschaften anfahren und dort Musikworkshops für Jugendliche und Un-terricht im Gitarren-, Bass, Keyboard-, Schlagzeugspiel und Gesang durchführen (vgl. Hill, 1996, Dentler 2001). Entwicklungsbedingt spielen in der Jugendarbeit musikpädagogische Maßnahmen auf dem Gebiet der Pop- und Rockmusik eine zentrale Bedeutung. Sie bestim-men auch in stationären Jugendhäusern unter kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft die musikalische Praxis. Sie werden meist in übergeordnete sozialpädagogische Zielstellungen eingebunden, wie Gewaltprävention und Entwicklung von sozialer Kompetenz und Basisqua-lifikationen (Dentler 2001) oder Prävention.

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Neben den bereits erwähnten bei Mann et. al. beschriebenen musikalischen Angeboten in der Erwachsenenbildung kommt Musik im Bereich der Sozialen Arbeit bei der Beratung von Erwachsenen immer denn zum Tragen, wenn der verbale Diskurs die eigentlichen psychoso-zialen Problemstellungen nicht hinreichend erreicht. Das wurde für die ambulante Beratung und Behandlung von Suchtkranken und ihren Angehörigen von Kapteina und Hörtreiter ex-emplarisch dargestellt (1993). Auch in der Ehe- und Familienberatung können Rollenkonflik-te, problematische Konstellationen im musikalischen Rollenspiel deutlich erkennbar und Lö-sungen erarbeitet werden. In stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bietet Musiktherapie in den Händen von Sozialarbeitern und –Pädagogen mit entsprechender Zusatzausbildung wichtige Beiträge zur wirksamen Bearbeitung vermiedener Emotionen und verdrängter Erlebnisinhalte. Des weiteren leistet Musik bei der Altenhilfe in Heimen und Pflegeeinrichtungen einen wich-tigen Beitrag zur psychophysischen Gesundheit. Dabei kommt vor allem dem gemeinsamen Singen herausragende Bedeutung zu. Im Rahmen des Gruppen übergreifenden Dienstes orga-nisieren Sozialpädagogen Singrunden und Tanznachmittage. Sie organisieren Kulturpro-gramme oder entwickeln zusammen mit Bewohnern Konzepte für die Gestaltung akustischen und des musikalischen Milieus in den Einrichtungen.

Literatur: Dentler, K. H.: Partytime. Musikmachen und Lebensbewältigung. Eine lebensgeschichtlich orientierte Fallstudie der Jugendarbeit, Opladen 2001 Hill, B. : „Rockmobil“ - eine ethnographische Studie aus der Jugendarbeit. Opladen 1996 Kapteina, H. / Hörtreiter, H.: Musik und Malen in der therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken, Stuttgart 1993 Kapteina, Hartmut: Gruppenimprovisation als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe. In: Ringge-spräch über Gruppenimprovisation LXVII 2001, 35-44 Kapteina, H.: Musik zum Erleben, Helfen, Heilen, http://www.musiktherapie.uni-siegen.de/musiktherapie/ Leidecker, K.: Musik als Begegnung, Wiesbaden 2002 Mann, C. et. al.: Selbsterfahrung durch Kunst, Weinheim 1995 Schreiber, B.: MOMU, die Mobile Musikschule, [email protected] 2003 Seidel, A.: Sozialpädagogische Musiktherapie. Anmerkungen zu einem Praxis- und Ausbildungskonzept, in: Mu-siktherapeutische Umschau 1992, 298-306 Wickel, H. H.: Musikpädagogik in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Münster 1998 Wickel, H. H. (Hrsg.): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim 2004

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10 Neue Musik, Improvisation und ganzheitliche Musikpädagogik

Improvisation als ästhetische und gesellschaftliche Zumutung in der Musiktherapie1 Am Beginn einer Musiktherapie Sitzung sprach eine Patientin Sitzung zu mir: „Wie kann man diesen Krach den ganzen Tag aushalten!“ Ich deutete ihn als Impuls auf mehreren Ebenen: Ich sah etwas wie Stolz in ihren Augen. Immerhin war es ihr gelungen, im Verlauf ihrer De-pressionsbehandlung Kontakt zu ihren wilden, lauten und aggressiven Anteilen zu bekommen, denen sie zum Teil exzessiv in der Musiktherapie Ausdruck verlieh. Ich fühlte mich bedauert, wie man es bei gestressten Eltern oder Lehrern tut, deren Kinder au-ßer Rand und Band geraten sind. Vor allem aber hörte ich eine ästhetische Anfrage: Was machen wir hier eigentlich? Musik-therapie oder Krachtherapie? Die ästhetische Anfrage berührt die theoretischen und ethischen Rahmenbedingungen der Therapie. Sie äußert Klärungsbedarf einerseits, anderseits aber auch eine deutliche Abwertung des musikalischen Handelns – sowohl des der Patientin selbst als auch des ihrer Mitpatienten. Wie ich darauf eingegangen bin, werde ich am Ende meines Beitrags berichten. Zuvor möchte ich nach einer historischen und zum Teil auch biographischen Einleitung eine ästhetische Theorie der musikalischen Improvisation darlegen und anhand einer kurzen Szene aus der Behandlung der zitierten Patientin aufzeigen, welche Bedeutung dem ästhetischen Zu-gang in der musiktherapeutischen Praxis und Theoriebildung zukommt. Ich habe die musikalische Gruppenimprovisation2 in den Sechziger Jahren während meines Schulmusik- und Kompositionsstudiums an der Musikhochschule in Köln für mich selbst als Möglichkeit entwickelt, mit Schülern in einen schöpferischen und sinnvollen Prozess des Mu-sik Lernens zu kommen. Musikalische Freiheit jenseits von Metrik und Tonalität Der Weg dahin verlief über kompositorische Erfahrungen mit der Zwölfton- und anderen Kompositionstechniken, bei denen ich die Freiräume jenseits von Metrik und Tonalität ge-noss, in denen wir zusammen mit unseren Lehrern lernten, eigene Ordnungsprinzipien zu entwerfen und musikalische Zusammenhänge zu stiften. Ein spannendes Abenteuer mit seriel-len, elektronischen und aleatorischen Kompositionsexperimenten im Aufbruchklima der Sechziger Jahre und an einer Musikhochschule, wo die Avantgarde der damaligen Zeit zu Hause war: Bernd Alois Zimmermann, Cage, Stockhausen, Kagel, Ligeti, das erste Studio für elektronische Musik am WDR und später auch an der Hochschule. Die Geburt der Gruppenimprovisation aus der Neuen Musik Mein Studium finanzierte ich mit Musikunterricht an einer Fachschule für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen, wie es damals hieß. Hier entstand bei mir die Idee, dass es doch möglich sein müsste, etwas von der schöpferischen Begeisterung, die man beim Komponieren erlebt, in den Musikunterricht einzubringen. Das war wie ein musikdidaktischer Quantensprung. Die Schülerinnen kamen in Kontakt zu ihren schöpferischen Fähigkeiten. Sie entwarfen Modelle

1 Erschienen in: Haase, Ulrike, Stolz, Antje (Hrsg.): Improvisation – Therapie – Leben, Crossen 2005: Akademie für angewandte Musiktherapie, 64-75 2 Ich verwende in diesem Beitrag die Begriffe Improvisation und Gruppenimprovisation synonym, weil der musik-therapeutische Kontext die therapeutische Beziehung von mindestens zwei Personen voraussetzt, nämlich von Patient und Therapeut.

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für Kompositionen, die sie mit graphischen Zeichen darstellten und gemeinsam umsetzten, diskutierten die Ergebnisse, verglichen sie mit Werken neuer Musik. Sie entwickelten große Musikaktionen, die bei Schulfeiern zur Aufführung kamen. Bei der Arbeit mit ihnen entdeckte ich die Gruppenimprovisation. Mit der Zeit merkte ich, dass ich nicht allein auf diese Idee gekommen war; gleichzeitig hatten Kolleginnen wie Gertrud Meyer-Denkmann, Lilli Friedemann, Lore Auerbach, Peter Auslän-der, Frank Grootaers, Gerd Lisken, Wolfgang Longardt, Helmut Schaarschmidt, um nur einige zu nennen, ähnliche Entwicklungen vollzogen. Eine erste ästhetische Beschreibung der Gruppenimprovisation unternahm ich 1974 in der Zeitschrift „Archiv für Angewandte Sozialpädagogik“. Ich kennzeichnete sie als vorläufigen Endpunkt der Entwicklung von Kompositionstechniken im 20. Jahrhundert. sind sie von der radikalen Erweiterung des musikalischen Materials bestimmt. Das liegt in-zwischen nicht nur jenseits von Metrik und Tonalität sondern umfasst Alltagsgeräusche, eben auch den sog. „Krach“. Zum Einsatz kommen Alltagsgegenstände, schallfähige Materialen aus dem Wald, aus Fabrikhallen etc. Herkömmliche Instrumente werden unüblich bedient mit der menschlichen Stimme werden die unüblichsten Artikulationen hervorgebracht. entstehen viele Varianten, den Kompositionsprozess neu zu definieren. Die Komposition ent-hält mehr oder weniger umfangreiche Spielräume, innerhalb derer die Eigeninitiative der Aus-führenden das klangliche Ergebnis bestimmt. Damit einher geht eine neue Rollenflexibilität der am musikalischen Prozess beteiligten Personen. Den Interpre-ten und auch dem zuhörenden Publikum wird immer mehr Verantwortung für die Realisation des Werkes zugewiesen. Das äußerste Stadium dieser Entwicklung ist erreicht, wenn die Rol-len von Komponist, Interpret und Hörer in ein und derselben Person vereinigt sind. Hier genau ist die Gruppenimprovisation entstanden. Diese Entwicklung von der avantgardistischen Komposition zur Gruppenimprovisation war von intensiven gesellschaftspolitischen Reflexionen begleitet. Die Produkte der Gruppenim-provisation liegen nicht nur jenseits herkömmlicher musikästhetischer Kategorien (ein füh-render Musikwissenschaftler bezeichnete Anfang der Siebziger Jahre bei den Darmstädter Ta-gen für Neue Musik Gruppenimprovisation als „musikalischen Dreck“). Sie liegen auch abseits der musikalischen Vermarktungswege und außerhalb der in der Gesell-schaft geläufigen Konsumgewohnheiten. Gruppenimprovisation als gesellschaftlicher Gegenentwurf Insofern gilt die Gruppenimprovisation als musikalische Subkultur und Entwurf einer Gesell-schaft, die von gleichberechtigter Teilhabe aller ihrer Mitglieder bestimmt ist. Jeder ist „in je-der Sekunde zur Entscheidung, zur Mitbestimmung, zur Wahl“ gefordert (Loos 1986, 160). Franco Evangelisti formulierte „kritische Einstellung und Bescheidenheit aller Mitglieder“ als maßgebliche Kriterien für den gemeinsamen Schaffensprozess in der Gruppenimprovisation. So entstehe „ein Zusammenspiel, bei dem keiner den anderen überflügelt“ (1969). 1972 stellte ich die Gruppenimprovisation in meiner Probevorlesung an der damaligen Fach-hochschule Siegen - Gummersbach (heute Universität Siegen) im Fachbereich Sozialwesen als Methode politischer Bildung in der Sozialen Arbeit vor und erhielt den Ruf auf die Profes-sur im Fach Musikpädagogik. Ich behauptete, dass die Beteiligten in der Gruppenimprovisati-on Verhaltensmuster bei sich selbst und bei den anderen erkennen können. In diesem Zusam-menhang fungiert die Gruppe als Minigesellschaft. Das musikalische Verhalten der Mitglieder bildet bestehende gesellschaftliche Verhältnisse ab und offenbart deren Veränderbarkeit. Allerdings zeigte sich bald, dass das musikalische Verhalten in der Gruppenimprovisationen auch von den individuellen Lebenserfahrungen jedes einzelnen bestimmt ist. Wenn dabei Traumata und ungelöste Lebenskonflikten zum Ausdruck kommen, müssen sie mit psychothe-

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rapeutischen Mitteln aufgearbeitet werden. Das ändert aber nichts daran, dass die Gruppenim-provisation, auch, wenn sie im klinischen Rahmen stattfindet, eine ästhetische Angelegenheit ist; und das auch mit ihren gesellschaftspolitischen Implikationen. Zwei Wege von der Gruppenimprovisation zur Musiktherapie: Improvisation als musikthera-peutische Spielart einer etablierten Psychotherapie oder Improvisation als Musiktherapie Für viele Vertreter der Gruppenimprovisation begann an dieser Stelle ihre Entwicklung zum Musiktherapeuten. Das geschah auf. Die meisten stellten die Gruppenimprovisation in den Rahmen unterschiedlicher psychologischer und psychotherapeutischer Theorien und Verfah-ren. So präsentiert sich die Musiktherapie in Deutschland, wenn auch seit 1998 unter der Klammer einer einheitlichen Definition ihres Begriffs (Kasseler Konferenz), als Disziplin mit verschiedenen Varianten: psychoanalytische, morphologische, integrative, verhaltenstherapeu-tische, sozialtherapeutische, leibtherapeutische, anthroposophische, altorientalische Musikthe-rapie und viele andere mehr; oder andersherum formuliert: Die Musiktherapien erscheinen jeweils als musikalische Spielart einer mehr oder weniger etablierten Psychotherapie, wie Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Sozialtherapie u.s.f. Den zweiten Weg markierte zum Beispiel Paolo Knill mit seiner Forderung, dass musikthera-peutische Theoriebildung grundsätzlich musikimmanent zu betreiben sei. Das Verständnis der Improvisation solle sich „direkt aus der Bedeutung der Musik in der therapeutischen Begeg-nung und nicht aus der Umdeutung in die psychologisch-reduktive Sprache psychotherapeuti-scher Modelle“ ergeben (1990, 57). Die eingehenden Diskussionen in der Kasseler Konferenz zu diesem Thema sowie jüngste Publikationen von Martin Drewer (2000) und Isabelle Froh-ne-Hagemann (2001) lassen hoffen, dass es in Zukunft zu einer stärkeren Orientierung an den ästhetischen Grundlagen kommt. Form und soziales Verhältnis Adorno formulierte in seiner „Ästhetischen Theorie“: „Politisches impliziert Kunst jedenfalls insofern, als in ihr ein formaler Zusammenhang zwischen einzelnen Teilen hergestellt wird; Form als Zusammenhang alles Einzelnen vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis.“ (1979, 379). Das heißt, die Art und Weise, wie im musikalischen Kunstwerk die Töne zuein-ander gefügt sind, ist ein Abbild des gesellschaftlichen Zustandes, dem das Werk entstammt. Gruppenimprovisationen stiften in ihrer jeweiligen formalen Gestalt ebenfalls einen Zusam-menhang zwischen den musikalischen Einzelaktionen und stellen auf diese Weise soziale Verhältnisse dar. Im Gegensatz zum öffentlich anerkannten „Kunstwerk“ haben diese musika-lischen Zusammenhänge unmittelbar mit den musikalisch handelnden Personen zu tun. Zur ästhetischen Theorie von Jan Mukarovský Adornos „Zusammenhang alles Einzelnen“ wird über die eingehende musikalischen Analyse der Improvisationen erfasst: Instrumentenwahl, Handhabung, Spielweise, Schallverläufe, Zeit-struktur (Rhythmus und Form), Intensitätsverhältnisse (Dynamik) u.s.w. Damit haben wir die Matrix erfasst, die Adorno zufolge soziale Verhältnisse „vertritt“. Das bedeutet also, dass die Improvisation etwas wie ein Symbol, eine Metapher, ein Zeichen für etwas ist, was außerhalb ihrer selbst liegt. Was „meint“ Musik; was „bedeutet“ die Improvisation, welche Inhalte transportiert sie? Nach Adorno, (vgl. 1963, 11 f) ist Musik keine Sprache, die etwas meint, und Peter Faltin führte weiter aus, dass „die Grenzen der Sprache nicht die Grenzen der Welt sind; und es nichts ‚Ge-naueres’ gibt, als das ‚ästhetische Zeichen’ selbst, das man sieht, hört, fühlt oder riecht“ (1985, 149). Den Begriff des ästhetischen Zeichens hat Mukarovský eingeführt, dessen ästhe-tische Theorie (1971) ich hier kurz skizzieren möchte. Mukarovský diskutiert zunächst den Standort der Ästhetik; die klassische Philosophie umfasst drei Disziplinen: die Logik oder Erkenntnistheorie (was ist richtig, was ist falsch?), die Ethik oder die Moraltheorie (was ist gut, was ist böse?) und die Ästhetik (was ist schön, was ist

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hässlich?). Die Tatsache, dass Menschen etwas als schön oder hässlich bewerten können, be-zeichnet Mukarovský als „Funktion“ und definiert: „Funktion ist die Art und Weise des Sich-geltend-Machens des Subjekts gegenüber der Außenwelt“ (125). Der Mensch verfügt nach Mukarovský über unmittelbare und zeichenhafte Funktionen. Zu den unmittelbaren gehört die praktische Funktion wenn er mit Körperkraft oder Werkzeugen die Wirklichkeit zu seinem Vorteil umgestaltet (vgl. 127). Ebenfalls zu den unmittelbaren Funktionen gehört die theoretische, bei der der Mensch se-mantische Zeichen (Sprache, Zahlen, Hinweisschilder etc.) mit dem Ziel verwendet, die Wirk-lichkeit in das Bewusstsein des Subjekts zu projizieren (vgl. ebd.) Zu den zeichenhaften Funktionen zählt Mukarovský neben der symbolischen die ästhetische, die sich ästhetischer Zeichen bedient, Musik, Tanz, Theater, Bildende Kunst oder Filme von Charley Chaplin, an deren Analysen er seine Ästhetische Theorie entwickelte. Ästhetische Zeichen Ästhetische Zeichen unterscheiden sich von symbolischen dadurch, „dass sie auf keine singu-läre Wirklichkeit“ verweisen, sondern sie spiegeln „in sich die Wirklichkeit als Ganzes wider“ (129). D.h.: in ihnen können prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit enthalten sein. Allerdings: die durch das ästhetische Zeichen „als Ganzes widergespiegelte Wirklichkeit ist im ästhetischen Zeichen nach dem Bild des Subjekts unifiziert“ (ebd.). D.h.: Die Vielfalt der Elemente, aus denen sich bei der Improvisation oder einer anderen Musik zu einem ästheti-schen Zeichen zusammenfügen, wird nach der Art und Weise in einen Zusammenhang ge-bracht, die dem beteiligten Subjekt eigentümlich ist. Mit der „Vereinheitlichung der Wirklichkeit“ erinnere „die ästhetische Funktion an die theore-tische, von der sie sich aber darin unterscheidet, dass die theoretische Funktion sich um ein zusammenfassendes Bild von der Wirklichkeit bemüht, während die ästhetische eine verein-heitlichende Verhaltensweise ihr (der Wirklichkeit, d.Vf.) gegenüber erzeugt“ (ebd.). D.h.: das ästhetische Zeichen provoziert Bewegungen der Sinne, des Körpers, des Denkens, in denen eine bestimmte Art, sich der Wirklichkeit gegenüber zu verhalten, erlebt wird. Zusammenfassend können wir den Inhalt des ästhetischen Zeichens als global (spiegelt die Wirklichkeit als Ganzes), subjektiv (... nach dem Bild des Subjekts unifiziert) und dynamisch (... erzeugt eine Verhaltensweise) charakterisieren. Verdeutlichung anhand eines Fallbeispiels Anhand einer kleinen Szene aus der Therapie mit Marion Berger1, der zu Beginn zitierten Pa-tientin, möchte ich verdeutlichen, was die drei Eigenschaften von ästhetischen Zeichen in der musiktherapeutischen Praxis bedeuten. Zum Ersten: „Ästhetische Zeichen spiegeln in sich die Wirklichkeit als Ganzes“ Fallbeispiel: Frau Berger mit Flexaton

Frau Berger ist Mitte vierzig, verheiratet, hat zwei Kinder im Alter von fünfzehn und siebzehn Jahren. Sie lebt in einer typischen kleinbürgerlichen Familie, umsorgt als umsichtige Hausfrau und Mutter Ehe-mann, Sohn und Tochter, ist integriert in Nachbarschaft, Freundeskreis. Im Nachhinein sagt sie, dass sie „nach außen“ eine glückliche Kleinfamilie darstellten. Eigentlich hätte sie keine Unzufriedenheit emp-funden, obwohl es zwischen den Eheleuten nur wenig Austausch gab. Auffällig war lediglich, dass sie immer große Unruhe überfiel, wenn ihr Mann und die Kinder außer Haus waren. In einer solchen Situation fällt sie „wie aus heiterem Himmel“ in eine schwere Depression. Der Hausarzt weist sie in die akutpsychiatrische Klinik ein, wo sie in meine Musiktherapie Gruppe kommt. Bei dem Besuch einer Freundin erfährt sie nebenbei, dass ihr Mann bereits seit vielen Jahren eine Geliebte hat. Nun zur Szene:

1 Der Name ist geändert

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Frau Berger schildert die Begegnung mit ihrem Ehemann, wie sie ihn zur Rede stellen will und er ab-blockt mit der Bemerkung, sie solle sich nicht so anstellen, das sei doch nichts ungewöhnliches, wenn ein Mann eine Geliebte hätte, und im übrigen sei die Beziehung auch gar nichts ernstes ... . In dieser Situation hätte sie ihm „ein Messer in den Bauch rammen können.“ Ich frage, ob sie zu dem Satz „ich möchte ihm ein Messer in den Bauch rammen“ eine Musik machen könne. Sie lässt kurz ihren Blick über die Instrumente schweifen, ergreift das Flexaton. Sie dehnt die Blechplatte bis zum äußersten Punkt und lässt sie dann los, wobei die beiden Schlägel schnell aufeinanderfolgende, Decrescendo-Klänge erzeugen; während des erneuten Dehnens hört man leise ein helles Glissando; sie wiederholt die Aktion mehrere Male; dann lässt die das Instrument auf den Schoß sinken und atmet tief durch. Ich bitte sie, zu beschreiben, was sie während der Musik erlebt hat. Sie erinnert das kalte, schneidende Gefühl an der Daumenkuppe beim Anspannen der Blechplatte, dann das „schnackelnde Geräusch“; sie habe das immer noch mal wiederholen müssen. Dann kommt sie auf Bauchschmerzen und Durchfall zu sprechen, die sie in solchen Stresssituationen bekommt.

Während die semantische Kommunikation über die Szene mit ihrem Mann und ihre Mord-phantasie eindeutige Inhalte transportierte, öffnet das ästhetische Zeichen den Mitteilungs-raum zur „Wirklichkeit als Ganzes“ hin. Das zeigen die Äußerungen der Patientin; für sie hat die Musik mit Stress, mit Bauchschmerzen und Durchfall zu tun. Ich selber spürte eine fast quälende Anspannung, die sich ins Leere entlud, um immer wieder aufs Neue dasselbe Muster zu wiederholen. Andere Hörer mögen andere Inhalte empfunden haben, und potentiell wäre tatsächlich alles nur denkbare in diese Klangaktion projizierbar. Allerdings, und nun kommt die zweite Bestimmung: die Wirklichkeit als Ganzes ist in dem ästhetischen Zeichen widergespiegelt nach dem Bild des Subjekts unifiziert. Fortsetzung Fallbeispiel Frau Berger: Eifersucht mit Flexaton

Frau Berger schaut auf das Instrument herab und wiegt es hin und her. Dann kommt sie auf das Thema „Eifersucht“ zu sprechen. Das wäre eigentlich ein typisches Eifersuchtsinstrument. Es würde sich inner-lich alles zusammenkrampfen. Ich bitte sie, Eifersucht zu spielen. Sie wiederholt einige Mal die Klang-aktionen von zuvor. Dann erzählt sie, dass sie seit eh und je diese Eifersucht hat, „dieses Anklammern“. Freundschaften sei-en daran zerbrochen, und ihren Mann habe das sicher auch genervt. In diesem Schritt der Therapie erforscht die Patientin ein Motiv, das ihre Wirklichkeitsbeziehung prägt, das ihr Bild von der Wirklichkeit bestimmt, oder in Mukarowskýs Terminologie ausgedrückt, ihr urei-genstes Bild, nach dem sie die Wirklichkeit unifiziert.

Die dritte Bestimmung, der zufolge das ästhetische Zeichen eine vereinheitlichende Verhal-tensweise der Wirklichkeit gegenüber erzeugt, wird im Klangerleben unmittelbar erfahrbar. Wir spüren die nerverzerreißende Anspannung und die unbefriedigende Entladung ins Leere hinein. Der Therapeut erlebt es mit in seiner Resonanz, Empathie, Gegenübertragung oder welchen psychologischen Begriff er auch immer verwendet. Er ist jedenfalls mit hineinge-nommen in die vereinheitlichende Verhaltensweise, die das ästhetische Zeichen erzeugt. Fortsetzung Fallbeispiel Frau Berger: Zorn und Verlassenheitsangst mit Flexaton

In der therapeutischen Szene mit Frau Berger ist meine Aufmerksamkeit von Beginn an auf einen Teil des Klanggebildes gerichtet, den sie noch nicht thematisiert hat: jenes leise, fast nicht hörbare hell klin-gende Glissando am Ende zwischen den Klangaktionen, wenn sie das Blech wieder anspannt. Ich komme nochmals auf ihr Spiel zu sprechen und frage, ob sie ihre Musik vollständig beschrieben ha-be. Ihr fällt dazu nichts mehr ein, und ich frage, ob sie vielleicht noch einmal hinhören wolle. Sie spielt nochmals, aber ihr fällt nichts weiter auf. Dort, wo die besagten Klänge entstehen, hatte sie von einem „schneidenden Gefühl an der Daumenkup-pe“ gesprochen. Die währenddessen entstehenden Klänge nimmt sie nicht wahr. „Abwehr“ oder „Wider-stand“ sind die psychologischen Begriffe. Jedenfalls ist die Wahrnehmungsgrenze zu respektieren.

Die vereinheitlichende Verhaltensweise, die das ästhetische Zeichen erzeugt, enthält in unse-rem Beispiel die Auseinandersetzung mit Schmerz. Die Patientin nimmt ihn als schneidendes Gefühl an ihrem Daumen wahr; ich höre eine wimmernde helle Stimme und denke ein jam-

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merndes Kleinkind. Das ästhetische Zeichen der Patientin und ihre Verhaltensweise weist in Erlebnisräume hinein, für die sie (noch) keine Sprache hat.

In einer späteren Sitzungen kam sie auf das Thema Eifersucht zu sprechen, nahm auch noch ein letztes Mal das Flexaton zur Hand und sagte: „Das hört sich wie ein jammerndes Kind an“, wiederholte es mehrmals und begann heftig zu weinen. Sie erzählte, wie sie mit Mutter und zwei Tanten zusammen aufwuchs. Von den drei Frauen fühlte sie sich ständig schikaniert; sie waren kalt und nur darauf bedacht, alles im Haus sauber und steril zu halten. Der Vater war der einzige, der sie mal in den Arm oder auf den Schoß nahm, zärtlich zu ihr war und ihr das Gefühl gab, geliebt zu sein. Er war aber meistens weg, weil er es in diesem Frauenhaus nicht aushielt. So weit sie zurückdenken kann, hatte sie Angst, dass er nicht zurückkommen würde und sie völlig den strengen und lieblosen Frauen ausgeliefert wäre. Abend für Abend habe sie in ihr Kissen hinein geweint, damit man sie nicht hörte ... . Sie bricht plötzlich ihre Erzählung ab. Unter Tränen holt sie sich das Glockenspiel, und wieder entsteht ein ästhetisches Zeichen, das sie lange Zeit, nicht nur in dieser sondern auch in den folgenden Sitzungen wiederholt:

Irgendwann habe sie begonnen, sich mit einem solchen Singsang in den Schlaf zu singen und das schlimme Verlassenheitsgefühl zu bewältigen. Ich begleite sie an Xylophon und Metallophon mit Terzparallelen und verändere ihr Bild von der Wirk-lichkeit in dem Sinne, dass sie jetzt nicht alleingelassen ist.

Hier beende ich das Fallbeispiel und auch meinen Beitrag mit einigen Bruchstücken aus der ästhetischen Theorie, die für uns Musiktherapeuten von besonderem Interesse sein dürften.

1. Ästhetisches Erleben ist an sinnlichen Kontakt und geistiges Erleben gebunden Sinnlicher Kontakt und geistiges Erleben sind die Voraussetzungen für ästhetisches Erleben (vgl. Kagan 1974, 105 f., Ingarden 1969, 4). Daraus resultiert zum einen der Wechsel zwi-schen Spiel und reflektierendem Gespräch in der Musiktherapie, das Hin und Her zwischen ästhetischer und semantischer Ebene. Zum anderen macht die Betonung des sinnlichen Kon-takts die Berücksichtigung des Körpererlebens und neurophysiologischer Zusammenhänge beim Erleben von Musik zwingend erforderlich.

2. in der Musik können sich Gefühle ohne Gegenstandsgebundenheit ausleben Georg Lukács hat in seiner Ästhetik das einzigartige Verhältnis zwischen Musik und Emotio-nen hervorgehoben (vgl. 1972, 110). Von Natur aus würden Emotionen grundsätzlich Gegens-tände der Wirklichkeit widerspiegeln. In der Musik dagegen können sich Emotionen „ohne Gegenstandsgebundenheit ausleben“ (ebd.). Diese Ansicht findet sich in der neurophysiologi-schen Forschung bestätigt, die die unmittelbare Verbindung des Hörsinns mit den für das e-motionale Erleben zuständigen neuronalen Mustern des Limbischen Systems beschreibt (vgl. u.a. Spintge und Droh 1992, 20 ff).

3. Gruppenimprovisation liegt extrem außerhalb des geläufigen Musikgeschmacks Gruppenimprovisation als Ergebnis der avantgardistischen Entwicklungen der Neuen Musik liegt extrem außerhalb des Mainstreams des gegenwärtigen Musikgeschmacks. Zu Grunde liegt ein völlig anderer Begriff von Musik als der bei den Patienten gebräuchliche. Sie als „Krach“ (oder Geklimper oder Katzenmusik u.s.w.) zu bezeichnen, ist für sie naheliegend. Ich meine, dass die Patienten Anspruch auf Musiktherapeuten haben, die die ästhetischen Impli-kationen ihres Handwerks verstehen. Die Produkte der Gruppenimprovisation liegen nicht nur jenseits herkömmlicher musikästhe-tischer Kategorien, sie liegen auch abseits der musikalischen Vermarktungswege und außer-halb der in der Gesellschaft vorhandenen musikalischen Kommunikationsräume. Insofern muss Gruppenimprovisation heute ebenso wie zur Zeit ihrer Entstehung als subkulturelle Mu-

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sik gelten. Der Musikmarkt bestimmt das musikalische Bewusstsein der Menschen und nicht ihre schöpferischen Potentiale. Als subkulturelle Kunst aber hat sie in der Musiktherapie große Bedeutung erlangt. Was wun-dert’s: ist doch die Musiktherapie selbst Teil der Subkultur von Menschen, die an den Nor-men, Ansprüchen und Zumutungen der Gesellschaft gescheitert sind und deshalb nach den Standards der allgemein anerkannten Kultur als behandlungsbedürftig definiert werden. Mit diesem gesellschaftlichen Kontext befinden wir uns bereits auf dem Gebiet der allgemei-nen Ästhetik (griechisch: aisthesis); diese kaum beachtete Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung und der „Urteilskraft“ (Immanuel Kant, 1790) täte den Menschen der totalen Waren- und Konsumwelt Not, wenn sie nicht den allgegenwärtigen Verlockungen und Ver-führungen erliegen wollten, die ja allenthalben mit ästhetischen Inszenierungen einhergehen.1 Die ästhetische Wissenschaft erfasst einerseits die Charakteristika der ästhetischen Situation: Sinnlicher Kontakt und geistiges Erleben (vgl. Kagan 1974, 105 f., Ingarden 1969, 4). Daraus resultiert der Wechsel zwischen Spiel und reflektierendem Gespräch in der Musiktherapie und in der pädagogischen oder künstlerischen Gruppenarbeit. Jenes Hin und Her zwischen sinnli-cher und semantischer Ebene ist für Gruppenimprovisation typisch, für Medienkonsum eher atypisch. Hinsichtlich des sinnlichen Kontakts liegt in der Musiktherapie zusätzlich ein be-sonderer Fokus auf Körperreaktionen und neurophysiologischen Wirkungen der Musik. Anderseits fragt die ästhetische Wissenschaft nach den Bedeutungen der Kunst, ihrer Qualität als Mimesis, Widerspiegelung oder Abbildung von Wirklichkeit. Von Beginn wurde Gruppenimprovisation als Entwurf einer Gesellschaft verstanden, die von gleichberechtigter Teilhabe aller ihrer Mitglieder bestimmt ist. Bei der Gruppenimprovisation ist jeder „in jeder Sekunde zur Entscheidung, zur Mitbestimmung, zur Wahl“ gefordert (Loos 1968, 160). Franco Evangelisti formulierte „kritische Einstellung und Bescheidenheit aller Mitglieder“ als maßgebliche Kriterien für den gemeinsamen Schaffensprozess in der Grup-penimprovisation. So entstehe „ein Zusammenspiel, bei dem keiner den anderen überflügelt“ (1969).

4. Die ästhetischen Kategorien bewahren die Ganzheit Musik als Verwirklichung des menschlichen Vermögens, ästhetische Zeichen hervorzubrin-gen und zu erleben, erfordert von einer Therapie, die sich ihrer bedient, ästhetische Theorie-bildung. Paul Nordoff und Clive Robbins (vgl. 1986), Leslie Bunt (1998), Henk Smeijsters (1999) und andere belegen, dass ästhetische Kategorien sehr wohl in der Lage sind, Probleme der Diagnose, der Indikation und der Evaluation zu erfassen. Die ästhetischen Kategorien be-wahren die Ganzheit des Menschen und enden nicht an den Grenzen der etablierten Psycho-therapien. Gleichwohl sind die verschiedenen psychotherapeutischen Theoreme hilfreich, um Einzelheiten des musiktherapeutischen Prozesses zu überprüfen und zusätzlich zu verstehen. Zur theoretischen Fundierung der Musiktherapie reichen sie nicht hin. Nachzutragen wäre noch, dass ich auf die ästhetisch gemeinte Frage von Frau Marion Berger, wie ich denn diesen Krach den ganzen Tag über aushalte, mit der folgenden ästhetischen Stel-lungnahme antwortete: „Wenn es auf der Welt Musik gäbe, die diese Bezeichnung im vollen Sinne ihrer Bedeutung verdient, dann wären es für mich die Improvisationen, die ich mit den Patienten täglich erleben kann. Denn im Gegensatz zu allen Musiken um uns herum hat die Musik, die in diesem Musiktherapieraum entsteht und die ich keineswegs für Krach halte, un-

1 s. z.B. die heute mehr denn je aktuelle „Kritik der Warenästhetik“ von Wolfgang Fritz Haug (1971): Um das Inte-resse der Gewinnmaximierung zu gewährleisten, versehen Warenproduzenten ihre Produkte mit einem „Gebrauchswertversprechen“, welches mit ästhetischen Mitteln dem Warenkörper hinzugefügt wird (Verpackung, Markenzeichen, Werbebotschaften und –Kampagnen etc.) Da Gebrauchswertversprechen und Ge-brauchswert mehr oder weniger eklatant divergieren, entsteht beim Konsumenten nach jedem Warengebrauch ein unbefrie-digtes Restbedürfnis (Warenhunger), welches ihn zur Fortsetzung und Steigerung des Konsums antreibt.

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bedingt und aktuell mit nichts anderem als mit uns selbst zu tun und mit unserer Art in der Welt zu sein.

5. Gruppenimprovisation erfüllt die Kriterien der Ästhetischen Erziehung Gruppenimprovisation erfüllt auf idealtypische Weise die vier Funktionen welche Diethard Kerbs der Ästhetischen Erziehung zugesprochen hat (vgl. 1975, 17 ff), nämlich:

- gesellschaftlich vermittelte Manipulation zu durchschauen, Ideologien und ökonomi-sche Interessen zu erkennen (die Kritische Funktion),

- ästhetische und soziale Phantasie zu entwickeln und schöpferisch verändernd zu leben (die Utopische Funktion),

- Erkenntnisse in konkrete ästhetische Handlungen umzusetzen (die Pragmatische Funk-tion) und

- die Sinne zu befreien und vom Konsumieren zum Genießen zu kommen (die Hedonis-tische Funktion).

In ästhetischen Bildungsprozessen, so Stefanie Marr „erschließen sich Menschen Lebenswirk-lichkeit“. Ziel ist die Entwicklung von „Gestaltungskompetenz, die zu eigener Lebensführung befähigt,“ die gelingt, wenn sie „selbstbestimmt an Bedürfnissen und Interessen orientiert verwirklicht wird“ (2004, 245). Gegenstand ästhetischer Erziehung ist nicht nur Kunst son-dern der gesamte lebensweltliche Kontext. Alles, was uns dort begegnet, also auch die alltäg-lichen Gegenstände, ist neben seinen praktischen Verwendungszwecken immer auch als äs-thetisches Zeichen zu verstehen und als solches wirksam. Gelingendes Leben als Ziel ästhetischer Bildung kann gleichermaßen für Therapie und ganz-heitlich orientierte Pädagogik gelten, und Gruppenimprovisation hat dort ihren Ort. Lilli Frie-demann hat das an den Begriffen: „Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit“ und „Wachstum nach allen Seiten hin“ festgemacht, der über das Musikalische hinaus Seelisches, Soziales und Gesellschaftliches umfasst. Literatur Adorno, Theodor W. (1963): Fragment über Musik und Sprache in ders.: Quasi una fantasia, Frankfurt/M: Suhr-

kamp, 9-16 Adorno, Theodor W. (1979): Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Auerbach, Lore (1972): Hören lernen – Musik erleben, Wolfenbüttel: Möseler Ausländer, Peter: Vokalimprovisation, ringgespräch über gruppenimprovisation März 1998, 6-10 Bunt, Leslie(1998): Musiktherapie, Weinheim: Beltz Drewer, Martin (2000): Gestalt, Ästhetik, Musiktherapie, Münster: LIT Evangelisiti, Franco (1969): Improvisationen der Gruppe Nuova Consonanca, Begleittext zur Schallplatte DGG

643541 Faltin, Peter(1985): Bedeutung ästhetischer Zeichen, Musik und Sprache, Aachen Friedemann, Lilli (1973): einstiege in neue klangbereiche durch gruppenimprovisation, Wien: Universal Friedemann, Lilli (1983): Trommeln - Tanzen – Tönen, Wien: Universal Frohne-Hagemann, Isabelle (2001): Ästhetik und Leiblichkeit, in dies. (Hrsg.): Fenster zur Musiktherapie, Wies-

baden, 259-294 Grootaers, Frank (1985): Gruppenmusiktherapie aus ganzheitlicher Sicht, Musiktherapeutische Umschau, 37-67 Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971 Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969 Jörgensmann, Theo und Weyer, Rolf-Dieter: Kleine Ethik der Improvisation, Essen 1991 Kagan, Moissej (1974): Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin Kapteina, Hartmut (1974): Gruppenimprovisation – eine musikpädagogische Methode, Archiv für Angewandte

Sozialpädagogik, 247-268 Kasseler Konferenz (1998): Kasseler Thesen zur Musiktherapie, Musiktherapeutische Umschau, 232 – 235 Kerbs, Diethard: Zum Begriff der ästhetischen Erziehung, in: Otto, Günter (Hrsg.): Texte zur ästhetischen Erzie-

hung, Braunschweig 1975, 12-24 Knill, Paolo (1990): Wissenschaftliche Betrachtungen zur Musiktherapie unter ethischen Gesichtspunkten, in:

Decker-Voigt, Hans Helmut (Hrsg.): Musik und Kommunikation, Tagungsberichte, Band 1, Lilienthal: Eres,

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39-58 Lisken, Gerd: Einige neue Überlegungen zur vokalen Gruppenimprovisation, ringgespräch über gruppenimprovi-

sation, März 1998, 10-11 Longardt, Wolfgang (1968): Musikerziehung braucht Phantasie, Essen Loos, Gertrud (1986): Spiel-Räume, Stuttgart: Fischer Lukács, Georg: Ästhetik III, Darmstadt 1972 Marr, Stefanie: Lernziel Lebenskunst, in: Marchal, Peter (Hrsg.): Einführung in das Fach Ästhetik und Kommu-

nikation. Ästhetik heute. Beiträge zu einem Studienfach und seinen Teilbereichen, Siegen: Universität, 2004, 232-248

Meyer-Denkmann, Gertrud (1970): Klangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter. Neue Wege ei-ner musikalischen Grundausbildung, Wien: Universal

Meyer-Denkmann, Gertrud (1972): Struktur und Praxis neuer Musik im Unterricht. Experiment und Methode, Wien: Universal

Mukarovský, Jan: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1971 Nordoff, Paul und Robbins, Clive (1986): Schöpferische Musiktherapie, Stuttgart, Fischer Schaarschmidt, Helmut: Gruppenimprovisation, in: Hopf, Helmut (Hrsg.): Lexikon der Musikpädagogik, Re-

gensburg 1994, 102 ff Smeijsters, Henk: Grundlagen der Musiktherapie, Göttingen 1999 Spintge, Rolf und Droh, Rolf (1992): Musik-Medizin, Stuttgart: Fischer

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10.1 Ökologie der Gruppenimprovisation

Hartmut Kapteina „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Arbeitsprinzip, bei dem musika-lisches Handeln und Lernen mit seelischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft ent-

wickelt und reflektiert sowie die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, in der er lebt, und die grundlegenden Bedingungen seiner Existenz thematisiert werden. Musikalisches, soziales, ästhetisches, politisches Lernen bilden im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller Orientierung eine sozialökologische Einheit. „Ökologie“ bedeutet in diesem Zusammenhang die ausgewogene und gleichrangige Berücksichtigung aller Aspekte menschlichen Erlebens, entsprechend der aktuellen Situation der beteiligten Personen im Sinne bedürfnis- und situationsorientierter Pädagogik. Lernen erfolgt nicht nach einem vorgegebenen Lehrplan sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der betroffenen Personen sowie ihrer Lebenslage. Das Bild

des Baumes veranschaulicht den musikalischen Lernprozess. Der Baum entfaltet sich mit seinem Ast- und Blattwerk dem Licht entgegen. So entfaltet der improvisierende Mensch seine musikalischen Fähigkeiten; er lernt Klänge differenziert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu benennen; er lernt die verschiedenen Instrumente kennen und entwickelt die Fähigkeit, auf ihnen die Klänge und die musikalischen Verläufe zu realisieren, die seinen Vorstel-lungen entsprechen. Er lernt, mit seinen musikalischen Bei-trägen auf den musikalischen Gestaltungsprozess der Gruppe einzuwirken, musikalische Formbildungen zu er-fassen und die Musik der Gruppe zu analysieren. Die mu-sikalischen Kompetenzen, die sich die Spieler bei der Gruppenimprovisation aneignen, können mit den Begriffen

- Musikalische Sensibilität - Musikalische Phantasie und Kreativität - Musikalisches Differenzierungsvermögen - Musikalische Kritikfähigkeit

zusammengefasst werden. Das besondere am musikalischen Lernprozess bei der Gruppenimprovisation kommt jedoch in der besonderen Charakteristik der Baum – Metapher zum Ausdruck. Sein Ast- und Blattwerk

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vermag sich nur insoweit zu entfalten, wie sich gleichzeitig sein Wurzelwerk unter der Erde entwickelt. In gleicher Weise „wurzeln“ bei der Gruppenimprovisation die musikalischen Kompetenzen in seelischen Entwicklungen der Introspektion, der biographischen Verarbei-tung und des emotionalen Ausdrucks. Bei der Gruppenimprovisation ist nicht vorgegeben, wer wann was wie zu spielen hat. Das hat zur Folge, dass jeder Spieler selbst entscheiden muss, wann er was wie spielt. Woher aber nimmt er die Kriterien für diese Entscheidungen? Nun, es gibt schlechterdings keine Instanz für sein musikalisches Verhalten in der Gruppe als nur seine ureigensten Intentionen. Und die kommen einzig aus seiner persönlichen Disposition. Die veranlasst ihn, dieses oder jenes In-strument zu wählen, diese oder jene Klänge zu bevorzugen oder zu vermeiden, diese oder jene Klänge seiner Mitspieler zu übergehen oder wahrzunehmen und sein Spiel an diesem oder je-nen Klängen zu orientieren, sich hier oder dort anzuschließen, diesem oder jenem mit einem Kontrast zu begegnen, mit diesem oder jenem zu beginnen oder aufzuhören u.s.w. Das gemeinsame Gespräch über die Improvisationen offenbart, wie unterschiedlich die Inten-tionen der einzelnen Mitspieler während der verschiedenen Situationen des Spielverlaufs wa-ren. Dabei wird implizit deutlich, wie sich Unterschiede in Charakter und Temperament im Spiel dargestellt haben. Es werden aber auch Grenzen der Wahrnehmung und des Verhaltens deutlich. Die Analyse der eigenen musikalischen Beiträge und der Musik der Gruppe wird so zum Prozess der Introspektion: So bin ich, so verhalte ich mich, so werde ich von anderen wahrgenommen, so reagiere ich auf andere. Gleichzeitig können solche Prozesse der Selbster-

kenntnis Neugier und Lust wecken, es einmal ganz anders zu machen, also neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Dann kann es zur Erweiterung es Verhaltensre-pertoires kommen und zur Entwicklung neuer Einstellungen zu und Umgangswei-sen mit sich selbst und anderen. Die musikalische Arbeit ist in der Grup-penimprovisation also immer zugleich Auseinandersetzung mit der eigenen Per-son; parallel zur musikalischen Kompe-tenz entwickeln sich psychische Kompe-tenzen der Selbsterkenntnis und des Um-gangs mit sich selbst. Die präventive Be-deutung der Gruppenimprovisation ist damit unterstrichen.

Nun haben es aber musikalische Er-eignisse an sich, dass sie die Men-schen oft tiefer und nachhaltiger be-rühren, als ihnen das lieb ist. Klänge rufen, bevor sie von den Instanzen des Bewusstseins verarbeitet werden, in den Steuerungszentren des Limbi-schen Systems in vegetative und emo-tionale Reaktionen hervor und ver-knüpfen sich mit Inhalten des Lang-zeitgedächtnisses; so kann es immer wieder bei der Gruppenimprovisation vorkommen, dass Spieler mit frühen traumatischen Erlebnissen in Kontakt kommen. Dann erhält die Gruppenimprovisation tiefen-

Kritische Anmerkung zur herkömmlichen Musikpädago-gik: Die Metaphorik des Baumes legt nahe, dass bei der Ver-nachlässigung der psychosozialen Implikationen des Musikerlebens die musikalischen Kompetenzen sich nur unzureichend entwickeln können. Sie sind nicht orga-nisch im Inventar der Persönlichkeit implantiert. Vielen Musikern dienen die Musikalischen Ausdrucksmöglich-keiten zu Verdrängung und Eskapismus. Es ist zum Bei-spiel nicht möglich, ernsthaft mit ihnen über die bei der Musik erlebten Gefühle zu sprechen, ja, die Beachtung der emotionalen Beteiligung wird als störend bei der Er-ledigung der technischen Funktionen des Musizierens empfunden. Zumindest für die Schulmusik ist diese Einstellung un-angemessen. Schüler sollten Musik als Bereicherung ih-rer Persönlichkeit erleben, kennen und nutzen lernen.

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psychologische Qualität. Es muss Raum, Zeit und Zuwendung gegeben sein, damit die betref-fende Person die durch die Klänge aktivierten Erinnerungen mitteilen und die mit ihnen ver-bundenen Gefühle ausdrücken kann. An dieser Stelle wird die Gruppenimprovisation zur Mu-siktherapie. Die Instrumente, die Klänge, die Musik und die gesamte Gruppensituation erhalten symboli-sche Bedeutung, Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung werden wirksam, Regres-sion auf frühere Phasen der Entwicklung. Im Bild ist dieser Bereich als unterirdischer Vulkan dargestellt. Bei einer guten Kanalisation der darin gebundenen Energie kann er zu einer war-men Quelle werden, die mit ihrem Mineralienreichtum das Wachstum des Baumes zusätzlich zu fördern vermag. In der Horizontalen ist der Baum mit seinem ökologischen Umfeld verbunden. Andere Pflan-zen stehen mit ihm in Konkurrenz oder Kooperation. Damit soll angedeutet werden, dass die Prozesse der Gruppen Improvisation immer auch Prozesse der Auseinandersetzung mit anderen, mit der eigenen Rolle und dem sozialen Verhalten sind. Die Wahl des jeweiligen Instruments, die jeweilige Art es zu spielen sind zugleich Darstellungen der jeweiligen Eigenarten, wie sich der einzelne Spieler im sozialen Kontext verhält, sich Geltung und Aufmerksamkeit verschafft, seine Interessen geltend macht und realisiert. Die Gruppe als „Mini – Gesellschaft“ ist nicht nur Ort des sozia-len sondern auch des politischen Lernens. Das Spiel der Klänge wird zur Stimmabgabe. Die Spieler erkennen, wie sie sich im Spiel an den allgemeinen Trend anpassen, unzufrieden wer-

den, ihre Unzufriedenheit in Protest oder Resignation ummünzen, wie erfolgreich ihre Versu-che verlaufen, das ganze zu verändern, sich einzurichten oder die eigenen Interessen zu vertreten. Das Spiel der Gruppenimprovisation wird zum gesellschaftspolitischen Planspiel. Eine Untersuchung bei ca. 80 Personen, die längere Zeit die musikalische Gruppenimprovisation praktizierten, zeigte, dass sie sich häufig in Parteien und Verbänden engagieren, ein Gespür für unhaltbare politische Zustände entwickeln und den Mut, dagegen vorzugehen (Kapteina 1976). Dieselbe

Untersuchung ergab, dass diese Personen kritischer beim Umgang mit den Gegenständen des täglichen Lebens werden, insbesondere bei ihrem musikalischen und sonstigen Konsumver-halten die Strategien der Werbung und der Massenmanipulation durchschauen, wählerisch und genussfähig werden. Die differenzierte Wahrnehmung auf dem Gebiet der Musik übertragen sie als allgemeine ästhetische Kompetenz auf alle Bereiche der sinnlichen Erfahrung. Ästhetische und insbesondere die musikalischen Erfahrungen der Gruppen

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Improvisation aktualisieren immer auch transzendente Themen der Spiritualität. Musik als gestaltete und vergehende Zeit wirft implizit die Fragen nach der Vergänglichkeit der Lebens-zeit, nach der Flüchtigkeit des Lebens und der Beziehungen und danach, was jenseits dieser Grenzen liegt. Die Musik hat es mit dem Unaussprechlichen zu tun, mit Erfahrungsräumen vor und jenseits der Begrifflichkeit. Menschen erleben bei der musikalischen Improvisation Momente, in denen sie zeit- und raumvergessen den Ursprung ihrer Existenz erahnen und er-spüren.

Literatur:

Hartmut Kapteina: Musikpädagogik und Alltagsleben, in: Archiv für Angewandte Sozialpädagogik 1976 Hartmut Kapteina: Dimensionen der Gruppenimprovisation, in: Hans Helmut Decker Voigt (Hrsg.): Musik und Kommunikation, Seevetal 1988, S. 73-94 Hartmut Kapteina: Heilendes und Heilsamens Musikerleben. Musiktherapie als Fachgebiet der „Ästhetik und Kommunikation“ und als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe, in: Peter Marchal (Hrsg.): Ästhetik und Kommunikation heute. Beiträge zu einem Studienfach und seinen Teilbereichen, Siegen 1999 s. außerdem Literatur im Lexikon Musiktherapie, Göttingen 1996 (Hrsg. Decker-Voigt): Hartmut Kapteina: Improvisationsbewegung, in Decker-Voigt (Hg), 137-139 Tilmann Weber: Improvisationsgestalt, ebd. 141-143 Eckhard Weymann: Improvisation, ebd. 133-137

Fritz Hegi: Improvisation und Ritual; Schaubild aus „Komplex Welt der Sinne“, Wilhelmsdorf 2000

Gesundheit / Leben

Krankheit / Tod

Ausgeglichenheit Vitalität

RITUAL IMPROVISATION

Regelmäßigkeit offenes Spiel

Ordnung Chaos

Gewöhnung Entgrenzung

Abhängigkeit Zerfall

Zwang Verwahrlosung

Erstarrung Zerstörung

Fritz Hegi, Vortrag über Musiktherapie zwischen

Improvisation und Ritualen Mai 1999

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Einiges zur Improvisation in der Musiktherapie

MUSIC THERAPY IS POSSIBLE THE ONLY IMPROVISATORY TRADI-TION IN THE WORLD THAT ENCOURAGES TOTAL MUSICAL FREE-DOM AND HAS NO UNDERLYING MUSICAL STRUCTURES TO UNDER-PIN IT.

June Boyce Tilman: Constructing Musical Healing. The wounds that Sing, London 2000, 246 Auszüge aus Tilmann 2000 in der Übersetzung von H. Kapteina: Die Verantwortung des Therapeuten besteht darin, musikalische Strukturen zu finden, in de-nen die Ideen des Patienten aufgehoben sind (Tilman 2000, 217). Der Fähigkeit des Klienten, sich frei auszudrücken, mitzuteilen und zu entfalten, entspricht die Fähigkeit des Therapeuten, auf diese Freiheit mit den passenden stilistischen Mitteln ein-zugehen (216). Irving Yalom, dem Vater der Gruppenanalyse, folgend ist die Grundvoraussetzung jeder The-rapie der Aufbau von Hoffnung. In der Musiktherapie kann Hoffnung entstehen, indem konsequent und verlässlich die Auffas-sung gilt und erlebt wird, dass es keine richtigen und falschen Antworten auf musikalisches Geschehen gibt und die Improvisation als ein Spiel in sicherem und geschütztem Rahmen er-lebt wird (219).

Zur Musiktherapeutischen Arbeit mit Gefühlen Smeijsters und van den Hurk (in: M. Heal and T. Wigram (eds): Music Therapy in Health and Education, London 1993) haben Vorschläge für die Behandlung von Gefühlen in der Musik-therapie vorgelegt.

1. Bei Aggressionen: - Ermutige zum Ausdruck der Wut, bis sie „verraucht“ ist, das heißt, bis die Vehemenz

nachlässt –hörbar in Lautstärke, Rhythmus und Tempo. - Nach nicht allzu langer Zeit soll ein Ausgleich zwischen musikalischer Entspannung

und Erleichterung entstehen. - Ein solcher Vorgang nur einmal pro Sitzung.

- Wenn die Vehemenz des musikalischen Ausdruck nicht nachlässt und zu erwarten ist, dass der Gefühlsausdruck eskaliert und in unkontrolliertes regressives Verhalten ab-gleitet, soll der Prozess gestoppt werden, indem man das musikalische Spiel in eine andere Richtung lenkt.

- Wenn das nicht gelingt, muss der Klient bei seinem Spiel auf dem gewählten Instru-ment gestoppt werden und ihm ein anderes angeboten werden.

- Nach dem Prozess des Zulassens rege den Klienten an, „eine Linie zu ziehen“, das heißt zu erkennen, wie weit man den Affektausdruck zulassen kann, ohne die Kontrol-le zu verlieren.

- Hierbei ist es hilfreich, den Wechsel von musikalischer Spannung und Lösung im Zu-sammenhang mit emotionaler Entwicklung zu üben.

- Das Zulassen von Aggressionen sollte man unterlassen, wenn kein Verständnis ent-steht zwischen dem Gefühl und der Lebenserfahrung und

- wenn der Gefühlsausdruck kein neues Material hervorbringt (255).

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2. Bei Trauer - Rege den Patienten an, symbolisch Abschied zu nehmen und zu geben, musikalisch in

der Musiktherapie und nicht musikalisch außerhalb der Musiktherapie, z.B. mit einem geeigneten Ritual.

- Schätze den emotionalen Ausdruck vor dem Hintergrund ein, welche Möglichkeiten des emotionalen Ausdrucks der Patient in der Vergangenheit hatte (255).

3. Bei Gefühlen der Nutz- und Wertlosigkeit

ist die Haltung des „musikalischen Nährens und Pflegens“ erforderlich. - Drücke die Gefühle musikalisch aus. Wenn der Therapeut das mit dem Patienten und

für ihn tut, soll er empathischen Techniken und seiner Gegenübertragung folgen. - Wenn erforderlich, mache dem Klienten ein musikalisches Geschenk, das Eigenschaf-

ten besitzt, die ihn emotional berühren. - Nimm symbolisch die Rolle der frühsten Pflegeperson des Patienten ein. - Versuche die Gefühle des Patienten zu kompensieren, indem du die Improvisation so

gestaltest, dass der Patient wahrnimmt, wie notwendig sein eigener musikalischer Bei-trag ist (256).

4. Für den Aufbau von Selbstvertrauen - Unterstütze den Patienten in einer weise, dass er sein eigens Spiel als einen wichtigen

Beitrag für das Zustandekommen der Musik erlebt. - Räume dem Patienten zur rechten Zeit die Rolle ein, selbst initiativ zu werden und den

musikalischen Prozess zu bestimmen. - Konfrontiere den Patienten mit abweichendem Material, wenn er sich wiederholt und

auf ein und dieselbe Ausdrucksweise festgelegt hat (257).

5. Zur Beeinflussung von Verhaltensweisen Verbreitet ist die Auffassung, dass Verhaltensmuster mit musikalischen Mitteln beeinflusst werden können. Mit anderen Worten: Wenn sich musikalische Verhaltensmuster verändern, ändern sich die entsprechenden allgemeinen Verhaltensmuster. Hierbei ist das Konzept der „Integration“ zu Grunde gelegt: Nicht gelebte Möglichkeiten des Verhaltens werden erkannt, musikalischerlebt und auf generelles (Alltags-)verhalten übertragen. Dieser Vorgang kann durch folgendes therapeutisches Vorgehen gefördert werden:

- Rege den Patienten in der Improvisation zu Formen an, die verschiedene Elemente enthalten.

- Ermutige den Patienten, Motive zu variieren. - Beziehe Ausdrucksweisen in das Spiel ein, die der Patient vermeidet. - Lade den Patienten ein, andere Personen musikalisch darzustellen, auf die er Teile von

sich projiziert hat. - Ermutige den Patienten, über unbekannte und unverständliche Anteile von sich selbst

zu improvisieren. - Finde Instrumente, die entgegengesetzte Verhaltensmuster und Gefühlsäußerungen

zum Ausdruck bringen (257 f).

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11 Weitere Themen der Vorlesung

Rezeptive Musiktherapieverfahren Christoph Schwabe (Hg): Regulative Musiktherapie, Jena 1996 ders.: Entspannungstraining mit Musik, Leipzig 1987 Hermann Rauhe: Musik hilft heilen, München 1993 Musiktherapie bei Autismus Juliette Alvin: Musik und Musiktherapie für behinderte und autistische Kinder, Stuttgart 1988 Paul Nordoff, Clive Robbins: Musik als Therapie für behinderte Kinder, Stuttgart 1975 dies.: Schöpferische Musiktherapie, Stuttgart 1986 Karin Schumacher: Musiktherapie mit autistischen Kindern, Stuttgart 1994 dies.: Musiktherapie und Säuglingsforschung, Frankfurt am Main 2000 Musiktherapie mit Kindern Jutta Brückner u.a. Musiktherapie für Kinder, Berlin 1991 Beate Mahns: Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Kindern, Stuttgart 1997 Das Buch „Kindermusiktherapie. Richtungen und Methoden“ (herausgegeben von Stiff und Tüpker (2007) Göttingen 2007 gibt einen aktuellen Gesamtüberblick über die in Deutsch-land vertretenen bedeutenden kindermusiktherapeutischen Schulen:

- Entwicklungspsychologisch orientierte Kindermusiktherapie (Karin Schumacher und Claudine Calvet),

- Kindermusiktherapie, die in der ehemaligen DDR entwickelt wurde und heute noch maßgebliche Bedeutung besitzt (Jutta Brückner),

- Analytische Musiktherapie (Wolfgang Mahns und Natalie Hippel), - Morphologische Kindermusiktherapie (Rosemarie Tüpker und Bernd Reichert), - Musiktherapie nach Paul Nordoff und Clive Robbins (Lutz Neugebauer) und die - Orff-Musiktherapie (Melanie Voigt und Christine Plahl).

Jeder Beitrag liefert eine theoretische Grundlegung, eine Darstellung des jeweiligen methodi-schen Behandlungsprinzips (anhand von Fallbeispielen) und eine Erörterung der jeweils an-gewandten Evaluations- und Forschungsmethoden zur Feststellung der Wirksamkeit.

Im FORUM MUSIKTHERAPIE UND SOZIALE ARBEIT (www.musiktherapie.uni-siegen.de) finden sich praxisnahe Beiträge zu:

MUSIKTHERAPIE MIT KINDERN Armbrust, Wolfgang: „Zeige mir was du brauchst“ - Musiktherapie mit verhal-tens-auffälligen, behinderten und schwerst- mehrfach behinderten Kindern Brockhaus-Albrecht, Katja: Musikalisch-therapeutische Arbeit mit Kindern in der Sozialpä-dagogik Drews, Ingrid: Der Klang der Sinne. Integration der Musiktherapie in das Kon-zept eines Kindergartens. Fraaß, Katja: Musiktherapie bei Kindern mit ADS Frings, Anke: „Begegnung durch Musik“ - Entwicklungsförderung durch Mu-siktherapie für Kinder im Vorschulalter Garthe, Susanne: Musiktherapie mit verhaltensauffälligen und traumatisierten Kindern in einem Montessori – Kinderhaus

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Grewe-Heitfeld, Kathrin: Musiktherapie mit Kindern und präventive Methoden der Mu-siktherapie in Musikschule und Frühförderung Hennen, Julia: Musiktherapeutische Einzelarbeit mit verhaltensauffälligen Kin-dern in einer Kindertagesstätte Heymann-Röder, Elisabeth: Musiktherapie mit Kindern an einer Schule für Sprachbehinderte Hövelmann, Susanne: Musiktherapie mit systemischen Therapieansätzen als Arbeits-weise in einer Erziehungsberatungsstelle Knickel, Christiane: Musiktherapeutische Arbeit mit Kindern an einer Grundschule Kolb, Ingrid: „Pass auf, dass du nicht auf einen Vulkan stößt!“ Musiktherapie mit Vorschulkindern dokumentiert anhand des Beispiels eines emotional verhaltensauffälligen Kindes in einem Kindergarten Kowald, Renate: Möglichkeiten und Grenzen musikalisch-therapeutischer Arbeit mit „verhaltensauffälligen Kindern Kranz, Helmut: Grenzerfahrungen. Musiktherapie mit 3 Jungen mit dem „Hy-perkinetischen Syndrom“ Kritzer, Inge: Atem und Stimme. Die heilende Kraft der Obertöne in der Mu-siktherapie mit schwer behinderten Kindern Kröger, Margrit und Kapteina, Hartmut: Musik in der Therapie und Prävention bei Suchter-krankung und –Gefährdung am Beispiel von Kindern suchtkranker Eltern Marnach, Doris: Musiktherapie bei sexuellem Missbrauch Mayerle-Jarmer, Beate: Musikalisch-therapeutische Gruppen- und Einzelarbeit in einem Kindergarten Mayerle-Jarmer, Beate: „Ich schenke Dir einen Klang“. Musiktherapeutische Einzelför-derung in einem Kindergarten Medek, Angela: Kann ich dir begegnen? Musiktherapie mit ungewöhnlichen Kindern an einem Sonderpädagogischen Zentrum in Österreich Münch, Daniela: Musiktherapie mit verhaltensauffälligen Kindern Reukauf, Ursula: Musik mit Kindern nach Trennung und Scheidung. Ein präven-tives Gruppenangebot Rogmann, Ursula: Musiktherapeutische Begleitung von Kindern innerhalb der Fa-milienberatung Schicha, Saskia: Ein Ton allein... (macht noch lange nicht Musik) ... . Aus der musikalisch-therapeutischen Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen Schmidt-Poschinski, Susanne: Beziehung – Klang – Resonanz. Musiktherapie mit verhal-tensauffälligen Grundschulkindern Schönich, Marietheres: Musiktherapeutische Prozesse in der Arbeit mit verhaltensauf-fälligen Kindern Schreiber, Bettina: Musiktherapie mit krebskranken Kindern Strietzel, Dorothea: Zum Einsatz von Musik während der Dialyse von Kindern und Jugendlichen Tietke-Martel, Mareile: Musiktherapie mit Kindern eines Schulkindergartens in einem sozialen Brennpunkt Ufer, Ursula: Musikalisch-therapeutische Maßnahmen im Förderunterricht der Grundschule Vetter, Annja: Musiktherapie mit Flüchtlingskindern

AUS DER ARBEIT MIT JUGENDLICHEN Dentler, Karl- Heinz: Rockmusik - Machen mit straffällig gewordenen Jugendlichen zur Förderung sozialer Kompetenzen

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Dentler, Karl- Heinz: Punkmusik als Musik sozialpädagogischer Arbeit Hill, Burkhard: „Musik-Machen” in Gleichaltrigengruppen als sozialpädagogi-sches Angebot Hürkamp, Elisabeth: Musikalisch-therapeutische Arbeit mit lernbehinderten Jugendli-chen Regenbrecht, Katharina: „Zwei Seelen wohnen - ach - in meinem Leib.“ Musiktherapeu-tische Arbeit mit einer bulimischen Jugendlichen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wolf, Simone: Musiktherapie mit Menschen mit Behinderung und mit Menschen mit Autismus

MUSIKTHERAPIE MIT ERWACHSENEN Alm, Maria: Musiktherapie im Behandlungskontext einer psychosomatischen Klinik Bartlau, Nicole: Begegnungen für den Augenblick - Momente der Freude und des Glücks. Musiktherapie in der Palliativmedizin Behr, Ulrike: Musiktherapie als integraler Bestandteil in der tagesklinischen Betreuung psychisch Kranker Biewald, Monika: Musiktherapie mit alten Menschen im klinischen Bereich Brucherseifer, Anita: Die Integration musiktherapeutischer Interventionen in gemein-depsychiatrische Angebote der Gelben Villa Cremer, Andrea: Wirkungschancen von musiktherapeutischen Prozessen für Men-schen mit Behinderungen am Beispiel eines Mannes mit Autismusdiagnose Derks, Ingrid: Die Relevanz einer musikalisch-therapeutischen Frauen - Selbst-erfahrungsgruppe für eine Frau mit depressivem Syndrom Döhler, Petra: Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Gruppenimprovi-sation mit psychose-erkrankten Erwachsenen in einem sozial-psychiatrischen Zentrum Dümpelmann, Michael: Musiktherapie mit Patienten auf der Intensivstation Fleischer, Bettina: Musiktherapeutische Einzelarbeit bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung Fliegner, Katrin: Musiktherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und Au-tismus Golomski, Annette: Musiktherapie mit alkohol- und drogenabhängigen Erwachsenen in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinzen, Ulrike: Musiktherapie mit chronisch kranken Menschen im Ambulanten Hospiz und in der Onkologie eines Akutkrankenhauses Hesse, Ramona: Wohin die Reise geht.... Musiktherapie mit Patienten einer A-kutpsychiatrischen Station Hillingshäuser, Angelika: Musikalisch-therapeutische Selbsterfahrung in einem Mütterge-nesungsheim Hoffmann, Beate Erinnerung durch vertraute Klänge Kapteina, Hartmut: „Im Tanz das Leben spielerisch gelingen lassen.“ Folkloretänze in Therapie und Prävention Kletke-Drawert, Astrid: Musiktherapie mit Menschen im Wachkoma Lingenfelder, Martina: Kontakt – Begegnung – Beziehung. Musiktherapie bei Men-schen mit geistiger Behinderung Liolios, Vassilios und Kapteina, Hartmut: Liedersingen mit Psychose-Patienten Meier, Sabine: Aus den Quellen der Erinnerung die Gegenwart speisen. Validie-rende Musiktherapie mit dementen Menschen

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Nemitz, Rigulf: Musiktherapie mit PatientInnen in der Akut-Psychiatrie im Nie-dersächsischen Landeskrankenhaus Hildesheim Nolte, Eva-Maria: Gruppenmusiktherapie mit chronisch- und schwerkranken psy-chiatrischen Patienten Partner, Werner: Musiktherapie mit alten verwirrten Menschen Rau-Krüger, Gabriele: Fermate. Erfahrungen mit Musiktherapie in einer psychiatri-schen Tagesklinik Reitz, Eta: Ich spiele, was ich nicht sagen kann. Musikalisch-therapeutische Arbeit mit Patienten der gynäkologischen Rehabilitation Sandte, Peter: „Schläft ein Lied in allen Dingen …“ Biografieorientierte Mu-siktherapie mit BewohnerInnen einer Gerontopsychiatrie Scheu, Friedhelm: Einzelmusiktherapie mit dementen alten Menschen im Span-nungsfeld zwischen Gedächtnistraining und Psychotherapie Schmidt-Rath, Heike: Einige grundlegende Gedanken über die Stimme in der Psycho-therapie und dem Schnittfeld von Musiktherapie und Musikpädagogik aus der Sicht des Ges-taltansatzes. Beispiele aus der musikalisch-therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen Schneider, Bärbel: KON-TAKTE. Musiktherapeutische Einzelarbeit bei Menschen mit mehrfacher Behinderung Schrade, Oliver: Musiktherapie bei geistig behinderten Menschen mit psychischer Störung Schubarth, Elisabeth: Kirchenmusik im Spannungsfeld zwischen Seelsorge und Psy-chotherapie. Musiktherapie: Ein neuer Weg? Schwarz, Kristin: Beziehung gestalten und sinnhaftes Leben erfahren – musikthe-rapeutische Anregungen zur Erhöhung und Verbesserung der Lebensqualität im Alter Soost, Wolfgang: Musiktherapie bei Depression Soost, Wolfgang: Arbeit mit Erwachsenen, die unter chronischen Schmerzen lei-den Spörer, Cornelia: Berührung - Beziehung - Bewegung. Musiktherapie in der Re-habilitation psychisch kranker Menschen Treschhaus, Gerd: Erfahrungen mit einer neuen Form von Tiefenentspannung und der rezeptiven Musiktherapie mit onkologischen Patienten einer stationären Rehaklinik Vanegas, Manuel: Männer unterwegs. Die Bedeutung der musikalischen Improvi-sation in einer Selbsterfahrungsgruppe mit Männern in der Suchtprävention Weber, Uta: Musiktherapie mit einer depressiven Klientin im Mutter-Kind-Kurheim „Emmi Welter“ Werbick, Barbara: Musiktherapie mit Patientinnen einer Abteilung für Akutpsychi-atrie Werbick, Barbara: Musik und Bewegung mit Patientinnen einer Abteilung für A-kutpsychiatrie Ziebarth, Andreas: “Ich komme meiner Seele nahe” - Musiktherapie in einer Tages-stätte für psychisch erkrankte Menschen

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12 Anschriften, bei denen musiktherapeutische Weiterbildung, fachlicher

Austausch und Interessenvertretung möglich ist:

Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMTG e.V.) Libauer Straße 17 10245 Berlin Telefon 030/29 49 2493 Fax 030/29 49 2493 Email: [email protected] http://www.musiktherapie.de Für einen Mitgliederbeitrag von DM 200,- im Jahr (Studierende unserer Ausbildung bekommen Ermäßigung) er-hält man das meiner Meinung nach wichtigste musiktherapeutische Fachorgan in deutscher Sprache, die Musik-therapeutische Umschau; 4 Hefte pro Jahr im Gesamtumfang von ca. 370 Seiten, außerdem zweimal im Jahr den „Info-Dienst“ mit aktuellen Insider-Informationen. In der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie gibt es eine Sektion Studenten. Die DGMT gliedert sich in Regionalverbände, ungefähr entsprechend den Bundeslän-dern, sogenannten Landesarbeitsgemeinschaften. Die Landesarbeitsgemeinschaften für Musiktherapie und die Sektionen veranstalten Weiterbildungsveranstaltungen, Projektwochen etc. Über die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie erhält man aktuelle Informationen über den gesamten Musiktherapiemarkt, Praktikumplätze, freie Stellen für Musiktherapeuten, Literatur, Ressourcen und vieles andere mehr.

Für jeden, der sich langfristig im Bereich der Musiktherapie engagieren und weiterentwickeln will, ist eine Mitgliedschaft in der DMGT sehr zu empfehlen. Ebenfalls ist die DMTG für Fragen der berufsrechtlichen Anerkennung, Berechtigung, den Ti-tel Musiktherapeut/Musiktherapeutin zu führen und selbständig als Musiktherapeutin zu ar-beiten, zuständig. Weitere Institutionen, die musiktherapeutische Fortbildungen durchführen sind: Freies Musikzentrum e.V. Ismaninger Str. 29 in 81675 München 80 Fritz Perls Institut für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung Wefelsen 5 in 42499 Hückeswagen und Internationale Gesellschaft für Musikpädagogische Fortbildung e.V. (IGMF) Postfach 14 43 in 57319 Bad Berleburg

Informationen über Gruppenimprovisation erhält man als Mitglied im - Ring für Gruppenimprovisation

Matthias Schwabe Wilskistr. 56 14136 Berlin 37

Hier erhält man auch die sehr lesenswerte Fachzeitschrift „ringgespräch über Gruppenimpro-visation“. und schließlich: über den aktuellen Berufs-, Aus- und Weiterbildungsmarkt informiert die Broschüre 2-II-A 3 „Blätter zur Berufskunde. Diplom-Musiktherapeut / Diplom-Musiktherapeutin“ der Bundesanstalt für Arbeit, zu beziehen über die Arbeitsämter.