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Snorri Sturluson – Homer des Nordens Eine Biographie. Aus dem Isländischen übersetzt von Regina Jucknies Mit einem Vorwort von Rudolf Simek Bearbeitet von Óskar Gudmundsson, Regina Jucknies 1. Auflage 2009. Buch. 447 S. Hardcover ISBN 978 3 412 20743 4 Format (B x L): 13,5 x 21 cm Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Skandinavische Literaturen Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Snorri Sturluson – Homer des Nordens

Eine Biographie. Aus dem Isländischen übersetzt von Regina JuckniesMit einem Vorwort von Rudolf Simek

Bearbeitet vonÓskar Gudmundsson, Regina Jucknies

1. Auflage 2009. Buch. 447 S. HardcoverISBN 978 3 412 20743 4

Format (B x L): 13,5 x 21 cm

Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Skandinavische Literaturen

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Óskar Gudmundsson

Snorri Sturluson Homer des Nordens

Eine Biographie

Aus dem Isländischen übersetzt von Regina Jucknies

Mit einem Vorwort von Rudolf Simek

2011

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

412-20743_Titelei-Gudmundsson.indd 3 25.07.2011 09:47:37

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Umschlagmotiv wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von

© Óskar Guđmundsson, 2009Title of the original Icelandic edition: Snorri – ævisaga 1179–1241

Published by agreement with Forłagiđ. www.forlagid.isDie Übersetzung wurde freundlicherweise gefördert von

The Icelandic Literature Fund Sagenhaftes Island

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig.

Lektorat: Stefan Wunsch, KölnDruck und Bindung: fgb · Freiburger Graphische Betriebe

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-412-20743-4

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Inhalt

Vorwort von Rudolf Simek 9

Teil 1

8. Juli 1181 • Ziehsohn in der Fremde 17 1181–1191 • Kindheit und erziehung in Oddi 23

1192–1196 • ein bewunderter Jugendlicher 341193–1197 • Snorris Brüder 451197 • Tod des Ziehvaters 51

1195–1200 • Nach dem Tod Jón loptssons 551199–1200 • Heirat mit Herdís 621202–1205 • Hausherr auf Borg 68

1206 • Die Geliebte des Dichterbauern 791206–1207 • Trennung von Herdís 84

1206–1208 • Reykholt, der Hof des Dichterbauern 881206–1208 • Gute Freunde, schlechte Zeiten 99

1209 • Bischof Gudmund Arason 1061209–1214 • Bruder und Freund der Bischöfe 110

1200–1216 • Gode, Kirchengode und Gesetzessprecher 1171216–1217 • Die Schlacht von Midfjord 124

1216–1217 • Kampf auf dem Althing 126Vor 1218 • Warten auf günstigen Wind 132

1217–1218 • Streit zwischen Norwegen und Oddi 1391218–1220 • Freundlicher empfang in Norwegen 142

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Teil 2

1220 • ein Krieg wird verhindert 1511220 • Dichtung als laster 154

1221 • Der Spott alter Freunde 1571221–1222 • Fürstenlob 164

1222 • Die Schlacht von Grímsey 1681222 • Versöhnungsversuche 171

1223 • Vom Feind zum Freund 1751224 • ehe und Freundschaft 180

1224 • Streit um das Muttererbe 1851225 • Vom Bauernhof zum Herrscherhof 1881226 • Pack schlägt sich, Pack verträgt sich 197

Von guten Männern, alten leuten und wahrem Reichtum 2021226 • Klostergründung in Videy 206

1224–1227 • Vom Königshof in den Borgarfjord 2101227–1228 • Politische Machtkämpfe 222

1228–1229 • Der Mordbrand an Thorvald Snorrason 2301229–1230 • Verrat in Dalir 2381231 • ein furchtbares Jahr 246

1232 • Sturla Sighvatssons Treuebruch 2531232 • Neue Freunde, neues Spiel 257

Teil 3

Blick übers Meer 2621233 • Der reiche Gode 268

1233 • Probleme zwischen Vater und Sohn 2741234–1235 • island regieren? 279

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Schutzgötter gegen Königsgewalt 2821234 • Der Sohn als Mörder 286

1234 • Versammlung in Flatatunga 2901234 • Der Überfall 294

1235 • Kampf zwischen Vater und Sohn 2991236 • Thronsturz im Borgarfjord 306

Snorris Alltag und Leben 3171237 • Vertrieben 320

1237 • Die Schlacht von Baer 3251237–1238 • Unter dem Schutz Herzog Skúlis 329

1238 • Gizur schlägt zu 3341239 • Sehnsucht nach Island 342

1239 • Das Land begrüßt seinen Dichter 3481240 • Frieden im Reich 351

1241 • Kummer 35423. September 1241 • Nicht schlagen! 359

ANHANG

Anmerkungen 364Glossar 400

Stammtafeln 408Quellen- und Literaturverzeichnis 413

Personenregister 430

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Vorwort von Rudolf Simek

Der Vergleich mit Homer mag unpassend sein, aber es ist eine Tat-sache, dass Snorri Sturluson der Gigant der isländischen literatur ist und bleibt. Nicht einmal die Tatsache, dass sich island mit Hall-dór Kiljan laxness (1902–1998) eines literaturnobelpreisträgers (1955) rühmen kann, tut dem wesentlich größeren Ruhm seines über 700  Jahre älteren landsmannes Abbruch. Die isländer behaupteten noch gegen ende des 20. Jahrhunderts, dass sich auf jedem einzelnen isländischen Bauernhof Snorris Heimskringla, also seine Geschichte der norwegischen Könige, finden lasse. Das mag übertrieben sein, und beantwortet nicht die Frage, ob diese Bücher auch jemand gelesen hat, aber es zeigt immerhin Bekanntheitsgrad seiner Person und Anspruch seines Werks.

Wie kommt es aber, dass ein hochmittelalterlicher Autor von einer entlegenen atlantischen insel es zu literarischem Weltruhm gebracht hat? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, die literarische Sonderstellung islands im Mittelalter überhaupt zu betrachten.

Diese Sonderstellung ergibt sich nicht daraus, dass die isländischen Verfasser des Mittelalters noch sehr viel näher an der germanischen Vergangenheit oder an Dichtungen mit heidnischem, also vorchristli-chem inhalt standen, wie man vor allem im Deutschland des frühen 20.  Jahrhunderts noch meinte. es ist vielmehr so, dass islands lite-rarische eigenständigkeit auf einer ganzen Reihe zusammentreffender Umstände beruht. Zum einen war es der relativ hohe Alphabetisie-rungsgrad seiner Bevölkerung, zum anderen ein enormer Drang zur Selbstbestätigung auf Grund der für mittelalterlichen Verhältnisse »un-natürlichen« Situation eines Staats ohne Herrscher, und zum dritten eine erstaunliche Gabe für die Verschmelzung einheimischer literari-scher Formen und Motive mit ausländischen Themen und Stoffen, die zu einer ungewöhnlich intensiven literaturproduktion zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert führte. Die ökonomischen Voraussetzungen – billiges Pergament und reichlich Zeit während langer Wintermonate – spielten sicherlich ebenfalls eine Rolle, reichen aber als alleinige er-

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klärung des Phänomens der weltliterarischen Bedeutung islands im Mittelalter nicht aus.

island im Mittelalter

Das enorme interesse der isländer an der literatur, zu der auch Snor-ris drei erhaltene Werke, die Heimskringla, die Snorra Edda und wohl auch die Egils saga Skallagrímssonar zu zählen sind, ist teilweise auch dadurch zu erklären, dass die Geschichte der insel und ihrer Bewoh-ner in erst vergleichsweise junger Vergangenheit, nämlich um 870 mitten in der Wikingerzeit, ihren Anfang nahm. Dies resultierte in einer überall spürbaren Neugier für die eigene Herkunft und die eige-nen Wurzeln. Der traditionellen isländischen Geschichtsschreibung zufolge wurde island in den Jahren 870 bis 930 n. Chr. besiedelt – hauptsächlich durch norwegische Freibauern, die den zentralistischen Bestrebungen eines neuen, typisch mittelalterlich geprägten König-tums des Königs Harald Schönhaar zu entkommen suchten. Trotz der in der Wikingerzeit relativ guten klimatischen Bedingungen mutet uns heute die Besiedlung der großen insel im Nordatlantik als aben-teuerlich an, für die Norweger des 9. Jahrhunderts dagegen war dies vor dem Hintergrund der sich verknappenden landwirtschaftlichen Nutzfläche in Norwegen und einer sich langsam etablierenden Zen-tralgewalt, die »wikingisches« Verhalten zugunsten strikter Gesetze sanktionierte, ein Siedlungsgebiet mit teilweise paradiesischen Zügen: Weitgehend menschenleer, mit weiten Grasgebieten, reichen Fisch-gründen und scheinbar reichlich Treibholz verführte das neue land Hunderte und Aberhunderte von Familien zur emigration. eine noch durch keinerlei staatliche Gewalten gehemmte Bewegungsfreiheit, die Verfügbarkeit schneller Segelschiffe und der damit recht überschau-bare Abstand von nur wenigen Segeltagen zum europäischen Festland ließen dieses Abenteuer einer Neubesiedlung wohl auch damals gerin-ger erscheinen als uns das heute vorkommen mag, nicht zuletzt, weil island gerade für Nordnorweger durchaus ökonomisch attraktiv war. Viele norwegische Familien hatten sich schon lange vorher auf den schottischen inselgruppen oder irland niedergelassen und zogen nun nach island weiter.

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Die nunmehr isländische, stark von keltischen Bevölkerungsele-menten durchsetzte Bauerngesellschaft kam noch dazu vorerst völlig ohne Herrscher oder zentrale Gewalt aus, sondern gab sich im Jahre 930 eine gesetzgebende und gesetzsprechende Versammlung, das soge-nannte Althing an den Rändern der ebene Thingvellir im Südwesten der insel. Diese Versammlung der männlichen, freien und landbesit-zenden Bauern hatte sowohl gesetzgebenden als auch gesetzsprechen-den Charakter, kannte allerdings keine exekutivgewalt. Somit musste jeder, dem auf dem Althing Recht zugesprochen wurde, sich dieses Recht dann auch erst in der Praxis verschaffen – und das bildete die Grundlage für die zahlreichen blutigen Familienfehden, Totschläge, Ächtungen und Zweikämpfe, welche in den isländersagas eine so pro-minente Rolle spielen. Nur drei Generationen später jedoch, im Som-mer des Jahres 1000, war es dieses Althing – übrigens noch weit von einem demokratischen »Parlament« neuzeitlicher Prägung entfernt –, welches nach hitzigen Debatten beschloss, das Christentum und damit die christliche Rechtsordnung anzunehmen. Damit war der Grund-stein zur Alphabetisierung, zur literaturproduktion und zum kultu-rellen Anschluss an die mittelalterlichen europäischen Reiche gelegt.

Dennoch unterschieden sich island und seine Gesellschaft auch wei-terhin von zeitgenössischen europäischen Reichen. Zum einen sollte es noch einmal gut zweieinhalb Jahrhunderte dauern, bis island in Person des norwegischen Königs Hákon einen Herrscher bekam. Damit war aber nicht nur die isländische Unabhängigkeit beendet, sondern auf Grund der politischen und ökonomischen Abhängigkeit von Norwe-gen, später von Dänemark, setzte auch ein langsamer kultureller Verfall ein. Die dazwischen liegenden Jahrhunderte aber, das 11. und beson-ders das 12., waren zum anderen in island mehr noch als auf dem euro-päischen Kontinent eine Zeit der intellektuellen Blüte. Die mittelalter-liche Wärmeperiode trug dazu bei, dass die lebenssituation in einem land mit vielleicht 80.000 einwohnern, die ohne Städte und Dörfer auf sehr verstreuten Höfen bescheiden von der Viehzucht und dem Fischfang lebten, weniger prekär war als in den folgenden Perioden. Dennoch ist es bemerkenswert, wie sehr man in island Anteil am kul-turellen, wissenschaftlichen, selbst kirchlichen leben in europa nahm: Reisen gehörten zur Selbstverständlichkeit, isländische und grönlän-dische Bauern unternahmen entdeckungs- und Siedlungsfahrten bis

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nach Neufundland, angehende Kleriker studierten in den angesehenen Schulen Frankreichs, Deutschlands und englands, isländische Skalden gehörten weiterhin zu den begehrten Dichtern an den Königshöfen Skandinaviens und englands, und die oströmischen Kaiser hielten sich eine Palastwache, die sich aus Skandinaviern und nicht zuletzt islän-dern rekrutierte, die Warägergarde.

islands mittelalterliche literatur und Snorri Sturluson

Zuerst wurden nach der Christianisierung am Beginn des 11. Jahr-hunderts naturgemäß Bücher auf latein für den religiösen Gebrauch geschaffen und abgeschrieben, aber schon ein Jahrhundert nach der formellen Annahme des Christentums begann man, sich in volks-sprachlichen Texten mit der eigenen, auch weltlichen Vergangenheit zu befassen. Die Sprache dieser Texte war das Altnordische, das anfangs noch die Volkssprache Norwegens und islands darstellte, bevor sie sich im späteren Mittelalter zu differenzieren begann, wobei das isländische – bis zum heutigen Tag – die konservativere Sprache blieb. Am Beginn waren es neben liturgischen und anderen religiösen Büchern vor allem Gesetzestexte, Geschichtswerke und wissenschaftliche literatur, die entweder übersetzt oder neu geschaffen wurden, wobei die initiative zur Buchproduktion nicht nur von den Kirchen und Klöstern ausging, sondern auch von den reicheren Bauern. Hierbei darf jedoch nicht ver-gessen werden, dass sich auf Grund des eigentümlichen isländischen »eigenkirchenwesens« (die Kirchen gehörten den Bauern, die sie auf ihrem land errichteten, sie bezahlten auch für die erhaltung und den Priester) eine enge Verzahnung kirchlichen und weltlichen literarischen Schaffens ergab. Aber erst gegen ende des 12. Jahrhunderts begann die eigentlich große Zeit der isländischen literatur, die sich vor allem in den Sagas manifestiert, die bis zum heutigen Tage nicht nur unser Bild von island bestimmen, sondern stilistisch bis in die Gegenwart nachwirken, in den Werken des schon erwähnten Nobelpreisträgers Halldór Kiljan laxness ebenso wie in der Sprache der hier vorliegenden Biographie Snorris von Óskar Guðmundsson.

Sowohl die Heimskringla (»Weltkreis«), also die umfangreiche Sammlung von Sagas über die norwegischen Könige von heidnischer

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Urzeit bis ins 12. Jahrhundert, als auch die Snorri mit großer Wahr-scheinlichkeit zuzuschreibende Egils saga Skallagrímssonar (»Saga von egil Skallagrímsson«) gehören zu den Sagas, wenn auch zu zwei un-terschiedlichen Genres. Das Wort Saga bedeutet ja (neben der Bedeu-tung »Geschichte«) nur »lange Prosa-erzählung«, und in diesem Sinn hat es sich bis heute gehalten, so selbst im populären Sprachgebrauch für breit erzählte Familiengeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber während die Heimskringla, die eigentlich aus einer ganzen Reihe einzelner Sagas mit derjenigen über König Ólaf Haraldsson den Hei-ligen als zentralen Mittelteil besteht, den Höhepunkt der Gattung der Königssagas (isl. Konunga sögur) darstellt, in welcher Snorri mit großer literarischer Meisterschaft, aber gleichzeitig kritischer Bewertung sei-ner Quellen eine bis heute spannend zu lesende Geschichte der nor-wegischen Herrscher bietet, so handelt die Egils saga Skallagrímssonar zwar von einem Vorfahren Snorris im 10. Jahrhundert, aber in hoch-gradig literarisierter Weise, welche die Wikingerzeit und einen ihrer schwierigen Charaktere zum leben erweckt, und gehört zur Gattung der isländersagas (isl. Íslendinga sögur), in welchen einfache (oder im Falle egils, auch charakterlich weniger einfache) isländische Bauern die Hauptrolle spielen. Machen in der Heimskringla großartige, wenn auch erfundene Reden der Könige und spannende Schlachtenschilderungen die Attraktivität für den heutigen leser aus, so ist es in der Egils saga Skallagrímssonar in noch viel stärkerem Ausmaß das Wikingerleben eines durchwegs schwierigen Charakters, eines Kämpfers, Dichters und Säufers, das uns mit voller Bildhaftigkeit und unter einbeziehung des ganzen Nordseeraums von island bis Norwegen und england von Snorri mit reichen Farben gemalt wird. Snorri erweist sich hier noch mehr als in seinen anderen Werken als begnadeter Geschichtenerzäh-ler, der aber in einer nur scheinbar naturalistischen erzählweise auch die Schattenseiten und Schwächen seiner Figuren darstellt und nicht vor geradezu kafkaesken Handlungssträngen zurückschreckt, wenn etwa egil immer und immer wieder versucht, gegen jede Hoffnung in Norwegen sein vermeintliches Recht durchzusetzen.

Snorris Heimskringla verweist aber auf seine Rolle als Politiker: Zeit seines lebens war er in die innenpolitischen Wirren seines landes ver-strickt, zweimal reiste er an den norwegischen Königshof, und neben seinem interesse an literatur, Gelehrsamkeit und Geld war die Politik

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sicherlich prägend für seine Aktivitäten. Gerade dieser Aspekt wird in der vorliegenden Biographie auch vorwiegend herausgearbeitet, was damit zu tun hat, dass unsere Hauptquelle für Snorri, die sogen. Stur-lunga saga, eine Sammlung von einzelnen, höchst unterschiedlichen Texten über die Geschichte islands in den ersten beiden Dritteln des 13. Jahrhunderts, auf Grund ihrer Betonung der isländischen innen-politik gerade diesen Aspekt herausstreicht. Trotz der realistischen Dar-stellungen der fast zeitgenössischen ereignisse muss aber auch die Stur-lunga saga mit gewisser Vorsicht genossen werden. Die vielen Träume und Vorhersagen, die markigen Sprüche der Protagonisten und die vielfach maßlos übertriebenen Zahlenangaben bei Schlachtenschilde-rungen mit Hunderten von Männern auf jeder Seite zeigen, dass es sich auch hier in erster linie um literatur handelt – aber Snorri Stur-luson ist eben einer der Hauptdarsteller. Was die Sturlunga saga aber deutlich genug zeigt, ist die politische und moralische Zerrissenheit islands in diesem 13. Jahrhundert, die sich nicht nur in zunehmen-den Familienfehden, sondern geradezu in einem Bürgerkrieg zwischen den bedeutendsten Sippen manifestierte: politische Morde, Schlach-ten, Übergriffe auf Kirchengüter und unbeschreibliche Grausamkeiten kennzeichnen diese Periode ebenso wie das Bemühen auch von noto-rischen Mördern, möglichst schnell die kirchliche Absolution für ihre Taten zu erhalten, wofür sie auch Pilgerfahrten bis nach Rom auf sich zu nehmen bereit waren.

Snorris drittes Werk dagegen zeigt ihn als Wissenschaftler und Dich-ter, wenn er in der Edda ein typisch mittelalterliches Handbuch der Skaldendichtung vorlegt, klar gegliedert und systematisch aufgebaut, und dennoch so randvoll von Geschichten, Mythen und Anekdoten, dass dieses Werk bis heute als eine der Hauptquellen für nordgerma-nische Mythengeschichten angesehen wird. Dabei darf aber Snorris schöpferische Hand, sein enormes Wissen (wozu unter anderem die Kenntnis von weit über 2000 Skaldenstrophen gehörte, von denen etwa 200–300 von ihm selbst stammten), und nicht zuletzt seine um-fassende Bildung nicht außer Acht gelassen werden. Snorris Bildungs-horizont ist etwas, was selbst in der vorliegenden, streng biographischen Darstellung von Óskar Guðmundsson bei der Betrachtung von Snorris Jugend auf dem südwestisländischen Hof Oddi ausführlich zur Spra-che kommt, denn die reiche mündliche Überlieferung in Rechtstexten

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und Genealogien, die er schon als Knabe am Hof von Oddi durch seinen Ziehvater Jón loptsson vermittelt bekam, die klerikale Bildung, die er ebendort erhielt – wenn auch im Gegensatz zu etlichen Ziehbrü-dern und anderen in Oddi erzogenen jungen Männern bei ihm diese Bildung nicht in einer klerikalen Karriere mündete –, und schließlich eine reiche Belesenheit, die er sich ebenfalls von Kindesbeinen an er-worben haben muss, bilden die Grundlage, auf der sein gesamtes lite-rarisches Werk ruht. Dabei darf keineswegs vergessen werden, dass für Snorri in seiner literarischen Arbeit in inhaltlicher und noch viel mehr in formaler Hinsicht biblische Texte, Werke der antiken lateinischen literatur und natürlich zeitgenössische mittelalterliche Bücher ebenso wichtig waren wie die einheimischen erzählstoffe, die er zu großen literarischen Werken gestaltete. So konnte Snorri in den ersten Sät-zen des Prologs seiner Edda den frühmittelalterlichen enzyklopädisten isidor von Sevilla für seine Beschreibung der erdteile zitieren, später in diesem Prolog ebenso wie in der Heimskringla die mittelalterliche Fassung der Trojanersage des Dares Phrygius, die zu seiner Zeit so-gar schon in altnordischer Übersetzung als Trojumanna saga vorlag, für seine Herleitung der Asen aus Asien nutzen und etwa bei der Be-schreibung der heidnisch-germanischen Unterwelt Hel den Stil des alttestamentlichen Propheten Jesaja imitieren. Bei allem typisch islän-dischen, das uns heute an Snorri so fasziniert, ist es diese leichtigkeit, mit der Snorri einheimisches mit Fremdem, das Neue mit dem Alten, sein Christentum mit alten germanischen Mythen verbindet, was seine weltliterarische Geltung begründet und gleichzeitig eine ausführliche biographische Beschäftigung mit dem Menschen Snorri rechtfertigt.

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Zum Weiterlesen:

Werke von Snorri Sturluson

Die Edda des Snorri Sturluson, ausgew. übers. u. komm. v. Arnulf Krause. Stuttgart: Reclam, 1997Heimskringla – Sagen der nordischen Könige von Snorri Sturluson, hg., übers. u. komm. v. Hans-Jürgen Haube. Wiesbaden: Marix, 2006»Die Saga von egil Skalla-Grímsson«, in: Sagas aus Island. Von Wikin-gern, Berserkern und Trollen, hg. u. übers. v. Rudolf Simek u. Reinhard Hennig. Stuttgart: Reclam, 2011, S. 7–252

Sturlunga saga von Sturla Thórdarson

»Die Geschichte der Sturlungen« ist noch nicht vollständig ins Deut-sche übersetzt worden, es gibt jedoch eine englische Übersetzung:Sturlunga saga, translated from the Old icelandic by Julie MacGrew, introduction by R. George Thomas, 2 Bde. New York: Twayne, 1970–74

liederedda

Die Götter- und Heldenlieder der älteren Edda, hg., übers. u. komm. v. Arnulf Krause. Stuttgart: Reclam, 2004

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Teil 1

8. Juli 1181Ziehsohn in der Fremde

Getümmel auf dem Gutshof. An einem schönen Julitag nach dem Althing* im Sommer 1181 stand Snorri staunend zusammen mit sei-nem Vater Sturla Thórdarson auf dem Hof von Oddi in Rangárvellir. in Oddi wurde Kirchweih gehalten und draußen und drinnen feierte man ein Fest. Vermutlich schenkten nur wenige leute dem kleinen drei-jährigen Jungen Beachtung. Kirchweih war in Oddi am 8. Juli, einige Tage nach Beendigung des Althings. Sturla Thórdarson von Hvamm beabsichtigte, seine dreisten Forderungen gegen den Priester Pál Söl-vason von Reykholt fallen zu lassen, die er wegen einer Misshandlung, die dessen Frau Thorbjörg Björnsdóttir ihm im Sommer 1180 zuge-fügt hatte, gestellt hatte. Diese heikle Angelegenheit, die weiter unten dargestellt wird, war auf dem Althing zuvor geschlichtet worden. Mit der Absicht auf Versöhnung hatte Jón loptsson, der Gode von Oddi, Sturla die Ziehvaterschaft für dessen Sohn Snorri angeboten und Vater und Sohn zur Kirchweih eingeladen. Nach dem heftigen politischen Ringen waren beide nun hierhergekommen und wurden am Feiertag auf dem Gutshof gebührend empfangen.

ein geheimnisvoller Duft füllte die Nasenflügel. Die Macht von Oddi erblühte an diesem Tag und die Menschen waren vom Reich-tum und vom Glanz des Ortes hingerissen. Am Kirchweihtag kamen viele, um ihren Zehnt zu bezahlen. Zahlreiche Besucher übernachteten in der Nacht zum Kirchweihtag, viele Dienstleute und Gäste hielten sich auf einladung des königlichen Verwalters in Oddi auf. in der Kirche wurde in der Messe innig gesungen, am allerschönsten klang die Stimme des Hausherren Jón loptsson. er nahm gemeinsam mit dem Pfarrer an der Messliturgie teil, denn er war geweihter Diakon.

* Ausgewählte Begriffe werden im Glossar ab S. 400 erläutert.

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Credo in unum deum, ein herzergreifender Gesang; die Ministranten schwenkten die Weihrauchkessel, die die luft mit Rauch und Dunst erfüllten.1 Und die lesung des Tages enthielt die Botschaft, die viel-leicht Sturla, den mürrischen Bauern aus Dalir, milder gestimmt hatte: »Daher tut es uns Not, liebe Brüder, wenn wir Kirchweih halten, dass wir die Kirche in unserer Brust reinigen, sodass Gott nicht in seinem Tempel, der wir selbst sind, etwas finde, das wider ihn sei. Und so wie wir in schönen Kleidern und gesäubert am Feiertag auftreten möchten, so sollen wir uns auch innerlich mit Tränen die Sündenflecken von unserer Seele waschen und sie mit guten Werken schmücken.«2

Der Kirchweihtag war ein Freuden- und ein Festtag, und zum Abschied übergab Jón loptsson Sturla Geschenke. Sturla reiste nach Hause nach Dalir, sein kleiner Junge aber blieb zurück. Snorri Sturlu-son war als Ziehsohn und zur Ausbildung an dem Ort islands ange-nommen worden, der zu jener Zeit der europäischen Kultur am näch-sten stand: in Oddi befand sich das kirchliche, soziale und kulturelle Zentrum islands.

in den isländischen Annalen steht für Snorris Geburtsjahr geschrie-ben: »Papst Alexander hielt ein Konzil im lateran. Philippus, König von Frankreich, an Allerheiligen in Reims gekrönt. Tod von Jarl erling Skakki. Snorri Sturluson geboren.«3

»Auf dem Weltkreis, den das Menschengeschlecht bewohnt, gibt es buchtenreiche Küsten«, heißt es in Snorri Sturlusons Heimskringla, und oberhalb von ihnen mancherorts Gebirge mit vielen Tälern. So verhält es sich auch auf der insel island, wo die Tälergruppe Dalir vom Breidafjord abgeht. Oft errichteten die Bewohner ihre Höfe in einer Talsenke, an einer Flussmündung, wo die Segnungen des landes und der See nahe waren. Dies tat auch die großmütige christliche landnah-mefrau Aud die Tiefsinnige, die Dalir in Besitz nahm und auf Hvamm an der Mündung des Aurridi ihren Hof errichten ließ, der später Aud-artóftir genannt wurde. Aud verrichtete ihre Gebete auf Krosshólar, wo sie Kruzifixe aufstellen ließ. Später beteten ihre Verwandten die Hügel an, errichteten dort Grabhügel, opferten und glaubten, dass sie bei ih-rem Tod in die Hügel eingehen würden. Aber der Hofname Hvamm wurde in den Sagas rasch bekannt, und mit ihm brachte man stets die landnahmefrau Aud in Verbindung. Auf diesem Hof wurde Snorri Sturluson geboren, wahrscheinlich im Jahre 1179.4 Seine eltern waren

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Gudný Bödvarsdóttir und Sturla Thórdarson. Sturla, geboren 1116, war ein kleinerer Anführer im Westland, schillernd und heimtückisch, streitsüchtig und machtbesessen. Als Snorri geboren wurde, war sein Vater bereits älter und hatte mit mehreren Frauen erwachsene Kinder.

Gudný Bödvarsdóttir war um einiges jünger als ihr ehemann, aber den Quellen zufolge war ihre ehe glücklich. Gudný stammte vom Hof Gardar auf Akranes, wo ihr Vater Bödvar Thórdarson Gode war. Snorri wuchs nicht nur fern seines elternhauses auf, sondern war auch um einiges jünger als seine Brüder, die man früh für vielversprechend hielt: Thórd, der im Jahre 1165, und Sighvat, der 1170 geboren wurde. Nach Snorris Geburt erblickten die beiden Schwestern Helga und Vigdís das licht der Welt. Snorris Großvater väterlicherseits war Thórd Gilsson, der auf Stadarfell bei Fellsströnd wohnte, das »Unter dem Berg am Süd-strand« genannt wurde. er war zwar von geringerer Abstammung, aber dennoch der Nachkomme des Goden Snorri Thorgrímsson, der um das Jahr 1000 berühmt gewesen war und in den Sagas häufig erwähnung findet.5 Obwohl Thórd nicht zu einer hohen Stellung geboren war, erlangte er auf Umwegen das Godentum, das nach dem Goden Snorri Godentum der Snorrunge genannt wurde.6 Snorris Vater, Sturla Thór-darson, war wohl ein imponierender Mann. im Jahre 1148 heiratete er ingibjörg Thorgeirsdóttir von Hvassafell, und sie bekamen gemeinsam zwei Töchter: Steinunn und Thordís. Sie brachte ihren Sohn einar mit in die ehe, der bei ihnen gemeinsam aufwuchs. Sturla verlor seine Frau ingibjörg um 1160 und heiratete danach Gudný Bödvarsdóttir, die Mutter Snorris und seiner Geschwister. Solche ehen schufen familiäre und politische Verbindungen, die im Machtkampf der Vornehmen auf island von großer Bedeutung sein konnten.

Zahlreiche dieser Machtkämpfe und Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts hatten einen folgenschweren ein-fluss auf Snorri Sturlusons leben. Manche Wissenschaftler meinen so-gar, dass diese Kämpfe den Keim der Bürgerkriege auf island bargen, die man später Sturlungenzeit nannte – und dass Snorri beinahe seit frühester Kindheit in diese Streitigkeiten hineingezogen wurde, ob er wollte oder nicht. Seine oben geschilderte Übersiedlung nach Oddi hat ihren Ursprung in einer derartigen Auseinandersetzung.

Thorlaug, die Frau Thórirs des Reichen von Deildartunga, verlor viele ihrer Kinder schon früh. Sie hatte in ihrer Trauer und Ohnmacht

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eine Reise nach Rom geschworen und bat ihren ehemann inständig, dass er ihr um seiner liebe willen folgen solle. Thórir gab dem Bitten seiner Frau schließlich nach, und 1174 fuhren sie von island fort. Sie gingen bei Trondheim an land und reisten im Sommer südwärts nach Bergen, Thorlaug war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Sie blieben da-her im folgenden Winter in Bergen, wo ihr Sohn Björn geboren wurde. er wurde als Ziehsohn in Mjólkurá unweit von Bergen untergebracht, während das ehepaar weiter nach Rom reiste.7

in der Zeit ihrer Abwesenheit verwalteten Thorlaugs eltern, Thorb-jörg Björnsdóttir und Pál Sölvason, der Priester und Gode von Reyk-holt, das Vermögen. Aber im Jahre 1178 erreichte sie die Nachricht, dass Thórir und Thorlaug beide auf ihrer Reise nach Süden und auch ihr Kind in Norwegen verstorben seien. Priester Pál von Reykholt sah sich als ihr rechtmäßiger erbe, und in der Folge begannen komplizierte Rechtsstreitigkeiten um das Vermögen von Deildartunga.

in den Rechtsstreitigkeiten um das erbe spielte es eine große Rolle, in welcher Reihenfolge die leute von Deildartunga gestorben waren, die Berichte der Mitreisenden auf der Pilgerfahrt über ihren Tod galten als vertrauenswürdig; Thórir war demnach am am 18. März 1177 in lucca in der Toskana gestorben, ihr Sohn Björn am 8. Juli in Bergen und Thorlaug schließlich am 15. August 1177 in Rom. Verschiedenen Quellen zufolge brachte Bischof Thorlák diese Neuigkeiten nach is-land, als er von seiner Bischofsweihe zurückkehrte.8 Auf dieser Grund-lage erhob Pál Sölvason Anspruch auf das gesamte erbe.

Snorri Sturlusons Großvater Bödvar Thórdarson, der Gode von Gardar auf Akranes, meinte allerdings, dass die Schwester von Thórir dem Reichen dessen rechtmäßige erbin sei, denn Bödvar war mit ihr befreundet – und ihm war die Sache schließlich zur Schlichtung anver-traut worden. Die Godentümer der beiden Anführer Pál und Bödvar, dasjenige von Reykholt und das von lund, lagen nebeneinander. Die Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, die daraus entstanden, wer-den auch als die »Deildartungasache« bezeichnet. im Verlauf der Aus-einandersetzung kam man zu vielen Versammlungen zusammen, und im folgenden Halbjahr wurde auf dem Thing wie auch zu Hause im Bezirk über diese Dinge gestritten. Man einigte sich schließlich darauf, eine weitere Versammlung abzuhalten, die an einem eiskalten Herbst-tag am 29. September 1180 in Reykholt stattfand, und auf der einiges

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Bemerkenswertes geschah. Bödvar Thórdarson und sein Schwieger-sohn Sturla saßen südlich des Hofs auf der Wiese und diskutierten aus-führlich über verschiedene Möglichkeiten eines Vergleichs. Páls Frau Thorbjörg Björnsdóttir war bei recht übler laune; ihr gefiel das Gerede der beiden Männer überhaupt nicht. Sie sprang auf sie zu, hatte ein Messer in der Hand, hieb nach Sturla, stach nach seinem Auge und sprach: »Warum sollte ich dich nicht dem am ähnlichsten machen, dem du am ähnlichsten sein möchtest, nämlich Odin.«9 Der Stich traf die Wange und verursachte eine schwere Wunde.

Die Anwesenden zuckten zusammen, Sturlas leute sprangen auf und zückten ihre Waffen. Doch Sturla bat sie, sich wieder zu setzen, um weiter über den Vergleich zu reden, »und man muss wegen dieser Sache hier keine Unbeherrschtheit zeigen, denn Frauen können auf verschiedene Weise ihre liebe verfolgen, und die Freundschaft zwi-schen mir und Thorbjörg ist lange sehr groß gewesen.« er fasste sich mit der Hand ins Gesicht und verteilte das Blut über die Wange, um den Angriff so schwerwiegend wie möglich aussehen zu lassen. Damit verdeutlichte er, dass Pál und er sich später über diese Sache einigen würden, aber zuerst müsse man wegen der »Deildartungasache« den Vergleich mit Bödvar erwirken. Das geschah auch, und auf diese Weise erreichte Sturla ein Selbsturteil und schob sich eine unangemessene Summe zu, nämlich zweihundert Hunderte, die den Wert von zwölf mittelgroßen Grundstücken hatten.10 Das war mehr als Pál und seine leute an Sturla bezahlen konnten, und daher suchten sie die Unter-stützung von Jón loptsson von Oddi, eines der mächtigsten und ein-flussreichsten Männer islands.

Auf dem Althing, das im Sommer 1181 stattfand, war die luft von Heimtücke erfüllt. Pál Sölvason, der selbst das Godentum von Reykholt vertrat, genoss nicht nur die Unterstützung Jón loptssons, sondern auch diejenige der Mehrzahl der mächtigsten Anführer des landes. Auf der gegnerischen Seite standen ebenso energische Mäch-tige aus dem Westland. Viele Konflikte überschatteten somit die Zu-sammenkunft in Thingvellir.

Vermutlich hielt sich Snorri Sturluson als kleiner Knabe mit sei-ner Familie auf dem Althing auf, das den absoluten Höhepunkt der Zusammenkünfte der Menschen bildete; dort war Zeit für Handel, Gesang, Tanz, Pferdekampf und vielerlei Attraktionen. Auf seinem

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Vater Sturla lastete großer Druck, denn er sollte gegenüber den An-führern von Oddi und deren leuten nachgeben. er war für lange und geschickte Reden auf dem Thing bekannt und hatte den Ruf, sowohl klug als auch eloquent zu sein. An dem Tag, an dem die meisten leute zum lögberg kamen, ging Sturla hinaus zum Zaun vor seiner Zelt-bude und hielt eine listige Rede, die folgendermaßen endete: »Aber die leute, die nun von der Sache betroffen sind, nenne ich zuerst deswe-gen, weil Jón loptsson der vornehmste Mann dieses landes ist und alle ihm ihre Rechtssachen zuschieben, daher weiß ich nicht, was ehrenvol-ler ist, als zu erproben, was er aus meiner ehre machen will. Nun kann es sein, dass ich nicht geschickt genug bin, meinen Anteil zu erhalten, aber ich würde gerne meine ehre behalten.«

Bischof Brand entgegnete: »Niemand spricht dir die Klugheit ab, eher wird man dir die Güte absprechen.«11 Jón loptsson sagte, Sturla spreche zwar klug, doch die von Pál geforderte Vergleichssumme sei zu hoch angesetzt gewesen, und nun solle die Sache eben mit ihm verhan-delt werden und nicht mehr mit Pál.

Bevor das Althing auf Thingvellir beendet wurde, bot Jón loptsson dann jedoch Sturla die Ziehvaterschaft für seinen Sohn an und lud beide zur Kirchweih nach Oddi ein.12 Das Schmerzensgeld für Sturla schrumpfte in Jóns Urteil deutlich zusammen, und er musste sich mit sehr viel weniger Schadensersatz für den Angriff Thorbjörgs zufrieden geben, als er ursprünglich gefordert hatte, nämlich nur 30 Hunderte anstelle der 240, die er vorher in seinem Selbsturteil beschlossen hatte.13

Der junge Snorri Sturluson, der sich dieser ganzen Angelegenheit überhaupt nicht bewusst war, hatte – mit diesen Schlichtungen, die im Sommer 1181 geschlossen wurden, und dem Angebot der Ziehvater-schaft von Jón loptsson zur einigung mit Sturla – die Gemeinschaft mit seinen eltern verloren. er befand sich plötzlich in einem gänzlich anderen Umfeld. in der großen Menschenmenge, die sich an diesem Kirchweihtag in Oddi amüsierte, kannte der Junge kaum ein Gesicht. Als sie am Morgen danach auf dem Hofplatz von Oddi Abschied nah-men, ließ er die Hand seines Vaters wohl nur zögerlich los. Sie sahen sich nie wieder.

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1181–1191Kindheit und erziehung in Oddi

Snorri stand, seit er drei Jahre alt war, unter der Obhut des einfluss-reichen Jón loptsson. Jón wurde mit einem König verglichen, er sei ein princeps patriae, ein Anführer des Vaterlands, wie es in einer Quelle heißt – und er selbst stammte als enkel mütterlicherseits des Königs Magnús des Barfüßigen von Norwegen aus einem königlichen Geschlecht. Durch seine erziehung in Oddi erhielt Snorri vermutlich das Beste, was an Schul- und Bildungsmöglichkeiten in dieser Region zu bekommen war, und er wuchs im Glanz der Hird, der norwegischen Gefolgschaft, auf.14

Jón loptsson war zeitlebens ein geschäftiger und bekannter Mann gewesen. Snorri lernte hingegen einen lebenserfahrenen reifen Men-schen kennen, der im Begriff stand, sich vom weltlichen Zank der Mächtigen seiner Zeit abzuwenden. Jón hatte die erziehung seiner Kinder vor langer Zeit abgeschlossen; als er den kleinen Knaben aus Dalir zu sich nahm – vielleicht war er ein geeigneterer erzieher ge-worden –, war er selbst durch die erfahrung des Alters gereift. er war ein weicherer Mann geworden, dachte an sein Seelenheil und bereitete gerade seinen eintritt in ein Kloster vor, das er bei Keldir gründen wollte. Noch aber residierte er würdevoll in Oddi. Bereits Jóns Groß-vater Saemund der Weise (1056–22. Mai 1133) hatte in Oddi eine Schule errichtet und seitdem stellte der Ort nicht nur das kirchliche und soziale Zentrum dar, sondern hatte sich zum Zentrum der Bildung entwickelt. Saemund war ein gelehrter und sehr weiser Mann, zudem soll er auch »der dem Christentum Nützlichste in diesem land« gewe-sen sein; er hatte im Gesetzeswesen, der Schriftkultur und dem Schul-wesen gewirkt.15 Sein enkel Jón loptsson war 1124 geboren worden, in den ersten lebensjahren in Norwegen herangewachsen, war 1135 nach island übersiedelt und als erwachsener schließlich ein erfolgrei-cher und beliebter Anführer gewesen.

Vermutlich kam es Jón sehr gelegen, sich mit Snorri Sturlusons er-ziehung zu beschäftigen. Hierbei mag es eine Rolle gespielt haben, dass Jón loptsson selbst erfahrungen als Ziehsohn gemacht hatte, denn er

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war in jungen Jahren bei Andrés Brúnason untergekommen, dem Prie-ster an der Kreuzkirche in dem seit alters her berühmten Ort Konun-gahella in Norwegen (jetzt Kungälv in Schweden). er erzählte Snorri verschiedene episoden aus seiner eigenen Jugend, die sich in sein Ge-dächtnis gebrannt hatten, wie beispielsweise der Angriff, den er dort im Jahre 1135 erlebt hatte.

Kurz vor Ostern 1135 geschahen demnach seltsame Dinge in Ko-nungahella; die Menschen glaubten, draußen auf den Straßen großen lärm zu hören, die Hunde begannen zu bellen, wurden wild und wie toll und bissen alles, was ihnen in den Weg trat, Mensch und Vieh. Den Ortsbewohnern wurden von Bischof Özur, dem erzbischof von lund, und vom Dänenkönig erik Warnungen überbracht, dass die Wenden auf Heerfahrt durch die lande des Königs an der Ostsee seien. Sie wüteten mit grausamen Angriffen unter den Christen und siegten stets; viele einwohner töteten sie und nahmen manche von ihnen als Geiseln mit sich. Dieser streitbare Volksstamm stand unter der Herr-schaft eines Königs, der Réttibur hieß und vielerorts die Südstrände der Ostsee verheerte.16 Nun näherten sich die Wenden Konungahella. Die einwohner erschraken sehr und die vorhergehenden Warnungen schienen sich als wahr zu erweisen. Viele verließen den Ort, Andrés Brúnason, der Pfarrer der Kreuzkirche, blieb jedoch zurück, sprach ih-nen Mut zu und predigte Gottes Gnade. Die Wenden wüteten furcht-bar in der Stadt, die Christen verteidigten sich schließlich in der Burg. in der dortigen Kirche wurden zahlreiche Heiligtümer verwahrt. Die Kreuzkirche trug ihren Namen nach dem Heiligen Kruzifix, das Sigurd Jorsalfar, der Jerusalemfahrer, als Geschenk von König Balduin in Jeru-salem erhalten hatte. es hatte einen Kern aus einem Span vom Kreuze Christi. Nachdem König Sigurd von seiner großen Reise in die Heilige Stadt zurückgekehrt war, hatte er Konungahella stark ausgebaut. er hatte auch die Kreuzkirche errichten lassen, deren Kostbarkeiten wie das Heilige Kruzifix und der Heiligenschrein Scharen von Pilgern an-lockten. Dies verhalf der Kirche zu gewissem Reichtum. Dieser Heili-genschrein existierte bis in das 20. Jahrhundert; von ihm wird auch in den Königssagas Snorri Sturlusons erzählt.17

Die heidnischen Wenden raubten den Schmuck der Kirche, aber es geschah ein Wunder: Der König der Wenden überließ Priester And-rés Brúnason das Heilige Kreuz, den Schrein und weitere Kleinodien,

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dann aber schleiften seine Heeresleute die Kirche, brannten sie nieder und zerstörten sie wie alles andere. Den einwohnern erschien es wie ein Wunder, dass die Menschen und die heiligen Gegenstände ver-schont blieben, und sie dankten dies ihrem Priester.18

Der »Wunderpriester« von Konungahella war nahe mit Jón lopts-son verwandt und galt als ganz besonderer Mensch. Jón war damals elf Jahre alt und hat sicherlich das Heilige Kreuz selbst gesehen und den Schrein berührt, der eine Reliquie der Heiligen Cordula enthielt.19 Diese war angeblich eine der vielen Jungfrauen, die zusammen mit der Heiligen Ursula in früheren Zeiten der Glaubensverfolgungen den Märtyrertod erlitten hatten.20

Die Rolle des »Wunderpriesters« Andrés in Jóns leben war so ge-sehen der Rolle Jóns gegenüber Snorri selbst ähnlich, er war Ziehvater und lehrer. Wahrscheinlich prägte das Ziehkind von der Kreuzkirche in Konungahella die leute von Oddi noch mehr; Sólveig hieß die Gattin von Andrés Brúnason, und den Namen Sólveig bekam auch Jóns Tochter, die später die Großmutter des Jarls Gizur Thorvaldsson wurde. Die wütende Heerfahrt der Wenden in Konungahella und viel-fältigen Heldentaten des Geistlichen Andrés sowie weiterer hervorra-gender leute zu Ostern 1135 waren auf einmal nicht mehr so weit entfernt. Jón selbst konnte Snorri vom Hergang erzählen, denn er war Augenzeuge der ereignisse gewesen.21

im selben Jahr 1181, als Snorri nach Oddi gegeben wurde, erhielt man auf Hvamm Nachricht davon, dass Thorbjörg, die Pfarrersfrau auf Reykholt, gestorben sei. Das kam für alle so überraschend, dass Snorris Vater Sturla schwermütig wurde und sich zu Bett begeben musste. Den leuten erschien das als ein seltsames Verhalten und fragten ihn, was der Tod von Thorbjörg denn für Auswirkungen hätte. er sagte, dass dies weitreichende Bedeutung habe, denn während sie lebte, habe es ständig Händel zwischen ihm und den Söhnen von Pál und Thorbjörg gegeben, aber nach ihrem Tod gehöre es sich nicht, diese deswegen zu bedrängen.22

Zwei Jahre nach den ereignissen, die dazu geführt hatten, dass Snorri in Oddi aufgezogen wurde, erkrankte sein Vater schwer. Wäh-rend Sturla bettlägerig war, kam Gudmund Arason nach Hvamm. er war damals Priester, wurde später Bischof und galt schon fast als eine legende, die an den »Wunderpriester« Andrés Brúnason erinnerte.

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Sturla lebte nur noch zwei Tage, nachdem Gudmund eingetroffen war und starb am 23.  Juli 1183 im Alter von 67 Jahren. Snorris eltern hatten fünf gemeinsame Kinder, von denen die meisten bei Sturlas Tod noch im Kindesalter waren. Außer Snorri wohnten alle bei ihrer Mut-ter in Hvamm.

Mit der Ziehvaterschaft übernahm man in der Regel die gleiche Verantwortung wie für eigene Kinder. Oft war der Ziehvater zugleich eine Art lehrer, so wie es Ari der Weise bei Hall Thorgeirsson im Hau-kadal oder Priester ingimund bei seinem Neffen, Gudmund Arason, gewesen waren. Die Beziehung zwischen Ziehvater und Ziehsohn war auch durch die gesellschaftliche Rangordnung bestimmt: es hieß, dass derjenige, der für andere ein Kind aufzog, von niederer Stellung als der Vater des Kindes sei, so wie im Falle von König Harald Schön-haars Sohn Hákon, den König Adalstein von england als Ziehsohn annahm.23

Als Snorri in Oddi aufwuchs und intensiv und umfassend studierte, war der Ort bereits seit Mitte des 12. Jahrhunderts für sein Schulwesen bekannt. Diese Tradition ging, wie bereits erwähnt, auf Jóns Großva-ter Saemund zurück, der vor 1100 von einem langen Aufenthalt auf dem europäischen Kontinent nach Hause zurückgekehrt war und die Schule gegründet hatte. in Oddi war die Verwandtschaft mit den Kö-nigen Norwegens durchaus bekannt. Der Vater von Thóra Magnúsdót-tir war sicherlich nicht laut genannt worden, weil sie eines der unzäh-ligen illegitimen Kinder Magnús Oláfssons des Barfüßigen war. Aber als dieser 1163 in Bergen zum König geweiht wurde, war Jón loptsson zugegen, und damals hatte die Königsfamilie die Verwandtschaft for-mal anerkannt.24 Von dieser Verwandtschaft in Norwegen gab es 1184 Neuigkeiten. in Sogne wurde ein hasserfüllter Krieg geführt, an dem die Heere der Könige Sverrir Sigurdsson und Magnús erlingssons teil-nahmen. Dort fiel König Magnús mit einem großen Heer, und Sverrir galt anschließend als der einzige König in Norwegen. Beide Könige waren mit Jón loptsson verwandt. Solche Nachrichten verbreiteten sich in Oddi, als Snorri heranwuchs, und machten die einwohner nä-her mit den Königen bekannt.

es blieb auch nicht ruhig in der Gegend, aus der Snorri stammte. Bald nachdem sein Vater Sturla gestorben war, entstand zwischen Ari Thorgilsson dem Starken aus Stad auf Snaefellsnes und Gudný Böd-

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varsdóttir, der Mutter Snorris, eine liebesbeziehung. Ari war vorher mit Kolfinna, der Tochter Gizur Hallssons, verheiratet gewesen, ihre gemeinsame Tochter hieß Helga.25 Dieses Mädchen hatte zur gleichen Zeit ein Verhältnis mit Snorris Bruder Thórd.

Ari der Starke von Stad war im oben geschilderten Streit zwischen den Schwiegervätern Bödvar Thórdarson und Sturla von Hvamm auf der Seite Pál Sölvasons von Reykholt gewesen – Páls Sohn Magnús war mit Aris Schwester Hallfríd verheiratet. Aber nun hatte sich die lage verändert, Ari und Kolfinna waren geschieden, und er gewöhnte sich an die Besuche im Bett der Witwe von Hvamm. Obwohl es den leuten von Oddi wohl näher gelegen hätte, über Aufstreben und Niedergang verschiedener Könige zu reden als über kleinere isländische Anführer in Dalir, ist ihm der Tratsch über seine Verwandtschaft sicherlich zu Ohren gekommen.

Snorris Mutter Gudný wurde in diesen Jahren gemeinsam mit ihrem Geliebten in einen Mord hineingezogen. Zwei junge Männer töteten im Herbst 1185 einar Thorgilsson, den Goden von Stadarhól. einar war seit früheren Zeiten mit den leuten von Hvamm verfeindet, und zu Sturlas lebzeiten hatte diese Abneigung oftmals zu Gewalt geführt. Die beiden Verbrecher, die einar ermordet hatten, suchten nach dem Übergriff Unterschlupf bei Gudný und Ari und hielten sich abwech-selnd in Hvamm und auf dem Hof Stadarstad auf.26 Als Nachfolger für den Goden einar traten seine Schwester ingveld und ihr Schwie-gersohn Thorvald Gizurarson an. Sie wurden in der erbsache von Jón loptsson unterstützt.27

Auf diese Weise setzte sich der Streit fort, in dem die leute von Hvamm und die von Oddi sich auf gegnerischen Seiten positionierten. Daher ist die Frage berechtigt, ob der Knabe Snorri in Oddi wegen die-ser Auseinandersetzung nicht Spott und Hohn ertragen musste. Viel-leicht befand sich die emotionale Zuwendung für ihn auf einem Tief-punkt, denn es ist in den zeitgenössischen Quellen nicht überliefert, dass er die Zuwendung einer Mutter oder Ziehmutter erfahren hätte.

im Jahre 1186 entschlossen sich Gudný von Hvamm und Ari Thor-gilsson zu einer Reise ins Ausland nach Norwegen. Ari übergab die Herrschaft über die Pfründe von Stad in die Hände Thórd Sturlusons, der damals 18 Jahre alt war. Ari überließ ihm auch die Hälfte des Go-dentums von Thórsnes zur Vertretung, und gleichzeitig heiratete Thórd

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