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Architekturen des Schaums Peter Sloterdijk

Sloterdijk, P.- Architekturen Des Schaums (Artikel-2004)

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Architekturen des SchaumsPeter Sloterdijk

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Architekten machennichts anderes alsIn-TheoriePeter Sloterdijk im Gespräch mit Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert

Zeitgleich mit dieser archplus Ausgabe er-scheint der dritte Band der Sphärentrilogievon Peter Sloterdijk. Sphären I: Blasen kam1998 heraus, Sphären II: Globen folgte1999, mit Sphären III: Schäume findet einphilosophisches Projekt seinen vorläufigenAbschluß, das nicht weniger beansprucht,als die seelische und politische Geschichteder Menschheit – man könnte auch Kul-turgeschichte sagen, wenn das nicht einetwas blasser Ausdruck wäre – in einergroßen hyperbolischen Erzählung aufzu-falten. Die in dieser archplus Ausgabe mitfreundlicher Genehmigung des Autors unddes Suhrkamp Verlags veröffentlichtenTexte Zellenbau, Egosphären, Selbstcon-tainer und Foam City sind Teil des Archi-tekturkapitels des dritten Bandes Indoors:Architekturen des Schaums.

Warum entscheidet sich archplus zueiner parallelen Publikation? Nun, wir mei-nen, daß Architekten unmittelbar im Kernihres Tuns angesprochen werden. Es sinddie räumlichen Denkbilder der Trilogie –Sphären: Blasen, Globen, Schäume – mitHilfe derer die Erzählung plastisch wird;diese Denkbilder führen den Gang der Er-zählung den Raumkonstruktionen unddem zugrundeliegenden Raumverständnisnach. Sie lassen die Herkünfte von Archi-tektur aufscheinen und thematisieren damitauch die jeweilige Rolle des Architekten.Raum wird lebensweltlich gefaßt, ist nurim Zusammenhang mit Menschen existent,gewissermaßen eine anthropologische Größe.

Sphären I beschreibt eine ‘Tauchfahrtin den Abgrund der ontologischen Nervo-sität fürs Mitseiende, Andere, Äußere’.Raum ist hier psychosozial konstituiert,eher von atmosphärischer Dimension, alsdaß er sich nach Länge x Breite x Höhebemessen ließe. Wo dieses Raumverstehenfehlt, tendiert Architektur zu einem vonzwei Extremen: Belanglosigkeit oder Bruta-lität. Sphären II verfolgt über zweieinhalbJahrtausende die Geschichte der ‘Expansi-on des Seelischen im Zuge von imperialenund kognitiven Weltbesetzungen’. Raumwird nun geometrisch geschrieben und anidealen Formen gemessen. ‘Das Postulat,im Großen sei die letzte Sicherheit zu fin-den, stiftet die Affaire der Seele mit derGeometrie.’ Geometrie als Weltbildindika-tor, Architektur als gebaute Metaphysik.Diese ‘Flucht ins Größere’ scheitert im Pro-zeß ihres Praktischwerdens: im Übergangvon der metaphysischen zur terrestrischenGlobalisierung. Der nachgezeichnete Wegvon der mikrosphärischen Intimität zu

einer makrosphärischen All-Einheit mün-det schließlich in einer polysphärischenWeltverfassung, so die zentrale These desdritten Bands. Sphären III ist ein Deutungs-versuch dieser neuen conditio humana.‘Leben artikuliert sich auf ineinander ver-schachtelten simultanen Bühnen. […] Esbringt den Raum, in dem es ist und der inihm ist, jeweils erst hervor.’ Raum existiertjetzt in seiner Vervielfachung, in Form vonRaumvielheiten. Die Geometrie wird derStrukturierung dieser Vielheiten verpflich-tet. Das Denkbild des Schaums veranschau-licht eine heitere ‘Republik der Räume’.

Der dritte Band wird sicher einiges anKontroversen und heftigen Reaktionen pro-vozieren, und dies um so mehr als das Bilddes Schaums auf einen überholten Begriffvon Gesellschaft zielt. Die durchaus genüß-liche Abrechnung mit linker wie rechterLarmoyanz, die Kritik an dem zugrunde-liegenden Romantizismus in Form von lin-ker Sentimentalität und rechter Melancho-lie und die Kritik an einer zeitgenössischenTheorieproduktion, die die Zeit verfehlt,dürfte das Ihre dazu beitragen, SloterdijksRolle als enfant terrible einmal mehr zubestätigen. Unnötig zu betonen, daß unsgerade das gereizt hat.

Die Sphärentrilogie ist gewiß ein ‘Mon-sterbuch’, und wäre für den unbefangenenLeser eine Zumutung, wenn sie im Gewandder klassischen Philosophie daherkäme. Dasist aber nicht der Fall. Da die traditionelle‘Denkform Philosophie’ überholt ist, liestsich insbesondere der dritte Band, von demaus sich auch die beiden anderen erschlie-ßen lassen in einem spannenden Wechselzwischen philosophischer Reflexion undwissenschaftlicher Reportage, detailreichund minutiös recherchiert – kurz: anregendund unterhaltsam zugleich. Vielleicht istauch das ein Tabubruch.

Die vorliegende Ausgabe ist nicht ohneVorläufer. archplus hat es sich immer zumAnliegen gemacht, Diskurse und Theorien,die Architektur und Raum betreffen, jedochvon anderen Ausgangspunkten als demdisziplinären Feld aufgebrochen sind, denArchitekten nahe zu bringen, hier sei nuran die Ausgabe über Vilém Flusser oderWittgenstein erinnert. Der publizierte Textsollte daher nicht als Anleitung zum Ent-werfen mißverstanden werden. Das kämeeiner Beschränkung bereits der Themen-definition in operativer Absicht gleich. Sobillig ist die Rechtfertigung des Handelnsnicht immer zu haben. Die Übertragungsozialer/ökonomischer/politischer usw.Sachverhalte in die Sprache des Raums,diese besondere Transferleistung, ist undbleibt die vornehmste Aufgabe des Archi-tekten. Patentrezepte sind nicht angesagt.Der vorliegende Text ist eine Form vonNavigation im fortschreitenden Prozeß derModernisierung vor dem Hintergrund derabendländischen Geschichte, im Zentrumdie Deutung des Raums. Wenn er zur Dis-kussion anregt und die Phantasie füttert,hat diese Ausgabe ihr Ziel erreicht.Redaktion archplus

archplus: Herr Sloterdijk, innerhalb IhrerSphärentrilogie versuchen Sie, eine philo-sophische Theorie zu entwerfen, die denRaum als eine zentrale Kategorie aufgreift.Warum?

Sloterdijk: Weil der Mensch selber einEffekt des Raums ist, den er zu erzeugenimstande war. Alle Generationen vor unshatten in der einen oder anderen Weiseein Bewußtsein davon, daß man nicht inder offenen Natur kampiert. Bereits dasLager der Vormenschen ist eine minimaleDistanzstruktur, die zeigt, daß Wesen wiewir unter einem bestimmten räumlichenVersammlungsprinzip existieren. Die älte-sten Lagerfunde datieren über eine MillionJahre zurück, das geht weit in die Präsapi-ensgeschichte hinaus und zeigt, daß dieganze Menschheitsentwicklung nur ver-standen werden kann, wenn man dasRaumbildungsgeheimnis für die Anthropo-genese mitdenkt.

Dieses Monsterbuch mit seinen 2.500Seiten müßte eigentlich, wenn es nichtSphären hieße, Sein und Raum heißen. Aberwir leben nicht mehr in einer Zeit, woman ontologische Theorie betreibt. Daherhabe ich mich für einen eher zeitgenössi-schen, d.h. konstruktivistischen und an-thropologischen Theoriestil entschieden.

Im dritten Band Ihrer Trilogie gibt eseinen ausführlichen Exkurs zur Architek-tur, der die hier veröffentlichten Teile‘Zellenbau’ und ‘Foam City’ enthält. DasKapitel im ganzen heißt ‘Indoors: Archi-tekturen des Schaums’. Warum Sie das sonennen, geht aus dem Exkurs selbst nichthervor.

Ja, warum können wir nicht die alte Kos-mologie einfach weiterführen, die auf derGleichung von Haus und Welt aufgebautwar? Eben darum. Die ganze klassischeMetaphysik ist ein Phantasma über einimplizit gebliebenes Grundmotiv, das nuran einigen wenigen Stellen, etwa bei Hegelund anderen Autoren offen durchklingt,nämlich daß die Welt Hauscharakter hatund daß die Menschen nicht nur die Sterb-lichen, sondern auch die Wohnenden sind.Also: Der Mensch ist von Grund auf einWohnwesen. Sein Verhältnis zum Welt-ganzen ist ein Einwohnerverhältnis. DieFrage ist nun, warum verabschiedet sichdas moderne Denken von dieser Gleichungzwischen Welt und Haus, warum brauchenwir eine neue Metapher, um die Art undWeise des Sich-Einrichtens von Menschenin ihren eigenen räumlichen Strukturen zubezeichnen, und warum schlage ich denBegriff der Schäume vor?

Die Antwort ist ziemlich einfach: Weilwir kein All-Haus mehr brauchen, sonderneine Unité d’habitation, ein Konglomeratoder eine stapelbare Menge von bewohn-baren Zellen. Der Zellengedanke hält am

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sphärischen Imperativ fest, aber die Stape-lung von Zellen in einem Wohnhaus ergibtnicht mehr die klassische Welt-Hausform,sondern einen Schaum – einen festenSchaum als Vielheit von Eigenwelten. Weilder plurale Charakter der Zellenkonglome-raten wichtig ist, hebe ich den individua-listischen Akzent bei der Selbsteinrichtungdieser Zellen so pathetisch hervor. Diefrühen Architekten der Moderne empfandendiesen quasi-metaphysischen Imperativdes neuen Bauens: ‘Unterstütze das Welt-bildungsbedürfnis der Einzelnen!’ offen-bar noch viel stärker als die heutigen, diediesen Ansatz längst für eine Selbstver-ständlichkeit halten.

Ist dieser Zerfall des Welt-Hauses oder deralles umfassenden Sphäre in Schaumbla-sen ein entropisches Bild?

Es ist nicht nur Entropie im Spiel, sondernauch Negentropie, weil jetzt viel mehrKomplexität aufgebaut wird als unter derEinheitsvorstellung möglich war. Verges-sen wir nicht, die Metaphysik ist das Reichder starken Vereinfachungen, daher auchihre tröstliche Wirkung.

Woher kommt die Energie für dieseNegentropie?

Aus den Reibungen zwischen den weltbil-denden Entwürfen der Einzelnen. Die Ein-zelnen waren früher in höherem Maße indiese Kollektivunternehmung eingespannt,so etwas wie einen gemeinsamen Kosmoszu erzeugen. Das Weltbild selber hat, wennman so will, eine Kollektorfunktion aus-geübt. Heute gibt man die weltbildendenEnergien der Einzelnen frei und baut damitviel mehr Energie auf. Das Ergebnis hier-von ist nicht ohne weiteres totalisierbar,es läßt sich nicht als rundes großes Ganzesdarstellen, wie die riesige Seinskugel derMetaphysik, die als All-Behälter für allegemeinsam dienen sollte. Wenn man imSchaum sitzt, kann man sich nicht einmaleinbilden, daß man in die Wirklichkeit derNachbarzellen Einblick hat.

Explikation

Die Denkfigur der Explikation zieht sichwie ein roter Faden durch den drittenBand. So schreiben Sie in der Einleitungzu ‘Architekturen des Schaums’, daß dieModerne das Wohnen explizit macht. Wasist darunter zu verstehen?

Walter Benjamin hat in seinem Passagen-Werk zum ersten Mal den Versuch unter-nommen, eine Architekturform als ge-schichtsphilosophisches Phänomen darzu-stellen. Darin steckt ein Gedanke, der mitunserem Motiv der Explikation zu tun hat.Benjamins große Intuition bestand darin,daß er die Menschen des 19./20. Jahrhun-derts in ihrer Eigenschaft als Milieubildner

oder besser Interieurbildner ernster genom-men hat als frühere Generationen vonWissenschaftlern. Also, er sieht in der In-terieurbildung ein zeitloses Motiv in demSinne, daß Menschen immer das Bedürfnishaben, sich ein ‘Innen’ zu bilden. Gleich-zeitig will er als historischer Materialistdieses anthropologische Motiv aus seinerscheinbaren Zeitlosigkeit emanzipieren.Folglich stellt er die Frage: ‘Was macht derkapitalistische Mensch mit seinem Interieur-bedürfnis?’ Die Antwort ist klar: Er wirddie avancierteste zeitgenössische Technolo-gie verwenden, um das archaischste allerBedürfnisse zu orchestrieren. Er greiftnach dem Gußeisen, nach dem Glas, nachden konstruktiven Möglichkeiten der neu-en Pfeilertechnologie, er greift nach derTechnik der Montage vorfabrizierter Ele-mente. Paxtons Kristallpalast mit der mär-chenhaft kurzen Bauzeit von nur 8 Mona-ten bot den Triumph dieser Technologie.

Die Passage ist für Benjamin deswegenso ein provozierendes Gebilde, weil einRaumtyp, der bis dahin das Offene in derPolis schlechthin darzustellen schien, derMarkt, nach innen gezogen wird. Daß Märk-te in Hallen integriert werden, ist zwareine ältere Tendenz, aber daß der Kapita-lismus die architektonische Möglichkeitaufgreift, einerseits den Forumeffekt nachinnen zu ziehen und andererseits denInterieureffekt, also den Salon, nach außenzu stülpen, ist für den Hermeneutiker desKapitals anregend und schockierend zu-gleich. In der Passage begegnen sich diesezwei Tendenzen. Der Bürger will die Welt,den Kosmos, in seinen Salon hereinholen,er will gewissermaßen die dogmatischeForm des Zimmers dem Universum auf-prägen. Er will demnach gar nicht mehrhinaus müssen. Benjamin meint diesesBedürfnis der Außenweltabschaffung imInnersten der kapitalistischen Dynamik ent-ziffern zu können – wobei er natürlich auchvon seiner persönlichen Struktur her pro-jiziert, denn wirkliche Kapitalisten sindganz anders als Benjamin unterstellt – siegehen nach draußen, sie sind Seefahrerund Interieurflüchter. Es ist ein Stück sei-ner eigenen Gelehrtenneurose, die er hieranthropologisiert, aber das ist nicht unserProblem. Der Autor bringt eine heuristischfruchtbare Behinderung mit, denn er kanngenau an der Stelle projizieren, wo er mitdem Entgegenkommen des Realen rechnendarf. Das ist eigentlich immer der frucht-bare Moment: Wenn die Realität neuroti-scher ist als der Neurotiker, so genügt es,durch die Linse der persönlichen Störungzu gucken, um die Verhältnisse zu erken-nen. Das war in Benjamins Fall in exem-plarischer Weise gegeben. Er empfindet aufseine Weise das Bedürfnis des kapitalisti-schen Rentiers, als reine Treibhauspflanzezu existieren, er möchte wie dieser die Weltnach innen holen und durchwegs ästheti-

sieren, so daß sein Bedürfnis nach Sicher-heit und Immunisierung vollständigbefriedigt würde.

Bei Corbusier gibt es eine Passage, wo ersagt, daß es um Revolution oder Architek-tur gehe. Er entscheidet sich für die Archi-tektur. In Ihrem Sinne würde das heißen,er entscheidet sich für die Explikationneuer Wohnverhältnisse.

Und dann braucht er keine Revolutionmehr, weil Revolution ohnedies nur eineFehlbezeichnung für Explikation ist. Inder Einleitung von Sphären III gibt es eineböse Stelle, wo ich das in Anspielung aufBruno Latour zugespitzt ausdrücke: ‘Wirsind nie revolutionär gewesen.’ Das 20.Jahrhundert ist im Grunde fast überall aufseine eigenen Sprachspiele hereingefallen.Man muß zwei gefährliche Kategorien ausseinem Wortschatz herausnehmen: Die eineist der Begriff der Revolution, der heutenur noch im Marketing zuhause ist, dieandere ist der Begriff der Massen, der heuteauch nicht mehr affirmativ gebraucht wer-den kann. Sollte es tatsächlich so etwaswie effektive (sogenannte revolutionäre)Wirklichkeitsveränderung geben, dannwird sie sich daran zeigen, daß eine neueTechnologie einen Lebensablauf expliziertund dadurch verändert und vorantreibt.

Daher hat Corbusier völlig recht. EinTechniker entscheidet sich immer für dasVorantreiben der Technologie. Alles Erfolg-reiche ist operativ, und die symbolischenBegleitgeräusche interessieren ihn nichtmehr so sehr. Man fragt nicht mehr, wasfür Programme werden verkündet, sondern,welche Programme werden geschrieben.Das ist die operativistische Unterwande-rung des Bestehenden. Mit bloßen symbo-lischen Ankündigungen läßt sich gar nichtsbewegen. Aber all das, was Handgriffepromulgiert, popularisiert und was ande-ren Leuten erlaubt, Handgriffe zu machen,die sie bisher nicht gemacht haben, dasbewirkt etwas. Die modernen Wohnungensind voll von technischer Apparatur, diedas Leben im Haushalt explizieren (aller-dings heute nicht mehr mit Griffen, dennGriffe gehören zu dem überholten Stadi-um der Stielwerkzeuge, sondern Apparatemit Tasten, da wir in der Welt der Finger-spitzenoperationen angekommen sind).

Noch mal zurück zu Benjamin: Ist diegeschichtsphilosophische Interpretationzeitgenössischer Architekturphänomeneein Weg, das Explizitwerden impliziterSachverhalte nachzuzeichnen? Ist das eineArt Leitmotiv des Sphärenprojekts?

Ja, wobei Benjamin meist als Hermeneuti-ker des Kapitals gelesen wird, als jemand,der in einer Parallelaktion zu Freud eineChiffrenschrift des Realen entdeckt undeine Art Traumdeutung des Kapitalismus

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vorgeschlagen hat. So wie Freud die Traum-deutung der Einzelseele vorantreibt, soBenjamin die Traumdeutung des Geldsy-stems. Der raumphilosophische Aspekt istdabei in der Regel hintergründig geblie-ben. Trotzdem hat Benjamin offenbar ver-standen, daß sich hinter jeder Form vonRaumschöpfung ein Übertragungsproblemverbirgt. Die Menschen sind Umzugstiere,die den Raum wechseln, ja sogar das Ele-ment wechseln. D.h. sie gehen stets von Anach B, und wenn sie sind, wie sie sind,dann weil sie immer die Erinnerung aneinen anderen Raum mitbringen, in demsie ehemals waren. Das Möblieren und dasEinrichten, das Herstellen von Räumengeschieht in einem Differential, man kannalso weder einen absoluten noch einenvöllig neuen Raum schaffen, sondern manerzeugt immer einen differentiellen Raum,der im Vergleich zu einem anderen Raumeingerichtet wird. Benjamin hat verstanden,daß es bei den menschlichen Individueneine eigentümliche Übertragungsdynamikgeben könnte, die er von der Tatsacheherleitet, daß wir geborene Wesen sind,die mit einem pränatalen Gedächtnis, miteiner pränatalen Raumerinnerung ausge-stattet sind. Die Konstellation Frau undRaum läßt sich auch von der modernenGynäkophobie nicht ganz aus der Weltschaffen. Daher bleibt die Frage, wie weib-lich ein Interieur codiert ist, bei allerArchitektonik in dem Maße mit im Spiel,wie das Bauen dem Wohnen dient. Soweitder Mensch als Wohnwesen operiert, be-wegt er sich in einem Kraftfeld, wo dieInterieurschöpfung im Zeichen der Weib-lichkeitsübertragung steht.

Intimität

Ist das der Inhalt, der in Sphären I: Blasenentwickelt wird?

Sphären I ist im wesentlichen der Heraus-arbeitung eines starken Begriffs von Intimi-tät gewidmet – in einer expliziten regres-siven Bewegung. Da gehe ich sozusagenim Rückwärtsgang auf das Thema In-Seinzu. Zuerst behandle ich das PhänomenInterfazialität: Wenn Menschen Menschenanschauen, entsteht ein nicht-trivialerRaum, den man nicht physikalisch deutenkann – der interfaziale Raum. Es nütztnichts, wenn ich mit einem Metermaß dieDistanz zwischen meiner Nasenspitze undder Ihren messe. Durch die interfaziale Be-ziehung entsteht ein Raumverhältnis ganzeigenen Typs. Dieses Raumverhältnis be-schreibe ich von der Mutter-Kind-Interfazi-alität her und verfolge es bis ins Tierreichzurück. In einem nächsten Schritt versucheich die Bilder der interkordialen Beziehungzu deuten, die entsteht, wenn Menschensich so affektiv aufeinander einstellen, daß

zwei Herzen einen Resonanzraum mitein-ander bilden – hier nimmt der metaphori-sche Faktor zu. Und dann schleiche ichmich auf Zehenspitzen an die intimsteBeziehung heran, die durch die Tatsachegegeben ist, daß Frauen aus der Perspekti-ve des Zur-Welt-kommenden Lebensbewohnbar sind.

Frauenkörper sind Wohnungen! Hinterder schockierenden These tut sich einenaturgeschichtliche Perspektive auf, dieich in einem Exkurs unter dem Titel DasPrinzip Ei deute. Bei den Vögeln, bei denInsekten, bei der großen Mehrzahl der Ar-ten wird das befruchtete Ei, also der Trägerder Erbinformation, bekanntermaßen inein äußeres Milieu abgelegt, das gewisseexterne Uteruseigenschaften aufweisen muß.Nun passiert in der evolutionären Linie,die auf die Säugetiere hinführt, etwas ganzUngeheuerliches: Der Körper der weiblichenExemplare der Gattung wird als ökologi-sche Nische des eigenen Nachwuchsesdefiniert. Das ist eine einigermaßen dra-matische Wendung der Evolution. Es trittsozusagen eine Doppelverwendung derweiblichen Exemplare auf: nicht nur, daßsie die Eier legen, wobei die Rolle als Ovu-lationssystem zur Definition von Weiblich-keit biologisch völlig ausreicht, sonderndaß sie die Eier in sich selber legen undals ökologische Nische ihres eigenen Nach-wuchses besetzt werden. Sie werden aufdiese Weise integrale Muttertiere. Undzudem entsteht ein Ereignistypus, den esvorher auf der Welt nicht gegeben hat,nämlich das Geborenwerden aus diesemtotalen Milieu heraus. Und weil die Geburtein biologisch anspruchsvoller Ereignistypist mit ontologischen Konsequenzen, ist eswichtig, auf diesem Moment mit letzterIndiskretion zu beharren.

Sehen Sie in der Übertragung dieserprimären Grunderfahrung ein virulentesraumbildnerisches Motiv?

Durchaus. Denn wenn man von der Psy-choanalyse her über den Begriff der Über-tragung verfügt, ist es möglich, sich dieFrage vorzulegen, wie werden Lebewesensich einrichten, die die Spur des Geboren-seins an sich tragen? Die Antwort wirdlauten, sie richten sich wahrscheinlich soein, daß sie eine minimale Spur jenerarchaischen Geschütztheit in ihre späterenHüllenkonstrukte hineinlegen. Dabei müs-sen wir festhalten, daß die Übertragung sichoffenkundig nicht auf Gefühle bezieht,auch nicht auf verwirrte Affekte, sondernauf den Prozeß der Raumschöpfung über-haupt. Das Konstruieren der Lebenshüllenerzeugt eine Serie von Uteruswiederho-lungen in äußeren Milieus.

Das erklärt nicht die Unterschiedlichkeit derRaumbedürfnisse. Nicht alle transportierenden Wunsch nach archaischer Geschützt-heit in dieser Form weiter. Viele Menschen

fühlen sich in kleinen Räumen extrem ein-gesperrt. Es gibt die sogenannten Höhlen-bewohner und die Baumbewohner.

Die Sphärentheorie will nicht alles erklären.Sie ist keine Universaltheorie, sonderneine ausführliche Form der Raumdeutung.Übrigens kann man auch von der Präna-talität her ganz verschiedene Raumtypenerläutern – ozeanisch weite Räume auf dereinen Seite, wie höllisch enge auf deranderen.

Sphären I behandelt wie gesagt mikro-sphärologische Phänomene. Unter Mikro-sphärologie verstehe ich die Beschreibungvon Intimraum-Effekten. Sie sind immerinterpersonal verfaßt, und das Paradigmahierfür finde ich in der dyadischen Bezie-hung. Ich zeige, wie die Dyade eigentlichzu denken ist, und verfolge sie hinunter bisin eine pränatale Proto-Intersubjektivität.Die Entdeckung dabei ist, daß es nicht sosehr eine Mutter-Kind-Beziehung gibt, son-dern eine Kind-Plazenta-Beziehung. D.h.die ursprüngliche Dublierung findet aufeiner präpersonalen Ebene statt, und dieMutter kommt erst später ins Spiel: nachder allertiefsten Regressionsübung durchdie Entdeckung der sogenannten psycho-akustischen Nabelschnur. Damit bezieheich mich auf Alfred Tomatis und andereAutoren, die dieses prekäre Feld bearbeitethaben. Sie beschreiben das fötale Ohr alsOrgan des primären Bonding. Das ist ziem-lich aufwühlend für diejenigen, die sichdarauf einlassen wollen, Nonsens hinge-gen für diejenigen, die das Thema nichtgelten lassen.

Wo bleibt dabei der Aspekt einer zeitgenös-sischen Explikation? Oder meint Explika-tion hier, daß wir mit einem zeitgenös-sischen analytischen Instrumentariumimplizite Sachverhalte aufspüren können?

Es ist nicht nur das analytische Instru-mentarium, das uns gewisse Elemente ausLebenszusammenhängen wie Wohnen,Arbeiten oder Lieben zugänglich macht, esist nicht nur ein Erkenntnisvorgang, dervoranschreitet. Vielmehr hat man es miteinem realen Ausarbeitungsvorgang zutun. Das läßt sich allein mit einer expres-siven Logik oder einer Produktionslogikfassen. Hierbei stehe ich natürlich in derTradition der marxistischen Anthropologie.Wenn es wahr ist, daß die ganze Naturge-schichte mit herangezogen werden muß,um die Bildung der menschlichen Hand zuerklären, dann trifft es auch zu, daß mandie gesamte Kulturgeschichte mit heran-ziehen muß, um zu verstehen, warum wirheute Psychoakustik treiben können. Weranthropologisch arbeitet, muß immer ver-suchen, die eigenen anthropologischenThesen zu datieren. Das führt uns zu derBeobachtung, daß alles, was Hegel und

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seine Zeitgenossen als Phänomenologiedes Geistes beschrieben haben – mitsamteiner viel zu optimistischen teleologischenProzeßdeutung – als Explikationsgeschichteneu geschrieben werden könnte.

Nicht alles, was implizit gegeben ist, wirdexplizit. Von einer Explikation aufgegrif-fen werden nur jene Teile der Lebenszu-sammenhänge, die durch die zeitgenös-sische Technologie ausgearbeitet werden.Denn die Technik – das ist eigentlich dieBasisannahme des Buchs – ist der Versuch,naturgeschichtlich gewachsene oder auchreligiöse und symbolische Immunsystemedurch explizite technische Immunsystemezu ersetzen. Was man ersetzen will, mußman besser verstehen, als ein bloßer Benut-zer es versteht. Wenn man eine Prothesebauen will, muß man die Funktion des zuersetzenden Organs präzise definieren. Mansteigt dabei von der konkreten Funktions-aussage zum Allgemeinen auf und dannwieder hinab zu dem möglichen funktio-nalen Äquivalent – so wie die Funktiona-listen es machen. Die gehen stets von denbeiden Fragen aus: ‘Was leistet das Systemin seiner jetzigen Form?’ Und: ‘Was könn-te man statt dessen tun?’

Das verstehen Architekten sehr gut. Wassind die Merkmale des durch Intimitätgebildeten Raums? Was leistet er? Es istsicher ein vorgeometrischer Raum. Wiekönnen wir ihn mit technischen Mittelnersetzen? Architekten würden wahrschein-lich sofort assoziieren: ‘Wir müssenKuschelecken bauen!’

Und das wäre gar nicht so falsch. Fragt mansich, wofür steht eine Kuschelecke, dannkommt man in der funktionalen Analysezu dem Begriff ‘Primat der bergendenAtmosphäre’. Und wenn man den Primatder bergenden Atmosphäre, ja überhauptden Primat des Atmosphärischen erkannthat, dann ist für Architekten daraus ab-leitbar, daß sie nicht von geometrischenIdeologien ausgehen dürfen. Sie habenvielmehr von der atmosphärischen Raum-wirkung her zu denken.

Das erfordert eine Übersetzungsleistung.Intimität ist doch zuallererst eine intersub-jektive Kategorie, die räumlich verschiedengedacht bzw. ausgedrückt werden kann.

Ich denke Intersubjektivität als Raumver-hältnis eigener Art. Es brauchte die ersten700 Seiten des Sphärenprojekts – denganzen ersten Band –, um einen nicht-geometrischen, nicht-physikalischen Begriffvon Räumlichkeit aufzubauen. Dessenstarkes Merkmal ist darin zu finden, daßWesen vom Typus Mensch durch ihr Mit-einandersein den Effekt einer reziprokenBeherbergung hervorrufen. Das Beispieldes Liebespaares macht das deutlich: Die

Liebenden sind auf die eine oder andereWeise schon zusammen, und die Frage‘Gehen wir zu Dir oder zu mir?’ ist tatsäch-lich sekundär. Ein schönes Beispiel füreine Explikation nebenbei: Dieses Mitein-ander-irgendwo-Hingehen-als-schon-Zu-sammenseiende ist die gestische Explikationdessen, was mit dem Zusammensein schonimplizit gegeben war, jetzt aber explizitherauskommt. Deswegen ist in diesemBand auch eine Theorie des Schlafzimmerszu finden; ebenso eine kleine Theorie desBettes oder des anonymen Selbstergänzers.

Balzacs Theorie des Bettes ist genauge-nommen auch eine Raumtheorie. KnüpfenSie dort an?

Nein, leider nicht, ich beziehe mich aufandere Quellen; am Phänomen Bett findeich in meinem Zusammenhang das Kissenund das Federbett am interessantesten, undzwar, weil ich zeigen will, daß es eine Artvon intimer Kohabitation gibt, die ganzim Präpersonalen bleibt. Viele Leute würdensich eher von ihrem Ehepartner scheidenlassen, als sich von ihrem Kopfkissen zutrennen. Menschen konstituieren immereinen unauffälligen Ergänzer um sich her-um. Die Kulturgeschichte des Schlafes istselber eine Explikationsgeschichte diesernächtlichen Selbstergänzungen mit Hilfevon, wenn man so will, Schlafhelfern, dieim Lauf der Geschichte technisch darge-stellt werden. Sich-Zudecken ist eine Gestedes Sich-Einräumens, sie beinhaltet dieSuche nach dem unverwechselbar eigenenEngeraum, der als schlafunterstützendempfunden wird. Es gibt viele Menschen,die nicht einschlafen können, wenn sienicht eine Decke haben, die sie über sichziehen, weil dieses minimale Supplementgegeben sein muß, damit die nächtlicheEntwarnung möglich wird.

Am Beispiel der beiden Bautypen Apart-ment und Stadion werden in Ihrem Buchdie Resultate verschiedener Explikations-prozesse zusammengeführt. Resultat nichtim Sinne eines Endergebnisses, sonderneines Ausschnitts aus einem laufendenProzeß. Sie bewegen sich dort auf der zeit-genössischen Ebene der Architektur. Zwi-schen der ontologischen Fundierung einerRaumtheorie, wie sie in Sphären I ent-wickelt wird, und ihrer konkreten ge-schichtlich/zeitgenössischen Verankerungfehlen einige Vermittlungsschritte.

Insulierungen

Der Leser des Buches hat es einfacher, erkommt nicht so nackt an die beiden Kapi-tel heran, wie sie hier in archplus präsen-tiert werden. Vor den hier folgendenPassagen gibt es ein längeres Kapitel über‘Insulierungen’, das den anthropogeneti-schen Weg zum Apartment als Weltinselnachzeichnet.

Weltinsel meint die gesamte Präsenz vonWelt an einem Ort und zu einer Zeit?

Ja, die Welt ist nicht – wie man das bishermeist verstanden hat – dieses große Ganze,das Gott und andere joviale Beobachtervor sich haben, sondern Welten treten inder Mehrzahl auf und haben Inselstruktur.Inseln sind gewissermaßen Auszüge ausWelten, die als Weltmodelle bewohnt undbenutzt werden können. Daher muß manwissen, was eine minimal komplette, dasheißt weltfähige Insel ist. In dem Kapitel‘Insulierungen’ unterscheide ich drei Artenvon Inseln: die absoluten Inseln wie z.B.eine Raumstation, die vollständig isoliertist, die relativen Inseln wie etwa das Treib-haus für Pflanzen und die anthropogenenInseln, die so gebaut sind, daß auf ihnenMenschen entstehen können. Die anthro-pogene Insel ist ein selbst-insulierendesdynamisches System, das einem Menschen-brutkasten gleichkommt. Man tut Affenrein, und es kommen Menschen raus. Wieist das möglich? Wie können, darwinistischund philosophisch argumentiert, Affen insolche Selbstverhältnisse eintreten? Wieist der anthropogenetische Motor ange-worfen worden?

Ich beschreibe diese Insel als einen neun-dimensionalen Raum, in dem jede einzel-ne Dimension gegeben sein muß, damitder Effekt der Menschwerdung eintretenkann. Wenn nur eine fehlt, bekommt mankeinen kompletten Menschen. Es fängt anmit dem Chirotop, dem Ort der Hand: Washat die Hand mit der Menschwerdung zutun? Die Antwort auf diese Frage ergibteine erste Handlungstheorie, eine elemen-tare Pragmatik. Als nächstes behandle ichdas Phonotop, den Klangraum, in dem diesich selbst hörenden Gruppen sich aufhal-ten. Dem schließen sich an: das Uterotop,d.h. der Raum der tieferen Zugehörigkeiten;das Thermotop, die Wärmesphäre oder derVerwöhnungsraum und das Erototop, derEifersuchtsraum und das Feld des Begeh-rens. Zu dem letzteren möchte ich bemer-ken, daß die Entwicklung der artspezifischenEifersucht für den Prozeß der Vermensch-lichung äußerst wichtig war – denn Men-schen sind mimetische Tiere, die immerzueifersüchtig-aufmerksam beobachten, wasandere machen, ja sie ahmen sogar jenenach, die mit Erfolg so tun, als schautensie nicht nach dem, was andere tun. Esfolgen das Ergotop, also der Kriegs- undAnstrengungsraum, das Thanatotop, derRaum der Koexistenz mit den Toten, in demdie religiösen Symbole vorherrschen, undschließlich das Nomotop, der Raum dergesetzlichen Spannungen, die einer Grup-pe normativen Halt geben. Bei diesemAspekt spielt Buckminster Fullers Theoremder Tensegritäten eine wichtige Rolle.

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Aus dieser allgemeinen Inseltheorie kannman die moderne Apartmentkultur herlei-ten, denn ein Apartment wird nur funk-tionieren, wenn es als minimal kompletteWeltinsel für einen Einzelnen überzeugt.

Wohnungen

Diese Beschreibung enthält noch nicht dieDefinition des Wohnens, des Menschen alsWohnwesen?

Nicht wirklich. Was wohnen bedeutet, wirdin meinem Buch in einem längeren Vor-spann zu dem hier abgedruckten Kapitelentwickelt. Dort beschreibe ich schrittwei-se das Explizitwerden der verschiedenenDimensionen des Hausens. Man muß ver-stehen, daß Häuser zunächst einmalMaschinen zum Totschlagen von Zeit sind– eine etwas kuriose Theorie, zugegebener-maßen. Tatsächlich wartet man in einemprimitiven Bauernhaus auf ein stilles Ereig-nis draußen auf den Feldern, das mannicht beeinflussen kann, das aber Gott seiDank regelmäßig kommt. Man wartet aufden Moment, in dem die angebautenFrüchte zur Reife gelangen. In einem Hauslebt man also zunächst nur darum, weilman sich zu der Überzeugung bekennt, daßes sich lohnt, auf ein Ereignis außerhalbdes Hauses zu warten. In der agrarischenWelt muß die Zeitstruktur des Wohnens inHäusern vom Wartezwang her verstandenwerden. Diese Art von Im-Haus-Sein isterst im Laufe des Mittelalters in Fragegestellt worden, als in Nordwesteuropawieder eine umfangreichere Stadtkulturbegonnen hat. Seither werden wachsendeAnteile der europäischen Populationen ineine Kultur der Ungeduld oder des Nicht-warten-Könnens integriert. Zu GoethesZeit sind in Deutschland erst 20% ver-städtert, 80% leben noch unter den altenagrarischen Bedingungen. Heidegger, denich in diesem Zusammenhang als den letz-ten wirklichen Denker des bäuerlichenLebens sehen möchte, begreift die existen-tielle Zeit weiterhin als Wartezeit und da-her auch als Langeweile. Das Ereignis, aufdas dieses Warten hinführt, ist naturgemäßetwas abgründig Einfaches: daß die Dingeauf dem Acker des Werdens reif werden.Der Philosoph setzt diesen Acker mit derWeltgeschichte gleich, ohne zu bedenken,daß die Welt der Städte nicht mehr acker-förmig sein kann. In der Stadt reifen dieDinge nicht, sie werden produziert.

Von dieser Bestimmung des Wohnensals angehaltenem Dasein bzw. des Hausesals Haltestelle gehe ich über zu dem Hausals Empfangsstation, d.h. als Ort, an demman Wichtiges und Unwichtiges sortiert.Das ursprüngliche Haus ist eine Gewöh-nungsanlage. Dadurch, daß man sich dortviel aufhält, bildet man mit der Umgebungeine unbewußte, eine habituelle Einheit,

man wohnt, indem man sich gewöhnt.Wenn das geleistet ist, hat man den Hin-tergrund erzeugt, vor dem erst Ungewöhnli-ches auffallen kann. Das Wohnen ist indiesem Sinn eine dialektische Praxis – siemacht sich für ihr Gegenteil nützlich.

Vielleicht sollten wir kurz erwähnen, daßSie in diesem Vorspann die Rolle von Hei-deggers Gegenspieler mit Vilém Flusserbesetzen. Größer könnte der Spannungsbo-gen nicht sein: Wo der eine ontologischargumentiert, macht der andere technischexplizit, wo der eine die Verluste des mo-dernen Menschen an Vergangenem mißt,sieht der andere die Richtung des Aufbruchs.

Deswegen gehören beide in einer größerenSicht zusammen. In einem dritten Schrittentwickle ich das Theorem der Einbettungoder der Immersion. Hier wird die philoso-phische Theorie des In-Seins weitergeführt,die Heidegger begründet hatte. Es wird dieFrage beantwortet, was es heißt, in etwasdrinnen zu sein. Wie geschieht das? Ichillustriere diese Fragen mit Hilfe einigerAussagen von Paul Valéry, der das In-Seinvom Paradigma der Architektur her ge-deutet hat: Für ihn heißt Architektur, daßMenschen Menschen in Menschenwerkeneinschließen. Hier rühren wir an die tota-litäre Seite der Baukunst.

In der vierten Stufe der Explikationschließlich wird das eigentliche Nerven-zentrum des Phänomens Wohnen offenge-legt, nämlich die Bestimmung des Hausesals Immunsystem. Dabei wird die Dimen-sion des Atmosphärendesigns, der Atem-luft im Gebäude, eigens herausgehoben.Es gehört zum Abenteuer der modernenArchitektur, daß sie auch die scheinbarimmateriellen Seiten des Daseins, denAufenthalt der Menschen in einem atmo-sphärischen Milieu, technisch und ästhe-tisch explizit gemacht hat. Hinter diesesNiveau des Gestaltenkönnens von Men-schenbehältern wird die moderne Behau-sungskunst nicht mehr zurückgehen können.

Sind diese Schritte durchlaufen, wirdklar was ich meine, wenn ich behaupte,das Apartment und das Sportstadion seiendie architektonischen Zentralikonen des20. Jahrhunderts. Nun kann man den Ben-jaminschen Weg noch einmal beschreiten– aber man kommt zu anderen Antwortenals denen, die das Passagenwerk gegebenhat. Um heute das Interieur zu denken,muß man fürs erste Monadologie betreiben.Ein Mann – eine Wohnung. Eine Monade– eine Weltzelle …

… wobei es damals hieß: ein Junggeselle,Mann oder Frau – eine Wohnung.

Richtig. Der moderne Wohnungsbau grün-det in einer zölibatären Ontologie. So wiedie moderne Biologie das Leben als Er-folgsphase eines Immunsystems definiert,so könnte man architekturtheoretisch dieExistenz als Erfolgsphase eines Ein-Perso-

nen-Haushalts definieren. Alles wird in dieImmanenz gezogen. Welt und Haushaltsind eins. Wenn aber eine Ein-Personen-Existenz überhaupt gelingen kann, dannnur, weil es eine architektonische Unter-stützung gibt, die aus der Wohnung selbereine komplette Weltprothese macht. Diefrühmodernen Architekten hatten alsorecht, sich als Menschheitsbildner zu ver-stehen. Zieht man den Faktor Größenwahnab, bleibt die Tatsache übrig, daß die Archi-tekten der ersten Ein-Personen-Wohnungeneinen historisch singulären Menschentypusmassenhaft ermöglicht haben – dieser warallenfalls bei den christlichen Einsiedler-mönchen präfiguriert.

Individuierung

Sie beschreiben das Apartment als einAtelier von Selbstverhältnissen. Wenn manbedenkt, daß die Menschheitsgeschichtemit der Hordenbildung losgeht, mit einerrudimentären Form von Arbeitsteilung beider Jagd, dann ist die Herausbildung die-ses sich singulär reproduzierenden Men-schentypus, der fast autonom leben kann,etwas beunruhigend. Dazu zwei Fragen:Sie haben vorhin Intimität, dyadische Inti-mität als raumkonstituierend beschrieben.Was bleibt in der Apartmentkultur davonübrig? Und: Zwischen den Extremen Singleund Masse, Vereinzelung und Ansamm-lung gibt es doch Formen der Koexistenz,die räumlich bedeutsam sind.

Die erste Frage ist leichter zu beantwor-ten: Die Apartmentindividualisten habenein Verfahren entdeckt, wie man als Ein-zelner ein Paar mit sich selber bilden kann.Das geschieht so, daß man dem eigenenLeben gegenüber die Einstellung des ‘Erle-bens’, d.h. der wertenden Beobachtung,wählt. Individuen in der Erlebniskulturunterscheiden sich ständig von sich selber.Sie können sich selbst als den innerenanderen wählen. Starker Individualismussetzt immer voraus, daß man den zweitenPol und die übrigen Pole, die zu einerkompletten Persönlichkeitsstruktur gehören,nach innen zieht. Diese psychostrukturelleMöglichkeit ist in der europäischen Kulturseit langem vorgebildet, sie könnte inihren Ansätzen bis in die Antike zurück-verfolgt werden. Das klassische Beispielsind die Einsiedlermönche, die sich in derthebaischen Wüste, einige Tageswanderun-gen südlich von Alexandria, niederließen,um zu beten. Sie hatten – soweit man weiß– ein ziemlich beziehungsreiches Innenle-ben; der berühmteste von ihnen, der heili-ge Antonius, wurde so oft von quälendenGeistern besucht, daß von einem Allein-sein nicht die Rede sein konnte. Modernausgedrückt: Er lebte in einer Wohnge-meinschaft mit seinen Halluzinationen.

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Heute befände er sich wahrscheinlich inder Psychiatrie, vollgestopft mit Tranquili-zern. Was unterscheidet diese extremeForm der Individuierung von Autismus?

Der Autist besitzt die innere Großräumig-keit nicht, die ihm erlaubt, in seiner eigenenGesellschaft zu sein. Die Selbstergänzungs-struktur des Einzelnen im Umgang mitsich selbst ist medien-anthropologisch tieffundiert und nur mediengeschichtlich er-klärbar. Die minimale formale Bedingungder Selbstergänzung besteht darin, daß einsogenannter Einzelner in eine Dyade inte-griert ist – mit realen oder imaginärenAnderen.

Schwieriger ist die Frage nach demSozialleben der Vereinzelten. Also: Waswird aus dem Kleingruppentier homo sa-piens, wenn es in individualistischer Rein-darstellung als Alleinbewohner seinesWeltapartments dasitzt? Die Frage klingtbeunruhigend. Zwei mögliche Antwortenlegen sich nahe: Die eine wäre, daß dasIndividuum allein die ganze Horde nach-spielt. Das impliziert die Aufgabe, imeigenen Inneren 12 Leute darzustellen. Somüßte in Abwesenheit der realen Andereneine komplette Sozialstruktur simuliertwerden.

Die Herausbildung einer multiplen Persön-lichkeit gilt in der Psychologie als Krank-heitssymptom, als schwere Störung derPersönlichkeitsentwicklung.

Die multiple Persönlichkeit wäre aus un-serer Sicht nichts anderes als die Antwortdes Einzelnen auf das Verschwinden derrealen sozialen Umgebung: Sie wäre dem-nach eine plausible Reaktion auf die chro-nische soziale Unterforderung. Die andereMöglichkeit geht aus den modernen Prak-tiken des Networking hervor. Die Hordekehrt als Adreßbuch wieder. Das physischnahe Zusammensein ist keine zwingendeBedingung für Sozialität mehr. Die Zukunftgehört dem Telesozialismus. Die Vergan-genheit kehrt als Telehordenleben wieder.

Unter dem Stichwort ‘Dialektik der Moder-nisierung’ beschreiben Sie, wie das leereZentrum der Gesellschaft gefüllt wird mitillusionären Zentrumsbildern.

In Sphären III versuche ich zu erklären,warum neben Revolution und Massen auchder Begriff Gesellschaft aus unserem Vo-kabular verschwinden sollte. Dieses Men-schenkonglomerat, das sich seit dem 18.Jahrhundert Gesellschaft nennt, ist nichtnur auf den monadologischen oder atoma-ren Lebensformeinheiten aufgebaut; manbeobachtet in ihm auch zahlreiche Milieu-Horden, die sich als Subkulturen organi-sieren. Denken Sie an die Welt der Pferde-liebhaber – eine massive Subkultur, in derman sich verlieren könnte ein Leben lang,und die doch so gut wie unsichtbar ist,

wenn man ihr nicht selber angehört. Esgibt Hunderte von solchen Milieus im ak-tuellen sozialen Feld, die allesamt die Ei-genschaft haben, für sich selbst die Welt-mitte zu bilden und für die anderen so gutwie gar nicht zu existieren. Ich bezeichnedas als interignorante Systeme. Zu derenBestand gehört die Notwendigkeit, daß siesich gegenseitig nicht kennen können oderdürfen, andernfalls kämen ihre Angehöri-gen um den Genuß der Spezialisierungund Erwählung. Wäre man enzyklopädischausgerichtet und würde in Hunderte vonSzenen reinschnuppern, hätte man garnichts davon. Von ihrer Profession hergibt es nur zwei oder drei Menschentypen,die sich solche Polyvalenz leisten können.Das sind an erster Stelle die Architekten,die – zumindest virtuell – für alle bauen,danach die Romanciers, die in ihre Roma-ne Personal aus den verschiedensten Sze-nen einfügen, und schließlich noch dieGeistlichen, die Grabreden für alle mögli-chen schrägen Vögel halten müssen. Da-mit dürfte die Liste schon zu Ende sein.

Also: Die multiple Persönlichkeit zumeinen, das Single-Networking zum ande-ren; das sind die beiden Ergänzungsmög-lichkeiten, die ich in individualistischenPopulationen am Werk sehe. Die Vorprä-gung von homo sapiens durch die horden-anthropologische Mitgift ist ohne Zweifelunüberwindlich, aber weil die Explikationdes alten Erbes nach mehreren Seitengleichzeitig fortschreitet, können die hor-denhaften bzw. sozialen Momente desSapienslebens eigens neu bearbeitet wer-den. Die eher dyadischen Motive, also dieIntimverhältnisse werden bis an den Punktexpliziert, daß Intimität durch Selbster-gänzungsmechanismen förmlich nachge-spielt wird. Und das liefert den Ausgangs-punkt für neue evolutionäre Formen. Dieeher kollektiven Züge werden aufgegriffenvon telesozialen Tendenzen und vonMilieutribalismen. Längerfristig gesehenwerden Menschentypen entstehen, dieziemlich anders sind, als alles, was wirbisher gekannt haben.

Die Modelle, die Sie für das Apartmentvon der Frühmoderne bis Kurokawa undfür den Urbanismus bis Constant beschrei-ben, haben ihre Gültigkeit in den 60erJahren. Danach findet ein Richtungswech-sel innerhalb der Architektur statt, getra-gen von einer Rückbesinnung auf die Stadt– und zwar der Stadt als etwas, das sichnicht fassen, nicht definieren, nicht redu-zieren läßt. Der Begriff der Kapsel ver-schwindet. Die Stadt wird als Gewebeverstanden, das einerseits als Typologiedefiniert wird, andererseits als städtischeMorphologie. Damit beginnt der Siegeszugder Postmoderne, der die utopischen An-sätze der 60er Jahre beiseite drängt.

Schaum

Wenn Sie erlauben, möchte ich das Kapsel-Motiv noch einmal in einer anderen Weiseerläutern – oder verteidigen. Es kommtmir nicht nur auf den Abschließungscha-rakter verkapselter Verhältnisse an, son-dern auch auf eine Kritik an den textilenMetaphern, mit denen die Urbanistik unddie Netztheorie der letzten Jahrzehnte ge-arbeitet haben. Das Reden von Netzen undGeweben leistet einer Enträumlichungs-tendenz Vorschub, die ich für gefährlichhalte. Im Netzdenken gibt es nur Schnitt-stellen, Interfaces und Punkte, die vomModell zweier oder mehrerer sich schnei-dender Geraden oder Kurven her gedachtwerden. Man bekommt somit ein Weltbild,dessen konstituierendes Element der Punktist. Die Netztheoretiker denken radikal un-räumlich, d.h. zweidimensional, sie gebrau-chen die Begriffe der Magersucht, um ihrVerhältnis zur Umwelt zu interpretieren.Ihre Graphiken verraten durchwegs, daßdie einzelne Weltstelle als ein Schnitt-punkt zwischen volumenlosen Linien auf-gefaßt wird. Ich setze dagegen auf denBegriff der Schaumblase oder der Zelle,meinetwegen der Kapsel, um zu zeigen, daßauch das Einzelelement bereits eine Eigen-ausdehnung hat. Wir sollten nicht in einePunktontologie zurückfallen, sondern vonder weltfähigen Zelle als Minimalgrößeausgehen. Etwas mehr Monadologie kannnicht schaden – die Monade aber ist keinausdehnungsloser Punkt, sondern hatMikroweltcharakter. An der Kapselmetapherals solcher liegt mir nicht viel, die der Zel-len ist wesentlich wichtiger. ‘Zelle’ drücktdie Welthaltigkeit und Weltförmigkeit dereinzelnen Stelle aus. Bei der Gewebe- undNetzmetapher gelangt man bestenfalls zuwinzigen Knoten, doch Knoten kann mannicht bewohnen. Dagegen wird mit derSchaummetapher die mikrokosmischeEigenräumlichkeit jeder einzelnen Zellehervorgehoben.

Die Schaummetapher als Implosion einerAll-Einheit, eines Globus, ist ein phanta-stisches Bild. Bleibt die Frage, welchenCharakter hat diese Metapher, wenn mansie im Zusammenhang der Architekturdenkt? Architekten tendieren dazu, Bilderwörtlich zu nehmen.

Das ist schon passiert. Frei Otto hat ganzbewußt versucht, naturnahe oder organo-morphe Raumschöpfungen aus Seifenbla-sen abzuleiten.

Frei Otto hat anhand von Experimentenmit Seifenblasen bzw. Seifenhäuten festge-stellt, daß Minimalflächen, d.h. Flächengleicher Spannung die optimale Form sindfür die Lastabtragung in Membran- undSeilnetzkonstruktionen. Das ist etwas

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anderes als eine formale Anleihe aus demBereich der Biologie oder Natur. Genauge-nommen hat er sich mit Fragen der Geo-metrie im Hinblick auf Materialeinsatzund Kraftableitung beschäftigt.

Die Schaummetapher unterstützt eineintellektuelle Tugend: Sie verhindert, daßwir in die übervereinfachenden platoni-schen Geometrien zurückfallen, die in dertraditionellen Architekturgeschichte trans-portiert wurden. Es gibt im Schaum keineviereckigen Formen, das ist doch eineinteressante Nachricht. Es gibt aber auchkeine einfachen Kugelstrukturen mehr,zumindest wenn die Schäume über ihrnasses oder autistisches Stadium hinwegsind. In ihnen sind immer gegenseitigeDeformationskräfte wirksam, die dafürsorgen, daß man es mit unglatten Struktu-ren zu tun bekommt, in denen komplexeregeometrische Gesetze gelten.

Was spricht gegen den rechten Winkel?

Die Idee, die dieser Theorie der Raumviel-heiten zugrunde liegt, läßt sich nur ver-stehen, wenn man zugleich die Reflexionüber alternative Statik mitberücksichtigt,die sich durch den ganzen dritten Bandzieht. Wir leben in einem Zeitalter, in demdie Funktion der klassischen Statik, dieFunktion des Lastens und Tragens in druck-beanspruchten Konstruktionen abgelöstwurde durch zugbeanspruchte Konstruk-tionen, also Spannungsganzheiten. Ichdenke dabei natürlich vor allem an Buck-minster Fullers bekannte Tensegritäten,aber auch die pneumatischen Bauwerkeund air structures des 20. Jahrhunderts.Die neue Gebildelogik arbeitet durchwegsschon jenseits von Wand und Säule. Span-nungsganzheiten bilden den technischenÜbergang zwischen der Schaummetapherund den modernen Bauformen. Der Schaumist eine Art Natur-Tensegrität, zumal wenner nicht mehr als ‘individualistischer’Schaum auftritt, worin Einzelblasen ineiner flüssigen Lösung aneinander vorbeischwimmen und sich kaum berühren. Wirdein Schaum älter und trockener, entstehteine komplexe Binnenarchitektur. VieleBlasen platzen, die Restluft der platzendenBlase geht in die Nachbarblasen über, derSchaum trocknet von innen her aus. Dabeientstehen schöne, architektonisch an-spruchsvolle Gebilde, die Polyederschäume.

Der Polyederschaum ist durch das Motivder Ko-isolation geprägt – das besagt, manhat mit dem Nachbarn die Trennung vonihm gemeinsam; meine Wände sind deineWände, wir haben das Abgewandtseinvoneinander miteinander gemeinsam. DerBegriff Ko-isolation ist grundlegend fürdas Universum der schaumigen Formen.Die Nachbarschaft von Weltentwürfen oder

Lebensräumen innerhalb einer ko-isolier-ten Struktur hat eine andere Qualität alsdie Nachbarschaft von Räumen innerhalbtraditionell segmentärer Kulturen. Dort istalles Soziale partialisiert, die Welt ein Kon-glomerat von Einödhöfen. Das Bild desKartoffelsacks, das Marx im 18. Brumaireverwendet, um die Situation der Parzellen-bauernschaft in Frankreich zu bezeichnen,beschreibt den Zustand des nassen Schaumsganz ausgezeichnet. Jede Zelle fließt dortganz mitweltblind an den anderen Zellenvorbei, sie rühren nicht aneinander, sosehr sie auch einander gleichen.

Wieviel bleibt bei der Schaummetaphervon der psychosozialen Verfaßtheit desRaums übrig, was von dem konstruktivi-stischen Ansatz der Raumkonstituierung?

Schaum ist nach meinem Dafürhalten einsehr brauchbarer Ausdruck für das, wasArchitekten Dichte nennen – übrigens auchein negentropischer Faktor. Dichte kannman psychosozial durch einen reziprokenBelästigungskoeffizienten ausdrücken.Menschen erzeugen Atmosphäre, indemsie sich gegenseitig bedrängen, einanderzu nahe kommen. Man darf nie vergessen,daß das, was wir ‘Gesellschaft’ nennen, dasPhänomen der unwillkommenen Nachbar-schaft impliziert. Dichte ist folglich auchein Ausdruck für unsere überkommunika-tive Verfassung, die im übrigen durch dieherrschende Kommunikationsideologieimmer weiter aufgestachelt wird. Wer dieDichte ernst nimmt, kommt hingegen zueinem Lob der Wand. Diese Bemerkung istnicht mehr mit dem klassischen Modernis-mus kompatibel, der das Ideal des transpa-renten Hauses aufgerichtet hat, das Ideal,Innenverhältnisse auf Außenverhältnisseabzubilden und umgekehrt. Heute rückenwir wieder die Isolierungsleistung einesGebäudes ins Zentrum, nicht zu verwech-seln mit Massivität. Isolierung, als eigen-ständiges Phänomen aufgefaßt, ist eineExplikationsgestalt des Lebensverhältnis-ses Nachbarschaft (das bleibt übrigens inmeinem Buch ein wenig blaß). Man müßteein Lob der Isolierung schreiben. Das wür-de eine Dimension des Zusammenlebensausarbeiten, die anerkennt, daß die Men-schen auch ein unendliches Bedürfnis nachNichtkommunikation haben. Die diktato-rialen Züge der Moderne rühren allesamtvon einer falschen kommunikativen An-thropologie her: Allzulange hat man dieDogmatik eines überkommunikativenMenschenbilds naiv übernommen.

Wir sollten zum Schluß über die unter-schiedlichen Abstraktionsebenen sprechen,auf denen sich das Sphärenprojekt bewegt.Es ist ein philosophischer Entwurf für eineTheorie des Raums. Darin fließen Erkennt-nisse aus der Anthropologie, Biologie,Psychologie ein, aus Medizin, Sozial- und

Naturwissenschaften, aus der Ingenieur-technik usw. Diese Bereiche haben teilweiseExkurscharakter und sind als eigenständigeEssays zu lesen, so wie das hier veröffent-lichte Architekturkapitel. Ist die Philoso-phie noch die Metatheorie, die es schafft,all diese Wissensfelder zu integrieren?

In-der-Welt-Sein

Die zeitgenössische Philosophie ist eineziemlich perverse Wissenschaft, die sichschwer damit tut, ihren Gegenstand anzu-geben. Alle anderen Disziplinen könnenleicht sagen, womit sie es zu tun haben;die Biologen studieren das Leben, dieArchitekten den gebauten Raum, die Psy-chologen haben es mit der Psyche zu tunusw. Was haben eigentlich die Philosophenals Gegenstand für sich? Die einzige An-gabe, die man machen könnte, wäre einSupergegenstand, der kein echter Gegen-stand ist, sondern ein Gesamtverhältnisoder ein Horizont – und das nennt man dieWelt. Wenn man die Welt, wie die Altenes taten, als den größten aller möglichenBehälter vorstellt, dann wäre der philoso-phische Gegenstand als eine große Kugelzu veranschaulichen – so groß, daß sieschlechthin alles enthält. Solange man dieWelt als die maximale Kugel denkt, die miteiner einzigen in sich zurücklaufendenBewegung alles Seiende integriert, einerBewegung, die aus gutem Grund Univer-sum, Einmalgedrehtes, heißt, so daß allesinnen ist und nichts außen sein kann, so-lange scheint die Philosophie einen ordent-lichen Gegenstand zu haben, nämlichdiese schöne Maximalkugel namens Welt,die allenfalls noch von der absolutenKugel namens Gott umfaßt wird. Um diesebeiden Großkugeln geht es übrigens inSphären II: Globen, wo die philosophischeKosmologie und die philosophische Theo-logie des alten Europa zur Verhandlungkommen.

Im dritten Band zeige ich aber, daß derOptimismus der klassischen Philosophie,sich ihres Gegenstandes mit kosmologi-schen und theologischen Mitteln vergewis-sern zu können, übereilt war. Wir wissenheute in vielerlei Hinsicht, erkenntnistheo-retisch wie empirisch, so viel mehr und soviel anderes als unsere antiken Vorgänger,daß uns das ungenierte Zugehen auf dasgroße Ganze nicht mehr gelingt. Deswe-gen sucht man heute nach einem diskrete-ren Theorietypus. Ich versuche im drittenBand: Schäume zu zeigen, daß schon diekleinen Formen Weltcharakter aufweisen.In diesem Sinn ist Schaumtheorie eineMikrokosmologie in Verbindung mit einerPolykosmologie.

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Jede Seifenblase als Kosmos in sich?

Ja, diese Implikation sollte man immerdurchhören. Wenn ich von einem Paarspreche, ist das in der Perspektive derWelterzeugung à deux gemeint. Wenn ichvon einem Schlafzimmer spreche, geschiehtes in der Perspektive der Welterzeugungdurch eine Bauform, auch wenn ich vonKissen und Federbett spreche, diesennächtlichen Supplementen eines abgebau-ten Selbst, ist immer auch eine amorpheForm von Weltbildung mittels intimerQuasi-Objekte mitgemeint. Sogar dieSchlafenden sind in der Welt und sind mitetwas zusammen. In-der-Welt-Sein hatimmer die Züge eines Zusammenseins. Diesogenannte Seinsfrage stellt sich für unsals synousia-Frage. Sein als Zusammen-sein impliziert eine vierstellige Relation,denn es bezeichnet das Dasein von jemandmit jemandem und etwas in etwas. DieseFormel beschreibt die Minimalkomplexi-tät, die man aufbauen muß, um zu einemWeltbegriff zu kommen. Die Architektensind in diese Betrachtungsweise von vor-neherein stark involviert, da sie eine be-sondere Kompetenz haben für die Deutungdes Gesamtzusammenhangs des In-der-Welt-Seins. Für sie heißt In-der-Welt-Seinsich in einem Gebäude aufhalten. Ein Hausist ja zunächst nichts anderes als eine pla-stische Antwort auf die Frage, wie jemandmit jemandem und etwas in etwas zusam-men sein kann. Architekten interpretierenauf ihre eigene Weise diese rätselhaftestealler räumlichen Präpositionen – das ‘In’;sie machen berufsmäßig nichts anderes alsIn-Theorie.

Heidegger hat das Problem in Sein undZeit (soweit das Buch noch nicht Zeittheo-rie, sondern Raumtheorie bietet) sehr schönhergeleitet. Er fängt an mit einigen Para-graphen über In-Sein schlechthin undgeht dann weiter zum In-der-Welt-Sein.Er hat verstanden, daß diese Präpositiondurchaus abgründig ist. Keine Anstrengungkann hoch genug sein, um das Grundver-hältnis des Seins-in-Etwas auszuleuchten.Er zeigt sodann, daß wir auf dem falschenWeg sind, wenn wir das In-Sein als Behäl-terverhältnis denken. Das von Heideggerneugedachte In-Sein bedeutet nämlichEkstase, und das ist etwas absolut Ver-rücktes, denn es meint ein Hineingehal-ten-Sein in das Nichts. Das In hat von daan nicht Behältersinn, sondern Ekstasesinn.Folglich wissen wir nicht mehr wirklich,wo wir sind, wenn wir In-der-Welt sind.

Noch mal zurück zu der methodische Ebe-ne. Der Architekt, der sich die archpluskauft, liest einen Teil des dritten Bandesund denkt: ‘Phantastische Architektur-theorie’ …

Das wäre ein Trugschluß.

Bemerkt er auch, daß er sich auf einerExkursebene Ihrer Argumentation befindet,wo dieses In-Sein unter dem Gesichts-punkt, was das 20. Jahrhundert leistet,entwickelt wird? Wie kann dieser armeMensch sich orientieren?

Das ist kein armer, sondern ein reicherMensch, der offenbar Luxusvalenzen übrighat, sonst würde er ja nicht Theorie trei-ben. Der Luxus ist, wie ich zu zeigen ver-suche, schlechthin grundlegend. Wer an-fängt, sich arm zu denken, ist verloren.An die Armut glauben, ist die Sünde widerden Geist, die nicht verziehen wird. Men-schen sind nie arm, auch die Armen nicht.Bei homo sapiens gibt es eine konstitutio-nelle Unmöglichkeit, arm zu sein, undzwar aufgrund seines Zugs zur Weltoffen-heit. Man denkt sich nur arm, um die Welt-offenheit wegzuschaffen. Den Menschenals armes Tier zu deuten, ist ein Trick, densich die Faulheit ausgedacht hat.

Die Raumtheorie des Bandes Schäumeist ihrer Grundform nach eine Ekstasetheo-rie, verbunden mit einer Ekstasekompen-sationstheorie – das heißt Architekturtheo-rie. Deswegen erschien es mir von Anfangan sinnvoll, das Gespräch mit der Archi-tektur zu suchen. Heidegger hat übrigensmit Bauen, Wohnen, Denken diesen Schrittvorgemacht; ich halte den Aufsatz imübrigen für ziemlich mißlungen, von sei-nen Voraussetzungen her wie in der Durch-führung. Aber die Fragerichtung stimmt.Man muß das Ganze also noch einmalmachen, mit Heidegger gegen Heidegger,um eine bekannte Formel zu zitieren, undeben das habe ich in Sphären III probiert.Menschen sind tatsächlich ekstatische We-sen, sie sind hinausgehalten in das Offene,sie sind nie definitiv in irgendwelche Be-hältergemütlichkeiten einzuspannen. Siesind im ontologischen Sinn draußen, abersie können nur draußen sein in dem Maße,wie sie durch Innenhalt stabilisiert werden.Diesen Aspekt muß man heute gegen diekurante Romantik der Offenheit starkmachen. Es sind die räumlichen Immun-systeme, die das Außensein erträglichgestalten. Gebäude sind folglich Ekstase-kompensationssysteme. Hier ist der Archi-tekt typologisch neben dem Priester unddem Therapeuten angesiedelt – als Kom-plize der Abwehr von unerträglicher Eksta-tik. Heidegger geht im übrigen weniger vonder Architektur als von der Sprache aus,und tatsächlich ist auch Sprache ein voll-endetes Ekstasekompensationsprogramm.Da die meisten Menschen ein Leben langimmer dasselbe sagen und die Sprache inder Regel völlig repetitiv funktioniert, le-ben wir in einer symbolischen Redundanz,die so gut funktioniert wie ein Haus mitsehr dicken Mauern. ‘Die Sprache ist dasHaus des Seins’ – wir begreifen allmählich,was damit gesagt war. Meine Sprache isteine feste Burg, in der können wir unsgegen das Offene verschanzen; nichtsde-stoweniger lassen wir hin und wiederBesucher herein. Sprechen und Bauen

schaffen in menschlichen Verhältnissenüblicherweise soviel Sicherheit, daß mansich auf die Ekstase gelegentlich ein bißcheneinlassen kann. Von daher ist der Archi-tekt aus meiner Sicht eigentlich jemand,der im Material philosophiert. Wer einWohnhaus baut oder ein Gebäude für eineInstitution errichtet, trifft eine Aussageüber das Verhältnis zwischen dem Ekstati-schen und dem Enstatischen, demDraußen-Sein und dem Drinnen-Sein.

Rolle des Architekten

Da sind wir bei einem heiklen Thema,nämlich daß Architekten oft dazu tendie-ren, die Menschen zu erziehen – ob inbewußter Absicht, wie es die Architektender Moderne taten, oder einfach dadurch,daß ein Gebäudeentwurf immer auch einenLebensentwurf impliziert.

Das erzieherische Element der frühen Mo-dernisten verweist auf das Explizitwerdendes latent megalomanen Moments in allerArchitektur. Und das ist völlig gerechtfer-tigt, denn als Architekt macht man ziem-lich zumutungsreiche Lebensformvorschläge.Sobald jemand ein Gebäude hinstellt, daseine Lebensdauer von 100 Jahren undmehr haben wird, ist das ein gewaltigerZugriff auf Lebensverhältnisse. Das Beste,was ich als Architekt in solch einer Situa-tion tun kann, ist, mir selber einzureden:‘Ich darf tun, was ich tue, weil ich weiß,was Leben ist, weiß, was eine gute Formdes Lebens ist. Ich habe über Idealcontainerfür Menschen lange genug nachgedacht,und ich weiß, in meinen Behältnissen zuleben, ist absolut menschenwürdig.’ Kurz-um, diese Architekten waren gut beraten,sich zu ihrem Größenwahn zu bekennen.Wenn ich mir dergleichen nicht sagenkann, sollte ich lieber zu einem anderenMetier Zuflucht nehmen. Mag sein, daßdie Geschichte der Architektur in den letz-ten Jahrzehnten vor allem vom Eindringenskeptischer Motive in das Selbstbewußt-sein des Architekten geprägt ist – an derOberfläche zumindest. Doch die Architek-ten, die einst die Pariser Passagen und diePalmenhäuser in England gebaut haben,dann die Gehäuse der Weltausstellungen,und weiter die Architekten der frühenModerne, das waren Leute, die unter allemMöglichen gelitten haben mögen, nurnicht unter einem Mangel an Selbstbe-wußtsein, überzeugt, wie sie waren, daßsie die Pioniere einer neuen Menschheitsind.

Einer besseren Welt.

Die Pioniere des neuen Bauens warenApostel, die Besseres hatten als ein altesEvangelium. Sie hatten Pläne für neueMenschen in neuen Häusern.

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