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Skrupellose Deserteure

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Fred McMason

Skrupellose Deserteure

Juli 1598 - Ostkäste Amerika. Ausgerechnet Old O'Flynn und der Decksälteste Smoky waren zur Wache

eingeteilt worden. Bei einer normalen Ankerwache wäre das ein Klacks für die beiden gewesen, aber es war keine normale Ankerwache, denn in der Bucht, in der sie

mit der Schebecke lagen, herrschte Nebel. Auch das wäre noch erträglich gewesen, aber in diesem Nebel waren ständig blubbernde und schmatzende Geräusche zu hören, die ganz besonders Old Donegal nicht gefielen.

Das Eigentümliche an diesem Nebel war das merkwürdige Licht. Es hellte den Nebel an einigen Stellen auf und ließ ihn fluoreszieren undlencbten. Daß der Mond

von oben in die wabernden Nebelarme schien und diesen Effekt hervorrief, nahmen die beiden nicht zur Kenntnis.

Der Alte zuckte entnervt zusammen, als dicht an der Bordwand wieder das Schmatzen hörbar wurde. Gleichzeitig erschien ein diffuses grünliches Licht,

das gemächlich durch den Nebel zu wandern schien . . .

Die Hauptpersonen des Romans:

Old Donegal O'Flynn - meint im Nebel an Bord einen Wassermann zu erkennen und klopft ihm einen Belegnagel auf den Kopf.

Mac Pellew - flirtet im Traum mit zwei barbusigen Schönen, aber sein Erwachen ist fürchterlich.

Atkinson Grey - der ehemalige Takelmeister hat sich zum Anführer aufgeschwun­gen und zeigt, daß er vor nichts zurückschreckt.

Alec Morris- der adlige Schnösel bezieht die Dresche seines Lebens, was ihn aber keineswegs läutert.

Amos Toolan -verliert seinen Posten als Kapitän der „Explorer" und kann wirklich nur noch beten.

Philip Hasard Killigrew - meistert mit Klugheit und Diplomatie eine Situation, die tödlich sein könnte.

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„Ein - ein Wassermann", flüsterte Old Donegal. „Ich habe ihn deutlich gesehen. Er hat einen grünen Bart mit langen Fransen aus Algen. So­eben hat er den Schiffsrumpf ge­küßt."

„Warum küssen Wassermänner Schiffsrümpfe?" erkundigte sich Smoky beklommen.

„Damit ergreifen sie von dem Schiff und der Mannschaft Besitz", wußte Old Donegal zu berichten. „Auf der ,Empress' war das früher auch so, damals in der Irischen See."

Smoky fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Dieser merkwürdige Ne­bel war unangenehm warm, und er brachte einen Geruch nach vermo­dernden Baumstämmen und fauli­gem Aas mit sich. Wie der Pesthauch des Todes, der aus offenen Gräbern weht, dachte er unbehaglich.

„Vielleicht war's eine Rothaut, die uns belauert", sagte er.

„Rothäute sind nicht grün", mur­melte Old Donegal, „sonst würden sie ja Grünhäute heißen."

Smoky mußte sich dieser verblüf­fenden Logik anschließen. Er sah,

wie Old Donegal eine Pistole aus dem Hosenbund zerrte. Dann lauschte er mit vorgerecktem Kopf den unheim­lichen Geräuschen.

Diese Geräusche waren wirklich unheimlich und genau dazu angetan, die Stimmung bei den beiden anzu­heizen. Die wahren Tatsachen ver­drängten sie dabei natürlich.

Sie lagen in einer tief eingeschnitte­nen Bucht mit nur spärlicher Vegeta­tion. Diese Bucht hatten sie weiter im Süden ausgesucht, um den Siedlern ein besseres Plätzchen zu verschaf­fen. Allerdings hatte dieser Land­strich noch nicht ganz Hasards Zu­stimmung gefunden. Man wollte sich noch etwas gründlicher umsehen. Zu­mindest schien es hier keine Indianer zu geben.

Bevor sie jedoch auslaufen konn­ten, war der Nebel wie eine Woge über der Schebecke zusammenge­schlagen. Das Schiff hatte sich mit der Ebbe langsam auf Grund gesetzt, und der war von morastiger Beschaf­fenheit.

Jetzt hob die Flut das Schiff wieder unmerklich an, wobei es an der An­kertrosse zu zerren begann. Gleich­zeitig füllten sich die Sumpfblasen

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im Untergrund wieder mit Wasser, und auch dicht am Ufer begann es da­her unterschiedlich laut oder leise zu gurgeln und zu schmatzen.

Alles in allem war das ein ganz na­türlicher Vorgang, der sich ständig im Rhythmus wiederholte.

Auch für die grünen Lichter gab es eine einfache Erklärung, aber die hätte weder Old O'Flynn noch Smoky akzeptiert.

Es waren kleine Irrlichter, auch Irr­wische genannt, die in Sümpfen und Mooren oft zu beobachten sind. Diese über dem Boden schwebenden Flämmchen wurden jetzt zusätzlich noch vom Mondlicht beschienen, und daher sah Old Donegal selbstver­ständlich Wassermänner mit fransi­gen langen Bärten aus Algen oder Seetang.

Und einer dieser grünen Gesellen küßte jetzt das Schiff, um davon Be­sitz zu ergreifen.

Old Donegal sah, daß der Was­sermann urplötzlich verschwand und sich in Nichts auflöste.

„Der taucht unter dem Schiff durch", flüsterte er. „Der will ungese­hen an Bord schleichen. Paß gut auf!"

Smoky war immer noch sehr mul­mig zumute. Er wollte auch erst die Pistole zur Hand nehmen, entschied sich dann aber für einen fast yardlan­gen Belegnagel. Old Donegal, der ihn zwischen den Nebelfetzen undeutlich sehen konnte, nickte anerkennend.

„Sehr gut", raunte er, „das geht auch lautloser. Du mußt dem Kerl so­fort und blitzschnell eins auf seine Al­genrübe klopfen, sobald er den Schä­del aus dem Wasser hebt. Meist er­schrecken sie dann so, daß sie sofort wieder verschwinden. Die rechnen nämlich nicht damit, daß sie eins übergebraten kriegen."

Smoky schluckte hart und schlich

zur anderen Seite, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sich ein algenbe­wachsener Kopf aus der undefinier­baren Brühe hob und ihn anglotzte. Er hatte sich von Old Donegals einsa­men Spinnereien mächtig anstecken lassen.

Old Donegal hielt inzwischen auf der Backbordseite Ausschau und hatte sich auch einen Belegnagel ge­griffen. Da sein Gegner jetzt ein­wandfrei identifiziert war, hatte er auch keine Angst mehr, nur ein biß­chen Bammel, weil die Wassermän­ner recht fürchterlich aussahen und man nie genau wußte, was sie vorhat­ten. Aber er war gut bewaffnet und würde es diesen Burschen schon zei­gen.

Allerdings zuckte er wieder heftig zusammen, als einer erschien. Es war einer von der üblen und heimtücki­schen Sorte. Er erhob seinen Kopf, spähte zwischen Wasser, Sumpf und Nebel hervor und begann dann ganz langsam der Schebecke entgegenzu-schweben. Vielleicht schwamm er auch, so genau ließ sich das bei dem diffusen Licht nicht erkennen.

Old O'Flynn stand lauernd hinter dem Schanzkleid. Den Belegnagel hielt er fest in der Faust. Sein Granit­gesicht wirkte zu allem entschlossen und recht finster. Den Burschen würde er Mores lehren, daß es nur so rauchte! Die Furcht Gottes würde er diesem bemoosten Rübenschwein einbleuen.

Smoky war inzwischen neugierig herangeschlichen, denn sein Was­sermann hatte sich nicht mehr blik-ken lassen.

Alle beide stierten jetzt ins Wasser, denn was sich da näherte, schien ohne jeden Zweifel ein Geschöpf aus einer anderen Welt zu sein. Es schwebte auf und nieder, gab ein paar gur-

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gelnde Geräusche von sich, verän­derte die Form und blubberte auch einmal ab. Doch gleich darauf er­schien es wieder ganz dicht vor dem Schiff und hob den schimmelig-be­moosten Kopf.

Old Donegal war gespannte Auf­merksamkeit. Er glaubte ganz sicher zu sehen, daß dieser Wassermann Hörner auf dem Kopf hatte, aus de­ren Enden winzige grünliche Blitze zuckten. Sekundenlang wurde das Wesen von einem bleich einfallenden Mondstrahl beschienen, und da sah Old Donegal auch die fürchterlichen funkelnden Augen.

Er beugte sich etwas weiter über das Schanzkleid und tiefer. Den Be­legnagel hielt er jetzt mit beiden Hän­den. Sein Gesicht war eine einzige grimmige Maske.

Aye, Sir - und dann schlug Old Do­negal mit aller Kraft zu.

Ein urweltliches Dröhnen ließ den Schiffsrumpf erzittern.

Ein paar Arwenacks fuhren in ih­ren Kojen hoch und lauschten. Die meisten schliefen jedoch gleich wie­der weiter, weil die Ankertrosse schon ein paarmal hart geruckt hatte und sich die Resonanz im Rumpf fort­pflanzte. Außerdem wußten die Man­nen, daß an Deck Wachen gingen, und die meldeten sich nicht. Also war auch nichts passiert.

Das Dröhnen war genau an jener Stelle erfolgt, wo Mac Pellew in sei­ner Koje ratzte.

Mac befand sich zu jenem Zeit­punkt in seligen Gefilden und träum­te von zwei holden Weiblichkeiten, die ihn links und rechts flankierten und ihm schmachtende Blicke zuwar­fen. Leider hatte die Sache einen klei­

nen Haken, denn die Ehemänner der fast barbusigen Schönen waren auf dem Schauplatz erschienen und war­fen Mac ebenfalls Blicke zu, die aber keineswegs als schmachtend bezeich­net werden konnten.

Die beiden Kerle sahen wie Affen aus und blickten dementsprechend unfreundlich. Der eine zog sein Mes­ser, der andere schnappte sich einen gewaltigen Humpen und donnerte ihn Mac an den Schädel.

Er war mit einem Schlag wach, aber noch leicht bedröselt. Er riß die Augen auf und suchte nach den Ker­len, bis er merkte, daß alles nur ein Traum gewesen war. Aber er glaubte noch, ganz schwach das Dröhnen zu hören.

Da auch die beiden barbusigen Wei-berchen so schlagartig verschwunden waren, hatte Mac nicht gerade die be­ste Laune. Sein Gesicht ähnelte einer matschigen Zitrone, als er aus der Koje stieg. Die anderen schnarchten unverdrossen weiter.

Mac beschloß, weil er jetzt ohnehin nicht mehr einschlafen konnte, nach dem Urheber dieses Dröhnens zu se­hen. Er zerrte eine Decke aus seiner Koje und hing sie sich um, denn drau­ßen war es um diese Zeit kühl. Dann wackelte er mit saurem Gesicht an Deck.

Dort hampelte er ziemlich unbehol­fen herum, Hände und Hals weit vor­gestreckt, denn er sah so gut wie gar nichts. Überall war Nebel, Dunkel­heit, die nur von einem diffusen Licht erhellt war, in dem er fast blind um­hertappte. Aber er hörte ein paar Stimmen und schlich weiter.

„Verflixt, der ist unter dem Schiff durch", knurrte Old Donegal. „Ich

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glaube, ich habe ihn noch getroffen." Der „Admiral" war noch ganz fuchtig und aufgeregt.

Smoky fuhr herum und peilte die Lage. Old Donegal war so aufgeregt wie selten in seinem Leben. Immer­hin glaubte er, den Wassermann doch noch getroffen zu haben.

Da sah er die Gestalt auf der ande­ren Seite des Schiffes. Sie war breit und wuchtig, so schien es wenigstens, und diese Gestalt bewegte sich mit schlurfenden und tapsenden Schrit­ten über das Deck. Sie hatte auch die Arme ausgestreckt.

Old Donegal gefror fast das Blut in den Adern. Dieser dreimal verlauste Wassermann hatte es doch tatsäch­lich geschafft, an Deck zu gelangen. Für Old Donegal war klar, daß sich dieser Wassergeist an Bord nicht so gut auskannte. Schließlich war das Wasser ja sein Element.

Der Alte triumphierte, obwohl im­mer noch Eiswasser durch seine Adern rann. Jetzt hatten sie endlich einen dieser Wassermänner an Deck, und niemand konnte diese Tatsache abstreiten, wenn er jetzt nur schnell genug handelte und reagierte. Dem Höllenhund durfte es nicht mehr ge­lingen, wieder zu verschwinden. Oh, was würden die Arwenacks staunen, ganz besonders Hasard, der nicht an Wassermänner glaubte.

Old O'Flynn überwand sich helden­haft. Er schwang den Belegnagel und wollte erst laut brüllend auf die Ge­stalt stürzen, aber dann unterdrückte er den Schrei, damit der Kerl nicht hellhörig wurde.

Wie ein Kastenteufel sprang er vor. Sein Holzbein behinderte ihn dabei nicht im geringsten. Selbst Smoky konnte nicht so schnell reagieren.

Der Belegnagel sauste nieder. Es gab einen dumpfen Ton.

Der schreckliche Unhold begann zu wackeln und zu taumeln. Er tat ein paar ziellose Schritte, törnte über die Planken und stieß einen grunzenden Ton aus.

Dann brach er zusammen und blieb reglos liegen.

„Wir haben ihn!" brüllte Old Done­gal mit einer Stimme, die selbst Tote aus den Gräbern gescheucht hätte. „Wir haben einen Wassermann ge­fangen!"

Na, da war aber was los auf der Schebecke! Der Krach und das laute Gebrüll der beiden Wachen trieben auch den allerletzten Tiefschläfer schlagartig aus der Koje.

Die Männer eilten an Deck und hat­ten gleich Laternen mitgebracht, die ein trübes Licht verbreiteten. Hasard, Ben, Don Juan erschienen. Es wurden immer mehr, die das Deck bevölker­ten.

Old O'Flynn stand in Siegerpose da, dicht neben der reglosen Gestalt. Er hatte den Belegnagel noch in der Faust erhoben, jederzeit bereit, wie­der zuzuschlagen, falls der Was­sermann sich auch nur rührte.

Doch der rührte sich nicht und war auch nicht zu erkennen. Für einen Wassermann war er allerdings ein bißchen dürr, das sah man unter der Decke, die seine Gestalt verbarg.

„Was ist denn hier los?" fragte Ha­sard. „Seid ihr beiden Kerle verrückt geworden?" Er warf einen schnellen Blick auf die stumme Gestalt und sah Old Donegal durchdringend an.

„Verrückt geworden?" empörte sich Old O'Flynn. „Dir steht gleich die größte Überraschung deines Le­bens bevor, Sir. Aus dem Morast tauchte ein Wassermann auf, ein gar­stiger grüner Kerl mit Algen auf dem Kopf. Er stieg ganz plötzlich an Deck, und da habe ich ihm eines zwischen

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die Hörner gegeben, bis er abgenip-pelt ist. Vorsicht!" rief er, als Hasard sich der Gestalt näherte. „Die Kerle sind gefährlich. Vielleicht stellt er sich nur tot. Laß ihn lieber noch ein paar Minuten liegen, Sir, der hat ga­rantiert einen Trick vor."

„Wassermänner", sagte der See­wolf spöttisch. „Die gibt's doch nur in deiner Phantasie."

„Von wegen! Diesmal nicht. Ich habe schon immer gesagt, daß es welche gibt, aber dann heißt es im­mer, ich sei am Spinnen und ein dösi­ger Rappelkopf. Jetzt werdet ihr alle eure Meinung gründlich ändern."

Einige der Mannen hielten einen re­spektablen Abstand zu der wunderli­chen Gestalt. Sie wußten nicht, was sie von der Sache halten sollten.

Die Zwillinge Hasard und Philip waren jedoch neugierig herangetre­ten, und auch Plymmie schnüffelte neugierig an der großen Decke her­um.

Das diffuse Halblicht ließ alles gei­sterhaft und geheimnisvoll erschei­nen, und den Rest besorgten die schmatzenden und gurgelnden Ge­räusche, die von allen Seiten auf sie eindrangen.

Dem Profos war sehr wunderlich zumute. Er war neugierig, wie dieser Wassermann wohl aussehen mochte, aber er traute sich nicht, noch näher heranzugehen, denn Old Donegal hatte mit großer Überzeugung und Bestimmtheit gesprochen.

Plymmie kläffte die Gestalt ein paarmal an, doch es war kein drohen­des Kläffen.

„Vermutlich ist es ein Indianer", sagte Dan O'Flynn sachlich. „Ich denke, wir sollten jetzt endlich mal nachsehen."

„Ihr werdet erschrecken, wenn ihr den Fuzzy seht. Er ist ganz morastig,

klatschnaß, hat Seetang auf dem Kopf, zwei grüne Hörner und leuch­tende große Augen", sagte Old Done­gal ernst.

„Stimmt", bekräftigte Smoky leise, „so etwa habe ich ihn auch gesehen. Dann stand er ganz plötzlich an Deck, obwohl Donegal ihm noch eins über­gezogen hat."

„Morastig und klatschnaß", sagte Hasard. „Soso, und dann hat er nicht einmal eine feuchte Spur hinterlas­sen. Das ist doch recht seltsam, oder siehst du das anders?"

„Wassermänner hinterlassen keine Spuren", wandte Old O'Flynn hastig ein. „Äh, ich meine, damit man sie nicht bemerkt und so. Deshalb hinter­lassen sie nie Spuren."

Ben Brighton trat an die Gestalt und bückte sich, um die Decke wegzu­ziehen. Er hatte die Hand noch nicht richtig ausgestreckt, als die Gestalt zusammenzuckte und sich streckte. Dann stieß sie ein hohes, klagendes Wimmern aus, bei dem sogar die Wolfshündin zurückfuhr und die Zähne bleckte.

Dem Profos fuhr der Schreck in die Knochen. Man konnte ja nie wissen, vielleicht war wirklich was an der Sache dran. Ein paar harte Kerle hät­ten ihn ganz sicher nicht erschreckt, aber Wassermänner - das waren We­sen aus einer anderen Welt, deren Reaktionen völlig anders und unbere­chenbar waren.

Auch Ben Brighton zuckte unwill­kürlich zurück, als dieser eigenartige klagende Ton erklang. Mehr erstaunt als erschrocken starrte er auf das ge­streckte Bündel.

Hasard bereitete dem Spuk endgül­tig ein Ende. Er war bedient von Was­sermännern, Geistern und Nixen, die in nebligen Buchten in der Dunkel­heit ihr Unwesen trieben.

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Mit einem Ruck fetzte er die Decke zur Seite und ließ sie achtlos auf die Planken fallen. Gleichzeitig drückte er den Arm seines Sohnes Philips et­was tiefer hinunter, der die Laterne hielt, um die gespenstische Szenerie besser auszuleuchten.

Diesmal war es der Seewolf, der zusammenfuhr und entsetzt auf die Gestalt blickte.

Es war Mac Pellew, der ausge­streckt der Länge nach auf den Plan­ken lag und wie tot aussah.

2.

Sekundenlang sprach niemand ein Wort. Die geisterhafte Stille wurde nur von dem Blubbern und Gurgeln der aufsteigenden Sumpfblasen un­terbrochen.

Die Arwenacks waren entsetzt. Der Anblick verschlug ihnen glatt die Sprache. Old Donegal und Smoky stierten sich hilflos an und verstan­den die Welt nicht mehr. Old O'Flynn sah aus, als sei er jetzt wahrhaftig ei­nem Wassermann begegnet. Da lag sein „Fuzzy" auf den Planken und gab keinen Muckser mehr von sich.

Der Kutscher beugte sich nieder und horchte an Macs Hühnerbrust. Dabei traf gleichzeitig ein eisiger und vernichtender Blick die beiden Hel­den, die immer noch völlig sprachlos waren und sich die Augen ausstierten.

„Was ist mit ihm?" fragte Hasard rauh.

„Er lebt", sagte der Kutscher er­leichtert. „Er ist nur bewußtlos. Am Schädel hat er eine mächtige Beule. Nicht mehr lange, dann wird er wie­der auf den Beinen sein."

Hasard wandte sich Smoky und Old Donegal zu und musterte sie kühl.

„Wassermann, wie? Ihr beide seid

doch geistige Flachwassersegler. Habt ihr vielleicht freundlicherweise eine Erklärung zur Hand? Kann man Mac etwa mit einem grünen Was­sermann verwechseln, der Seetang auf dem Kopf und zwei Hörner hat?"

Old O'Flynn hatte eine Erklärung, nachdem er sich wieder einigermaßen gefaßt hatte. Die Erklärung löste al­lerdings einiges Staunen aus.

„Er war ein Wassermann", sagte er mit dumpfer Stimme. „Vielleicht weiß Mac das ja selbst nicht, daß er einer ist."

„Wie, bitte, darf ich das verstehen?" fragte Hasard scharf.

Old Donegal warf Smoky einen hil­fesuchenden Blick zu. Aber der Decksälteste rührte sich nicht, son­dern stierte nur schweigend auf Mac Pellew, um den sich der Kutscher und Carberry bemühten.

„Nun, das ist so", begann Old Done­gal umständlich, nachdem von Smoky keine Hilfe zu erwarten war. „Manche Leute brauchen nur die rich­tige Umgebung, um sich zu verän­dern. Es gibt ja auch Menschen, die sich bei Mondschein in Werwölfe ver­wandeln."

„Hast du schon mal einen gesehen?" fragte Hasard sanft.

„Nein, aber es gibt sie, jeder weiß das. Es besteht durchaus die Möglich­keit, daß sich Mac in einen Was­sermann verwandelt. Hier sind die Voraussetzungen dazu gegeben. Es herrscht Nebel, wir liegen im Sumpf, und der Mond scheint in den Nebel. Dann geht bei Mac eine Verwandlung vor sich, von der er nichts weiß, und so wird er zum Wassermann."

Hasard sah seinen Schwiegervater kopfschüttelnd an.

„Manchmal zweifle ich an deinem Verstand, Mister O'Flynn. In deinem sturen Schädel geistern nur noch

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Wassermänner und Kobolde herum. Es ist ja schon lebensgefährlich, dich nachts auf Wache zu schicken. Du bringst es fertig und erschlägst so nach und nach die ganze Mannschaft, nur weil du glaubst, die Arwenacks würden sich in alles mögliche ver­wandeln."

Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick schlug Mac die Augen auf und sah sich ver­wirrt um. Sein Gesicht war schmerzhaft verzogen, und auf sei­nem Kopf wuchs jetzt tatsächlich ein Horn, das immer kräftiger anschwoll. Der Kutscher und Carberry hatten ihn auf die Gräting gesetzt. Carberry hatte sein Rammkinn vorgeschoben und warf Donegal einen wilden Blick zu.

„Wenn meinem Mäckileinchen was passiert ist", sagte er drohend, „dann treibe ich dir deine Flausen aus, du alter Zausel, und dir ebenfalls", kün­digte er in Richtung Smoky an. „Viel­leicht behält Mac einen kleinen Dach­schaden, oder so."

Anfangs sah es wirklich so aus, als hätte Mac Pellew nicht mehr alle Mucks im Schapp.

Er wackelte mit dem Kopf und grinste etwas dümmlich, was bei Car­berry die schlimmsten Erwartungen keimen ließ.

„Ich habe den Ladys gar nichts ge­tan", sagte er dösig. „Wirklich nicht. Sie haben sich nur ein bißchen ausge­zogen, aber ich konnte ja nicht wis­sen, daß sie zwei Gatten hatten."

Carberry sah sein Mäckileinchen sehr besorgt an. Er legte ihm die Pranke auf den Kopf um festzustel­len, ob Mac vielleicht Fieber hatte, aber er fühlte nur eine riesige Beule, die immer mehr anschwoll und lang­sam die Form einer Melone annahm.

„Natürlich hast du den Ladys nichts getan", sagte er beruhigend.

„Der Kerl hat mir einen Humpen über den Schädel gehauen", beklagte sich Mac erbittert. „Und der andere Affe wollte mit dem Messer auf mich los."

„Jaja, die sind jetzt alle weg." „Wo bin ich eigentlich? Mir ist so

flau zumute." „Du bist natürlich an Deck, und al­

les ist in Ordnung", versicherte der Profos. „Du darfst dich nur nicht auf­regen. Wir bringen dich wieder in die Koje, und dann ruhst du dich aus."

„Du wirst eine mächtige Beule krie­gen", sagte der Kutscher, „aber es scheint nicht so schlimm zu sein."

„Aber ich habe keine Schuld. Die Ladys . . . "

„Ja ja, schon gut, Mac. Morgen wird sich alles aufklären."

Mac grinste immer noch so merk­würdig, als sie ihn nach unten brach­ten. Dabei betonte er immer wieder, daß mit den Ladys nichts passiert sei. Schließlich sei er ein ehrenwerter Mann.

Wem er die Beule zu verdanken hatte, kapierte er allerdings nicht. Er schob es immer noch auf zwei reich­lich mysteriöse Kerle, womit er ei­gentlich gar nicht so unrecht hatte.

Der Kutscher verpaßte ihm einen essiggetränkten Verband um den Schädel, damit die Schwellung etwas abklang. Als sie Mac dann in die Koje gepackt hatten, schlief er gleich wie­der ein.

Ziemlich erleichtert gingen die bei­den wieder an Deck und hörten sich die Standpauke an, die Hasard Smoky und Donegal hielt. Es fielen einige harte Worte.

Schließlich entschuldigten sich die beiden zerknirscht.

„Was ihr gesehen habt, waren Irr-

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lichter, ähnlich dem Sankt-Elms-Feuer, das bei uns auch schon heftige Verwirrung ausgelöst hat", sagte Ha­sard. „Du, Mister O'Flynn, hast mit dem Belegnagel gegen den Schiffs­rumpf gedonnert, und durch das Ge­räusch ist Mac vermutlich wach ge­worden. Anscheinend hatte er auch noch einen reichlich verworrenen Traum. Dann ging er etwas dösig an Deck, und da habt ihr ihn für einen Geist gehalten. Ist das jetzt endlich klar, daß es keine Wassermänner gibt?"

„Vielleicht nur ganz kleine", wandte Old O'Flynn zaghaft ein. „So ganz klitzekleine." Er zeigte mit Dau­men und Zeigefinger an, wie klein und winzig die Wassermänner waren, die dennoch in seinem Granitschädel herumspukten.

Erst als ihm der Seewolf einen fin­steren Blick zuwarf, zeigte Old Done­gal die Wassermänner noch kleiner an. Daumen und Zeigefinger gingen so weit zusammen, bis nichts mehr dazwischenpaßte.

„Überhaupt keine!" brüllte Hasard. „Nicht mal staubkornkleine!"

„So kleine habe ich auch noch nie gesehen", murmelte Old Donegal leise.

Hasard trat zum Schanzkleid der Steuerbordseite und zeigte in die bro­delnde Suppe, die unheimlich genug aussah. Nebelarme umschlangen Bucht und Schiff von allen Seiten. Sie wallten wie giftiger Brodem hoch, und ihr Miasma roch nach Tod und Verwesung.

„Da spaziert einer eurer Was­sermänner", sagte er. „Seht ihn euch genau an, damit das dämliche Gefa­sel endlich ein Ende hat."

Stumm standen die Arwenacks an Deck und blickten auf ein Gebilde,

das sich aus dem Nebel und Brodem zu lösen begann.

Es zuckte fahl-grünlich auf, einem winzigen Flämmchen ähnlich, das schnell größer wurde und auseinan­derfloß, bis es die Größe eines Kopfes erreicht hatte. Das Flämmchen zuck­te unschlüssig hin und her, pulsierte, wurde kleiner und veränderte die Ge­stalt. Dann begann es gemächlich in Richtung der Schebecke zu wandern.

Immer noch sprach niemand ein Wort. Schweigend sahen sie zu dem Gebilde und spürten, wie ihnen ein kühler Schauer über die Körper rann.

Ein schmatzendes Geräusch ließ ein paar Arwenacks zusammenzuk-ken. Irgendwo platzte eine große Blase im sumpfigen Gelände. Ein Blubbern war zu hören.

Hinter dem ersten Irrlicht erschien ein zweites kleineres, das nach ein paar Augenblicken abrupt erlosch und verschwand. Das erste irrlich-terte unbeirrbar weiter, bis es nur noch ein paar Yards von der Sche­becke entfernt war.

„Keine Hörner, keinen Tang auf dem Kopf, nichts, absolut nichts", er­klang Hasards Stimme in der geister­haften Stille. „Oder glaubt wirklich einer, daß es ein Wassermann ist?" Seine Stimme klang spöttisch, fast ät­zend.

Smoky zog beschämt das Genick ein und schüttelte unmerklich den Kopf. Er sagte jedoch nichts, sondern starrte das Gebilde nur an.

Old Donegal versuchte, sich das Ding mit Hörnern vorzustellen und mit Seetang auf dem Kopf, aber es ge­lang ihm nicht mehr.

Ein winziger Mondstrahl, der von oben auf das Irrlicht fiel, ließ es hef­tig pulsieren und zucken. Dann floß es ganz langsam auseinander und verschmolz mit dem Nebel, bis nichts

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mehr zu sehen war. Die Erscheinung löste sich von einem Augenblick zum anderen auf.

Als sie noch einmal angestrengt hin­sahen, war da nichts mehr als die wa­bernden Arme des Nebels.

„Dann wünsche ich noch eine gute Nacht", sagte Hasard sarkastisch. „Morgen werdet ihr beiden euch bei Mac entschuldigen, und damit ist die Angelegenheit dann hoffentlich erle­digt. Laß zwei weitere Wachen aufzie­hen, Ben. Vielleicht erklären sich meine Herren Söhne auch bereit dazu. Sie glauben ja zum Glück nicht an Gespenster."

„Das übernehmen wir", sagte Ha­sard junior. Auch sein Bruder Philip erklärte sich spontan bereit.

Smoky und Old Donegal schlichen nach einem verschämt gemurmelten Gutenacht unter Deck.

Ein paar Mannen blieben noch oben und sahen den Irrlichtern zu, bis es ihnen zu langweilig wurde.

Einer nach dem anderen ver­schwand dann langsam, bis auf der Schebecke wieder Ruhe einkehrte.

Am anderen Morgen sah alles ganz anders aus.

Der Nebel hatte sich verflüchtigt, die Bucht war deutlich zu erkennen, und die Schebecke war wieder aufge­schwommen. Es gab keine Was­sermänner und Irrlichter mehr.

Im Osten stand die Sonne so flach über der östlichen Kimm, daß man ge­rade einen Hund unter ihr durchjagen konnte. Ein bizarres Muster aus gold­farbenen Strahlen flimmerte auf dem Wasser, das zur Kimm hin noch im leichten Dunst der Morgensonne lag.

Hasard erschien ausgeruht an Deck und blickte sich um.

„Nach dem Frühstück segeln wir ein paar Meilen weiter in südlicher Richtung", sagte er zu Don Juan, der verträumt und mit geistesabwesen­dem Gesichtsausdruckauf das Was­ser blickte. „Möglicherweise finden wir ein Plätzchen, das noch idealer als diese Bucht hier ist, wo die Siedler unbehelligt neu anfangen können."

Don Juan, der hochgewachsene Spanier mit den schiefergrauen Au­gen, sagte immer noch nichts. Sein Blick war noch entrückter geworden.

„Hörst du mir überhaupt zu, Ami­go?" fragte der Seewolf.

„Verzeihung. Ja, ich habe verstan­den. Ich war mit meinen Gedanken et­was weiter weg. Für einen Augen­blick lang glaubte ich, die Bahamas im Dunst erkennen zu können."

„Die sind noch ein paar Meilen weg", sagte Hasard.

Er wunderte sich keineswegs, daß die Kerle fast ausnahmslos von einer leichten Unruhe ergriffen waren. Smoky hatte ja schon behauptet, er könne die Inseln riechen, und sie lä­gen direkt vor ihrer Nase.

„Ja, mehr als tausend Meilen noch", erwiderte der Spanier. „Dan sagte mir das gestern, so über den Daumen gepeilt."

„Ich weiß, welche Gefühle dich be­wegen, mein Freund. Wir alle fiebern dem Tag entgegen, an dem wir den Stützpunkt anlaufen. Ich selbst bin auch sehr gespannt, wie es dort aus­sieht und was sich alles verändert hat. Das gilt ganz besonders für die Männer, die dort verheiratet sind -du, Smoky und Donegal. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis wir dort sind. Ich habe ja versprochen, daß wir den Abstecher unternehmen, ehe wir nach England zurücksegeln."

Don Juan nickte und wandte den

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Blick ab, der sich im weit entfernten Dunst festgesaugt hatte.

„Ich habe Taina lange nicht gese­hen", murmelte er.

„Aber wir wissen, daß es ihr und den anderen gutgeht. Das haben wir vom Wikinger und Siri-Tong erfah­ren."

„Beteiligen wir uns an dem Früh­stück", schlug Don Juan vor. „Mein Magen knurrt ganz erbärmlich."

Die Sonne war ein wenig gestiegen. Auf dem Meer gleißte und glitzerte jetzt eine unwahrscheinliche Farben­pracht.

Als Mac Pellew an Deck erschien, begannen einige Männer versteckt zu grinsen. Sie konnten es sich nicht ver­kneifen, denn Mac sah aus, als ginge er zu seiner eigenen Beerdigung, ob­wohl in seinen Augen ein eigentümli­ches Funkeln zu erkennen war. Mac trug noch den Essig-Verband, den ihm der Kutscher angelegt hatte, aber jetzt wickelte er sich das Ding ab und betastete seinen Kopf.

Carberry war sofort bei ihm. Ob­wohl die beiden oft wie Hund und Katze miteinander umgingen, war der Profos über sein Mäckileinchen sehr besorgt und legte ihm mitfüh­lend den Arm um die Schulter, wobei er sich nach seinem Wohlbefinden er­kundigte.

Mac setzte sich auf die Gräting und sah sich um. Er blickte in freundliche und grinsende Gesichter. Das Haupt­augenmerk aller aber war auf das prachtvolle Exemplar einer Riesen­beule gerichtet, die in allen Farben des Regenbogens schillerte. Ohne den lindernden Verband wäre das Ding vermutlich wesentlich größer ausge­fallen.

Ein paar Arwenacks scharten sich um ihn.

„Ja, da staunt ihr, was?" sagte Mac.

„Ich weiß selbst nicht genau, wie das passierte. Wollt ihr wissen, was ich geträumt habe?"

Na, und ob die Kerle das wissen wollten. Das große Grinsen ging schon wieder um, wurde aber noch hinter betont starren Gesichtern ver­borgen.

„Erzähl mal, Mac!" Mac Pellew grinste ein bißchen und

stützte beide Hände auf die Knie. „Ich träumte von zwei sehr edlen

Ladys, die mich in ihre Mitte genom­men hatten. Na ja, kein Wunder bei meinem Aussehen. Auf mich fliegen die Weiberchen nun einmal, aber das wißt ihr ja."

Alle nickten sehr ernst und doch ein bißchen hinterhältig.

„Ich war also der Anlaß zur Eifer­sucht bei den Gentlemen der Ladys. Ich muß allerdings zugeben, daß die Ladys nur sehr dürftig bekleidet wa­ren", setzte er etwas verschämt hinzu.

„Nackicht etwa?" fragte Blacky in­teressiert.

„Nur - nur halb und so. Es kam zum Kampf." Macs Stimme klang jetzt etwas düster und theatralisch. „Der eine zog sein Messer, der andere nahm einen riesigen Humpen und schlug ihn mir über den Schädel, noch ehe ich es verhindern konnte. Davon wachte ich auf."

„Ein ziemlich kurzer Traum", be­merkte Jack Finnegan.

„Der Traum war nicht so wichtig", sagte Mac. „Es ist nur erstaunlich, daß ein solcher Traum dann Wirk­lichkeit wird. Fast hatte ich das Ge­fühl, es sei alles wirklich passiert. Und nun stellt euch mal vor: Als ich aufwachte, hatte ich eine Mordsbeule am Schädel, genau an der Stelle, wo mich der Humpen traf. Der Traum muß sich in die Tat umgesetzt ha­ben."

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Die Kerle nickten grinsend. Sie wußten es ja schließlich besser, was sich da in die Wirklichkeit umgesetzt hatte.

Hasard stand mit verschränkten Armen an Deck und sah Mac an.

„Möglicherweise können dir Done­gal und Smoky etwas zu dem Traum sagen, Mac. Sie spielen darin nämlich auch eine Rolle."

„Sie waren aber nicht dabei, Sir." „O doch, sie waren dabei, ganz si­

cher. Sie haben sozusagen die Haupt­rolle gespielt."

Er warf den beiden einen auffor­dernden Blick zu. Alle beide traten et­was verlegen auf Mac zu und reichten ihm die Hand.

„Für das Horn auf deinem Schädel sind wir verantwortlich", murmelte Old O'Flynn. „Wir hielten dich näm­lich für einen Wassermann. Und es war kein Humpen, der auf deinen Kopf sauste, sondern ein Belegnagel. Wir dachten nämlich, du seist ein Ge­spenst, und dafür möchten wir uns bei dir entschuldigen."

„Ich natürlich auch", sagte Smoky eifrig.

Mac blickte von einem zum ande­ren und kapierte überhaupt nichts mehr.

„Ich - ein Gespenst? Aber das war doch alles ganz anders. Habt ihr denn nicht zugehört?"

„Doch, sehr genau sogar. Aber du hast offenbar etwas verwechselt. Du bist im Nebel an Deck herumgegei­stert, vielleicht, nachdem du durch deinen Traum aufgewacht bist. Da haben wir dir versehentlich eins übergebraten."

Mac Pellew kicherte. Ganz vorsich­tig betastete er seine Beule. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er kein einziges Wort von dem glaubte, was Smoky und Donegal ihm erzählten.

Auch die anderen nickten bekräfti­gend, doch Mac Pellew war nicht zu überzeugen. Er grinste weiterhin un­gläubig.

„Ihr wollt mich nur veräppeln", sagte er immer wieder.

Schließlich gaben sie es auf. Beim Frühstück an Deck versuch­

ten sie es noch einmal. Doch Mac blieb bei seiner Behauptung, daß sich sein Traum in die Wirklichkeit umge­setzt habe.

„Dann lassen wir es dabei", meinte Hasard. „Zum Glück hat der gute Mac den Brocken verdaut. Aber er hatte ja schon immer einen sehr har­ten Schädel."

Das Deck wurde aufgeklart. Dann hievten sie den Anker und setzten die Segel. Dicht an der Küste segelten sie weiter auf südlichem Kurs, um sich das Land anzusehen.

3.

Ein paar Tage vorher. Die fünf Überlebenden von der Ra-

bauken-Karavelle hatten sich mit den drei adligen Stieseln zusammengetan und etlichen der Siedler bereits einen „Besuch" abgestattet.

Die Arwenacks waren froh, daß sie die überheblichen Bastarde los wa­ren, aber das beruhte auf Gegensei­tigkeit. Auch Sir William Godfrey, Alec Morris und Frank Davenport waren froh, endlich im Gelobten Land zu sein, wo das Gold praktisch auf der Straße lag.

Doch die Wirklichkeit sah etwas an­ders aus, als die drei Kerle sich das vorgestellt hatten.

Es gab nicht einmal Straßen, und von Gold konnte schon gar keine Rede sein, bis auf den goldenen

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Schmuck einiger Indianer. Zum Reichwerden langte das jedoch nicht.

Sie hatten sehr schnell gemerkt, daß hier ein anderer Wind wehte, daß die unbekannte Wildnis ihren Tribut forderte und man hart ums nackte Überleben kämpfen mußte. Hier fiel keinem was in den Schoß, wenn er nicht selbst kräftig dazu beitrug.

Dazu hatten die acht Kerle aller­dings keine große Lust, denn sie träumten den Traum vom schnellen Reichtum, der nicht mit Arbeit ver­bunden war. Vom Arbeiten kriegte man Schwielen an den Händen und ein krummes Kreuz - eine Tatsache, mit der sich ganz besonders die drei Stiesel nicht anfreunden wollten. Die Karavellen-Kerle waren davon ebenfalls nicht begeistert. Jeder hatte da so seine eigenen Vorstellungen.

Atkinson Grey, der sich selbst zum Anführer ernannt hatte, plante, stein­reich nach England zurückzukehren. Dieses Ziel hatte er sich langfristig gesetzt.

Frank Rosebery spann den Traum von einem Herrenleben in einem prächtigen Haus, in dem ihn ein Ru­del stummer Eingeborener bediente.

Randolf Gordon hatte das untrügli­che Gefühl, nicht mehr lange zu le­ben. Daher wollte er vorher noch ein­mal gründlich alles auskosten und ebenfalls schnell reich werden.

Den drei aus Hofkreisen angeblich entstammenden Kerlen spukte nur das Gold im Kopf, das es hier im Überfluß geben sollte, von dem sie aber noch nichts entdeckt hatten.

Die anderen Mitläufer, Hasardeure und Glücksritter, dachten ähnlich, weil man auch ihnen goldene Flöhe in die Ohren gesetzt hatte.

Jeder von ihnen trug kräftig dazu bei, die Stimmung aufzuheizen, aber

genau wußte noch keiner von ihnen, wie es weitergehen sollte.

Bei den Siedlern waren sie auf we­nig Gegenliebe gestoßen, als sie vage ein paar Pläne erörtert hatten. Die meisten waren von der langen Über­fahrt bedient und einigermaßen wie­der bei Kräften. Sie wollten sich auf keine weiteren ungewissen Aben­teuer einlassen und nur noch in Ruhe und Frieden ihre Existenz aufbauen.

Sorgen hatten sie nach dem ersten Überfall der Rothäute schon genug.

An diesem Tag hatten sie sich ab­seits der bereits errichteten Lager und Palisaden eine provisorische Un­terkunft geschaffen und beobachte­ten aus sicherer Entfernung das Trei­ben ringsum.

Sie waren unzufrieden und hockten lustlos um ein erloschenes Feuer, wo sie sich erlegtes Wild gebraten hat­ten.

Alec Morris, dem fünfundzwanzig­jährigen Hohlkopf mit der großen Klappe, paßte das alles nicht. Seit sie die Schebecke der Seewölfe verlassen hatten, war es mit dem bequemen Le­ben vorbei. Niemand setzte ihnen mehr das Essen vor die Nase. Wenn sie Hunger hatten, mußten sie selbst die Knochen bewegen und sich etwas erjagen. Und ein sicheres Dach über den Köpfen hatten sie ebenfalls nicht mehr.

„Eine Scheißgegend ist das hier", maulte Morris. Er trug noch seine blaue Jacke, die Kniebundhose und die weißen Strümpfe mit den Schnal­lenschuhen. Allerdings hatten die Plünnen in den beiden letzten Tagen sehr gelitten, und dreckige Pfoten hatte er auch, was für ihn ein unbe­schreiblicher Greuel war. „Ich habe mir das ein bißchen anders vorge­stellt. In London hatte ich bei Hofe . . . "

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Atkinson Grey musterte ihn aus braunen, zusammengekniffenen Au­gen. Er war hochgewachsen und mus­kulös und trug einen riesigen Oberlippenbart. Er war Takelmeister auf der Karavelle gewesen und der einzige, der ein wenig von Navigation verstand, ohne daß seine Kenntnisse allerdings ausgereicht hätten, das Schiff sicher über den Atlantik zu bringen.

Grey konnte den jungen überhebli­chen Gimpel nicht leiden, der nur das Maul aufriß, sonst aber keine Initiati­ve entwickelte und alles an sich her­ankommen ließ. Dieses Bürschchen stank ihm schon von dem Augenblick an, als er es zum ersten Male gesehen hatte.

„Was du in London hattest, das in­teressiert uns einen Scheiß", sagte er abwinkend. „Wir sind nicht mehr in London, mein Kleiner, und deshalb kannst du dir das Gefasel ersparen. Wenn du keine Vorschläge zu unter­breiten hast, dann halt lieber dein vorlautes Maul."

„Na, hör mal!" empörte sich der Schnösel laut und arrogant. „Wie re­dest du denn mit mir! Du bist doch nur ein Bauernlümmel aus Sussex, dazu noch ein ungebildeter. Solche Kerle wie dich haben unseresgleichen nicht mal mit dem Arsch angeguckt."

Atkinson Grey stand langsam auf. Er wirkte auf den ersten Blick fast ge­mütlich, war aber alles andere als das. Er war fünf Jahre älter als Mor­ris und so groß, daß der ihm gerade bis ans Brustbein reichte.

„Ich kann dich nicht leiden, Klei­ner", sagte Grey in gemütlichem Ton­fall, „und es wird endlich mal Zeit, daß du untergebuttert wirst, damit dein Maul nicht zu groß wird. Du tönst nur herum und bist nichts ande­res als ein mieser kleiner Parasit, der

auf Kosten anderer lebt. Du hast bei der Jagd nicht einen Finger gerührt und nur gewartet, bis dir jemand was brachte. Solche Pflaumen können wir bei uns aber nicht brauchen. Du wirst dich jetzt entschuldigen, Kleiner."

Davenport und Sir William hielten sich abwartend zurück. Grey schien Führungsqualitäten zu haben, im Ge­gensatz zu Morris, und deshalb er­griffen sie keine Partei für ihn. Von Grey versprachen sie sich mehr.

Die anderen hielten sowieso zu ihm, ganz besonders Jameson Kidd, der Grey fast anhimmelte und ihm wie ein Hund folgte.

„Ich warte auf die Entschuldi­gung", sagte Grey leise.

„Darauf kannst du lange warten", höhnte Morris. „Wo gibt es denn so was, daß sich ein Gentleman bei ei­nem Bauernlümmel entschuldigt. Du kannst meine Entschuldigung haben - hier, mit dem Degen!"

Er war ebenfalls aufgesprungen, mit hochrotem Kopf, und riß blitz­schnell den Degen heraus. Dann grin­ste er höhnisch, während er die De­genspitze waagerecht von sich hielt und auf Grey zielte.

Die anderen Kerle sagten kein Wort. Sie starrten ihren Anführer an und warfen einen Blick auf den jun­gen Gockel, der sich ganz als Herr der Lage fühlte.

Atkinson Grey blickte auf die De­genspitze und lächelte dünn. Seine Augen waren zwei schmale Schlitze.

„Ja, wenn das so ist", sagte er be­dächtig. „Dann werde ich mir das wohl noch überlegen müssen."

„Überlege nur", höhnte Morris. „Du kannst den anderen sagen, wo es langgeht, aber nicht mir. Ein Alec Morris läßt sich nicht so einfach her­umkommandieren, noch dazu von ei­nem . . . "

17

Die Bewegung erfolgte blitzschnell. Grey hieb die Stiefelspitze in den Bo­den und schleuderte eine Fontäne aus Dreck hoch.

Morris kniff die Augen zusammen und wich einen Schritt zurück. Die linke Hand hielt er dabei schützend hoch.

Der nächste Tritt, noch schneller ausgeführt, traf seine rechte Hand. Der Degen flog in hohem Bogen da­von. Dann war Grey über Morris und drosch ihm die Pranke in die Magen­grube. Als er zusammenklappte und stöhnend in die Knie sank, hieb ihm Grey die Faust auf den Schädel. Mit einem heiseren Aufschrei ging das Bürschchen zu Boden, wurde aber so­fort wieder hochgerissen und windel­weich geklopft.

Blut rann ihm aus Mund und Nase, er begann zu schreien und um sich zu treten. Aber er hatte keine Chance ge­gen Atkinson Grey. Der drosch ihm die Knochen zusammen und warf ihn schließlich mit einer letzten harten Ohrfeige in einen Strauch.

Dann stand er vor ihm, den Degen in der Hand und grinste hart. Er hob das linke Knie an, packte den Degen mit beiden Händen und zerbrach ihn mit einem wilden Ruck. Die beiden Teile warf er Alec Morris an den blu­tenden Kopf. Mit der rechten Hand griff er nach dem restlos zusam­mengeschlagenen Kerlchen und zerr­te ihn zum Feuer herüber. Dort brachte er ihn in hockende Stellung.

„Du kannst dir jetzt aussuchen, ob du hierbleiben oder aber verschwin­den willst", sagte er gemütlich. „Wenn du hier bleibst, dann hältst du künftig dein großes Maul. Wenn du weg willst, dann solltest du jetzt gleich deine Knochen zusammensam­meln und abhauen. Entscheide dich!"

Morris war zu keiner Entscheidung

fähig. Der Kerl hatte ihn gebrochen und erledigt. Sein ganzer Körper schmerzte und bei jeder noch so klei­nen Bewegung fühlte er sein Ende na­hen. Er sagte nichts, streckte sich der Länge nach aus und blieb auf dem Rücken liegen.

Sir William räusperte sich unbe­haglich.

„Nun, das war wohl nicht unbe­dingt nötig", sagte er mit leisem Ta­del in der Stimme. „In unseren Krei­sen ist es nicht üblich, daß man sich die Köpfe blutig schlägt, Atkinson."

„Und in unseren Kreisen sind wir nicht unbedingt auf euch angewie­sen", erwiderte Grey freundlich. „Ich habe es nur gern, wenn die Fronten sauber abgesteckt sind. Wir kommen ohne euch klar, aber umgekehrt sieht das schon schlechter aus. Entweder sind wir eine verschworene Gemein­schaft oder ein Sauhaufen, bei dem jeder das tut, was ihm gerade paßt. Verpißt euch, wenn ihr wollt, oder haltet zu uns."

„Ähem, äh, nun, wir halten wohl besser zusammen", sagte Frank Da­venport beeindruckt und einge­schüchtert. Er empfand ganz plötz­lich eine niegekannte Angst vor dem Schläger und kuschte.

Sir William Godfrey erging es nicht viel anders. Wenn er Morris ansah, dann wurde ihm schlecht vor Angst. Seine ohnehin rote Säufernase wurde knallrot und hob sich wie ein leuch­tendes Fanal aus seinem Gesicht ab.

„Ja, wir bleiben wohl besser zusam­men", sagte Sir William, aber er schien nicht sonderlich davon erbaut zu sein. Doch ohne die Rabauken von der Karavelle waren sie aufgeschmis­sen. Wenn Godfrey daran dachte, daß sie sich ihr Essen künftig allein erja­gen sollten, dann wurde ihm sehr un­behaglich zumute. Ähnlich empfand

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es auch Frank Davenport. Die ande­ren Kerle waren gut bewaffnet. Sie hatten Musketen, Säbel, Dolche, Mes­ser und Pistolen. Sie hingegen besa­ßen an Waffen nur eine sehr kümmer­liche Ausrüstung.

Noch etwas kam hinzu: Atkinson Grey war ein Organisator, der es her­vorragend verstand, immer zur rich­tigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Er hatte auch seine Ohren überall und war bestens informiert. Da war es schon besser, sie hielten zusammen.

Alec Morris stöhnte entsetzlich. Er bewegte sich und versuchte, auf die Beine zu gelangen, doch bei dem Ver­such blieb es. Ächzend fiel er wieder zurück.

Davenport wollte ihm behilflich sein.

„Laß ihn", sagte Atkinson. Er sagte es fast gemütlich, aber Davenport hörte die Drohung heraus. Tatenlos blieb er hocken.

Die anderen Kerle grinsten ver­ächtlich. Ein paar Minuten lang schwiegen alle, bis es Sir William peinlich zu werden begann.

„Wie geht es denn jetzt weiter?" er­kundigte er sich mit heiserer Stimme. „Ich meine, habt ihr schon bestimmte Pläne? Bleiben wir hier, oder ziehen wir weiter?"

Er hatte sich bereits untergeordnet, ohne es zu merken. Die Entscheidun­gen überließ er Grey. Davenport schloß sich schweigend an.

Atkinson drehte sich um und blickte aus sicherer Deckung zum weit entfernten Wasser. Dort lagen die „Pilgrim", die „Explorer" und die Schebecke der Seewölfe. Auf den bei­den Galeonen befanden sich noch etli­che Siedler und die Besatzungen. Sie sollten noch ein oder zwei Wochen bleiben, falls es unvorhergesehene Komplikationen gab.

Außerdem wünschten einige der Siedler, weiter nach Süden zu ziehen, weil ihnen die Gegend hier nicht ge­heuer war und das Land offenbar den Rothäuten gehörte, die es zäh gegen die Eindringlinge verteidigten.

„Eine gute Frage", sagte Grey be­dächtig. „Natürlich bleiben wir nicht an diesem Ort. Hier gibt es für uns nichts zu holen, und ich denke nicht daran, hier herumzuhängen und auf ein Wunder zu warten. Trotzdem müssen wir gerade jetzt noch warten. Ich habe erfahren, daß die Killigrews bald verschwinden, um weiter nach Süden zu törnen. Solange werden wir hier abwarten."

„Was hat das mit den Seewölfen zu tun?" fragte Davenport.

„Die haben Kanonen, wir aber nicht. Das hat es damit zu tun."

Godfrey rieb sich die Säufernase und dachte nach. Aber er stieg nicht dahinter, was Atkinson Grey meinte und schon gar nicht, was die Kerle überhaupt vorhatten.

Etwas später erfuhr er alles das, was er wissen wollte.

Die Kerle belauerten die Schebecke wie Schießhunde und ließen keinen Blick von dem wendigen und schnel­len Schiff.

Dort wurde klariert, und sie sahen, wie der Seewolf mit einer Jolle an Bord zurückkehrte. Er hatte gerade der „Pilgrim" einen Besuch abgestat­tet.

„Sie brechen tatsächlich auf", sagte Spencer Taffe und rieb sich grinsend die Hände. „Bald sind wir die Ba­starde los."

Taffe war ein unangenehmer Typ, jedenfalls für Sir William und Frank

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Davenport. Sie betrachteten ihn meist recht scheu.

Der Kerl hatte gelbliche Haut, die krank aussah. Vor ein paar Tagen hatte er sich den Kopf rasiert. Im krassen Gegensatz zu seiner jetzt spiegelblanken Glatze stand der Bart, der ein entstellendes Muttermal halb verbarg, das sich vom linken Ohr her über das Gesicht zog.

Taffe war groß und hager und eini­germaßen gebildet. Auf der Kara-velle war er Gehilfe des Stückmei­sters gewesen. Er verstand viel von Schußwaffen aller Art und gab sich meist sehr bedächtig.

Die harten Tage, die er hinter sich hatte, sah man ihm noch an. Seine Haut war zerschunden und am Kör­per hatte er ein paar eitrige Pusteln. Die anderen sahen nicht viel besser aus. Auch ihnen standen die Strapa­zen auf See noch im Gesicht geschrie­ben. Sie hatten in einer schlecht aus­gerüsteten Jolle lange Zeit hart ums Überleben gekämpft.

„Darauf warte ich ja bloß, daß die Mistkerle endlich von hier verschwin­den. Die sind mir schon lange ein Dorn im Auge. Die Rechnung mit un­serer Karavelle, die sie zusammenge­schossen haben, ist auch noch offen und nicht beglichen."

Grey sprach mit halb zur Seite ge­wandtem Kopf. Die Vorgänge an Bord der Schebecke fesselten seine Aufmerksamkeit. Er schien jede Klei­nigkeit in sich aufzusaugen.

„Auf was warten wir denn?" fragte Godfrey. Er zuckte zusammen, als sich Alec Morris wieder rührte und zu greinen begann. Niemand schenkte dem zusammengeschlage­nen Kerl einen Blick.

„Na, darauf, daß die verfluchten , Killigrews endlich verschwinden", erwiderte Davenport.

„Ja, aber warum? Was ändert sich dann?"

„Weiß ich nicht, werden wir ja se­hen." Davenport zuckte gleichmütig mit den Schultern und sah ebenfalls angestrengt aufs Meer hinaus, weil er Sir Williams Fragen nicht beantwor­ten konnte. Was wußte er schon, was dieser Atkinson Grey vorhatte! Sie würden es schon noch rechtzeitig er­fahren.

Sie sahen jede Einzelheit ganz deut­lich. Der Seewolf ging an Bord und ließ die Jolle aufhieven. Keiner der Arwenacks warf einen einzigen Blick in ihre Richtung.

„Wenn der wüßte, daß wir noch hier sind", murmelte Frank Rosebery gehässig. „Der Bastard hat uns ein­fach befohlen, binnen einer Stunde nach Westen zu verschwinden. Als ob er hier der Gouverneur wäre."

Rosebery war ein kleiner, dicker und ungepflegt wirkender Mann mit kurzem schwarzen Haar, Oberlippen-und Kinnbart und auffallend großen Zähnen - ein verschlagener Typ, der aus einem der übelsten Viertel von London stammte.

„Der hat uns überhaupt nichts zu befehlen", sagte Jameson Kidd. „Der denkt schon gar nicht mehr an uns und glaubt, daß wir längst ver­schwunden seien."

Morris richtete sich klagend auf und betastete mit mühsamen Bewe­gungen sein geschwollenes Gesicht. Das Blut begann langsam zu verkru­sten.

Sein Blick war weinerlich auf die Männer gerichtet. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick in lautes Schluchzen ausbrechen.

Für ihn war nach dieser Dresche eine Welt zusammengebrochen. Er fühlte sich alt, hilflos, krank und von

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allen im Stich gelassen. Er floß vor Selbstmitleid fast über.

„Was geht denn da vor?" erkun­digte er sich kläglich. „Oh, mein Gott, mein ganzes Gesicht ist kaputt."

„Die Seewölfe hauen ab", sagte Da­venport. „Sie segeln weiter nach Sü­den und werden wohl ein paar Tage oder Wochen wegbleiben."

„Aufgeschlitzt gehört der Kerl", greinte Alec Morris. Aber er meinte damit keinesfalls den Seewolf, son­dern Atkinson Grey, der ihn so gede­mütigt hatte.

Der fühlte sich auch prompt ange­sprochen und warf dem kläglichen Kerl einen grinsenden Blick zu. Dann drehte er sich wieder um.

Nach einer halben Stunde ging die Schebecke mit geblähten Segeln auf östlichen Kurs. Erst später drehte sie wieder ab und lief in einem Abstand von einer halben Meile an der Küste entlang weiter nach Süden.

„So, das hätten wir hinter uns", sagte Grey erleichtert. „Mir ist direkt ein Felsbrocken von der Seele gerollt. Jetzt können wir unsere Pläne lang­sam in die Tat umsetzen."

Alec Morris tat so, als höre er nicht hin. Irgendwie wollte er dem Kerl seine Verachtung zeigen oder ihn strafen. Da es mit den Fäusten nicht ging, versuchte er es auf die andere Tour. Er starrte aufs Meer und schien völlig geistesabwesend zu sein.

Wenn er aber gehofft hatte, daß sich Atkinson Grey darüber ärgerte, dann sah er sich getäuscht. Dem war es ganz egal, was der junge und rot­zige Laffe tat. Von ihm aus konnte er zur Hölle fahren oder sonst was tun. Er kümmerte sich einen Dreck um das Würstchen.

„Jetzt hört mal gut zu und spitzt die Ohren", sagte Grey. „Ich habe mir fol­gendes überlegt."

4.

Sie setzten sich bequemer hin und lauschten. Ganz besonders Jameson Kidd lauschte fast verzückt den Wor­ten. Was Grey tat, war immer gut, der verstand es, aus der jeweiligen Situa­tion stets das Allerbeste herauszuho­len, auch wenn die Situation mies war. Das hatte er schon auf der Kara-velle bewiesen.

„Wir bleiben also auf keinen Fall hier, weil das wirklich ein beschisse­ner und lausiger Platz ist, an dem wir keine Reichtümer erwerben können. Ich bin aber nicht scharf darauf, durch die Wildnis zu rennen und mich von Beeren, Pilzen und ande­rem Dreck zu ernähren. Ich hatte schon in London ganz bestimmte und klare Vorstellungen von diesem Erd­teil. Hier oben gibt es nichts zu holen. Hier hausen ein paar armselige Sied­ler mit ihren Weibern, die sich mit Hilfe ihrer Hände mühsam genug er­nähren müssen. Das ist mir zu klein­kariert. Wir wollen schließlich etwas erreichen, oder nicht?"

Sie stimmten alle begeistert zu. Klar, sie wollten was erreichen, aber ihr Leben nicht zwischen Palisaden und Indianern beschließen.

„Wollen wir vielleicht fliegen wie ein Albatros?" fragte Sir William et­was überheblich.

„Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit", erwiderte Atkinson Grey. „Wir segeln an unseren Zielort oder genauer gesagt dahin, wo es uns gefällt."

„Segeln?" fragte Davenport langge­zogen. „Etwa mit der kleinen Jolle, die ihr noch habt?"

„Die Jolle soll der Teufel holen. Das ist nur eine Nußschale, die nicht mehr viel taugt. Nein, nein, Gentle­men, wir segeln natürlich standesge-

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mäß. Dort drüben liegen noch zwei Galeonen, die ,Explorer' und die ,Pil­grim'. Eine davon nehmen wir, und ich weiß auch schon, welche."

Die Kerle starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Sogar Ja­meson Kidd verzog ungläubig das Ge­sicht und sperrte das Maul auf.

„Ei-eine der Galeonen?" fragte Ran-dolf Gordon, der Kerl mit der Mittel­glatze und den langen Haaren im Nacken und hinter den Ohren. „Ja, sind die Leute denn damit einverstan­den? Ich weiß nicht, ob das ein guter Vorschlag ist."

Atkinson Grey lachte ungeniert und laut.

„Ob die Leute damit einverstanden sind, interessiert mich einen Dreck, mein lieber Randolf. Wir bestimmen, wem was gehört, und nicht die ande­ren. Natürlich sind sie nicht damit einverstanden, wenn wir ihr Schiff­chen nehmen, aber ich habe ja auch nicht die Absicht, die Kerle erst zu fragen oder gar mitsegeln zu lassen. Wir übernehmen den Kahn, und da­mit hat es sich."

„Damit hat es sich", wiederholte Davenport fassungslos und warf ei­nen fragenden Blick auf Sir William. Aber der schien seinen eigenen Oh­ren ebenfalls nicht zu trauen und blickte verunsichert drein.

„Wir können doch nicht an Bord ge­hen und das Schiff klauen. Da sind noch Siedler an Bord und dann die Kerle von der Besatzung. Die werden uns die Hölle öffnen."

„Niemand wird etwas ahnen, und keiner wird Verdacht schöpfen. Des­halb steht auch schon fest, daß wir die ,Explorer' nehmen."

„Warum denn ausgerechnet die?" „Weil das am einfachsten ist. Auf

der ,Explorer' ist der fromme Ge­sundbeter Amos Toolan der Kapitän.

Und seine Schäfchen sind fast aus­nahmslos lausige Puritaner, die sich eher in den Arsch treten lassen, als daß sie sich zur Wehr setzen. Außer­dem wird alles blitzschnell gehen. Bis die begriffen haben, was wir wollen, sind wir schon im Besitz der Ga-leone."

„Darf ich mir eine Bemerkung ge­statten?" fragte Sir William leise und sehr schüchtern.

„Aber bitte doch", erwiderte Grey großzügig.

Sir William knetete umständlich seine Hände und sah zu Boden.

„Wir sind nur acht Mann, Atkinson. Und wir drei verstehen nun mal nicht viel von der Seefahrt. Wir wissen bei einem Schiff nur, wo rechts und links und vorn und hinten ist."

„Und nicht einmal das wißt ihr richtig", höhnte Grey. „Jedenfalls nicht in der seemännischen Sprache, wo man andere Begriffe verwendet. Das ist mir allerdings bekannt."

„Kann man denn mit - äh - nur fünf Leuten so ein großes Schiff se­geln?" wollte Davenport wissen.

„Kann man nicht, zumal ja noch ei­ner am Ruder steht. Deshalb werden wir uns die entsprechenden Leute be­sorgen."

Die Kerle fielen von einem Extrem ins andere. Wieder wurde Atkinson angestarrt wie ein Wundertier.

„Die werden sich weigern", prophe­zeite Randolf Gordon.

Aber Grey tat auch diesen Einwand mit einer lässigen Handbewegung ab.

„Wir kriegen Freiwillige, darauf könnt ihr euch verlassen. Weiter im Landesinnern befinden sich fast zwei Dutzend Kerle, die restlos enttäuscht sind und die Nase voll haben. Es sind jene Männer, die unterwegs ihre Frauen oder Kinder verloren haben. Die sind jetzt verbittert, weil sie al-

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lein sind und nicht mehr wissen, für wen sie etwas aufbauen sollen. Denen brauchen wir nur etwas von Gold, Reichtum und Rückkehr nach Eng­land in die Ohren blasen, dann schmeißen sie alles hin und hauen ab. Die meisten haben ein paar Erfahrun­gen auf See gesammelt oder auch mal mitgeholfen. Sie können ein Schiff bedienen, wenn sie die richtigen An­weisungen erhalten. Und dafür werde ich sorgen. Dann suchen wir uns ein Plätzchen aus, das Reichtum ver­spricht. Stellt euch nur mal vor, ihr kehrt goldbeladen und reich später nach England zurück."

Atkinson verstand es hervorra­gend, die Kerle zu nehmen. Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden und wurden gierig von jedem einzel­nen aufgesogen.

„Mann, ist das genial", seufzte Ja­meson Kidd. „Was du anpackst, das wird zu Gold, Atkinson. Du hast wohl alles ganz genau bedacht, was?"

„Aber natürlich. Das kann man nicht übers Knie brechen. Da muß je­der Schritt genau überlegt sein."

„Genial", wiederholte Kidd, „ein­fach phantastisch. Wann ziehen wir los?"

„Am besten jetzt gleich, dann ver­säumen wir keine Zeit. Ich weiß nicht genau, wie lange die Galeonen hier noch liegen bleiben. Wenn sie erst einmal aufklaren, ist es für uns zu spät. Dann können wir uns durchs Landesinnere quälen oder an der Kü­ste entlanglatschen."

Dazu hatte niemand Lust, und da­her fanden sie die Idee, ihre Reise künftig mit einer Galeone fortzuset­zen, fabelhaft. Atkinson würde schon dafür sorgen, daß alles reibungslos ablief.

„Was ist mit dem da?" fragte Grey und wies auf Alec Morris, der sich im­

mer wieder schniefend über das Ge­sicht wischte und den Beleidigten spielte. Er tat auch jetzt so, als höre er nichts.

„Nun, wir nehmen ihn natürlich mit", sagte Godfrey. „Oder hast du es dir anders überlegt, Alec?"

„Ich weiß nicht", schniefte Morris trotzig. „Der Kerl hat mich halbtot geschlagen. Ich kann kaum laufen, mir tut alles weh."

Davenport redete seinem Kumpan gut zu, bis Morris schließlich wider­willig nickte und sich einverstanden erklärte.

Atkinson Grey kümmerte sich nicht um das verweichlichte Bürsch-chen. Ihm war es völlig egal, was Mor­ris tat. Er brauchte für seinen Plan ganze Kerle und keine Hampelmän­ner, die nur groß herumtönten.

Er sah der Schebecke nach, die schnell kleiner wurde und jetzt auf di­rektem Kurs südwärts törnte. Ein hinterhältiges Grinsen lag auf seinem Gesicht.

Eine Viertelstunde später brachen sie auf.

Eine knappe halbe Stunde später erreichten sie das Camp der Leute, die sich von den übrigen Siedlern ab­gesetzt hatten.

Drei roh zusammengezimmerte Holzhütten standen auf einer Lich­tung. Ganz in der Nähe gab es einen kleinen See.

Vier Kerle mit mürrischen Gesich­tern, unrasiert und ungepflegt, waren dabei, einen Baum zu fällen. Abwech­selnd hieben sie unten am Stamm verbissen in die Kerbe.

Noch ein paar andere waren damit beschäftigt, ein hirschähnliches Tier aus der Decke zu schlagen. Das Fell

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des erlegten Tieres wimmelte von rie­sengroßen Zecken.

Die restlichen anderen waren an ei­ner der Hütten beschäftigt. Nur zwei Frauen waren dabei, Kinder waren nicht zu sehen.

Die Männer blickten von der Arbeit auf und unterbrachen sie dann. Sehr mißtrauisch beäugten sie die acht Männer.

„Wenn ich mir vorstelle, daß das für den Rest meines Lebens die ganze Beschäftigung ist, dann wird mir schlecht", sagte Atkinson Grey. „Holz schlagen, Hütten bauen und mir schwielige Knochen holen. Nein, vie­len Dank für so was."

Die Siedler kannten die acht Män­ner, wenn auch nur flüchtig. Die drei adligen Stiesel waren ihnen schon vertrauter, und langsam verschwand auch das Mißtrauen aus ihren Gesich­tern.

Atkinson Grey gab sich ganz unge­zwungen. Er lachte, winkte zu den Männern und ging geradewegs auf die Hütten zu.

„Ihr tut euch aber schwer", sagte er lachend. „Seid ihr nicht enttäuscht von dem, was ihr hier vorfindet? Mein Name ist Grey, Atkinson Grey, wir sind die letzten Überlebenden der Karavelle. Die drei anderen dürften euch ja besser bekannt sein."

Ein Klotz von Kerl mit einem gro­ben Gesicht und langen strähnigen Haaren, nickte ihm mürrisch zu.

„Jeremías Bliss", sagte er. „Das sind Tottenham und Shoemaker." Dabei wies er zu zwei anderen Gestal­ten mit Leidensgesichtern.

Innerhalb kurzer Zeit hatte sich al­les um Grey versammelt. Man brachte ihnen klares Wasser zum Trinken und nahm auf dem Raum zwischen den Hütten Platz. Dort stan­den ein paar aus Baumstämmen her­

gestellte, roh behauene Tische und Bänke. Es sah alles sehr provisorisch und primitiv aus.

Die Männer hatten sich abgeson­dert. Einige wirkten verängstigt, an­dere mürrisch oder gleichgültig. Mit Begeisterung war keiner bei der Sache, das sah Atkinson ihnen auf den ersten Blick an.

Sie waren tief enttäuscht von dem, was sie hier vorgefunden hatten. Die meisten hatten ihre Angehörigen durch Seuchen oder die orkanartigen Stürme verloren. Als die „Discove­rer" gesunken war, hatten die überle­benden Männer ihre Hoffnungen be­graben.

Einige wünschten sich sehnlichst eine Rückkehr nach England, weil ih­nen die Neue Welt nicht gefiel und keineswegs ihren Vorstellungen ent­sprach. So hatten sie sich in kleinen Gruppen von den anderen abgeson­dert und waren einfach „desertiert", wie andere Siedler das kurz und bün­dig genannt hatten. Sie waren von der Fahne gegangen und fristeten ihr Leben jetzt in einer Gruppe von knapp zwei Dutzend Leuten.

„Wo treibt es euch denn hin?" fragte Jeremis Bliss. „Ihr seht nicht so aus, als wolltet ihr euch hier häus­lich niederlassen."

Atkinson war froh, daß der grobschlächtige Mann das fragte. Dann brauchte er sich nicht selber aufzudrängen.

„Hierbleiben?" fragte er fast ent­setzt. „Da sei Gott vor. Ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben in dieser Wildnis mit Hacke, Beil und Schaufel zu beschließen. Von diesen fürchterli­chen Rothäuten ganz abgesehen, die das Land wohl für sich beanspru­chen. Nein, nein, wir ziehen weiter nach Süden, wo das Gold auf der

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Straße liegt und es keine blutrünsti­gen Rothäute gibt."

Er blickte in neugierige und erstaunte Gesichter. Nur die beiden Frauen hörten kaum zu. Sie waren aufgestanden und in eine der Hütten verschwunden.

Atkinson war das recht. Mit den Frauen konnten sie ohnehin nichts an­fangen, die waren ihm nur im Weg, mäkelten möglicherweise an allem herum und hetzten die Kerle auf.

„Gold?" fragte Bliss hellhörig. „Was heißt hier Gold?"

Atkinson lachte wieder auf seine harmlose Art.

„Wir sind hier in der falschen Ecke der Neuen Welt gelandet, Männer. Oder habt ihr das noch nicht kapiert? Hier gibt es alles das nicht, was wir uns erhofft und erträumt hatten. Hier gibt's nur verdammte Indianer. Die lauern solange, bis ihr die ersten Fel­der angelegt habt, und dann fallen sie über euch her, wie gehabt. Und dann fangt ihr wieder von vorn an, und so geht das immer weiter. Unten im Sü­den gibt es keine Rothäute. Da ist es sonnig und warm, da wachsen Früchte, die man nur abzupflücken braucht. Ich habe mich ein bißchen umgehört und erfahren, daß es dort reiche Goldvorkommen geben soll. Man kann ziemlich mühelos zu Reich­tum gelangen. Ihr schindet euch hier die Knochen aus dem Leib, für nichts und wieder nichts und müßt täglich befürchten, von diesen roten Bastar­den abgemurkst zu werden. Ich bin si­cher, daß wir in ein paar Monaten als reiche Männer nach England zurück­kehren und mit einem der nächsten Schiffe die Rückreise antreten."

Sehr nachdenklich blickten die Männer ihn an.

Was er sagte, hatte für sie Hand und Fuß, und es klang vielversprechend.

„Hört sich nicht schlecht an, wirk­lich nicht", brummte Bill Tottenham, ein Mann mit einem spitzen ausge­mergelten Gesicht, in das sich die Zei­ten der Entbehrungen eingegraben hatten. Er war innerhalb weniger Mo­nate um Jahre gealtert und fühlte sich auch so.

„Zu verlieren habt ihr jedenfalls nichts", spann Atkinson den Faden weiter. „Ihr habt keine Angehörigen mehr. Für wen wollt ihr dann arbei­ten, für euch selbst und nur, um satt zu werden? Da gibt es ganz andere Möglichkeiten."

„Ich würde sofort mitgehen, ver­dammt", sagte Jeremis Bliss. „Auf der Stelle würde ich alles hinschmei­ßen, denn es lohnt sich ja doch nicht mehr."

„Nein, es lohnt sich auch nicht mehr", sagte Grey. „Die Welt, die man euch in England versprochen hat, exi­stiert nicht. Es hat sie nie gegeben. Es war eine Illusion, aber jetzt machen wir das Beste aus der Angelegenheit. Später werden wir ein angenehmes Leben in Saus und Braus führen kön­nen."

Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden, wie er erleichtert feststellte. Die Kerle wurden immer aufmerksa­mer und hellhöriger und waren schon jetzt von der neuen Zukunftsaussicht begeistert.

„Wie habt ihr euch das denn vorge­stellt?" erkundigte sich Tottenham neugierig. „Wollt ihr so einfach auf blauen Dunst weg? Bis tief zum Sü­den hinunter ist es eine verdammt lange Strecke."

„Das stimmt, Mister. Es ist ein wei­ter Weg. Aber, wie gesagt, auch wir haben nichts zu verlieren, und wenn man sein Glück probieren will, dann muß man auch bereit sein und ein kleines Risiko eingehen. Umsonst ist

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nur der Tod, den euch die Rothäute eines Tages ganz sicher aus dem Hin­terhalt bereiten werden."

„Was für ein Risiko?" fragte Bliss eifrig. „Verdammt, Mann, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln ab­kaufen. Wenn das Risiko in gewissen Grenzen liegt, kann man es wohl auf sich nehmen."

„Wir brauchen ein Schiff", sagte Grey, „aber kein Schiffchen. Ich denke da an eine der beiden Ga-leonen."

„Verstehe, ja, ich begreife schon. Das also ist das Risiko. Denn das Schiff wird ja wohl keiner freiwillig rausrücken."

„Wohl kaum", sagte Grey mit einem dreckigen Grinsen. „Das eben ist das kleine Risiko. Um ein solches Schiff aber zu segeln, bedarf es einiger Leute. Deshalb dachte ich, schau doch mal einfach vorbei, ob nicht ein paar andere Enttäuschte ebenfalls reich werden wollen. Ihr könnt es euch ja mal in aller Ruhe überlegen. Aller­dings nicht zu lange, sonst sind die Schiffchen plötzlich verschwunden."

Bliss stand auf und reckte sich. Ein paar abgerissen wirkende Kerle mur­melten Zustimmung. Fast angewi­dert sahen sie zu den armseligen Hüt­ten, die sie errichtet hatten.

Für wen eigentlich? Für sich selbst, damit sie schuften und ackern konn­ten, wenn sich ihnen doch ganz an­dere Möglichkeiten boten?

„Das heißt", sagte Bliss langsam und nachdenklich, „daß man ein paar Leute umlegen müßte. Das wäre das Risiko - oder daß man bei der Aktion selbst umgelegt wird."

„Aber, aber", sagte Atkinson, „wer wird denn gleich andere Leute umle­gen? Das ist doch gar nicht nötig. Wer etwas klaut, ist noch lange kein Mör­der."

„Ihr habt den Seewolf vergessen", sagte Tottenham. „Der wird nicht die Hände in den Schoß legen und taten­los zusehen."

„Den Seewolf und seine Kerle kön­nen Sie ebenfalls vergessen, Mister. Der ist vor einer halben Stunde ausge­laufen und in See gegangen mit seiner schönen Schebecke. Es ist auch sehr fraglich, ob er sich überhaupt noch einmal hier blicken lassen wird. Den Punkt können Sie getrost ausklam­mern, da besteht keinerlei Gefahr mehr."

„So, der Seewolf ist weg. Dem langt es wohl auch nach allem, was hier pas­siert ist. Damit verkleinert sich das Risiko ja noch mehr."

„So ist es", sagte Grey, „und für euch besteht überhaupt kein Risiko, nicht das geringste. Wir kassieren die Galeone im Alleingang. Ihr braucht euch erst dann sehen zu lassen, wenn sie in unserer Hand ist."

„Mann", sagte Bliss staunend, „das wollt ihr wahrhaftig wagen? Ihr könnt doch nicht eine ganze Schiffs­besatzung überwältigen."

„Wenn man den Kapitän und noch ein paar Geiseln hat, dürfte das kein Problem sein."

„Und wir haben nichts damit zu tun?"

„Überhaupt nichts. Je mehr Leute wir sind, desto auffälliger wäre das alles nur. Euer ganzes Risiko liegt darin, von hier zu verschwinden und mitzusegeln zu Gold und Reichtum. Aber niemand will euch das auf­schwatzen, ich am allerwenigsten. Wir sind acht Mann und können not­falls auch mit unserer Jolle nach Sü­den segeln. Ich dachte nur, daß es auf einer Galeone gemütlicher ist. Außer­dem lagern an Bord auch noch Vor­räte, Wein und andere Dinge, die man zum täglichen Leben braucht."

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„Was haltet ihr davon?" fragte Bliss heiser. Er sah die Männer an, die sich um ihn geschart hatten und mit großen staunenden Augen ver­suchten, das alles zu begreifen.

Der Mann, den Bliss als Shoemaker vorgestellt hatte, schien zu allem ent­schlossen zu sein. Er trat einen Schritt vor und grinste dünn.

„Meine Frau und mein Sohn sind beim Untergang der ,Discoverer' er­trunken", sagte er hart. „Ich habe nichts mehr zu verlieren, außer mei­nem Leben, und das ist nichts mehr wert. Ich habe mich den anderen nur angeschlossen, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. Zu den anderen Gruppen wollte ich nicht, denn da sehe ich tagtäglich die Familien vor mir und fühle mich schlecht und er­bärmlich. Ich bin auf Ihrer Seite, Grey, keine Frage. Ich würde lieber jetzt als später den ganzen Krempel hinschmeißen."

„Akzeptiert", sagte Grey gleichmü­tig. „Und wie steht es mit den ande­ren?"

Zwei Männer erklärten katego­risch, daß sie hierbleiben wollten, weil auch ihre Frauen hier seien. Sie würden noch einmal versuchen, alles neu aufzubauen und Familien zu gründen.

Grey war das nur recht, denn so schieden die Frauen aus, die er auf keinen Fall dabeihaben wollte.

Bliss überlegte auch nicht lange. Ihm stank es hier ganz gewaltig.

„Habe auch nichts zu verlieren, Mi­ster. Schlechter als hier kann es nir­gendwo sein. Und wenn wir wahrhaf­tig Gold finden, dann sind wir ge­machte Leute. Können ja dann gleich mit der geklauten Galeone nach Eng­land zurücksegeln."

Ein paar Kerle lachten laut. „Noch haben wir die Galeone ja

nicht", sagte Randolf Gordon, der oft an Greys Entscheidungen zweifelte oder herummäkelte. „Abzischen kön­nen wir erst, wenn alles geklappt hat."

„Halt dein Maul", sagte Grey. „Du gehst mir langsam auf den Geist mit deinen ewigen Zweifeln. Du siehst al­les viel zu schwarz."

„Welche Galeone habt ihr denn da­bei im Auge?" fragte Shoemaker.

„Die ,Explorer' natürlich. Auf ihr sind nicht mehr so viele Leute, aber noch genügend Vorräte. Und der Ka­pitän Toolan ist ein dümmlicher Hund, der alles glaubt, was man ihm vorbetet. Es dürfte nicht allzu schwie­rig werden, ihn zu übertölpeln."

„Und was tut ihr mit den Geiseln und den anderen Leuten?"

„Wir lassen sie später wieder frei. Die Leute jagen wir zum Teufel. Die können bleiben, wo sie wollen. Drink-water kann sie später ja wieder mit nach England nehmen. Die haben sich immer noch nicht entschieden, ob sie bleiben wollen oder nicht."

„Drinkwater wird ihnen was hu­sten", meinte Shoemaker. „Der segelt nicht mit einer Ladung Leute zurück, die ihm die Haare vom Kopf fressen und keine Passage bezahlen. Ich denke, er wird sich irgendwann ganz heimlich verabschieden."

„Da müssen noch ein paar Überle­gungen angestellt werden", sagte Tot­tenham. „Wenn wir nach Süden se­geln, können wir möglicherweise auf die Seewölfe treffen oder ihren Kurs kreuzen. Was dann? Glaubt ihr, die werden uns beglückwünschen, wenn sie merken, was gelaufen ist?"

Atkinson legte die Beine auf einen der rohen Holztische. Mit der linken Hand winkte er lässig ab.

„Das ist meine geringste Sorge. Ich glaube kaum, daß wir sie noch einmal

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sehen. Notfalls weichen wir aus, und im alleräußersten Notfall haben wir ja auch noch ein paar Geschütze an Bord. Wer sich uns in den Weg stellt, wird es ganz schnell bereuen."

Es gab einige, denen ging das run­ter wie Öl, aber es gab auch drei, vier Männer, die alle Möglichkeiten abwo­gen und überlegten. Sie waren noch unentschlossen.

„Wir haben ja noch den ganzen Tag Zeit zum Überlegen", sagte Grey schließlich. „Wie steht es - können wir heute nacht bei euch bleiben? Wir werden dann morgen in aller Frühe aufbrechen und mit dem Unterneh­men beginnen." Er warf einen be­gehrlichen Blick auf das erlegte Wild und spürte, wie sich sein Magen zu­sammenzog.

Auch Randolf Gordon hatte ent­setzlichen Hunger. Am liebsten hätte er sich auf das Fleisch gestürzt. Er hatte im Grunde immer Hunger, selbst dann, wenn er gerade gegessen hatte.

„Natürlich könnt ihr hierbleiben", erwiderte Bliss, der offenbar der Sprecher der Gruppe war. „Wir bra­ten nachher das Fleisch. Es wird für alle reichen, und klares Wasser haben wir auch genügend. Nur Wein und Bier gibt es bei uns nicht mehr, kei­nen einzigen Tropfen."

„Das holen wir an Bord der Ga-leone nach", versprach Grey. „Da ist noch ein edler Tropfen an Bord, das weiß ich genau."

Das Vertrauen war hergestellt. Grey rieb sich die Hände und lachte fröhlich in die Runde.

Etwas später wurde ein Feuer ent­zündet, und man briet große Fleisch­stücke an mehreren Spießen. Ein lieb­licher Duft zog über die Lichtung.

Die beiden Frauen hatten Pilze ge­sammelt, die es hier in Massen gab.

Nur der Umtrunk fehlte noch. Aber den würden sie später nachholen, wenn sie erst an Bord waren.

5.

Am anderen Morgen hatte sich nichts geändert. Die beiden Galeonen lagen nach wie vor in der kleinen Bucht vor Anker. Nur die Schebecke war offenbar endgültig verschwun­den.

Atkinson Grey war es gelungen, die „desertierten" Siedler auf seine Seite zu ziehen. Insgesamt waren es jetzt fast zwei Dutzend, die sich ihnen an­schließen wollten und dem großen Raid bereits sehnsüchtig entgegenfie­berten.

Sie waren gut ausgeruht. Zum Frühstück gab es Reste des kalten Bratens vom letzten Abend und wie­der klares Quellwasser, was ganz be­sonders Sir William sauer aufstieß. Er war schärfere Sachen in großen Mengen gewohnt, auch am Morgen. Auf der Schebecke hatte es immer Dünnbier, Rotwein oder Rum gege­ben. Das war jetzt vorbei.

„Ihr bleibt hier", sagte Grey zu Bliss. „Ihr könnt ja einen Mann zum Beobachten unauffällig postieren. Wenn wir das Schiff in unserer Ge­walt haben, dann geht ihr an Bord. Sollte wider Erwarten etwas schief­laufen, dann laßt ihr euch am besten gar nicht erst sehen und vergeßt die ganze Angelegenheit."

„Wir drücken euch die Daumen", murmelte Shoemaker erregt. Er stand unter ungeheurer Anspannung und begriff nicht, daß Grey so eiskalt und ruhig war. Überhaupt war dieser Atkinson Grey ein sonderbarer Kerl. Der nahm das ganze Risiko auf sich, ohne die anderen hineinzuziehen. Sie

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sollten erst dann in Aktion treten, wenn alles erledigt war.

Daß die Männer nur Mittel zum Zweck für Grey waren, kam weder Shoemaker noch Bliss in den Sinn. Grey war nur auf seinen eigenen Vor­teil bedacht - wie die anderen Rabau­ken auch.

„Glück kann man immer brau­chen", sagte Spencer Taffe. „Dann drückt mal kräftig die Daumen, es wird schon klappen."

„Wie besprochen also", faßte Grey seine Erläuterungen noch einmal zu­sammen. „Ihr rührt euch erst dann, wenn alles erledigt ist."

Er blickte Davenport an, dann Sir William und schließlich blieb sein Blick verächtlich auf Alec Morris hängen.

„Du bleibst hier", entschied er. „Du scheinst mir nicht der Kerl zu sein, der eine Sache knallhart durchführt. Dir versagen möglicherweise die Ner­ven, und dann geht alles schief. Wie steht es mit euch beiden, traut ihr euch das zu?"

Frank Davenport nickte eifrig. Sir William hüstelte ein wenig und rieb seine rote Säufernase mit den feinen blauroten Adern.

„Natürlich traue ich mir das ebenfalls zu", sagte er fast beleidigt. „Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber für solche Aktionen habe ich eine gute Hand."

Morris blickte sauer zu Boden. Er sah immer noch aus, als habe er auf einer Schlachtbank übernachtet. Sein rechtes Auge war dunkelbraun und zugeschwollen, sein Gesicht aufge­dunsen und verquollen. Außerdem taten ihm alle Knochen weh.

„Ich traue mir das auch zu", sagte er mürrisch.

Atkinson Grey grinste verächtlich. „Du bleibst trotzdem hier. Du

kannst dich auf eine andere Weise profilieren und beweisen, daß du ein Kerl und kein Hosenscheißer bist. Für dich habe ich später auch noch eine Aufgabe. Wenn du dann ver­sagst, soll dich der Teufel holen."

Morris warf dem Anführer einen haßerfüllten Blick zu und fühlte die Blicke der anderen Männer auf sich ruhen. Er schluckte schwer.

Davenport und Sir William nahmen keine Stellung dazu. Sie drehten sich fast verlegen um, als Morris sie hilfe­suchend ansah.

„Dann brechen wir jetzt auf", sagte Grey mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Unterwegs erläuterte er noch ein­mal die Einzelheiten und ging mit den Kerlen alles durch. Ihre Waffen hat­ten sie versteckt, bis auf ein paar Pi­stolen und Messer, die sich unter der Kleidung befanden.

Grey wollte nicht, daß Toolan miß­trauisch wurde. Sie wollten als harm­lose Besucher erscheinen.

Die sieben Kerle fielen auch nicht weiter auf, als sie weiter unten an der Küste erschienen, wo die Galeonen vor Anker lagen. Ihre Jolle, mit der sie nach dem Schiffbruch hier gelan­det waren, befand sich noch an dersel­ben Stelle. Niemand hatte sie benutzt.

„Ihr überlaßt den ersten Teil der Aktion mir", schärfte Grey ihnen noch einmal ein. „So, wie wir das be­sprochen haben. Keiner handelt, be­vor ich das Zeichen gebe. Es kann eine Weile dauern, notfalls sogar ein paar Stunden, bis die Gelegenheit günstig ist."

An der Küste befanden sich ein paar Männer, die Holz in eine Jolle luden und zur „Pilgrim" hinüberpull­ten. Drinkwater wollte für die Rück­reise offenbar Heizmaterial für die Kombüse haben.

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Beide Galeonen lagen nicht weit voneinander entfernt. Der Abstand von Schiff zu Schiff betrug nicht mehr als eine halbe Kabellänge.

Wortlos stiegen sie in die Jolle. Sir William rieb fortwährend seine

rote Nase und wollte verbergen, wie aufgeregt er war. Sein graues,Haar war ihm mittlerweile bis in den Nak-ken gewachsen, und auch sein Bart wucherte. Davenport hatte ebenfalls Bartstoppeln im Gesicht. Er gab sich betont gleichgültig und blickte scheinbar teilnahmslos zu der Ga-leone „Explorer".

„Bemerkenswert groß, das Schiff", sagte Sir William leise. „Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Wirk­lich sehr bemerkenswert groß."

„Ja, wirklich sehr bemerkenswert", äffte Grey nach. „Aber falls es dir zu groß ist, kannst du es ruhig sagen."

„Das war nur so eine Redensart." Die „Explorer" wuchs vor ihnen in

den Himmel. Ihre Segel waren sauber aufgetucht. Ein paar Gestalten waren an Deck zu erkennen. Sie interessier­ten sich nicht sonderlich für die Jolle, denn die Boote fuhren mehrmals täg­lich hin und her. An Oberdeck waren zwei Kerle emsig damit beschäftigt, Fleisch einzupökeln. Etliche große Fässer standen bei ihnen.

Grey drehte sich einmal kurz um und sah Amos Toolan auf der Kuhl stehen. Neben ihm stand ein dickli­cher Mann, der in seiner Kleidung an ein Wandermönch erinnerte.

„Du wirst dich wundern, Freund­chen", sagte Grey leise.

Amos Toolan hatte die Hände über dem dicken Bauch gefaltet und lauschte offenbar interessiert den weitschweifigen Ausführungen des

dicken Mannes, der neben ihm auf der Kuhl stand.

Es war der Bordgeistliche Habakuk Thistlewayte. Eine liebevolle Mutter hatte ihn nach einem der zwölf klei­nen Propheten Habakuk genannt. Was er allerdings prohezeite, war meistens Unsinn oder Geschwätz, das kaum jemand ernst nahm. Selbst Amos Toolan, der ein eifriger Predi­ger war, konnte das Geschwätz nicht mehr hören, obwohl er ein frömmeln­der Puritaner war, der gern herum­salbaderte.

„ . . . wird der Herr in seiner großen Güte für eine gnadenreiche Rückkehr sorgen", murmelte Habakuk Thistle­wayte. Er ließ allerdings offen, was unter einer gnadenreichen Rückkehr zu verstehen war.

„Ja ja", sagte Amos Toolan und hef­tete den Blick auf die Jolle mit den sieben Männern.

Der Bordgeistliche sagte: „Ver­flucht noch mal", als ihn ein Bürsch-chen im Alter von zehn Jahren rammte, das hinter zwei anderen Kerlchen vom gleichen Kaliber her­tollte. Die drei tobten über die Decks und verschwanden dann auf der Ga­lion.

„Was sagten Sie eben?" fragte Too­lan.

„Ich - äh - das hat mir wohl der Satan eingegeben", erwiderte Thistle­wayte nervös. „Ich wollte etwas ganz anderes sagen. Manchmal versucht einen der Herr, um zu demonstrieren, welch schwache Geschöpfe doch wir armseligen Menschen sind."

„Ist das nicht Sir William in der Jol­le?" fragte Toolan. „Was mag er wohl auf dem Herzen haben? Er ist übri­gens ein sehr frommer Mensch, Whistlewayte. Er hat mir erzählt, daß er des öfteren in England der Kirche ansehnliche Beträge gespendet habe.

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Er scheint sehr selbstlos zu sein. Ah ja, und das ist Mister Davenport. Auch ein Adliger aus erlauchten Kreisen und sehr angesehen bei Hofe."

Amos Toolan schien da etliches in den falschen Hals gekriegt zu haben, oder er hatte es in seiner frommen Einfalt wirklich für bare Münze ge­nommen, was die Kerle ihm erzählt hatten.

Der gute Sir William nämlich hatte nie in seinem Leben der Kirche auch nur einen lausigen Copper gespendet. Den versoff er lieber in der nächsten Schenke. Und Davenport war bei Hofe insofern nur gut angesehen, weil er Hals über Kopf aus England verschwunden war. Seine Schulden waren ihm nämlich über den Kopf ge­wachsen, und die anderen adligen Gentlemen waren heilfroh gewesen, daß er endlich verschwand und sich zum Auswandern entschlossen hatte. So brauchten sie den Schmarotzer nicht mehr durchzufüttern.

Dem frommen Amos hatte er auch beiläufig erzählt, daß ihn der Hof als künftigen Statthalter oder gar Gou­verneur hergeschickt habe. Das alles hatte der biedere und zugleich listige Amos Toolan staunend zur Kenntnis genommen.

Die Rabauken von der Karavelle konnte er nicht so richtig einordnen nach allem, was passiert war. Sehr fromm schienen sie jedenfalls nicht zu sein, aber das konnte man ja än­dern. Er, als strenger Puritaner, hatte auch schon etliche uneinsichtige Schäfchen bekehrt.

Mister Morris fehlte, wie er fest­stellte. Der junge Mann war ihm im­mer sehr elegant erschienen und schien ebenfalls aus hochmögenden Kreisen zu stammen. Na ja, vielleicht half er den Siedlern bei ihrer schwe­

ren Arbeit. Er hatte ja versprochen, kräftig mitanzupacken, wenn sie ihr Ziel erst einmal erreicht hatten.

„Hallo, Sir", riß ihn Greys Stimme aus seinen völlig falschen Betrach­tungen. „Ist es gestattet, an Bord kommen zu dürfen?"

„Entert auf, die ihr mühselig und beladen seid!" rief Arnos Toolan gut­gelaunt. „Verirrte Schafe sind stets willkommen. Der Herr sei mit euch!"

„Ja, mit euch auch", sagte Grey leise und verbiß sich das Grinsen, als er den dicken Salbaderer Habakuk sah, der mit frommer Miene auf das Wasser schaute, als habe er es selbst erschaffen.

Von wegen verirrte Schafe, dachte Grey belustigt. Die beiden frommen Fettsäcke hatten nicht die geringste Ahnung, was ihnen blühte.

Zwei Jakobsleitern hingen von der Bordwand hinunter.

Grey vertäute die Jolle sorgfältig und enterte als erster auf. Die ande­ren folgten ihm sofort nach.

Amos begrüßte sie freundlich und Thistlewayte pries lautstark und überschwenglich den Herrn, der die­ses Wiedersehen ermöglicht hatte. Er faselte auch noch anderes dummes Zeug.

„Was führt euch denn zu mir?" fragte Toolan jovial.

„Wir sind arme Sünder, Sir", sagte Grey mit dumpfer Stimme. „Reuig und zerknirscht, eben schwache und anfällige Menschen."

Toolan hörte so was gern, und auch Thistlewayte hatte stets offene Ohren für reuige und zerknirschte Sünder.

„Soll ich euch die Absolution ertei­len?" fragte er eifrig. „Ich bin befugt, euch nach einem Bekenntnis eurer Sünden von aller Schuld freizuspre­chen. Im Namen des dreieinigen Got­tes kann ich euch freisprechen."

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„Wir sind uns nicht bewußt, irgend­welche Sünden begangen zu haben", sagte Grey, „obwohl man das natür­lich nie genau weiß. Wir haben ein ganz anderes Problem."

Während Grey sprach, peilte er un­auffällig die Lage. Nicht einmal seine Kumpane bemerkten, daß er sich gründlich umsah.

Die Kerle waren immer noch mit dem Einpökeln des Fleisches beschäf­tigt, damit ihnen bei der Rückreise nicht der Proviant ausging. Zwei ver­härmt aussehende Frauen befanden sich mit drei Männern an Deck, und ein paar Kerle der Besatzung lunger­ten lustlos herum.

„Um was geht es denn?" fragte Too-lan leutselig. „Redet, um der Barm­herzigkeit willen."

Für Grey war klar, daß er sprach und seine angeblichen Sorgen vor­trug. Die sechs anderen Kerle stan­den mehr oder weniger geknickt im Hintergrund und spielten die stum­men Zuhörer. Ihr impertinentes Grin­sen verbargen sie hinter mehr oder weniger starren Gesichtern oder plötzlichen Hustenanfällen.

„Es gibt hier ein paar bedauerns­werte Männer, die ihre Familien ver­loren haben, wie Sie ja selbst wissen, Sir. Diese Leute sind tief und maßlos enttäuscht und möchten, auch um der Barmherzigkeit willen, wieder nach England zurück. Man schickte uns als Fürsprecher vor, denn auch Sir Wil­liam ist entschlossen, zurückzukeh­ren, weil er das Klima hier nicht ver­trägt. Mister Rosebery und Mister Taffe möchten sich gern anschlie­ßen."

Toolan hob unbehaglich die Schul­tern hoch.

„Wissen Sie, Mister - äh . . . " „Grey, Atkinson Grey. Verzeihen

Sie, daß ich meinen Namen nicht ge­

nannt habe. Ich bin wohl ein bißchen zerstreut."

„Ja, also, Mister Grey, das ist ein wenig kompliziert. Wir sind für so viele Leute bei der Rückreise nicht eingerichtet. Eine Passage kostet im­merhin runde sechzig Pfund mit vol­ler Verpflegung."

„Die ich natürlich gern bezahlen will, Kapitän!" rief Sir William. „Auch für diese beiden ehrenwerten Gentlemen natürlich."

Die Äuglein im Gesicht des dicken Puritaners leuchteten unmerklich auf. Wenn Amos etwas von Geld hörte, dann legte er die Barmherzig­keit sehr großzügig aus. Hörte er aber nichts klingeln, dann erfand er tau­send kleine Ausreden und druckste herum. Hier schienen schon mal hun­dertachtzig Pfund in der Kasse zu klingeln,. und das war eine stolze Summe.

„Nun ja", sagte er nach einem Au­genblick des Zögerns. „Für drei hat der Herr Vorsorge getroffen. Wie aber steht es mit den anderen? Ich kann noch ein oder zwei Leute mit­nehmen, doch wir haben unterwegs ganz sicher Probleme mit der Ver­pflegung, und die Rückfahrt dauert lange, das wissen Sie ja selbst. Die Leute haben zwei Bären und ein paar Hirsche erlegt, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es reicht nur für ein paar Mann. Wie viele sind es denn insgesamt?"

„Etwa fünfzehn Leute", sagte Grey amüsiert.

„Der Herr legt uns eine schwere Prüfung auf", sagte Thistlewayte fast entsetzt. „Er kann doch nicht wollen, daß unterwegs alle Hungers ster­ben!"

Der Bordgeistliche dachte nur dar­an, daß für seinen feisten Wanst dann nicht mehr viel abfiel, wenn noch ein

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paar Esser mehr an Bord waren. Sie hatten ja jetzt schon einige Ent­täuschte, die knapp bei Kasse waren.

Toolan rang die Hände. „Fünfzehn Leute", klagte er, „fünf­

zehn Leute. Das bedeutet fünfzehn hungrige Mäuler, die zu stopfen sind."

„Wann gedachten Sie denn, loszuse-geln, Sir?" erkundigte sich Grey. Er achtete gar nicht mehr darauf, was er sprach, er beobachtete pausenlos Schiff und Leute. Seinen Kumpanen warf er einen scharfen Blick zu, der besagte, daß sie jetzt sehr wachsam sein sollten.

„Wir wollten abwarten, bis Sir Ha­sard wieder zurückkehrt, um dann die unzufriedenen Siedler weiter nach Süden zu bringen. Vielleicht ist ja Sir Hasard bereit, noch ein paar Leute an Bord zu nehmen."

Grey sah, daß zwei Halbwüchsige im Alter von etwa fünfzehn, sechzehn Jahren über die Kuhl gingen. Ihnen rannte ein etwa zehnjähriges Bürsch-chen nach, das mit einer Angel be­waffnet war.

Die beiden Halbwüchsigen wurden von einer Frau gerufen, doch sie rea­gierten nicht darauf.

„Dann ist ja alles klar", sagte At­kinson Grey. „Schnappt euch die Bur­schen, aber schnell!"

Von einem Augenblick zum ande­ren war auf der „Explorer" die Hölle los.

Amos Toolan verstand die Welt nicht mehr.

6.

Davenport griff zu und schnappte sich den Jungen mit der Angel, der erschreckt losquietschte, als ihn eine harte Hand heranriß.

Jameson Kidd griff nach einem der Halbwüchsigen, umklammerte sei­nen Hals und hielt ihm gleichzeitig ein scharfes Messer an die Kehle.

Den dritten Jungen packte Frank Rosebery mit einem schnellen Griff. Er warf ihn auf die Planken, kniete sich über ihn und hielt ihm eine Pi­stole an den Kopf.

Toolan und der Bordgeistliche hat­ten immer noch nicht begriffen, was hier gespielt wurde. Es war alles so plötzlich geschehen, daß sie völlig überrumpelt waren und verständnis­los von einem zum anderen stierten.

„Sehr gut", sagte Grey hart. Von ei­ner Sekunde zur anderen hatte er sich in einen reißenden Wolf verwandelt. „Du, William, schnappst dir den fet­ten Himmelskomiker und läßt ihn nicht mehr los. Alles klar?"

Die Kerle nickten eifrig. Grey hielt eine Pistole in der Hand.

Er spannte den Hahn und drückte die Waffe Amos Toolan ins rechte Ohr. Gleichzeitig sprang Sir William vol­ler Eifer auf Thistlewayte los, gab ihm eine Ohrfeige und zeigte ihm den Lauf seiner Pistole.

Damit waren fünf Leute schlagar­tig überwältigt. Jetzt kam es nur noch darauf an, hart und unmißverständ­lich durchzugreifen, damit keiner der anderen auch nur den geringsten Zweifel hatte.

„Was ist denn los?" jammerte der Bordgeistliche entsetzt. Er hielt sich die Wange und hätte gern ein paar Tränen vergossen.

Toolan hatte das Mündchen weit of­fen und sah aus schreckgeweiteten Augen auf Grey, der eben noch so freundlich gewesen war. Jetzt war dessen Gesicht verzerrt, und in sei­nen Augen stand ein eiskaltes Fun­keln. Der Tod stand darin. Toolan wurde speiübel.

An dieser Stelle ist wieder einmal etwas ein­zugestehen, was in der Verlagsbranche all­gemein mit «Druckfehlerteufel« umschrie­ben wird, in diesem Fall jedoch als »Ver­wechslung« zu bezeichnen ist. Unsere Le­ser haben scharfe Augen - und das ist gut! Noch besser ist, daß sie uns dann auch schreiben und auf den »Bock« hinweisen, der »geschossen« wurde. Dies um so mehr, wenn wir selbst Tomaten auf den Augen hatten. Der Profos Edwin Carberry würde unsere Blindheit in besagtem Fall in seiner freundlichen Art anders beurteilen - etwa in dem Sinne: »Ihr hattet wohl Schlick auf den Klüsen!« Dies schrieb uns M Z ,

Straße , 8760 Miltenberg: Sehr geehrte Seewölfe-Redaktton! Vorweg einen herzlichen Dank für die Veröffent­lichung meines Briefes im Forum des Heftes 593. Ich konnte dadurch meine SW-Samm-lung ergänzen. Doch nun aber zum eigent­lichen Grund meines Schreibens. In Heft Nr. 608 zeigen Sie in der Seemannskiste ein Vollschiff und dessen Rigg, welches durch Nummern gekennzeichnet ist. Diese sind mit denen in der darauffolgenden Erklä­rung leider nicht identisch. Ist hier viel­leicht ein Fehler unterlaufen? Ansonsten ist die Serie ausgezeichnet - und an dieser Stelle ein Lob für die Autoren. Wei­ter so. Im übrigen bin ich auch dafür, daß die Zyk­len wieder eingeführt werden - Ihr M Z Ja, uns ist ein Fehler unterlaufen, lieber Herr Z . Bei der Montage des Bildes auf den Seiten 34/35 der Nummer 608 wurde nicht die Zeichnung »Rigg und Stagsegel eines Vollschiffs« eingebaut, sondern die Zeichnung »Vollschiff, vor Topp und Takel ankernd«. Dort hatte letztere Zeichnung weiß Gott nichts zu suchen, weil sie für die Seemannskiste in der SW-Nr. 611 einge­plant war, wo sie ja dann auch gebracht

wurde. Insofern ist der Erläuterungstext in der SW-Nr. 608 zwar richtig, aber die Zeich­nung auf den beiden vorigen Seiten stimmt nicht, sondern gehört zur SW-Nr. 611. Wir werden die richtigen Zeichnungen plus Text in einer der nächsten Seemannskisten bringen - und bitten wieder einmal um Ent­schuldigung. Solche Verwechslungen von Zeichnungen sind in der Tat ein »dicker Hund« und sollten nicht passieren. Wie gut, daß ein solcher Fehler zwar ärgerlich, aber reparabel ist. Da kann man nachdenklich werden, denn ein menschliches Versehen in einem Atomkraftwerk oder der Chemie­industrie würde andere Folgen zeitigen. Trotzdem - in jedem Fall ist der Zeigefinger angebracht, der da besagt: Paßt nur ja auf, Freunde, daß euch das nicht ein zweites Mal passiert! Herr D V , Straße ,1000 Ber­lin 12, schrieb uns: Ich habe gelesen (in SW-Nr. 597), daß Davis J. Harbord ein Buch (Seefahrt A-Z) verfaßt hat. Können Sie uns ein Exemplar zuschik-ken bzw. die Adresse geben? Ich wäre sehr verbunden -D.V Das Buch von Davis J. Harbord »Seefahrt A-Z« ist nicht im Erich Pabel Verlag er­schienen, lieber Herr V , sondern im Franz Schneider Verlag GmbH, Frankfur­ter Ring 150, 8000 München 46. Sie erhalten es aber in jeder Buchhandlung - und sollte es nicht auf Lager sein, wird es vom Buch­händler bestellt. Und hier ist eine Suchmeldung. V K , Straße ,7255 Rutesheim, ist auf der Pirsch nach den SW-Heften Nr.: 231-250,254-259,263-265,267-270, 272,273, 275,277-279,285,290,294,303,304,307,308, 310, 314 und 317-319. Die Versandkosten will Herr K übernehmen!

Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren.

Den Reigen der »Bastard«-Segelschiffe schließen wir in dieser Seemannskiste ab - mit dem Schiffchen auf den beiden vorigen Seiten. Es handelt sich um ein Dampfschiff mit Dreimast-Scho­ner-Takelage, auf der linken Seite 34 unter den Segeln, auf der rechten Seite 35 vor Topp und Takel ankernd (der Schornstein qualmt trotzdem!). Was das Rigg betrifft - wenn wir Schornstein und Dampfantrieb mal ausklammern -, dann stellt sich uns dieses Schiffchen als ein reiner Dreimast-Toppsegel-Schoner dar, wie wir ihn in der Seemannskiste der SW-Nr. 619 zeigten. Das heißt, am Fockmast werden außer dem sogenannten Schonersegel (ei­nem Gaffelsegel) noch ein oder zwei Rahtoppsegel gefahren. Von einem Schiff dieses Typs haben wir genauere Daten, und zwar von der englischen »Archimedes«, einem Dampfschiff, das als Dreimast-Toppsegel-Schoner geriggt war. Das Schiff lief im Auf­trag der britischen Admiralität 1838 in Millwall an der Themse vom Stapel und hatte eine Dampfmaschine mit 80 PS Nennlei­stung an Bord, die eine zweigängige Schraube von 1753 mm Durchmesser antrieb. Man erzielte eine Geschwindigkeit von 9 Knoten. Die »Archimedes« hatte eine Länge von 32,52 m, eine Breite von 6,86 m, eine Seitenhöhe von 3,96 m und eine Tragfähig­keit von 237 t. Die Buchstaben bedeuten: A Vor-Stengestagsegel, A 17 Vor-Bramstag, B Stagfock, C Schonersegel, D Toppsegel, E Bramse­gel, F Groß-Stagsegel (Deckschwabber), G Großsegel, H Groß-Gaffeltoppsegel, I Besan-Stagsegel, J Besan, K Besan-Gaffel-toppsegel. Die Nummer bedeuten: 1 Fockmast, 2 Großmast, 3 Besanmast, 4 Vorstenge, 5 Vor-Bramstenge, 6 Großstenge, 7 Groß-Bram-stenge, 8 Besanstenge, 9 Fockrah, 10 Toppsegelrah, 11 Bramrah, 12 Vorbaum, 13 Vorgaffel, 14 Großbaum, 15 Großgaffel, 16 Besanbaum, 17 Besangaffel, 18 Vor-Stengestag, 19 Fockstag, 20 Großstag, 21 Groß-Stengestag, 22 Groß-Bramstag, 23 Besan-stag, 24 Besan-Stengestag, 25 Fockbrassen, 26 Toppsegelbrassen, 27 Brambrassen, 28 Vorbaum-Toppnant, 29 Großbaum-Topp-nant, 30 Besanbaum-Toppnant, 31 Vor-Gaffelhaltetau, 32 Groß-Gaffelhaltetau, 33 Besan-Gaffelhaltetau, 34 Schonersegelschot, 35 Großschot, 36 Besanschot, 37 Flaggenstock, 38 Pfahlkompaß, 39 Ventilator und 40 Ankerkran.

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„Wenn du dich auch nur rührst", warnte Grey, „dann blase ich dir das Blei durch den Schädel. Das gilt auch für dich, Dummkopf", sagte er zu dem Bordgeistlichen. „Dann kannst du dich schneller mit deinem Him­melsboß unterhalten, als dir lieb ist."

Dabei zeigte er mit dem Daumen der linken Hand nach oben.

„Was - was hat das zu bedeuten?" krächzte Toolan. „Wir sind friedliche Leute und . . . "

„Ihr werdet auch ganz friedlich bleiben, falls ihr nicht den ewigen Frieden vorzieht. Dort hinüber, nach Backbord!"

Die Halbwüchsigen waren wie erstarrt und wagten keine Bewegung, weil die Angst sie lähmte. Der Junge mit der Angel begann zu zittern und wurde bleich, als er die Pistolen und Messer sah.

Sie trieben ihre Geiseln zum Schanzkleid der Backbordseite. Dort mußten sie Aufstellung nehmen.

Grey wußte, daß der fromme Puri­taner nichts unternehmen würde. Er konnte sich auch nicht wehren, au­ßerdem verabscheute er Waffen. Er sah, daß die beiden Frauen ebenfalls wie erstarrt dastanden und fassungs­los auf die Szene blickten.

Auch die beiden Pökelmänner rea­gierten erst jetzt. Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, daß sie kaum aufsa­hen. Jetzt blickten sie verwirrt von ei­nem zum anderen.

„Was soll das?" fragte einer der Männer rauh. „Seid ihr verrückt ge­worden?" Er schien entschlossen, et­was zu unternehmen, und tastete nach seinem Messer an der Hüfte.

„Laß deinen Piekser lieber stek­ken", warnte Grey mit kalter Stimme. „Du siehst doch, was hier vorgeht. Wir haben fünf Geiseln, und alle fünf lasse ich über die Klinge

springen, wenn ihr nicht genau das tut, was ich von euch verlange. Hier, Gordon, du übernimmst den lieben Kapitän. Knall ihn ab, sobald er auf­muckt oder sich einer uns nähert."

„Kannst dich darauf verlassen", sagte Randolf Gordon hämisch. „Der ist jetzt schon so gut wie tot."

Der Bordgeistliche japste nach Luft und wollte etwas sagen. Aber Grey stieß ihm den ausgestreckten Zeige­finger hart in den fetten Bauch. Thist-lewayte klappte ächzend zusammen.

„Deine Meinung ist hier nicht mehr gefragt", erklärte Grey. „Und jetzt zu euch Pökelmännern. Ihr bringt sofort ein Faß Schießpulver an Deck. Beeilt euch! Zischt ab! Wenn das Faß nicht in fünf Minuten an Deck ist, hat euer Kapitän ein Loch im Kopf, oder einer der Jungen kriegt das Blei."

Eine der Frauen kreischte wild. „Tut alles, was der Mann verlangt!"

rief sie mit schriller Stimme. „Mei­nem Jungen darf nichts passieren."

„Brave Mam", lobte Grey. „Wenn ihr richtig spurt, dann passiert kei­nem etwas. Holt jetzt das Faß!"

Die beiden Männer verschwanden mit blassen Gesichtern und liefen nach achtern, wo sich das Pulverma­gazin befand.

Grey wandte sich jetzt an ein paar andere Männer, die zu Salzsäulen erstarrt waren. Sie bewegten sich nicht und starrten hur stumm und fas­sungslos auf die Szene.

„Du da", befahl er einem dürren Mann mit hohlen Wangen. „Du trom­melst jetzt die anderen Kerle zusam­men. Sollte einer auch nur bewaffnet an Deck erscheinen, gibt es hier die ersten Toten. Bring deinen Kumpa­nen das so schonend wie möglich bei. Ab jetzt!"

Der Dürre gehorchte zitternd und verschwand ebenfalls.

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„Meine Männer tragen keine Waf­fen", stammelte Toolan. Er schien an einem dicken Kloß zu würgen. „Sie haben nur ihre Messer."

„Das erleichtert vieles." „Was - was haben Sie vor, Sir?"

jammerte Toolan. „Der Herr wird das Unrecht sehen und . . . "

„Halt's Maul", sagte Atkinson grob. „Wir wollen das Schiff. Das ist alles. Ihr geht von Bord, vorausgesetzt, Ja­mes Drinkwater von der ,Pilgrim' beugt sich meinen Bedingungen. Von ihm und deinen Leuten hängt alles weitere ab."

Toolan schwieg verstört und sah zu, wie die beiden Männer das Faß an Deck brachten. Es enthielt fast zwei­hundert Pfund Schießpulver.

„öffnen!" befahl Grey. „Wenn da Sauerkraut drin ist, schieße ich eure Hohlköpfe zusammen."

Das Faß wurde geöffnet. Inzwi­schen erschienen ein paar restlos ver­störte Männer an Deck, die sich nur zögernd näherten. Grey schenkte ih­nen keine Beachtung. Er wußte, daß er alle Trümpfe in der Hand hatte.

Das Faß enthielt tatsächlich Schießpulver, wie er nach einer kur­zen Prüfung feststellte. Er legte den Deckel wieder auf, ging zur Nagel­bank hinüber und schnitt eine Leine ab.

„Bitte Platz zu nehmen, Kapitän", sagte er. „Ihr anderen rührt euch nicht, sonst fliegt euer Dickerchen zu den Englein."

Toolan gehorchte zitternd und nahm auf dem großen Faß Platz. Sein feistes Gesicht war schweißüber­strömt.

Grey warf einen Blick zu der ande­ren Galeone hinüber. Dort befanden sich nur drei Männer an Deck. Aber sie erkannten offenbar nicht, was

sich hier abspielte, denn sie zeigten keinerlei Interesse.

Toolan wurde wie ein Paket ver­schnürt. Gleichzeitig ließ sich Grey eine Lunte und eine brennende La­terne bringen. Auch das wurde ihm sehr eilig besorgt. Die Männer über­schlugen sich fast vor Eifer.

Als Toolan auf dem Faß hockte, schweißüberströmt und mit den Ner­ven am Ende, fesselte Grey einen der Halbwüchsigen und band ihn mit Arnos Toolan zusammen. Dann steckte er die Lunte in das Faß. Die brennende Laterne stellte er dane­ben.

„So, die wichtigsten Voraussetzun­gen sind erfüllt", sagte er zufrieden. „Jetzt kann es losgehen."

Er sah überall in bleiche Gesichter. Männer schauten ihm entsetzt zu, als er über die Kuhl ging. Seine Stimme hatte jetzt alle Schärfe verloren. Er sah wieder harmlos und gemütlich aus und strich sich zufrieden über den riesigen Schnauzbart.

„Große Worte sind überflüssig", er­klärte er den Männern der Besat­zung. „Ihr seht selbst, in welcher Situation ihr euch befindet. Wenn ei­ner Mist baut, lasse ich das Schiff hochgehen. Aber ich glaube nicht, daß ihr das riskieren wollt."

Er gab Thistlewayte einen kleinen Stoß in die Seite und knuffte ihn wei­ter zum Schanzkleid hinüber. Der Dicke faltete die Hände und wollte beten. In seinen Augenlidern standen dicke Tränen.

„Heul nicht!" fuhr Grey ihn an. „Du bist als Geisel sowieso nichts wert. Für dich krümmt keiner auch nur ei­nen Finger. Verhalte dich still und ru­hig, Freundchen."

Er kontrollierte noch einmal das Pulverfaß, nickte vor sich hin und ging zu den anderen Männern hin-

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über. Die beiden Frauen standen am Schanzkleid, bleich und verängstigt und an allen Gliedern zitternd.

„Ich bin kein Unmensch", sagte Grey freundlich zu ihnen. „Ich will nur, daß alles genau befolgt wird, was ich befehle. Euren Söhnen ge­schieht nichts, aber Voraussetzung dazu sind Ruhe und Gehorsam. Ihr kriegt eure Lümmels zurück, sobald alles geklärt ist."

Die Frauen nickten stumm und ängstlich.

„Ihr habt das Schiff doch schon in eurer Gewalt", sagte einer der Decks­leute, der sich ziemlich schnell gefaßt hatte. „Wollt ihr den Proviant? Schätze sind hier keine zu holen."

„Das weiß ich. Die Schätze besor­gen wir uns selbst. Wir wollen nur die Galeone, um damit zu verschwin­den."

Der Mann war der Decksälteste, und neben ihm stand der Zweite Offizier, der jetzt das Wort ergriff. Der Erste befand sich bei den Sied­lern an Land.

„Ich schlage Ihnen einen Kompro­miß vor, Mister", sagte er, „und ich denke, daß auch der Kapitän damit einverstanden sein wird. Sie wollen von hier verschwinden. In Ordnung. Aber dazu brauchen Sie doch nicht die große Galeone. Sagen Sie uns, wohin Sie wollen, und wir werden Sie dorthin bringen. Was meinen Sie, Sir?" wandte er sich an Toolan.

Amos hockte auf dem Pulverfaß und schwitzte Blut und Wasser. Ne­ben ihm stand Rosebery mit der brennenden Laterne. Der Lunten­docht befand sich unmittelbar dane­ben, und die Lunte war verdammt kurz.

„Natürlich werden wir das tun", sagte er bibbernd und kniff die Au­gen zusammen, weil ihm Schweiß­

tropfen hineinliefen. „Wir bringen Sie zu jedem Punkt, Mister Grey."

„Ihr habt mich falsch verstanden. Wir wollen keine faulen Kompro­misse schließen. Wie heißen Sie?"

„Baker, Zweiter Offizier." „Gut. Sie nehmen jetzt die Jolle

und pullen mit sechs Leuten von der Besatzung zur ,Pilgrim' hinüber. Die Kerle lassen Sie da. Kapitän Drink-water soll hier unverzüglich an Bord erscheinen, damit ich ihm meine Be­dingungen stellen kann. Er soll unbe­waffnet und höchstens in Begleitung eines Offiziers erscheinen. Bis auf die Geiseln werden alle freigelassen. Keine Tricks, davor warne ich aus­drücklich. Sollte Drinkwater sich weigern, dann wissen Sie ja, was passieren wird. Wir haben nichts mehr zu verlieren, das sollten Sie auf jeden Fall berücksichtigen."

Der Zweite schluckte an einem un­sichtbaren Kloß. Schließlich nickte er beklommen.

„Ich glaube, Drinkwater wird die Lage genau abschätzen können."

„Na fein. Dann hauen Sie jetzt ab. Sie können ihm ja sagen, was hier los ist. Offenbar hat er das kleine Zwi­schenspiel verschlafen."

Ein Blick zur „Pilgrim" belehrte Baker, daß die anderen tatsächlich noch nichts bemerkt hatten.

„Hoffentlich ist der Kapitän an Bord", sagte er.

„Hoffentlich", wiederholte Grey. „Ich hoffe das sehr für ihn und die anderen. Und nun verschwinden Sie endlich!"

Baker deutete auf sechs Decksleute und befahl ihnen, in die außenbords vertäute Jolle abzuentern. Die Män­ner gehorchten mit mürrischen Ge­sichtern, nachdem sie einen hilfesu­chenden Blick zu ihrem Kapitän ge­worfen hatten. Aber von Amos Too-

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lan war keine Hilfe zu erwarten. Der hockte angebunden, zitternd und schweißüberströmt auf dem großen Pulverfaß und murmelte etwas mit zuckenden Lippen, das kein Mensch verstand.

Atkinson Grey sah ihnen fast wohl­wollend nach. Er strich wieder über seinen Schnauzbart und grinste dünn.

„Na, hat doch bis jetzt bestens ge­klappt, oder nicht?" fragte er.

Seine Rabauken nickten begeistert. „Bemerkenswert", sagte Sir Wil­

liam, „wahrhaftig sehr bemerkens­wert."

Das war eines seiner Lieblingswör­ter, die er gern gebrauchte.

Jameson Kidd blickte regelrecht verzückt drein.

„Wie du das gedreht hast, war schon genial", sagte er voller Be­wunderung. „Ich bin sicher, daß du Drinkwater ebenfalls schaffst."

Atkinson lächelte wohlgefällig. Das Lob ging ihm runter wie warmes Öl und schmeichelte ihm.

„Wir sitzen jedenfalls am längeren Hebel", sagte er heiter. „Bin wirklich gespannt, was Drinkwater jetzt tut."

Das war der Augenblick, als auf der Backbordseite der „Pilgrim" die Jolle anlegte. Die Männer enterten auf.

Grey sah siegesgewiß in die Runde. Er hatte alle Trümpfe in der Hand und würde sie jetzt auch ausspielen.

James Drinkwater, ein hochge­wachsener, schlanker und gradlini­ger Mann, der längst bewiesen hatte, daß er ein Schiff mit mehr als hun­dert Leuten sicher über den Atlantik zu führen verstand, mußte erst geholt werden. Er befand sich unter Deck in seiner Kammer.

Baker begrüßte ihn ziemlich verle­gen.

„Wir sind überfallen worden, Sir", sagte er zögernd. „Ich bin hier, um Sie abzuholen."

Drinkwater starrte den Zweiten überrascht an.

„Überfallen?" fragte er ungläubig. „Ich verstehe nicht ganz, Baker. Wer hat Sie überfallen?"

Genauso ungläubig blickte er zur „Explorer" hinüber, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken, je­denfalls auf den ersten Blick nicht. Er bemerkte zwar ein paar Leute an Deck, doch es sah so aus, als lunger­ten sie herum, obwohl die Szene wie erstarrt schien. Er sah auch Amos Toolan, aber nicht das Faß, auf dem er hockte, denn das wurde vom Schanzkleid verdeckt.

„Würden Sie mir das mal etwas nä­her erläutern, Baker? Das soll doch wohl ein schlechter Witz sein."

„Leider nicht, Sir. Die Rabauken von der untergegangenen Karavelle sind doch vor ein paar Tagen erschie­nen, erinnern Sie sich?"

„Natürlich." „Die haben sich mit den drei adli­

gen Kerlen zusammengetan. Ihr An­führer heißt Grey, ein nach außen hin gemütlich wirkender Kerl, der jedoch ein skrupelloser Halunke ist. Diese sieben Kerle erschienen vor einer hal­ben Stunde bei uns an Bord, gaben sich ganz freundlich und unterhielten sich mit dem Kapitän. Dann nahmen sie ihn, den Bordgeistlichen und drei halbwüchsige Kerlchen überra-schend als Geiseln. Wenn Sie genau hinsehen, Sir, werden Sie erkennen, daß unser Kapitän auf einem Faß vol­ler Schießpulver sitzt und einer der Jungen an ihn gebunden ist."

Drinkwater war so überrascht, daß

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ihm eine halbe Minute lang die Luft wegblieb.

„Das ist ja ungeheuerlich", brachte er schließlich hervor. Er ließ sich ein Spektiv geben und blickte hindurch.

Von der „Explorer" winkte ein schnauzbärtiger Kerl herüber, der über das ganze Gesicht grinste.

Als Drinkwater das Spektiv ab­setzte, war seine Nasenspitze weiß vor mühsam unterdrückter Wut. Seine grauen Augen schossen Blitze.

„Was wollen die Halunken denn?" „Sie wollen das Schiff, Sir, weiter

nichts. Damit wollen sie verschwin­den, wie Grey sagte."

„Und die paar Bastarde wollen die Galeone segeln?" Drinkwater lachte höhnisch. „Die sind wohl größen­wahnsinnig!"

„Mag sein, Sir, aber das sagten sie. Ich weiß auch nicht genau, was die Rabauken vorhaben. Sie scheinen je­doch zu allem entschlossen zu sein."

Drinkwater verbarg seine Erre­gung, so gut es ging. Dennoch klang seine Stimme sehr dunkel.

„Ich nehme an, man hat Sie und die Männer hergeschickt, um irgend­welche Bedingungen auszuhandeln?"

„So ist es, Sir. Die Männer sollen hier an Bord bleiben. Die Kerle wol­len jedes Risiko ausschließen. Der Anführer verlangt, daß Sie unbe­waffnet zur ,Explorer' pullen, höch­stens in Begleitung eines Offiziers. Er will mit Ihnen selbst verhandeln. Wenn Sie nicht erscheinen oder sich weigern, bringt er einen nach dem an­deren um oder jagt die Galeone in die Luft."

Drinkwater knirschte hörbar mit den Zähnen.

„Das brauchen wir uns von einer Handvoll Verbrecher nicht gefallen zu lassen", sagte er hart. „Es muß

doch eine Möglichkeit geben, diese Kerle zu überrumpeln."

Der Zweite zuckte mit den Schul­tern. "Sein Gesicht war steinern.

„Wenn Sie das Leben der Geiseln riskieren wollen, Sir", sagte er steif und förmlich, „dann gibt es sicher eine Möglichkeit. Aber das würde zweifellos ein Blutbad bedeuten. Mit diesem Grey ist wahrhaftig nicht zu spaßen. Der Kerl ist explosiver als ein Faß Schießpulver. Ich an Ihrer Stelle würde mir zumindest anhören, was er zu sagen hat. Dann können Sie immer noch entscheiden."

„Erpressung", knurrte Drinkwater. „Das alles erscheint mir wie ein böser Traum. Ein paar Kerle gehen an Bord und haben sofort das gesamte Schiff unter Kontrolle. Hat Amos geschla­fen?"

„Nein, niemand schöpfte Verdacht, zumal sich die Kerle sehr ordentlich und zuvorkommend benahmen. Es war auch keiner mißtrauisch, denn Besuche von Land zu Schiff sind ja an der Tagesordnung. Wenn Ihnen dann jemand eine Pistole vor die Nase hält, ist die Überraschung per­fekt."

„So muß es wohl sein." Drinkwater warf wieder einen Blick zu der ande­ren Galeone hinüber und spürte, wie es ihm kalt zwischen den Schulter­blättern hindurchlief.

„Verdammte Bastarde", murmelte er. „Auf dem Schiff sind noch Sied­ler, nicht wahr? Leute, die wieder zu­rückwollen."

„Ja, Sir, ein paar Frauen, Männer und Kinder. Drei der Kinder befin­den sich in der Gewalt der Halun­ken."

Drinkwater lehnte sich ans Schanz­kleid. Fast die gesamte Mannschaft umringte sie im Halbkreis und spitzte die Ohren.

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„Was kann der Kerl von mir nur wollen?" fragte er leise. „Der hat doch eine ganz üble Schweinerei vor. Vielleicht will er uns auch noch aus­plündern."

„Das entzieht sich meiner Kennt­nis. Aber Sie werden es bald erfah­ren, wenn Sie mit ihm sprechen."

„Mir wird wohl nichts anderes üb­rigbleiben. Ich schätze das Leben der Geiseln wesentlich höher ein als den Wert einer Galeone. Der Bastard hat in seinem Eifer nur eins nicht be­dacht."

„Und das wäre, Sir?" „Daß wir ihn jagen werden, sobald

er mit der Galeone ankerauf gegan­gen ist, falls er das überhaupt schafft. Wir haben starke Geschütze an Bord und sind durchaus in der Lage, sie auch einzusetzen. Der rechnet wohl damit, daß wir anschließend tatenlos zusehen?"

Darauf wußte Baker keine Ant­wort. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, daß Grey diese Überle­gung nicht in Betracht zog. Der Kerl war ein durchtriebener und listiger Fuchs, mit allen Wassern gewaschen und allen Hunden gehetzt.

„Ich weiß wirklich nicht, was er vorhat", sagte Baker nur.

„Gut, ich werde hinüberpullen." „Soll ich Sie begleiten, Sir?" fragte

der Erste Offizier. „Nein, danke. Ich möchte nicht, daß

möglicherweise noch mehr Geiseln genommen werden. Ich werde das al­lein erledigen, und danach werde ich meine Entscheidung treffen."

Ohne ein weiteres Wort zu verlie­ren, drehte Drinkwater sich um und enterte über die Jakobsleiter ab. Sein Mund war verkniffen. Auf seiner Stirn stand eine steile Falte.

Er nahm in der Jolle Platz und griff zu den Riemen. Dann pullte er los.

Die Männer sahen ihm unbehaglich nach.

„Da sitzen wir ja schön bis zum Hals im Mist", sagte der Erste Offi­zier heiser.

„Bis Oberkante Unterlippe", erwi­derte Baker. „Das kann ein ver­dammt böses Ende nehmen."

7.

Atkinson Grey lümmelte am Schanzkleid und blickte auf das Was­ser, wo in der Jolle ein einzelner Mann hockte und verbissen heranpullte.

„Na also", sagte er lässig. „Hat sich gut angelassen und scheint auch wei­ter prächtig zu laufen. Es sind doch wirklich alles sehr brave und zuver­lässige Leutchen. Und wie die spu­ren!"

„Er erscheint sogar allein", sagte Kidd. „Wahrscheinlich haben die an­deren Kerle vor Angst die Hosen voll."

Die Jolle knallte mit einem dump­fen Geräusch an den Rumpf der Ga­leone. Drinkwater vertäute sie und enterte auf. Auf die Höflichkeitsflos­keln verzichtete er. Sein Gesicht war hart und kantig, als er auf den Plan­ken stand. Er verzichtete auch auf ei­nen Gruß.

Kühl und beherrscht sah er dann Grey an und warf einen Blick über das Deck.

Es war alles so, wie Baker gesagt hatte. Die Kerle hatten insgesamt fünf Geiseln, die mehr als gut be­wacht waren. Der Rest der Mann­schaft und einige Siedler hielten sich scheu und abwartend im Hinter­grund.

„Fein, daß Sie uns mit Ihrem Be­such beehren", eröffnete Grey das Gespräch. „Mittlerweile dürften Sie

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ja informiert sein, was hier gelaufen ist, Kapitän. Baker hat Sie doch aus­führlich unterrichtet?"

„Allerdings", sagte Drinkwater hart. „Ich möchte Sie aber gleich im voraus darauf hinweisen, daß Ihnen noch eine Menge Ärger bevorsteht. Sie haben den Seewolf bei Ihrem Vor­haben vergessen, und Sie werden auch noch an mich denken. Verlassen Sie sich darauf."

„Ich werde stets mit Freuden an Sie denken, Mister Kapitän. Aber wir wollen hier keine Plauderstunde ab­halten. Ich verlange von Ihnen nichts weiter, als daß Sie alle Leute, die sich an Bord befinden, auf Ihr Schiff um­siedeln, und zwar sofort. Bis auf die Geiseln natürlich. Die behalte ich so­lange, bis alles geklärt ist. Was Sie mit den Leuten tun, ist mir schnuppe. Wenn Sie sich weigern, lasse ich alle über Bord werfen. Und wenn Sie mir Schwierigkeiten bereiten, werden die fünf umgelegt."

„Das traue ich Ihnen zu", sagte Drinkwater ruhig. Er hatte die Situa­tion jetzt erfaßt, fühlte sich aber so hilflos wie noch nie zuvor in seinem Leben. „Ich will auch nicht mit Ihnen über Ehre, Gewissen oder Moral dis­kutieren, das würde zu nichts führen. Mich interessiert jedoch, was Sie vor­haben."

„Sie sind ein einsichtiger Mensch, Kapitän. Nun, das kann ich ruhig sa­gen. Wir törnen mit der Galeone los und behalten alles das, was sich an Bord befindet."

„Mit einem halben Dutzend Leuten wollen Sie das Schiff segeln?" fragte Drinkwater verächtlich. „Das haben Sie ja nicht einmal mit der Karavelle und doppelt so vielen Leuten ge­schafft. Sie entschuldigen wohl, wenn ich Ihre seemännischen Qualitäten in Frage stelle, Mister. Allein hätten Sie

aufgrund Ihrer hervorragenden navi­gatorischen Kenntnisse nicht einmal den Atlantik geschafft."

Atkinson Greys Gesicht veränderte sich. In den braunen Augen blitzte es drohend auf, seine Lippen wurden zwei dünne Striche. Er hob die Hand, und es sah einen Augenblick lang so aus, als wolle er zuschlagen. Doch dann überzog jäh ein Grinsen sein Gesicht.

„Haha!" lachte er. „Sehr witzig. Im­merhin sind wir aber da, und wie wir die Galeone segeln, muß nicht Ihre Sorge sein. Ich verlange von Ihnen jetzt, daß Sie die Leute mitnehmen."

„Damit bin ich einverstanden, wenn Sie für das Leben der Geiseln garantieren."

„Das ist für mich selbstverständ­lich. Ich setze sie irgendwo an Land, wo sie es nicht so weit haben. Dann ist da noch eine Kleinigkeit, Kapi­tän."

„Was denn noch?" „Sie denken natürlich daran, wie

Sie mir eins auswischen können, wenn alles vorbei ist. Selbstverständ­lich denken Sie daran, Sie brauchen gar nicht abzuwinken. Wenn die Gei­seln frei sind, wird der tapfere Kapi­tän Drinkwater die Jagd auf die Schufte eröffnen, nicht wahr?"

„Davon habe ich nichts gesagt." Drinkwater fühlte, wie ihm winzige Schweißperlen über die Stirn liefen. Er hatte diesen Bastard doch wohl unterschätzt.

Grey lehnte sich mit dem Rücken ans Schanzkleid und blickte an Drinkwater vorbei auf den schwit­zenden Toolan und den bibbernden Bordgeistlichen, der abwechselnd rot und blaß wurde.

„Sie werden jetzt also die Jolle voll Leute laden und hinüberpullen. Wenn Sie dann zurückkehren, laden

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Sie die Jolle jeweils mit Fässern von Schießpulver voll - solange, bis wir alle Ihre Pulvervorräte an Bord ha­ben. Ist das nicht ein guter Vor­schlag?"

Drinkwater gab sich den Anschein des Ahnungslosen.

„Ich weiß nicht, was Sie damit be­zwecken wollen."

„Ich möchte damit vermeiden, daß Ihre Kanonen einsatzbereit sind. Die Kugeln können Sie behalten, das Pul­ver übernehmen wir. Sie werden dann nicht auf den Gedanken verfal­len, uns nachzusegeln, Mister. Und wenn, dann müßten Sie mit den Ku­geln werfen, was jedoch recht um­ständlich sein dürfte."

Ein wildes Gelächter seiner Kerle begleitete Greys Worte.

Genau darin hatte Drinkwater den Kerl unterschätzt. Jetzt wußte er, daß dieser Bauernlümmel aus Sussex ein ausgekochter Halunke war, der an alles dachte und kein Risiko ein­ging.

„Einer meiner Leute wird Sie be­gleiten und sich davon überzeugen, daß auch alles abgeräumt wird", sagte Grey. „Kann sein, daß Sie den Gedanken hegen, den Mann ebenfalls als Geisel zu nehmen. Aber darauf lasse ich mich ein. Wir werden dann sehen, wer von uns die besseren Ner­ven hat. Es steht dann immer noch fünf zu eins. Doch nun möchte ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in An­spruch nehmen, Kapitän. Ich denke, wir sind uns in allen Punkten einig."

„Früher oder später empfangen Sie Ihre Quittung", sagte Drinkwater zähneknirschend. „Und die wird sehr hart ausfallen, glauben Sie mir. Zur Zeit haben Sie die besseren Karten, doch das kann sich schnell ändern. Gottes Mühlen mahlen . . . "

„Oh, Mann, hören Sie mit den Müh­

len auf. Überlassen Sie das fromme Geschwafel dem Dicken oder dem gu­ten Amos. Der hat allen Grund dazu, weil ihm der Achtersteven verdammt heiß werden kann."

„Versündigen Sie sich nicht!" kreischte Thistlewayte trotz seiner Angst. „Der Herr . . . "

Es klatschte laut, und dann sagte Spencer Taffe feixend: „Der Herr hat ihm was aufs Maul gehauen, Atkin­son."

Die Ohrfeige ließ den Bordgeistli­chen wimmern. Daraufhin setzte er­neut das wiehernde Gelächter der Kerle ein.

Drinkwater merkte, daß seine Hände zitterten. Er hätte sich am lieb­sten auf Grey gestürzt, doch das wäre heller Wahnsinn gewesen. Er konnte gegen die Bande nichts ausrichten.

„Die nächsten sechs Mann in die Jolle", befahl Grey. „Jameson, du wirst die ehrenwerten Gentlemen be­gleiten und genau aufpassen. Du bist der richtige Mann dafür. Laß dich nicht bescheißen, und wenn dir einer die Pistole auf die Brust setzt . . . "

„Sterbe ich den Heldentod", sagte Jameson Kidd lachend. „Das ist mir das wert. Aber dann werden die ande­ren in die Luft geblasen."

„Du sagst es. Du würdest einen prächtigen Märtyrer abgeben."

Er wußte, daß Kidd für ihn durchs Feuer ging und alles das gehorsam tat, was er anordnete. Der Kerl würde sich für ihn wahrhaftig zerfleischen lassen.

Drinkwater wandte sich mit har­tem Gesicht ab. Aus der Mannschaft lösten sich sechs Männer, die ihm zö­gernd folgten und einen Blick auf ih­ren Kapitän warfen.

„Geht nur", keuchte Amos Toolan. „Gott sei mit euch, Brüder."

„Mir wäre es lieber", sagte Drink-

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water, „Sie lassen zuerst die Frauen und Kinder frei. Das würde vieles er­leichtern."

„Abgelehnt", entschied Grey. „Die bleiben bis zum Schluß."

„Klar, weil Sie Ihnen nicht gefähr­lich werden können."

„Wie recht Sie haben", höhnte Grey. „Sie sollten auch mal Geiseln nehmen, dann könnten Sie sich bes­ser in meine Lage versetzen."

Drinkwater verzichtete auf eine Antwort. Er ging von Bord und nahm auf der achteren Ducht der Jolle Platz. Die Männer folgten hilflos und mit gesenkten Köpfen. Sie waren sich ihrer Ohnmacht bewußt.

Jameson Kidd trottete grinsend hinterher. Seine grünlichen Augen glänzten freudig. Für ihn war das ein toller Spaß, bei dem auch er einmal eine große Rolle spielen durfte. Au­ßerdem konnte er sich sicher sein, daß ihm niemand ein Haar krümmte. Drinkwater war nicht so verrückt, das Leben von fünf Geiseln wegen ei­nes Bastards zu opfern. Er war eben ein gradliniger Mann, der genau wußte, wann er ein Spiel verloren hatte.

Dieses hatte er verloren - wenig­stens vorläufig.

„Dort vorn scheint eine größere Bucht zu sein", sagte Dan O'Flynn, nachdem er das Spektiv abgesetzt hatte. „Da fließt auch ein größerer Bach in die See, wie es den Anschein hat. Möglicherweise finden wir hier das ideale Plätzchen."

„Schon möglich", erwiderte Ha­sard. „Aber es wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Das geht mir beinahe zu schnell."

„Sehen wir uns die Bucht mal an?"

„Selbstverständlich. Wir werden dort vor Anker gehen und mit der Jolle an Land pullen. Dann unterneh­men wir eine kleine Erkundung."

Noch war die Bucht nicht zu erken­nen. Eine vorgeschobene Landzunge verbarg sie vorläufig vor ihren Blik-ken. Dem Einschnitt zufolge schien es sich aber um eine größere Bucht zu handeln.

Ein riesiger Wald war zu erkennen, der sich meilenweit ins Landesinnere hineinzog. Dazwischen lagen kleine und große Hügel, ebenfalls bewaldet.

Hasard ließ den Abstand zur Küste verringern und suchte mit dem Spek­tiv die nähere Umgebung ab.

Weit und breit war niemand zu se­hen. Die Gegend schien nicht von In­dianern bewohnt zu sein. Aber dieser Eindruck konnte täuschen.

„Keine Rothäute", sagte auch Dan O'Flynn, „was allerdings nicht bedeu­tet, daß es hier keine gibt. Manchmal scheinen sie direkt aus dem Erdbo­den zu wachsen."

Er dachte an die Begegnung, die sie schon hinter sich hatten und an den Kampf mit den Indianern. Fast hätte es ein Blutbad gegeben. Aber das Schlimmste konnte gerade noch ver­hindert werden. Ärger hatten sie sich jedenfalls genug eingehandelt. Dan dachte da nur an Frank Davenport.

Als sie die Landzunge passierten, gab sie den Blick auf die Bucht frei.

„Nicht schlecht", sagte Big Old Shane überrascht. „Ein herrliches Fleckchen Erde."

Es war so, wie sie vermutet hatten. Die Bucht war tief eingeschnitten und fast halbkreisförmig. In der Bucht gab es eine weitere, die durch eine breite Passage zu erreichen war. Die zweite Bucht sah wie ein großer stiller See aus.

Das alles war von Wäldern, grünen

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Flächen und Hügeln umsäumt. Aus den Hügeln schlängelte sich ein brei­ter Bach, der über bemooste Steine plätscherte und nach einigen Win­dungen in die große Bucht mündete.

„Wer hier siedeln will, muß eine verdammt große Menge Holz schla­gen", meinte Bob Grey sinnend. „Die Arbeit dürfte kaum zu bewältigen sein. Weiter oben war es einfacher, obwohl es hier schöner und ruhiger aussieht."

Die Schebecke segelte langsam in die Bucht. Hasard verzichtete darauf, die zweite Bucht anzulaufen, denn hinter der Passage saßen sie mit dem Schiff wie in einer Falle und waren zur Bewegungslosigkeit verurteilt.

„Fallen Anker", sagte Ben Brighton ruhig. „Und haltet die Augen offen, man kann nie wissen."

Die Stille war fast unerträglich. Winzige Wellen liefen an den sandi­gen Strand, nur das kaum hörbare Plätschern des Baches unterbrach die unwirklich anmutende Stille.

Die Rahruten wurden gefiert, nach­dem der Anker gefaßt hatte. Die Was­sertiefe betrug noch in Strandnähe annähernd drei Faden. Der Grund war verschwommen als sandige gleichmäßige Ebene mit kleinen Stei­nen zu erkennen.

Sehr sorgfältig wurde noch einmal die Umgebung abgesucht.

„Keinerlei Spuren von Menschen", sagte Hasard. „Es scheint, als sei hier noch nie jemand gewesen."

Die Stille wurde jäh von einem Kra­chen unterbrochen. Alle Arwenacks drehten sofort alarmiert die Köpfe in die Richtung, aus der das berstende Geräusch zu hören war.

„Ein Hirsch", sagte Mac Pellew, „oder so was Ähnliches. Jedenfalls hatte er ein paar Mordshörner."

„Hirsche haben keine Hörner, du

Hirsch", sagte der Profos. „Bei einem Hirsch nennt man die Hörner Ge­weih."

„Ich denke, die haben keine Hör­ner", murrte Mac. „Wie kann man denn die Hörner Geweih nennen, wenn sie keine haben?"

„Weiß ich auch nicht", sagte Car-berry. „Aber das, was du auf deinem Kürbis hast, kann man getrost als Horn bezeichnen."

Dabei deutete er dezent auf die schillernde Beule, die Macs Schädel zierte und sich prächtig verfärbt hatte. Sie wuchs zwischen den Haa­ren wie ein kleines Horn hervor. „Wenn du noch ein Horn hättest, wür­dest du wie ein kleiner Teufel ausse­hen."

„Wenn die geistreiche Abhandlung beendet ist", sagte Hasard augen­zwinkernd, „dann dürfte ich wohl in aller Höflichkeit darum bitten, die Jolle auszubringen. Oder wollt ihr an Land schwimmen?"

„Er fängt ja immer damit an", maulte Mac Pellew. „Er muß immer die Leute verarschen, sonst fühlt er sich nicht wohl."

Der Profos sagte „Aye, aye, Sir", und flitzte los. Dann murmelte er et­was von faul herumstehenden Rü­benschweinen und scheuchte die Kerle durcheinander, um die Jolle ab-zufieren.

Al Conroy hielt für alle Fälle die Drehbassen feuerbereit und ließ zu­sätzlich noch zwei Culverinen ausren­nen, deren Mündungen drohend zum Land zeigten.

Sie hatten nicht vor, eventuell auf­tauchende Rothäute abzumurksen. Es sollte mehr eine Demonstration der Stärke sein und abschreckend wirken. Sie hatten die Erfahrung hin­ter sich, daß die Indianer verstört und verängstigt auf „Donnerge-

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räusche" reagierten. Für sie waren es Geister und Dämonen, die mit Ge­brüll aus den Feuerrohren fuhren und ihren unbändigen Zorn in alle Richtungen geiferten.

Sir John, der bunte Aracanga, strich zum Land hin ab und flog krächzend und schimpfend über die Baumwipfel. Carberry sah seiner Krachente besorgt nach, doch er un­ternahm keine Anstalten, Sir John herbeizulocken, denn der hatte einen genauso sturen Schädel wie der Pro-fos selbst und reagierte sehr unwillig, wenn er zurückgepfiffen wurde.

Es dauerte auch nicht lange, dann kehrte Sir John wieder zurück.

„Alles sauber", behauptete Car-berry. „Der Späher hat nichts ent­deckt, was zur Sorge Anlaß geben könnte. Sir Jöhnchen erkundet näm­lich immer die allgemeine Lage."

Es widersprach niemand, denn das hätte zu endlosen Diskussionen ge­führt. Der Profos bildete sich ein, daß der Aracanga einige Runden fliege, um die Lage zu peilen und Feinde zu melden. Der Kutscher hingegen pflegte zu behaupten, daß der Papa­gei so dämlich sei, daß er mit seinem Spatzenhirn nicht mal vom Bug bis zum Heck denken könnte.

Der Kutscher verzichtete jedoch darauf, das dem Profos zu verklaren, weil er das schon oft getan und jedes­mal nur grobe Worte geerntet hatte.

Etwas später wurde die Jolle voll­besetzt zum Strand gepullt. Die Zwil­linge hatten die Wolfshündin Plym-mie mitgenommen, die mit ihrer fei­nen Nase mehr herausfand als etliche Augenpaare sahen.

Zwei Vögel kreisten hoch über ih­nen, als die Jolle auf dem Strand auf­setzte und etwas höher hinaufgezo­gen wurde. Sonst war alles still, bis auf das Murmeln des Wassers.

Die Arwenacks waren mit Muske­ten und Pistolen bewaffnet. Hasard trug seinen Radschloßdrehling.

„Welchen Weg, Sir?" fragte Matt Davies. Seine Hakenprothese blitzte grell auf, wenn das Sonnenlicht sie traf.

„Dort hinüber, zu der anderen Bucht", entschied der Seewolf. „Wir werfen mal einen Blick hinein. Da­nach gehen wir an dem Bach ein paar hundert Yards entlang zu den Hü­geln."

Es gab keinen Pfad. Die Wälder links und rechts zogen sich tief ins Landesinnere. Die Arwenacks mar­schierten am Strand der Bucht ent­lang auf die Passage zu. Hin und wie­der war ein Häufchen übelriechender Seetang angeschwemmt worden, der vor sich hintrocknete.

Plymmie schnüffelte den Boden ab, sog witternd die Luft ein und begann an einer Stelle zu kratzen. Aber da be­fand sich nur ein Mauseloch, das of­fenbar verlassen war, denn sie gab ihr Kratzen sehr schnell auf und zeigte kein Interesse mehr.

Die zweite Bucht war von Hügeln umschlossen, auf denen vereinzelt Bäume und Gebüsch standen. Die Sonne schien fast senkrecht hinein und ließ das Wasser aufblitzen. Hin und wieder sprang ein Fisch aus dem Wasser. Die Bucht war spiegelglatt, kein Windhauch kräuselte das Was­ser. Es schien, als sei hier die Zeit ste­hengeblieben.

„Für ein Schiff ist das ein ideales Versteck", meinte Hasard. „Aber es kann auch gleichzeitig zur tödlichen Falle werden. Hier gelangt man kaum wieder hinaus, jedenfalls nicht unter Segeln."

„Hier war bestimmt noch keiner", sagte Batuti. Der riesige Gambia­mann hatte ein besonders feines Ge-

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spür für die Natur, und doch sollte er sich in der Beziehung noch täuschen.

„Das sieht zwar alles schön und gut aus", sagte Hasard nach einer Weile, „aber zum Siedeln scheint dieser Platz nicht unbedingt ideal zu sein. Es gibt zu viele Hügel und nicht viel flaches Land. Wir gehen einmal fluß­aufwärts und sehen uns dort um."

Der Fluß verbreiterte sich. Ein zweites, kleines Flüßchen lief irgend­wo aus den Hügel hinunter und verei­nigte sich mit dem größeren Bach. Es plätscherte und gurgelte leise. Sie be­wegten sich durch Gräser, die grün und saftig waren. Rechts standen dicht an dicht große Bäume.

Eine Viertelstunde lang gingen sie an dem Bach entlang. Die Hügel rechts und links rückten dichter zu­sammen. Der Bach wurde noch brei­ter und gleichzeitig flacher. Im Fluß­bett lagen Steine.

Ein kleines Tal lag vor ihren Blik-ken, aber ebenfalls zu klein, als daß es vielen Menschen Platz geboten hätte. Hinter dem Tal begann fast un­durchdringliche Wildnis.

Hasard blieb unschlüssig stehen. „Da rauscht etwas", sagte er.

„Könnte ein kleiner Wasserfall sein." „Das muß dort vorn sein", sagte Ba-

tuti, „wo Büsche und Gestrüpp ste­hen. Aber man sieht nichts."

Plymmie blieb plötzlich stehen. Die Zwillinge merkten sofort, daß die Wolfshündin etwas gewittert hatte. Ihr Fell sträubte sich langsam, und sie stieß einen heiseren Knurrlaut aus. Witternd sog sie die Luft ein.

„Ganz ruhig bleiben, altes Mäd­chen", sagte Jung Hasard. „Da muß etwas sein, Plymmie wird immer un­ruhiger."

Sie verhielten und sahen sich nach allen Seiten um. In weiter Ferne war ein leises Knacken zu hören. Plym­

mie stellte die Ohren in die Richtung und lauschte aufmerksam.

Hasard hob den Radschloßdrehling an. Aus zusammengekniffenen Au­gen musterte er die Umgebung.

Der Profos und Luke Morgan nah­men die Musketen von der Schulter und hielten sie im Anschlag. Die an­deren zogen ebenfalls ihre Pistolen.

Sie spähten hinter das Strauch­werk, das teilweise den Bach durch­zog. Aber es war an manchen Stellen so dicht, daß sie nicht hindurchblik-ken konnten.

„Vielleicht wieder Hirsche", sagte der Profos. Er hatte das Rammkinn vorgeschoben und den Kopf schief ge­legt. Seine Augen waren zusam­mengekniffen. Er starrte weiter vorn zum Fluß hinüber, wo das Sonnen­licht zuckende Reflexe auf das flache Wasser warf.

Sie gingen vorsichtig noch ein paar Yards weiter, bis sie an dem Busch­werk vorbeisehen konnten. Weiter vorn gab es tatsächlich einen kleinen Wasserfall, der sich von einer steiner­nen Barriere in ein flaches Kiesbett ergoß.

Ein urweltliches Gebrüll ließ sie zu­sammenzucken. Plymmie stieß ein wildes Knurren aus und war nicht mehr zu halten. Wie ein Blitz schoß sie davon und war selbst durch die Zurufe der Zwillinge nicht mehr zu stoppen.

Das Gebrüll wiederholte sich, noch lauter diesmal, und es wurde mit ei­nem anderen heiseren Gebrüll beant­wortet.

„Wenn das ein Hirsch ist", sagte Matt Davies, „dann bin ich der Kai­ser von Virginia. Das hört sich nach Wölfen an."

Er hatte gerade zu Ende gespro­chen, als sie die Urheber des wilden Gebrülls sahen.

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Hinter dem Verhau tauchte eine rie­sige Bärin auf, die dicht am Fluß stand. Sie hatte zwei schon etwas grö­ßere Junge und richtete sich drohend zu imponierender Größe auf. Es war ein Baribal, schwarz, mit zottigem verdrecktem Pelz. Die Bärin hatte sich aufgerichtet zu ihrer imponie­renden Größe von mehr als zwei Yards.

Ihr fauchendes Gebrüll galt jedoch nicht den Arwenacks, sondern einem anderen männlichen Exemplar ihrer Rasse.

Der Bär war noch gewaltiger und dunkler. Er hatte das Revier der Bä­rin gestreift, und die reagierte jetzt wild, um ihre Jungen zu beschützen.

Sie war sehr wild und fuhr mit un­glaublicher Geschwindigkeit herum, als Plymmie mit gefletschtem Fang heranraste.

Hasard und seine Arwenacks blie­ben wie angewurzelt stehen.

Die Bärin wußte nicht, wem sie sich jetzt zuerst zuwenden sollte, dem rie­sigen Baribal oder dem Hund, der sich wie toll gebärdete.

„Auch das noch", sagte Hasard. „Pfeift Plymmie zurück. Ich will nicht, das es zum Kampf kommt. Die Bärin wird den Hund zerfetzen. Sie ist gefährlich, wegen ihrer Jungen."

Jung Philip und sein Bruder Ha­sard stießen fast gleichzeitig einen grellen Pfiff aus, der den anderen durch Mark und Bein ging.

Die gereizte Bärin fuhr erneut her­um. Plymmie hatte sich ihr jetzt bis auf wenige Yards genähert und fletschte die Zähne, wie die Arwe­nacks es nur selten gesehen hatten.

Den ersten Pfiff ignorierte sie und blieb knurrend stehen.

Die Bärin ließ sich auf die Tatzen zurückfallen und ging auf den Hund los.

Da pfiffen die Zwillinge ein zwei­tesmal grell durch die Finger.

Plymmie gehorchte, wenn auch wi­derwillig. Rückwärtsgehend und schleichend wie eine Großkatze zog sie sich ganz langsam zurück, ließ den Baribal dabei jedoch nicht aus den Augen.

Hasard sah, daß die riesige Bärin fast rote Augen hatte. Sie mußte un­geheuer erregt sein. Das noch größere Männchen war ebenfalls sehr erregt. Es ging aufrecht und näherte sich der Bärin.

Plymmie zeigte nicht die geringste Angst vor den riesigen Tieren, und erst der dritte Pfiff leitete ihren Rückzug ein. Er wurde vom wilden Fauchen und Brüllen der beiden Bä­ren begleitet.

Der Hund war kaum aus ihrer Reichweite, als sich die Bärin auf den großen Baribal stürzte, der sich im­mer weiter heranschob.

Dann begann ein erbarmungsloser Kampf zwischen den Giganten.

Beide stürzten mit heiserem Fau­chen, das einem Bellen ähnlich klang, aufeinander los. Die Bärin biß den Baribal in die Flanke. Das Männchen fuhr brüllend herum und versetzte der Bärin mit der rechten Tatze einen gewaltigen Schlag, der einem norma­len Mann jeden Knochen im Leib ge­brochen hätte.

Es war die zweite Konfrontation mit einem Bären, die die Arwenacks erlebten. Die erste war gerade vor ein paar Tagen erfolgt und beinahe böse ausgegangen.

Plymmie befand sich jetzt dicht in der Nähe der Zwillinge. Aber sie war nicht dazu zu bewegen, sich weiter zu nähern. Mit gesträubtem Fell stand sie da und sah dem Kampf zu, bei dem sie am liebsten kräftig mitge­mischt hätte.

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„Es ist besser, wenn wir uns lang­sam zurückziehen", sagte Hasard. „Noch sind sie mit sich selbst beschäf­tigt, aber das kann sich sehr schnell ändern. Die Bärenmutter ist bis aufs Blut gereizt und empfindet jeden als ihren persönlichen Feind, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhält."

Drüben wälzten sich zwei brüllende Ungeheuer in einem Kampf auf Le­ben und Tod. Die Bärin verteidigte ihre Jungen, die sich immer noch dicht in ihrer Nähe aufhielten.

Mit schußbereiten Musketen und Pistolen zogen sich die Männer ganz langsam und unauffällig zurück.

Weiter vor ihnen erreichte der Kampf seinen Höhepunkt. Es sah ganz so aus, als unterliege das riesige Männchen. Sein Pelz war von einem gewaltigen Streich aufgerissen. Blut rann in einem kleinen Strom daraus hervor. Der Bär schlug um sich und empfing wieder einen harten Streich mit der gewaltigen Tatze.

Dann, ganz plötzlich, ließ er von dem Weibchen ab und brüllte fürch­terlich auf.

Plymmie raste schon wieder los, aus dem Stand heraus. Mit gewalti­gen Sätzen jagte sie dem Baribal nach, der sich offensichtlich zur Flucht entschlossen hatte.

Aber auch die Bärin hatte jetzt ge­nug. Sie trottete wieder auf allen vie­ren, gefolgt von ihren beiden Jungen, und tat so, als ginge sie das alles nichts mehr an. Alle drei bewegten sich am Oberlauf des Flusses entlang und verschwanden hinter wildwu­chernden Sträuchern.

„Mann, war das ein Ding", sagte der Profos ächzend. „Mit dem Burschen möchte ich wirklich nicht aneinander­geraten. Der würde selbst mir mit ei­nem Schlag das Kreuz brechen."

„Hiergeblieben!" donnerte Hasard,

als die Zwillinge Anstalten unternah­men, Plymmie nachzulaufen. Sie folgte dem davontrottenden und stark blutenden Baribal, der alle Au­genblicke stehenblieb und sich seine riesige Wunde leckte. Ihr Jagdin­stinkt war so stark ausgeprägt, daß sie glatt den Gehorsam verweigerte.

Der Bär entdeckte seinen Verfolger und blieb stehen. Aus kleinen dunk­len Augen starrte er den geifernden Hund an. Der Blick verriet absolut nichts über seine Wut, er war eher gleichgültig. Nur die Augen waren rötlich unterlaufen, und aus dem Ge­biß tropfte blutiger Schaum.

„Der macht Plymmie fertig", sagte Jung Hasard verzweifelt. „Und der verdammte Köter gehorcht nicht."

Es war das erste Mal, daß er den Ausdruck Köter gebrauchte. Aber in seinen Augen stand jetzt eine hilflose Wut.

„Sie ist eben eine Wolfshündin", sagte Vater Hasard. „Das bricht hin und wieder durch und ist nicht zu än­dern. Es ist ein ganz natürlicher Trieb."

Der Bär fuhr mit hocherhobenen Pranken herum und schlug nach der Wolfshündin. Aber die war so schnell, daß die Pranken sie nicht mehr er­wischten. Geifernd und wild zuckend fuhr sie auf den Bären los und biß ihn zweimal hintereinander ins zottige Fell. Dann zog sie sich sofort wieder zurück und wartete auf die nächste günstige Gelegenheit.

Der Bär setzte ihr nach, blind vor Wut, und brüllte laut und heiser. Bei­de Tiere näherten sich in einem halb­kreisförmigen Bogen den Seewölfen,

Wieder erfolgte ein blitzschneller Ausfall der Hündin. Ein wildes Zu­schnappen, ein Biß, eine dunkle Pranke fegte durch die Luft. Der Kör­per des Hundes wurde zur Seite ge-

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schleudert. Plymmie überschlug sich, war aber sofort wieder auf den Bei­nen und griff erneut an.

Sehr ruhig nahm Hasard dem Pro­fus die Muskete aus der Hand. Er legte an und zielte, wobei der Lauf hin und her schwang, bis er sein Ziel genau erfaßt hatte.

Aus der Muskete löste sich don­nernd ein Schuß, ein dunkles Rauch­wölkchen stieg vor Hasards Gesicht auf. Der Rückschlag versetzte ihm ei­nen leichten Stoß.

Der Bär blieb stehen, als sei er ge­gen einen Baum geprallt. Die gewalti­gen Tatzen sanken nach unten, die mächtige Gestalt wurde schlaff.

Die Arwenacks stießen erleichtert die Luft aus.

8.

Das mächtige zottige Tier lag im Todeskampf, hingestreckt an den Flußlauf. Sein Fell war blutver­schmiert. Der ganze Leib zuckte noch ein paarmal, dann wälzte er sich zur Seite und lag still. Ein letztes Zucken mit der rechten Tatze beendete den Todeskampf.

Die Arwenacks näherten sich vor­sichtig. Plymmie saß neben dem er­legten Bär auf den Hinterpfoten und winselte leise. Die Zunge hatte sie bis fast zur Erde hinausgestreckt. Sie we­delte kurz mit dem Schwanz, schien aber auch ein schlechtes Gewissen zu haben und duckte sich, als die Zwil­linge sich ihr näherten.

„Du bist mir ein schöner Wauwau", fauchte Jung Hasard die Hündin an.

„Ein mieser Wauwau", sagte Phil mit unterdrückter Wut in der Stimme, worauf Plymmie noch tiefer zu Boden ging.

„Vergeßt es", mahnte Hasard. „Ich

habe schon einmal gesagt, daß man bei einem Wolfshund den Jagdin­stinkt nicht unterdrücken kann. Das ist nun mal so."

„Was tun wir mit dem Burschen?" fragte Carberry. „Er gibt schließlich eine Menge Fleisch her."

„Wir häuten ihn ab, entzünden ein kleines Feuer und braten ein paar Stücke davon. Den Rest nehmen wir mit an Bord. Sucht ein paar kräftige Äste zusammen, damit wir ihn tragen können."

Batuti und Luke Morgan zogen los. Holz gab es hier genug, und somit auch kräftige Äste. Die Zwillinge, jetzt mit Plymmie wieder versöhnt, sammelten dürres Holz und trugen es zu einem Haufen zusammen.

Hasard, der Profos und Matt Da-vies rückten dem gewaltigen Tier mit ihren Messern zuleibe und zogen ihm den Pelz aus. Das Tier war erschrek-kend groß und wuchtig. Die Wunde, die die Bärin verursacht hatte, hätte vermutlich ausgereicht, den Baribal nach einer Weile verenden zu lassen. Er hatte eine Menge Blut verloren. Der Bauch war ihm auf mehr als Ar­meslänge aufgerissen worden.

Ein paar Stücke schnitten sie ab und gaben sie den Zwillingen, die sie auf Stöcke spießten. Das Holz war ebenfalls entzündet worden und brannte jetzt mit kleiner Flamme, die Jung Hasard durch kräftiges Pusten immer stärker anfachte. Ein feines, blaues Rauchwölkchen stieg zum fast wolkenlosen Himmel und blieb dort wie ein Signal stehen.

Carberry schleppte den Pelz zum Fluß und wusch ihn dort von Dreck und Blut sauber. Er hatte viel damit zu tun und begann anschließend, kleine Fleischfetzen aus dem Fell zu schaben.

„Das haben wir gut überstanden",

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sagte er, als er mit dem zottigen Ding zum Feuer zurückkehrte. „Aber ich bin nicht unbedingt darauf versessen, noch weiteren Bären zu begegnen."

„Ich auch nicht", sagte Hasard. Schon nach kurzer Zeit zog der

Duft nach gebratenem Fleisch durch die jetzt wieder stille Flußlandschaft. Hasard und Phil wendeten die Stöcke hin und her. Fett tropfte ins Feuer und knisterte leise. Der Duft wurde immer verführerischer. Den Mannen lief das Wasser im Mund zusammen.

„Wenn wir ein paar Bissen zu uns genommen haben, kehren wir an Bord zurück", sagte Hsard. „Wir se­geln noch ein paar Meilen weiter nach Süden und sehen uns dort um. Dieser Platz ist für mehrere Men­schen zum Siedeln nicht geeignet, so schön er auch aussieht."

„Höchstens für zwei oder drei Fa­milien", meinte Batuti. „Solche, die gern allein sind und die Einsamkeit lieben."

Nachdem das Fleisch durchgebra­ten war, erhielt jeder ein großes Stück.

Es wurde salzlos und ungewürzt ge­gessen, aber das spielte bei dem Heiß­hunger keine Rolle.

Sie hieben alle kräftig rein und ge­nossen das Fleisch. Für die Kamera­den an Bord blieb noch mehr übrig, als sie vertilgen konnten. Allerdings gab es da noch Paddy Rogers, und der würde schon dafür sorgen, daß von dem Baribal nicht mehr viel übrig­blieb. Nach Meinung Carberrys hätte Paddy den Bären ohnehin allein ver­tilgt und sich nach einem weiteren umgesehen.

Sie ließen sich Zeit, denn sie hatten ihre Rückkehr bei den anderen auf den späten Nachmittag angekündigt.

Der erlegte Bär wurde mit zusam­mengeschnürten Tatzen an zwei kräf­

tige Äste gehängt. Batuti und Car-berry hoben ihn probehalber hoch.

„Ein gewaltiger Brocken", staunte Batuti. „Der ist ja so schwer, daß wir ihn kaum schleppen können."

Die Äste bogen sich tief durch. Der Bär hing wie ein riesiger Klumpen daran.

„Wir wechseln uns mit dem Tragen ab", schlug Matt Davies vor. „Aber bevor wir losziehen, muß ich noch ei­nen Schluck trinken. Das gebratene Fleisch verursacht gewaltigen Durst."

„Ich gehe mit", sagte der Gambia­mann. „Ich habe auch Durst."

Das Bärenfell wurde zusammenge­legt und ergab ein ansehnliches Pa­ket. Luke Morgan erbot sich, es zu tragen, während Matt Davies und Ba­tuti zum Bach gingen und tranken.

Hasard und die anderen setzten sich solange auf ein paar große Steine am Flußbett. Der Seewolf blickte noch einmal über das kleine Tal. Von der Bärin und ihren Jungen war nichts zu sehen. Sie hatten sich ir­gendwohin in die Wälder getrollt und waren verschwunden.

Luke Morgan stocherte mit der Stiefelspitze im Kies herum. Dann bückte er sich neugierig und starrte auf den Boden.

„Ob es hier Gold gibt?" fragte er. „Die drei Stiesel waren doch so ver­sessen darauf."

„Kann sein", sagte Hasard gleich­mütig. „Uns soll es egal sein. Wir brauchen keins, und wenn wir wel­ches brauchen, dann holen wir es uns von den Dons. Das ist viel interes­santer, und das bringt . . . "

Luke wartete vergeblich darauf, daß Hasard weitersprach. Aber dann sagt er etwas ganz anderes, und das haute die Arwenacks fast um.

„Bewegt euch nicht - oder nur ganz

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unauffällig. Dann seht ihr auch das, was ich gerade sehe."

Luke Morgan, die Zwillinge und der Profos drehten wie beiläufig die Köpfe zur Seite. Carberrys Augen wurden groß und rund, und er schien plötzlich eine Qualle im Hals zu ha­ben. Luke wurde ein bißchen blaß um die Nase.

„Heiliger Antonius", raunte der Profos mit zuckenden Lippen. „Du siehst doch nicht etwa auch einige Rothäute, Sir?"

„Doch, genau die sehe ich", flü­sterte der Seewolf. Er war ganz ruhig und brachte ein Lächeln zustande. „Es sieht ganz danach aus, als säßen wir in der Falle."

Vierzehn Indianer waren es, die un­beweglich wie Statuen links und rechts auf den Hängen standen. In ih­ren bronzefarbenen Gesichtern rührte sich kein Muskel. Ihre Blicke waren hart und undurchdringlich auf die Männer gerichtet. Ihre Hände hielten Pfeil und Bogen, aber die Bo­gen waren nicht gespannt. Sie hielten sie jedoch so, daß sie sie blitzschnell hochreißen konnten.

Hasard stieß ganz langsam die Luft aus. Sieben Rothäute standen unbe­weglich auf der rechten Seite neben Buschwerk. Sieben andere standen so, daß sie die Arwenacks genau in der Mitte hatten.

Nicht einmal Plymmie hatte sie ge­wittert. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht, sozusagen aus dem Bo­den gewachsen.

„Nur schön ruhig bleiben", meinte Hasard. „Nicht die Nerven verlieren. Sie beobachten uns nur - bis jetzt je­denfalls", fügte er noch leiser hinzu. „Bleibt also sitzen."

Batuti und Matt Davies war dieser heimliche Aufmarsch ebenfalls nicht entgangen. Batuti entdeckte sie zu­erst und blieb stocksteif stehen. Matt Davies verschluckte sich fast, rührte sich aber ebenfalls nicht. Sein Ge­sicht sprach jedoch Bände.

Es war eine vertrackte Situation. Hasard hatte zwar die Hand am Radschloßdrehling, zog ihn aber nicht hervor. Sehr ruhig und gelassen sah er die Rothäute an.

Sie waren nicht bemalt, wie sie es schon einmal erlebt hatten. Einer von ihnen trug eine lange Feder im Haar. Die anderen hatten Stirnbänder um ihre langen schwarzen Haare ge­schlungen.

„Wenn ich jetzt einen Schuß ab­gebe", murmelte der Seewolf, „ver­schwinden sie vielleicht aus Angst vor dem Donner. Es kann allerdings auch das genaue Gegenteil be­wirken."

Immer noch standen sie unbeweg­lich da. Nur der Mann mit der Feder am Kopf wandte ganz langsam den Kopf. Sein Blick richtete sich auf Matt Davies und Batuti. Er schien et­was verwirrt oder überrascht zu sein. Jedenfalls starrte er die beiden un­gläubig an.

Der Anblick mußte auch für die Rothäute ungewohnt sein. Sie hatten wahrscheinlich noch nie in ihrem Le­ben einen schwarzhäutigen Mann und noch dazu so einen Herkules ge­sehen. Matt mußte ihnen ebenso un­wahrscheinlich erscheinen, denn er hatte seine Hakenprothese erhoben und war in dieser Stellung wie erstarrt. Für die Rothäute war er of­fenbar ein Mann mit einem eisernen Arm, und das ging ebenso vermutlich über ihren Verstand hinaus.

Hasard hob ganz langsam die rechte Hand und zeigte die Hand-

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fläche. Dann hob er auch die andere, um zu zeigen, daß er keine Waffe in den Händen hielt.

Die Reaktion darauf war ganz of­fenkundig Neugier. Sie starrten ihn an, wandten aber gleich darauf ihre Blicke wieder dem Mann aus Gambia und dem Mann mit dem eisernen Arm zu.

Wer hat jetzt vor wem Angst? über­legte der Seewolf. Wir vor ihnen oder sie vor uns? Nein, Angst hatte er ei­gentlich nicht. Er wußte, daß er schie­ßen würde, sobald einer auch nur den Bogen hochriß. Aber er wollte es nicht provozieren.

Diese Rothäute waren die Besitzer des Landes, und sie hatten mit den Eindringlingen und ihrer Gier nach Gold schon genügend Ärger gehabt. Der sich langsam anbahnende Haß sollte nicht unnötigerweise geschürt werden. Es war besser, wenn sie friedlich miteinander lebten und aus­kamen. Es waren stolze Männer, de­ren Stolz nicht in unbändigen Haß ausarten sollte.

Der mit der Feder, offenbar der Häuptling der vierzehn Rothäute, mochte vielleicht ähnlich denken oder empfinden. Er sah Hasard in die Augen und hielt seinen Blick fest. Seine Lippen zuckten einmal, dann nahm er ganz langsam den Bogen hoch.

Der Seewolf sah ihn aus seinen eis­blauen Augen an.

„Schieß nicht", sagte er leise zu sich selbst. „Es würde mir leid tun, die Donnerrohre sprechen zu lassen. Vielleicht können wir uns so verstän­digen, daß einer den anderen achtet."

Der Seewolf erhob sich ganz lang­sam. Den Blick auf den Indianer ge­richtet und die Handflächen nach au­ßen gekehrt, ließ er ihn keine Se­kunde aus den Augen. Als er ein paar

Schritte in seine Richtung tat, wurde das bronzefarbene Gesicht etwas fin­sterer. Der Bogen blieb wie ver­krampft in den Fäusten hängen.

„Mann, hast du Nerven", flüsterte Carberry mit zuckenden Lippen. „Aber wenn einer auf dich schießt, Sir, dann ziehe ich den Kerlen die Haut von ihren roten Affenärschen, mein Wort darauf, Sir."

Die Lage war so angespannt, daß man sie buchstäblich knistern hörte.

Der Arm mit dem Bogen senkte sich unendlich langsam. Die Augen waren jetzt sehr wachsam. Der India­ner drehte den Kopf halb zur Seite und sagte etwas in einer gutturalen Sprache. Dann gab er den Bogen ei­nem anderen und trat zögernd ein paar Schritte vor.

Wie auf ein geheimes Kommando wurden die Bogen von den anderen Rothäuten hochgerissen und ge­spannt. Hasard erkannte gefiederte Schäfte an den Pfeilen. Dreizehn die­ser Pfeile zielten genau auf ihn.

„Ein verdammtes Scheißgefühl", murmelte Jung Hasard. „Wie geht das verdammte gegenseitige Miß­trauen nur aus?"

Darauf wußte niemand eine Ant­wort.

Der Seewolf aber fand, daß der Bann gebrochen war. Die kritische Lage schien ein wenig entschärft zu sein. Offenbar war sein Gegenüber kein blutrünstiges Monstrum, steckte aber ebenfalls voller Mißtrauen und Zweifel. Keiner traute dem anderen.

„Ich habe nicht die Absicht, dir et­was zu tun", sagte Hasard, als sie sich auf einer Distanz von höchstens noch zehn Schritten gegenüberstanden. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und er war sicher, daß der Mann kein ein­ziges Wort verstand. Es war leider nicht immer so, daß es einen gab, der

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die Sprache beherrschte. Mit den Rot­häuten schien das ganz besonders schwierig zu sein.

Der Indianer war hochgewachsen und schlank, sehnig und kraftvoll, ein Mann mit einem kühnen Gesicht und forschenden Augen. Er lächelte nicht, er blieb ernst und doch abwartend.

Sie gaben sich nicht die Hand. Viel­leicht hatte diese Geste keine Bedeu­tung. Sie sahen sich nur an wie We­sen, die aus zwei verschiedenen Wel­ten stammten. Und das waren sie ei­gentlich auch.

Der Indianer wandte den Kopf und blickte jetzt zu Matt und Batuti. Dann sagte er etwas und wies mit der geschlossenen Hand auf die beiden.

Hasard verstand die Worte nicht, aber er glaubte, den Sinn dieser Geste zu begreifen.

„Kommt doch mal her", sagte er und fand, daß seine Stimme rauh und heiser klang. „Aber ganz langsam, bitte."

Die Pfeile waren immer noch auf sie gerichtet. Die Gesichter der frem­den Männer erstarrten zu Masken, als Batuti und Matt sich näherten.

In den Augen des Indianers glaubte Hasard nun so etwas wie Schreck zu erkennen. Im Hintergrund knurrte Plymmie leise.

Die Rothaut musterte jetzt den Mann aus Gambia. Offenbar wußte der Indianer nicht, was er von Batuti halten sollte. Er sah einen ebenholzschwarzen Mann vor sich, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte und dessen Haut im Licht der Sonne dunkel glänzte. An seinen Armen befanden sich schwarzglän­zende Muskelstränge.

Batuti hütete sich, zu grinsen, ob­wohl er es am liebsten getan hätte. Aber wenn der rote Mann sein schneeweißes Raubtiergebiß sah,

kriegte er vielleicht Angst. So blieb der Mann aus Gambia ernst und mu­sterte nur seinerseits den Indianer, dem das Staunen nicht aus dem Ge­sicht wich.

Dann interessierte ihn Batutis Langbogen, der aus alter englischer Eibe gefertigt war. Er deutete auf den Langbogen und sagte wieder ein paar Worte.

„Ich nehme an, er möchte dich um eine Probe deiner Schießkunst bit­ten", sagte Hasard. „Aber genau weiß ich das nicht. Du kannst den Bogen ja mal vorsichtig und langsam abneh­men."

Batuti tat das, was Hasard sagte. Der Indianer betrachtete ihn sehr aufmerksam und ließ ihn keine Se­kunde aus den Augen. Als Batuti ei­nen Pfeil aus dem Köcher holte und den Bogen spannte, blitzte es in den dunklen Augen nur einmal kurz auf.

Batuti zeigte auf einen Baum, der annähernd dreihundert Yards ent­fernt war.

Zum erstenmal lockerte sich das Gesicht des Indianers. Er schien zu lä­cheln oder zumindest ein ungläubiges Lächeln anzudeuten. Dann blickte er zu dem einzeln dastehenden Baum und schüttelte unmerklich den Kopf.

„Beweise es ihm", sagte Hasard. Der Gambiamann spannte den Bo­

gen noch weiter und stellte sich breit­beinig in Positur. Auf den Hängen blickten die Indianer ebenso ungläu­big wie ihr Häuptling oder Anführer.

Der Pfeil schnellte mit einem fei­nen. Singen von der Sehne. Zwei Lidschläge später steckte er in dem weit entfernten Baum. Der gefiederte Schaft zitterte hin und her.

Erstauntes Murmeln war zu hören. Für die Indianer war diese kleine De­monstration offenbar Zauberei.

Der Häuptling atmete schwer,

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drehte sich dann um und rief etwas. Daraufhin löste sich eine der Rot­häute aus der Gruppe und lief in lan­gen Sprüngen zu dem Baum hinüber. Er betrachtete den Pfeil, zog ihn her­aus und eilte zurück. Mit ein paar Worten überreichte er ihn dem Häuptling, der ihn verwundert be­trachtete. Hasard glaubte, Anerken­nung in dem Blick zu lesen, aber auch Unglauben.

Er reichte den Pfeil Batuti zurück und zeigte wieder auf den Baum.

„Das bereitet ihm offensichtlich Spaß", meinte der Seewolf. „Er möchte es noch einmal sehen. Tu ihm also den Gefallen."

Batuti schoß ein zweites Mal. Der Pfeil schwirrte ab und blieb gleich darauf fast an derselben Stelle im Baum stecken. Den Gambiamann ko­stete das nicht einmal besondere Kraft. Er konnte mit dem Spezialbo-gen noch weiter schießen.

Diesmal klang das Murmeln noch lauter und hörte sich fast nach Beifall an, wenn Hasard das richtig deutete.

Die Indianer waren kolossal beein­druckt. Mit ihren Bogen erreichten sie bestenfalls die halbe Distanz.

9.

Jetzt wandte sich die Aufmerksam­keit des Roten Matt Davies zu, der leicht grinsend dabeistand. Wieder rief der Häuptling etwas. Hasard sah, daß sich die gespannten Bogen lang­sam senkten. Zwei Indianer von der linken Seite verließen gleichzeitig ih­ren Platz und näherten sich den Män­nern.

Anfangs starrten sie stumm auf die Hakenprothese, die ihnen nicht ge­heuer war. Keiner hatte so ein Ding jemals gesehen.

Nach anfänglichem Zögern wurde der Haken vorsichtig betastet, dann der Arm mit der Manschette befühlt.

„Sieht so aus, als müßte ich auch etwas beweisen", sagte Matt in die an­dächtige Stille hinein. „Ich fühle mich wie ein Wundertier."

Hasard lachte leise. Die Indianer wurden einfach nicht müde, den Ha­ken zu bestaunen.

„Da drüben liegt ein mächtiger dik-ker Ast", sagte Luke Morgan, der sich der Gruppe langsam genähert hatte. Es sah nicht mehr danach aus, als würden die Indianer sie überfallen. Sie waren nur noch neugierig wie kleine Kinder und sehr erstaunt. „Für dich ist das doch kein Problem, das Ding zu spalten."

„Überhaupt nicht", sagte Matt Da­vies. „Hol ihn doch mal her."

„Bewegt euch aber langsam und so, daß sie aus jeder Bewegung entneh­men können, was wir vorhaben", warnte Hasard. „Sie sind nicht unbe­dingt unsere Feinde, aber auch nicht unsere Freunde. Wir würden schon viel erreichen, wenn das gegenseitige Mißtrauen abgebaut wird. Darauf lege ich ganz besonderen Wert."

Luke Morgan schleppte den Ast herbei, aufmerksam von den dunklen Augen des Indianers beobachtet. Den riesigen Prügel legte er dicht neben dem Häuptling auf den Boden.

Matt zeigte auf den schenkelstar­ken Ast, dann mit der linken Hand auf seine Hakenprothese.

Er holte aus und schlug kraftvoll zu.

Der Ast zersplitterte, als sei er mit einer scharfen Axt gespalten worden. Er riß mit einem Krachen der Länge nach auseinander. Ein Holzsplitter wirbelte Matt am Kopf vorbei. In zwei Teile gespalten, fiel der Ast zur Seite.

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Diese Demonstration verblüffte und beeindruckte die Indianer noch mehr als die Schüsse mit dem Lang­bogen. Sie vergaßen ihre Scheu und empfanden für den Mann mit dem ei­sernen Arm so etwas wie Bewunde­rung, vielleicht auch ein wenig Furcht, denn sie blickten ihn scheu an.

„Hm", sagte Matt verlegen. „Das hat sie wohl mächtig überrascht, glaube ich. Soll ich ihnen zeigen, um was es sich wirklich handelt?"

Hasard überlegte kurz und schüt­telte den Kopf.

„Man muß nicht jedes Geheimnis preisgeben", sagte er lächelnd. „Ich glaube, es ist besser, wenn sie sich selbst darüber Gedanken bereiten. Laß sie also in dem Glauben, du seiest der Mann mit dem eisernen Arm. Sie scheinen langsam Vertrau­en zu fassen."

Das Fremde, Unaussprechliche, stand immer noch wie eine unsicht­bare Mauer zwischen ihnen. Das ließ sich nicht in einer halben Stunde ab­bauen, denn dazu bedurfte es einer gewissen Zeit der Anpassung.

Für Hasard war es lediglich wich­tig, daß kein Blutbad angerichtet wurde. Und danach sah es hier nicht mehr aus, wenn er die Lage richtig be­urteilte.

Jetzt näherten sich auch Carberry und die Zwillinge. Die Hündin hatte nach gutem Zureden ihr Knurren auf­gegeben. Philip hielt sie an dem Hals­band zusätzlich fest.

Für die Indianer begann jetzt wie­der das große Rätselraten, wie der Seewolf deutlich an ihren Gesichtern sah. Sie wurden jetzt mit zwei weite­ren Leuten konfrontiert, die dem schwarzhaarigen Riesen mit den sil­berfarbenen Schläfen und den eis­blauen Augen so verblüffend ähnlich

sahen, daß sie nicht voneinander zu unterscheiden waren.

Dementsprechend ratlos irrten die Blicke des Häuptlings zwischen den Zwillingen und ihrem Vater hin und her.

Immer wieder verglich er die Ge­sichter und wurde offenbar nicht schlau daraus, oder er begriff den Zu­sammenhang nicht.

Vielleicht gibt es ja bei den India­nern keine Zwillingsgeburten, dachte Hasard etwas belustigt.

Auch die anderen, die sich jetzt fast alle genähert hatten, blickten von ei­nem zum anderen. Von Plymmie hiel­ten sie allerdings Abstand.

„Jetzt sind sie aber mächtig am Staunen", meinte Phil. „Schade, aber wir könnten ihnen ein paar Kunst­stückchen vorführen, die wir bei den Gauklern gelernt haben. Sollen wir?"

„Lieber nicht", sagte Hasard. „Sie sollen uns ja nicht für Übermenschen halten, die wir nicht sind."

Zuletzt war der Profos mit der Mu­sterung an der Reihe. Ihn betrachte­ten sie besonders ausgiebig und lange. Einer deutete auf seinen riesi­gen Brustkasten und nickte beein­druckt. Aber vor seinem Gesicht schienen sie wiederum eine leichte Scheu zu empfinden. Da war das ge­waltige Rammkinn, auf dem man Nä­gel schmieden konnte, und da waren die vielen Narben in dieser Profosvi-sage, eine neben der anderen, als hät­ten ihn die Blattern heimgesucht.

Dieser riesenhafte Mann mit den gewaltigen Pranken und dem herkuli­schen Körperbau fand zweifellos ihre Anerkennung. Carberry sah an ihren Blicken, daß sich keiner mit ihm an­gelegt hätte. Sie hielten von ihm ei­nen gewissen Abstand.

„Möchte wetten, daß sie dich insge­heim in ihrer Sprache Narbengesicht

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nennen", sagte Luke Morgan grin­send. „Sie studieren jeden einzelnen Krater ganz genau."

„Dich dürften sie dann wohl He­ringsarsch nennen", entgegnete der Profos und grinste auch ein bißchen, um die Atmosphäre aufzulockern. Aber das Grinsen des Profos Edwin Carberry war nun einmal nicht freundlich zu nennen, auch wenn er sich jede Mühe gab. Er grinste wie ein freundlicher Fleischerhund, der dem Häuptling den Hals durchbeißen wollte.

„Jetzt hat fast jeder gezeigt, was er kann", maulte der Profos dann auch. „Nur ich nicht. Ich könnte dem Bur­schen mal den Profoshammer vorfüh­ren. Das dürfte ihn ganz sicher beein­drucken."

„Du bist ein Witzbold, Mister Car­berry", sagte der Seewolf.

Er versuchte, dem Häuptling seinen Namen zu verklaren und zeigte dann auch auf ihn, nachdem er auf seine eigene Brust getippt hatte.

Die Verständigung klappte nicht. Der Häuptling sagte zwar ein Wort, doch das war so lang und kompliziert, daß es keiner behalten konnte.

Schließlich bot Hasard das Fleisch des Bären in einer umständlichen Prozedur an.

Sie wollten es nicht. Sie hatten an­scheinend ihre eigenen Jagdgründe, die ergiebig genug waren. Oder sie gingen davon aus, daß demjenigen die Beute gehörte, der sie erlegt hatte.

Nach einer weiteren halben Stunde mahnte Hasard zum Aufbruch.

Auch das versuchte er dem Häupt­ling zu verklaren. Schließlich reichte er ihm die Hand, die der Indianer ver­ständnislos anstarrte. Dann ergriff er sie doch und berührte den Seewolf kurz an der Schulter.

Sie nahmen die Beute auf und gin­

gen langsam in Richtung Wasser am Flußlauf vorbei.

Die Indianer blieben stocksteif ste­hen und sahen ihnen nach. Dann folg­ten sie sehr zögernd in einem weiten Abstand, um zu sehen, wohin diese seltsamen Bleichgesichter gingen.

„Sie folgen uns immer noch", sagte Carberry. „Ich werde das lausige Ge­fühl nicht los, doch noch einen Pfeil ins Kreuz zu kriegen. Was wissen wir denn schon von diesen Burschen?"

„Eine ganze Menge. Wir wissen, daß es Indianer sind, wir hatten ja schon unangenehmen Kontakt mit ei­nigen. Aber diese hier scheinen von einem ganz anderen Stamm zu sein, der mit Weißen noch keinerlei Erfah­rung gesammelt hat."

Bevor der Strand in Sicht kam, blieben die Indianer stehen.

Hasard gebot seiner Gruppe, zu hal­ten und blieb ebenfalls stehen.

„Zieht eure Messer aus den Gürteln und steckt sie in die Erde", sagte er. „Wir hinterlassen ihnen ein kleines Geschenk. Wir haben an Bord ja noch genug andere."

„Eine feine Idee", lobte Luke Mor­gan.

Sie zogen ihre Messer und steckten sie in den Boden.

Als Hasard abschiednehmend die Hand hob, legte der Häuptling zu sei­nem Erstaunen beide Hände auf die Brust Es sah nach einer Geste des Friedens oder des Dankes aus. So ge­nau war das nicht zu erkennen.

Die Beute wurde in die Jolle ge­staut. Die Seewölfe nahmen Platz.

Als sie sich etwas später umdreh­ten, waren die Indianer so plötzlich verschwunden, wie sie erschienen wa­ren.

Sie waren einfach weg - aber die Messer auch.

Eine knappe Stunde später ging die

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Schebecke der Seewölfe auf südli­chen Kurs. An Bord gab es eine Menge zu erzählen.

Für Atkinson Grey war alles nach Plan verlaufen. Immer wenn die Jolle bei ihnen anlegte, war sie mit Fässern voller Schießpulver beladen.

Sie hievten sie grinsend auf und stapelten sie an Deck. Gleichzeitig re­duzierte sich bei jeder Fahrt die ur­sprüngliche Mannschaft, bis nur noch ein paar Männer und einige Siedler übrig waren.

Von seinem Kumpan Jameson Kidd ließ sich Grey jedesmal genau Bericht erstatten.

„Die Kerle ärgern sich krumm", sagte Kidd. „Jetzt haben sie nur noch zwei Faß Schießpulver, die beim nächsten Mal umgestaut werden. Ich habe alles genau kontrolliert. Ihr Pul­vermagazin ist leer, bis auf eine Menge Kugeln aus Stein und Eisen."

„Die können sie sich sonstwohin stecken", höhnte Grey. „Meinetwe­gen können sie die als Klöße verwen­den. Wenn du mit der letzten Tour dran bist, nimmst du die Jolle und holst die anderen Kerle ab. Ein paar sind bereits am Strand aufgetaucht und freuen sich, daß alles so gut ge­klappt hat."

Jameson Kidd rieb sich die Hände und lobte seinen Herrn und Meister über alle Maßen, der sich sehr ge­schmeichelt fühlte.

Die letzte „Fuhre" war ebenfalls bald geschafft. Auf der „Pilgrim" hat­ten sie jetzt kein Gramm Schießpul­ver mehr. Kidd hatte auch dafür ge­sorgt, daß in den Geschützen keins mehr blieb. Nur die Kugeln hatte er in den Rohren gelassen und gehöhnt, sie müßten nur kräftig blasen, dann

würden sie die „Explorer" schon tref­fen.

Kapitän Drinkwater kochte vor Wut. Er fühlte sich von den Rabau­ken übertölpelt und konnte über­haupt nichts unternehmen. Zu allem Ärger hatte er jetzt zusätzlich die ge­samte Besatzung des anderen Schif­fes und eine Menge Siedler an Bord.

Als er sah, daß die Kerle Verstär­kung erhielten, ging ihm endlich ein Licht auf, wie sie die Galeone segeln wollten. Fast zwei Dutzend Kerle standen am Ufer und warteten auf die Jolle.

Nach einer weiteren halben Stunde waren die Rabauken alle an Bord.

Shoemaker und Jeremis Bliss klopften Grey lachend auf die Schul­ter.

„Da ist euch aber ein wirklich prächtiger Handstreich gelungen", lobte Bliss überschwenglich. „Sind das die Kerle von der Besatzung?" fragte er dann, auf Toolan und den Dicken deutend.

„Ja, der Kapitän und ein Agent vom lieben Gott. Die drei Bastarde da drüben sind unsere restlichen Gei­seln."

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„Was tun wir mit ihnen?" „Vorerst gar nichts. Später laden

wir sie aus." „Wir laufen also noch mal Land

an?'' Grey lachte verächtlich und schüt­

telte den Kopf. „Wir feuern sie über Bord, in Kü­

stennähe. Ein paar Yards werden sie ja wohl schwimmen können."

Die umstehenden Kerle lachten roh und sahen sich neugierig auf dem Schiff um.

Der dicke Thistlewayte schrie, daß er nicht schwimmen könne, worauf sich das Gelächter noch verstärkte.

„So ein Fettsack wie du kann im­mer schwimmen", tönte Grey. „Oder hast du schon mal erlebt, daß eine Speckschwarte untergeht?"

„Wann verschwinden wir denn von hier?" erkundigte sich Tottenham. „Und wie steht es mit den Vorräten?"

„Wir verschwinden jetzt gleich. Und Vorräte sind vorerst genug an Bord. Sie reichen eine Weile. Ich habe mich davon überzeugt. Aber ihr Kerle werdet jetzt etwas tun müssen, nämlich arbeiten - ob euch das be-hagt oder nicht. Die Segel müssen ge­setzt werden, der Anker wird gehievt. Ihr könnt gleich in die Hände spuk-ken. In der Ferne wartet das Gold auf uns. Wir segeln zu Reichtum und Macht."

Das hörten die Rabauken gern. Skrupel hatte keiner mehr von ihnen. Nur der Reichtum spukte in ihren Köpfen herum.

„Das wird ein Fest", sagte Shoema­ker freudig. „Jetzt sind wir die Besit­zer einer Galeone."

Das Grinsen aus Atkinsons Gesicht verschwand langsam.

„Wir wollen doch mal eins festhal­ten", sagte er gemütlich. „Die Ga­leone gehört denen, die sie erobert ha­

ben, nämlich uns. Und damit auch die Rangordnung gleich klar ist, Mister: Ich bin der Kapitän, Kidd ist sozusa­gen mein Erster Offizier, Frank mein Zweiter, Spencer der Bootsmann und Gordon einer, der ebenfalls was zu sa­gen hat. Dann geht es weiter mit Da­venport und Godfrey, und danach seid ihr an der Reihe. Ist das alles klar verstanden worden, ganz klar?"

„Aber sicher doch, ich habe schon begriffen. Will euch ja auch keiner was streitig machen, Grey."

„Dann ist ja alles gut. Und nun an die Arbeit."

Die umstehenden Kerle wurden merklich kleinlauter, als sie erfuhren, aus welcher Richtung hier der Wind wehte. Aber sie ordneten sich unter -wenigstens jetzt noch. Sie hatten kei­nen Grund zum Maulen und gingen mit Feuereifer an die Arbeit.

Grey ließ die Segel setzen und warf einen schnellen Blick zur „Pilgrim" hinüber. Dort standen sie wie Ölgöt­zen an Deck und blickten mit steiner­nen Gesichtern herüber.

Grey hörte eine Frau schreien, ver­mutlich die Mutter einer der Söhne, die sie als Geiseln hatten.

„Du kriegst deinen lausigen Ba­stard schon wieder", knurrte er. „Aber erst mal sind wir an der Reihe."

Es dauerte lange, bis die ersten Se­gel gesetzt waren.

Grey übte sich in Geduld. Er wußte, daß die Kerle es noch nicht besser und schneller konnten. Sie würden es eben noch lernen müssen, und er nahm sich vor, ihnen das notfalls ein­zubleuen.

Als ein paar Segel standen, wurde der Anker gehievt. Der Wind stand ei­nigermaßen günstig.

Atkinson übernahm selbst das Ru­der. Es war schwer und ungewohnt,

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eine so große Galeone zu segeln. Se­kundenlang überfiel ihn das lausige und erbärmliche Gefühl, daß er es doch nicht schaffen würde. Die Kerle würden sich über ihn totlachen.

Aber dann kamen sie klar und se­gelten ganz langsam aus der Bucht.

Unzählige Augenpaare verfolgten sie bei ihrem Manöver.

Etwas später ging das Schiff behä­big auf südlichen Kurs, blieb aber sehr dicht unter der Küste, weil Grey erst einmal ein Gefühl für die Ga­leone haben wollte.

Am späten Nachmittag waren von der Siedlung und der „Pilgrim" nichts mehr zu sehen. Aber sie be­merkten, daß ihnen eine kleine Jolle folgte, wohl in der Absicht, die Gei­seln aufzunehmen, denn mehr konn­ten sie ja doch nicht ausrichten.

„So, jetzt könnt ihr Ballast abwer­fen", sagte Grey. „Schmeißt die Kerle alle über Bord. Die anderen können uns nichts mehr tun. Wir sind die Sie­ger. Feuert auch den Dicken und den anderen Gesundbeter über Bord."

Die Kerle ließen sich das nicht zweimal sagen.

Den Jungen wurden die Fesseln durchschnitten. Kidd und Spencer Taffe packten den ersten und warfen das zappelnde Bürschchen über Bord. Der zweite folgte und dann der dritte.

Amos Toolan wurde von seinem heißen Sitz befreit.

„Gott sei mit uns", sagte er heiser, „ich springe freiwillig."

Sie sahen zu, wie er über Bord hüpfte, und lachten laut. Die anderen paddelten inzwischen dem Ufer ent­gegen.

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Thistlewayte jedoch begann zu jammern und zu klagen. Er hatte Angst vor dem Wasser.

„Ich springe nicht!" kreischte er. „Wasser hat keine Balken!"

„Vielleicht findest du trotzdem ei­nen", sagte Kidd. „Los, helft mir mal, diesen Fettwanst hochzuhieven."

Zu viert schafften sie es schließlich.

Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 634

Der Haß der Indianer von Burt Frederick

Hasard erkannte die unglaubliche Wut, die hinter dem Angriff der Indianer steckte. Ein breitschultriger Ripse war es, der sich tänzelnd und geduckt zwei Schritte vor ihm bewegte. Sein bronzefarbenes Gesicht glich einer verzerrten Maske. Ruckartig hob er die Streitaxt mit der mächtigen Hartholzklinge - und senkte sie wieder. Ein paarmal wiederholte er das Spiel, um den Seewolf irrezuführen. Hasard ließ sich jedoch nicht täuschen. Als sein hünenhafter Gegner losstürmte, warf er sich reak­tionsschnell nach rechts. Mit Wutgebrüll stieß der Algonkin ins Leere. Hasard wirbel­te herum. Fast im selben Sekundenbruchteil vollführte der Indianer die gleiche Bewe­gung. Mit blindwütiger Verbissenheit drang der Algonkin erneut auf Hasard ein, ent­schlossen, ihm die Streitaxt auf den Schädel zu schmettern...

Printed in Germany. Mai 1988

Der Bordgeistliche landete wie ein dicker Frosch im Wasser und begann um sich zu schlagen.

Von achtern lief die Jolle auf, aber das kümmerte die Rabauken nicht mehr.

Sie lachten laut und höhnisch und segelten dem vermeintlichen großen Reichtum entgegen . . .

ex libris KAPTAIN STELZBEIN 2010