4
GESCHICHTE «So etwas vergisst man nie» Vor genau vierzig Jahren, am 10. April 1973, ereignete sich der bisher schwerste Flugunfall in der Schweiz: Ein britisches Charterflugzeug verfehlte den Flughafen Basel-Mülhausen und zerschellte schliesslich beim Weiler Herrenmatt bei Hochwald im Kanton Solothurn. Von den 145 Flugzeuginsassen kamen 108 ums Leben. von Erik Brühlmann , A m 10. April 1973 startete ein vier- motoriges Passagierflugzeug der britischen Chartergesellschaft In- victa International Airways von Bristol (GB) in Richtung Basel-Mülhausen. An Bord der Maschine vom Typ Vickers Van- guard 952 waren neben den beiden Pilo- ten vier Crew-Mitglieder und 139 Passa- giere. Für die meisten von ihnen sollte es der letzte Flug ihres Lebens werden. Schlechte Voraussetzungen Das Wetter war schlecht, als die Ma- schine um 8.19 Uhr Schweizer Zeit ab- hob, und es besserte sich während des gesamten Flugs nicht. Im Gegenteil, in der Region Basel herrschte Schneetrei- ben, die Wolken hingen tief. «Pro Stun- de fielen etwa zehn Zentimeter Nass- schnee», erinnert sich Hansruedi Vögtli, der damals als einer der Ersten an der Absturzstelle in der Nähe von Hochwald beim Weiler Herrenmatt (SO) war. «So- gar der Strom war ausgefallen.» Für die beiden Piloten, Anthony Dorman und Ivor Terry, bedeutete dies unangenehme Flug- und Landebedingungen. Doch die Piste, die die Maschine vom Kontroll- turm des Flughafens zugewiesen bekam, hätte mit Hilfe des Instrumentenlande- systems (ILS) trotzdem benutzt werden können. Um 10.00 Uhr erhielten Dor- man und Terry deshalb Landeerlaubnis. Die Maschine schoss über das Ziel hin- aus, sodass Dorman fünf Minuten später meldete, durchstarten zu müssen - ein Manöver, das Piloten natürlich zu ver- meiden versuchen, aber aus dem Effeff beherrschen. Der Irrflug beginnt Von nun an überschlugen sich die Er- eignisse. Die Piloten erhielten vom Kon- trollturm die Anweisung, eine Schleife 18 Nr.14/2013 c o E ~ E '" ~ ~ .s: ~ "'" u '" Ö ~ Gedenktafel an der AbsturzsteIle der Invicta-Maschine bei Herrenmatt/Hochwald. zu fliegen und das Funkfeuer erneut anzusteuern, um einen zweiten Lande- anflug einzuleiten. Doch die Piloten hat- ten mittlerweile offenbar die Orien- tierung verloren: Als sie um 10.07 Uhr meldeten, das Funkfeuer erreicht zu ha- Abgestürzt ben, befanden sie sich in Wahrheit be- Stutzig geworden, erbat der Fluglotse reits mehrere Kilometer weiter südlich. eine Positionsbestätigung - und bekam Eine Minute später meldete ein Meteo- sie mit der Anmerkung, man befinde rologe und ehemaliger Pilot dem Kon- sich jetzt im Anflug. Um 10.12 Uhr funk- trollturm in Mülhausen, er habe eine te der Fluglotse: «Ich glaube, Sie sind viermotorige Maschine in nur fünfzig südlich der Piste!» Eine Antwort bekam Meter Höhe über die Sternwarte Binnin- er nicht mehr. «Meine Frau und ich wun- gen fliegen sehen. Die .Piloten der Vi- , derten uns, als wir plötzlich ein Flugzeug ckers Vanguard allerdings gaben an, so tief über unseren Hof fliegen hörten», nördlich des Flughafens zu sein. Also erinnert sich Hansruedi Vögtli. Der heu- erhielten sie Order zu wenden und die te Achtzigjährige war damals Feuer- Piste erneut anzufliegen. Dass die Beob- wehrkommandant des Dorfs, riefbei sei- achtung des Meteorologen eher der tat- ner Alarmstelle an und fragte, ob ein sächlichen Position des Flugzeugs ent- Flugzeug vermisst werde. Während er sprach, ahnte niemand. Um 10.11 Uhr auf die Antwort wartete, ging der Bauer fragte der Kontrollturm des Flughafens selbst auf die Suche, allerdings in die fal- Zürich an, ob Basel ein Flugzeug beob- achte, das in Richtung Hochwald fliegt. Gleichzeitig erbaten die Piloten Lande- erlaubnis - und erhielten sie.

«Soetwas vergisst man nie» - firma-web.ch · bei Weiach (ZH) eine McDonnel1 Douglas DC-9der Alitalia aus Mailand kommend beim lande-anflug auf Zürich-Kloten in den Stadlerberg

  • Upload
    trannhi

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

GESCHICHTE

«So etwas vergisst man nie»Vor genau vierzig Jahren, am 10. April 1973, ereignete sich der bisher schwerste Flugunfallin der Schweiz: Ein britisches Charterflugzeug verfehlte den Flughafen Basel-Mülhausenund zerschellte schliesslich beim Weiler Herrenmatt bei Hochwald im Kanton Solothurn.Von den 145 Flugzeuginsassen kamen 108 ums Leben. von Erik Brühlmann

,Am 10. April 1973 startete ein vier-

motoriges Passagierflugzeug derbritischen Chartergesellschaft In-

victa International Airways von Bristol(GB) in Richtung Basel-Mülhausen. AnBord der Maschine vom Typ Vickers Van-guard 952 waren neben den beiden Pilo-ten vier Crew-Mitglieder und 139 Passa-giere. Für die meisten von ihnen sollte esder letzte Flug ihres Lebens werden.

Schlechte VoraussetzungenDas Wetter war schlecht, als die Ma-

schine um 8.19 Uhr Schweizer Zeit ab-hob, und es besserte sich während desgesamten Flugs nicht. Im Gegenteil, inder Region Basel herrschte Schneetrei-ben, die Wolken hingen tief. «Pro Stun-de fielen etwa zehn Zentimeter Nass-schnee», erinnert sich Hansruedi Vögtli,der damals als einer der Ersten an derAbsturzstelle in der Nähe von Hochwaldbeim Weiler Herrenmatt (SO) war. «So-gar der Strom war ausgefallen.» Für diebeiden Piloten, Anthony Dorman undIvor Terry, bedeutete dies unangenehmeFlug- und Landebedingungen. Doch diePiste, die die Maschine vom Kontroll-turm des Flughafens zugewiesen bekam,hätte mit Hilfe des Instrumentenlande-systems (ILS) trotzdem benutzt werdenkönnen. Um 10.00 Uhr erhielten Dor-man und Terry deshalb Landeerlaubnis.Die Maschine schoss über das Ziel hin-aus, sodass Dorman fünf Minuten spätermeldete, durchstarten zu müssen - einManöver, das Piloten natürlich zu ver-meiden versuchen, aber aus dem Effeffbeherrschen.

Der Irrflug beginntVon nun an überschlugen sich die Er-

eignisse. Die Piloten erhielten vom Kon-trollturm die Anweisung, eine Schleife

18 Nr.14/2013

coE

~'öE'"~~.s:~"'"u

'"Ö~Gedenktafel an der AbsturzsteIle der Invicta-Maschine bei Herrenmatt/Hochwald.

zu fliegen und das Funkfeuer erneutanzusteuern, um einen zweiten Lande-anflug einzuleiten. Doch die Piloten hat-ten mittlerweile offenbar die Orien-tierung verloren: Als sie um 10.07 Uhrmeldeten, das Funkfeuer erreicht zu ha- Abgestürztben, befanden sie sich in Wahrheit be- Stutzig geworden, erbat der Fluglotsereits mehrere Kilometer weiter südlich. eine Positionsbestätigung - und bekamEine Minute später meldete ein Meteo- sie mit der Anmerkung, man befinderologe und ehemaliger Pilot dem Kon- sich jetzt im Anflug. Um 10.12 Uhr funk-trollturm in Mülhausen, er habe eine te der Fluglotse: «Ich glaube, Sie sindviermotorige Maschine in nur fünfzig südlich der Piste!» Eine Antwort bekamMeter Höhe über die Sternwarte Binnin- er nicht mehr. «Meine Frau und ich wun-gen fliegen sehen. Die .Piloten der Vi- , derten uns, als wir plötzlich ein Flugzeugckers Vanguard allerdings gaben an, so tief über unseren Hof fliegen hörten»,nördlich des Flughafens zu sein. Also erinnert sich Hansruedi Vögtli. Der heu-erhielten sie Order zu wenden und die te Achtzigjährige war damals Feuer-Piste erneut anzufliegen. Dass die Beob- wehrkommandant des Dorfs, riefbei sei-achtung des Meteorologen eher der tat- ner Alarmstelle an und fragte, ob einsächlichen Position des Flugzeugs ent- Flugzeug vermisst werde. Während ersprach, ahnte niemand. Um 10.11 Uhr auf die Antwort wartete, ging der Bauerfragte der Kontrollturm des Flughafens selbst auf die Suche, allerdings in die fal-

Zürich an, ob Basel ein Flugzeug beob-achte, das in Richtung Hochwald fliegt.Gleichzeitig erbaten die Piloten Lande-erlaubnis - und erhielten sie.

,

Zerschellt und zerbrochen: Ein Teil des Rumpfs des abgestürzten Flugzeugs ist unter dem Schnee noch gut zu erkennen.

Nr. 14/2013 19

,

rr-; - ,J.r.~j-. ~

I.~

,...~ ~...• -'. "rc.

~i<t.'!'·

Die Schneemassen behinderten die Bergungsarbeiten beträchtlich (Bilder oben). In denJahren nach dem Unglück haben Überlebende des Absturzes, Angehörige der Opfer,aber auch Touristen die Gedenkstätte an der AbsturzsteIle bei Hochwald immer wiederbesucht (Bild unten).

20 Nr.14/2013

sche Richtung. Als die Alarmstelle. inBasel seine Frage negativ beantwortete,war die Sache für ihn zunächst erledigt.Eine Stunde später erhielt Vögtli einenAnruf vom Flughafen Basel-Mülhausenund wurde gebeten zu erzählen, was ergesehen habe. «Gesehen habe ich garnichts», antwortete er, «aber wenn ihrein Flugzeug vermisst, ist es vermutlichhier in der Gegend abgestürzt!» Basel be-stätigte ...

Erste HilfeFür Hansruedi Vögtli war dies das Sig-

nal, die Feuerwehr aufzubieten und sichmit einigen Jugendlichen auf die Suchenach dem Flugzeug zu machen. «Es wa-ren mein Sohn und unser Hund, die dieersten Überlebenden fanden. Sie hattensich aus dem Wrack befreien können undwaren in den Wald gelaufen.» Vögtlinahm die fünf Menschen zu sich nachHause und begab sich wieder zur Unfall-steIle. «Ich hörte Schreie, also wusste ich,dass es noch mehr Überlebende gab.» .Aber aus dem Wrack schossen auch Flam-men. Feuerlöscher wurden beschafft unddas Feuer bekämpft, um eine Explosionzu vermeiden. «Dass diese Art von Treib-stoff nicht explodieren konnte, wusste ichals Laie ja nicht», so Vögtli. Endlich stie-ssen weitere Dorfbewohner hinzu undhalfen bei der Bergung. Es bot sich einBild des Grauens. Doch die Retter erleb-ten auch Glücksrnomente: «Nachdem wireine Leiche zur Seite gelegt hatten, zogmein Kollege einen Jungen aus den Trüm-mern. Plötzlich riss der Junge die Augenauf - er war unverletzt!» Wenn Hansrue-di Vögtli von den Erlebnissen erzählt,klingt es, als sei es für ihn die normalsteSache der Welt gewesen, die Trümmer zudurchsuchen. Doch der Eindruck täuscht:«Ich weiss heute noch nicht, woher wirden Mut und die Kraft genommen haben,all das zu tun», sagt er.

Warten auf die KrankenwagenDa die Notfallwagen wegen des vielen

Schnees auf sich warten liessen, brachtendie Helfer die Überlebenden zunächstzum Weiler Herrenmatt und quartiertensie bei sich zu Hause ein. «Bis zu diesemMoment hatten die Überlebenden einenunglaublichen Willen und Stärke ge-zeigt», erinnert sich Vögtli. «Aber sobaldsie in Sicherheit waren, brachen sie regel-recht in sich zusammen.» Bis gegen

Abend kümmerten sich die Helfer um dieVerletzten. Erst dann waren die Strassenfrei, und die Krankenwagen konnten dieÜberlebenden abtransportieren. Dannwar auch für Vögtli der Moment gekom-men, in dem ihm so richtig bewusst wur-de, was überhaupt passiert war: «In derNacht und vor allem am nächsten Tagholte es mich regelrecht ein.»

,

Auf der Suche nach AntwortenDie Bilanz des bisher grössten Flug-

unfalls auf Schweizer Boden liest sichverheerend: Von den 145 Menschen anBord überlebten nur 37 den Absturz.Die anschliessenden Ermittlungen wur-den international geführt: Neben demSchweizer Verkehrs- und Energiewirt-schaftsdepartement - dem heutigen De-partement für Umwelt, Verkehr, Energieund Kommunikation (Uvek) - warenauch die britischen und französischenBehörden an der Aufklärung beteiligt.Erstere, weil Invicta International Air-ways eine britische Fluggesellschaft war,Letztere, weil der Flughafen Basel-Mül-hausen auf französischem Staatsgebietliegt. Auch Hansruedi Vögtli wurde imZuge der Aufklärungsarbeit befragt.Kurzzeitig kam sogar der Verdacht derunterlassenen Hilfeleistung auf. «Die da-malige <National-Zeitung> veröffentlich-te eine Woche später einen Artikel mitdem Titel <Siebzig Minuten nichts», er-zählt Vögtli. Vier Stunden wurde er da-raufhin zum mutmasslichen Tatbestandbefragt. «Was hätte ich denn damals an-deres tun sollen? Es dauerte halt so lange,bis wir überhaupt wussten, dass ein Flug-zeug abgestürzt war, und bis wir es danngefunden hatten. Ob mehr Menschenüberlebt hätten, wenn wir schneller dortgewesen wären, fragte man mich unteranderem. Woher sollte ich das denn wis-sen?» Es blieb glücklicherweise bei die-ser Befragung. Ein juristisches Nachspielhatte Vögtlis Hilfsbereitschaft nicht.Bald war klar, dass die Piloten in den

Minuten vor dem Absturz «keine gesi-cherte Kenntnis über Flughöhe oder Po-sition hatten», wie die englische Zeitung«The Guardian» bereits am 12.April 1973vermeldete - ein Befund, den der ab-schliessende Untersuchungsbericht garals Hauptgrund für den Absturz be-zeichnete. Ausserdem wurde festgestellt,dass der Bordfunk und die Blindflugin-strumente nicht ordnungsgemäss funk-

GESCHICHTE

Die Katastrophe von Hochwaldwar der schwerste, jedoch nichtder einzige Flugunfall auf Schwei-zer Boden. Eine Auswahl derwichtigsten Ereignisse:

Katastrophen der Schweizer Luftfahrt

• Am 4. September 1963 stürzteeine Swissair-Caravelle kurz nachdem Start in Zürich bei Dürren-äsch (AG) ab. Alle 80 Passagiereund Crew-Mitglieder kamen umsLeben. 43 davon stammten ausder Zürcher Gemeinde Humlikon,die dadurch rund einen Fünftelihrer Einwohner verlor.

• Am 21. Februar 1970 explodier-te an Bord des Swissair-Flugs 330von Zürich nach Tel Aviv kurz nachdem Start eine Bombe. Das Flug-zeug stürzte bei Würenlingen(AG) ab, alle 47 Insassen starben.

• Am 14. November 1990 pralltebei Weiach (ZH) eine McDonnel1Douglas DC-9 der Alitalia ausMailand kommend beim lande-anflug auf Zürich-Kloten in denStadlerberg. Alle 46 Passagiereund Crew-Mitglieder starben.

• Am 10. Januar 2000 kamenbeim Absturz einer Saab 340 derCrossair bei Nassenwil (ZH) alle

10 Menschen an Bord ums le-ben. Die Maschine war auf demFlug von Zürich nach Dresden.

• Am 24. November 2001 stürzteeine Avro RJ100 der Crossair ausBerlin kommend etwa sechsKilometer vor der landung inZürich in einen Wald bei Bassers-dorf (ZH). 24 der 33 Menschenan Bord starben, 5 wurden schwerverletzt. Durch die Medien gingdas Ereignis auch deshalb, weildabei die Sängerin MelanieThornton sowie zwei Mitgliederder Popgruppe Passion Fruit umsleben kamen. Ebenfalls an Bordwar die heutige SP-NationalrätinJacqueline Badran, die das Un-glück leicht verletzt überlebte.

Als schwerstes Unglück derSchweizer luftfahrtgeschichtegilt der Absturz des Swissair-Fluges 111vor der kanadischenKüste am 2. September 1998,bei dem alle 229 Passagiereund Besatzungsmitglieder umsLeben kamen. '

tionierten, was eine präzise Navigationnatürlich erschwerte. Ob und inwieweitdie ebenfalls zutage geförderten Ausbil-dungsdefizite und -ungereimtheiten beiPilot Anthony Dorman einen Einflussauf die Ereignisse hatten, blieb ungewiss.

Im GedenkenAn der AbsturzsteIle bei Hochwald - sie

liegt genau in der Verlängerung der Pis-te, auf der das Flugzeug eigentlich hättelanden sollen - erinnert heute ein Denk-mal an die Katastrophe. Gestiftet wurdees vom Regierungsrat des Kantons Solo-thurn, der britischen Regierung, dermittlerweile nicht mehr existierendenFluggesellschaft und den südenglischen

Gemeinden, aus denen die Opfer stamm-ten. «Noch immer kommen manchmalEngländer vorbei und sehen sich die Ab-sturz stelle an», sagt Hansruedi Vögtli.Er selbst habe seine Geschichte im Laufder Zeit oft und bei unzähligen Anlässenerzählen müssen, bis er eines Tages da-von genug hatte. Abgeschlossen hat ermit den Ereignissen dennoch nicht:«Jedes Mal, wenn ich an der AbsturzsteI-le vorbeikomme, kommt alles wiederhoch, ob ich es will oder nicht. Man kannes sich gar nicht vorstellen, wenn mannicht dabei gewesen ist - und wenn mandabei gewesen ist, kann man es nie ver-gessen.» •

Nr.14/2013 21