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Schleswig-Holsteinischer Verband für soziale Strafrechtspflege. Straffälligenhilfe und Opferhilfe ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALE STRAFRECHTSPFLEGE SONDERHEFT Innovationen im Jugendstrafvollzug Ergebnisse und Materialsammlung der Fachtagung vom 06.09.2007 in Lübeck

Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug · Baden-Württemberg, zum Projekt Chance, dem Jugendstrafvollzug in freien For- men und dem Nachsorgenetzwerk in Baden-Württemberg sowie

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Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Holstein

Arbeiterwohlfahrt Mittelholstein

Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Flensburg

Arbeiterwohlfahrt Unterelbe

Arbeitsgemeinschaft Deutsches Schleswig

Auxilia - Verein für Gefährdeten- und Straffäll igenhilfe, Itzehoe

Beratungsstelle im Packhaus bei Pro Familia, Kiel

Berufsfortbildungswerk des DGB (bfw) Schleswig-Holstein, Neumünster

Brücke Kiel

Brücke Rendsburg-Eckernförde

Caritasverband Schleswig-Holstein

Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands CJD-Landesgruppe Schleswig-Holstein

Deutsches Rotes Kreuz Schleswig-Holstein

Diakonisches Werk Schleswig-Holstein

Diakonisches Werk Husum Bredstedt

Diakonisches Werk der Kirchenkreise Rendsburg und Eckernförde

Diakonisches Werk des Kirchenkreises Schleswig

Evangelische Stadtmission Kiel

Förderverein Bewährungshilfe Neumünster

Forum Sozial, Kiel

Freie Jugendhilfe Kreis Herzogtum Lauenburg

Gefährdetenhilfe Norderstedt

Gefährdeten- und Straffäll igenhilfe Stormarn

Hempels, Kiel

Jugendhilfeverein Nordfriesland

Kinder- und Jugendhilfeverbund, Kiel

LAG der BewährungshelferInnen

LAG der Gerichtshelferinnen

LAG der TOA-KonfliktberaterInnen

LAG der Vollzugsabteilungsleitungen im Justizvollzug in Schleswig-Holstein

Land in Sicht, Husum

Lichtblick, Kiel

Norderhelp, Neumünster

Odyssee, Kiel

Paritätischer Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein

Rechtsfürsorge Lübeck - Resohilfe

Resohilfe Nordfriesland, Bredstedt

Sönke-Nissen-Park Stiftung, Glinde

Stiftung Straffäll igenhilfe Schleswig-Holstein

Resokette der Diakonie, Vorwerker Heime Lübeck

Verein für Gefangenenfürsorge und Bewährungshilfe, Pinneberg

Verein für Jugendhilfe, Pinneberg

Verein für Resozialisierung Rendsburg-Eckernförde

Verein für Straffäll igenbetreuung, Flensburg

Verein Hilfe zur Selbsthilfe, Flensburg

Wendepunkt, Elmshorn

ZBS des Diakonischen Werkes Neumünster

Die derzeitigen Mitglieder sind:

Der Schleswig-Holsteinische Verband für soziale Strafrechtspflege; Straffäl l igen - und Operhi lfe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die An-l iegen der sozialen Strafrechtspflege in Schleswig-Holstein geltend zu machen sowie die Strukturen und Inhalte der sozialen Strafrechtspflege Schles-wig-Holsteins zu stärken und weiter zu entwickeln.

Unter Strafrechtspflege wird die Arbeit sowohl mit straffäl l ig gewordenen Menschen und ihren Ange-hörigen als auch mit Opfern von Straftaten ver-standen. Der Verein arbeitet mit Organisationen ähnl icher Zielsetzung, auch außerhalb des Landes Schleswig-Holstein, zusammen. Er wurde 1951 von sozial engagierten Persönl ichkeiten gegründet.

Schleswig-Holsteinischer Verbandfür soziale Strafrechtspflege.Straffälligenhilfe und Opferhilfe

Z E I TS C H R I F T F Ü R S O Z I A L E S T R A F R E C H TS P F L E G E

S O N D E R H E F T

Innovationen im Jugendstrafvollzug Ergebnisse und Materialsammlung der Fachtagung vom 06.09.2007 in Lübeck

2 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

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Inhalt Seite

Editorial 4

Impressum 5

Nahmen Roelof fs

Begrüßung: Innovationen im Jugendstrafvollzug Soziales Trainingszentrum

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Thorsten Geißler

Grußwort 17

Bernd-Rüdeger Sonnen

Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug 20

Bernd Maelicke

Integrierte Resozialisierung als strategische Innovationsaufgabe 28

Rüdiger Wulf

Projekt Chance – Jugendstrafvollzug in freien Formen und Nachsorgenetzwerk in Baden-Württemberg 32

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser

Das Nachsorgeprojekt Chance für junge Inhaftierte in Baden-Württemberg 45

Georg Horneber

Projekt Chance im CJD Creglingen 56

Tobias Merckle

Projekt Jugendhof Seehaus, Prisma e. V. 64

4 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wir freuen uns, Ihnen mit diesem Sonderheft der Zeitschrift für soziale Strafrechts-pf lege die Ergebnisse der Fachtagung „Innovationen im Jugendstrafvollzug“ vom 6. September 2007 in Lübeck näher bringen zu können. Diese Fachtagung wurde von unserem Mitglied, dem Kinder- und Jugendhilfe-Verbund gemeinnützige Gesellschaft mbH, initiiert und gemeinsam mit der Universität Lüneburg, der Deutschen Vereini-gung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. sowie dem Jugendhilfeträ-ger S & S gemeinnützige Gesellschaft für Soziales mbH Hamburg veranstaltet.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und der Föderalismusre-form waren die Bundesländer aufgefordert, gesetzliche Regelungen für den Ju-gendstrafvollzug zum 01.01.08 zu schaffen. Im Rahmen der Fachtagung haben 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 10 Bundesländern und aus Institutionen wie Länderministerien, Justizvollzugsanstalten, öffentlichen und freien Trägern der Ju-gendhilfe und der Straffälligenhilfe das Thema „Innovationen im Jugendstrafvollzug“ aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet:

Welche Mindeststandards müssen für den Jugendstrafvollzug in den Länderge- •setzen verankert werden, um die Grundlage und den Rahmen für Resozialisie-rung und Innovationen zu schaffen?

Wie muss sich die soziale Strafrechtspf lege weiterentwickeln, um Innovationen •möglich und umsetzbar zu machen?

Wie muss die Zusammenarbeit Justiz/Jugendhilfe entwickelt werden, um den •Umgang mit jungen Straftätern sowohl für die Gesellschaft als auch für die jungen Menschen zu verbessern?

Welche konkreten Beispiele für Innovationen gibt es insbesondere in der Zusam- •menarbeit zwischen Jugendhilfe und Justiz?

In diesem Heft f inden Sie Beiträge und Materialien von Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Son-nen, DVJJ, zu Mindeststandards, von Prof. Dr. Bernd Maelicke, Universität Lüneburg, mit Thesen zur integrierten Resozialisierung, von Ministerialrat Dr. Rüdiger Wulf, Baden-Württemberg, zum Projekt Chance, dem Jugendstrafvollzug in freien For-men und dem Nachsorgenetzwerk in Baden-Württemberg sowie die Darstellungen von Georg Horneber, Projekt Chance im CJD Creglingen, und Tobias Merckle, Projekt Jugendhof Seehaus, Prisma e. V.. An einigen Stellen nehmen diese Beiträre bezug

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auf die politische Disussion zur Entwicklung und Formulierung der Landesjugend-strafvollzugsgesetze. Diese Gesetze sind nun mehr in Kraft. Die hier geäußerten Umsetzungsbedarfe im Sinne einer effektiven und sozialen Jugendstrafrechstpf lege bleiben hingegen aktuell.

Ergänzend zu den Fachtagungsbeiträgen f inden Sie in diesem Heft einen wis-senschaftlichen Aufsatz zum Nachsorgenetzwerk in Baden-Württemberg (ein Nachdruck aus der Zeitschrift Forum Strafvollzug) sowie die Projektpräsentation des Kinder- und Jugendhilfe-Verbundes gemeinnützige Gesellschaft mbH für das innovative Projekt Soziales Trainingszentrum.

Schleswig-Holsteinischer Verband für soziale Strafrechtspflege; Straffälligen- und Opferhilfe

Anja Holthusen, Vorstand, Jo Tein, Geschäftsführer,

Impressum

Herausgeber: Schleswig-Holsteinischer Verband für soziale Strafrechtspf lege; Straffälligen- und Opferhilfe e.V., Von-der-Goltz-Allee 93, 24113 Kiel

Telefon: 0431/64661, Fax: 0431/643311

E-Mail: landesverband@soziale-strafrechtspf lege.de

Internet: www.soziale-strafrechtspf lege.de

Bankverbindung: Ev. Darlehnsgenossenschaft Kiel (BLZ 210 602 37) KTN 44 350

Redaktion: Anja Holthusen (v.i.S.d.P.), Skript/Layout: larswehrmann.de

Auf lage: 1500 Exemplare, Bezugspreis: EUR 2,00 zzgl. EUR 0,85 Versand

Abonnement: Gegen Überweisung von EUR 10,00 auf o.g. Konto erhalten Sie die nächsten 4 Ausgaben inkl. Versandkosten zugestellt. Für Mitglieder des Verbandes ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.

Druck: Hansa-Druck, Kiel

ISSN-Nr. 1864-5216

© 2008 by Schleswig-Holsteinischer Verband für soziale Strafrechtspf lege; Straffälligen- und Opferhilfe e.V., Kiel

6 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Nahmen Roeloffs

Begrüßung: Innovationen im Jugend-strafvollzug

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Referenten, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

im Namen der Veranstalter, der Universität Lüneburg, der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. und den beiden Jugendhilfeträ-gern Kinder- und Jugendhilfe-Verbund gemeinn. GmbH und S & S gemeinnützige Gesellschaft für Soziales mbh Hamburg möchten wir Sie ganz herzlich zu unserer heutigen Veranstaltung zu dem Thema Innovationen im Strafvollzug hier in Lübeck begrüßen.

Es mag etwas befremdlich sein, wenn – wie hier geschehen – auch zwei Jugend-hilfeträger einladen zu einer derartigen Fachveranstaltung im Bereich der Justiz. Bislang gibt es ja keinen wirklich gemeinsamen fachpolitischen Diskurs von Ju-gendhilfe und Justiz. Das hängt damit zusammen, dass die Jugendhilfe eigentlich nichts mit geschlossenen Systemen zu tun haben will. Die Jugendhilfe lehnt das Konzept von geschlossener Unterbringung im Rahmen der Jugendhilfe ab. Unter den Slogan „Menschen statt Mauern“ hat sich die Jugendhilfe insbesondere seit den 1980er Jahren vehement gegen bestehende Einschließungspraktiken in der Jugend-hilfe gewehrt. Auch die beiden Träger, die heute hier Mitveranstalter sind, lehnen derartige geschlossene Konzepte im Rahmen der Jugendhilfe ab – aus einer ganzen Reihe von Gründen. Ganz entscheidend ist dabei auch sicher die Befürchtung, dass geschlossene Einrichtungen in der Jugendhilfe, sind sie erst einmal installiert, auch dann tatsächlich belegt werden, einfach nur, weil das Angebot da ist und somit der innovative Druck, der für jedes System wichtig ist, nachlässt. Es ist unsere Aufga-be, immer wieder auf den Einzelfall zu gucken und auch in scheinbar ausweglosen Situationen mit den betroffenen Klienten, mit den Jugendlichen und den Eltern neue, gegebenenfalls auch ganz neue Maßnahmen in der Jugendhilfe zu entwi-ckeln – aber eben auf der Grundlage von Freiwilligkeit. Es existiert somit eine Art kulturbedingte Aversion der Jugendhilfe gegenüber Zwangsmaßnahmen.

Insofern gab und gibt es bei den Trägern der Jugendhilfe immer eine gewisse Tendenz, sich aus Debatten um den Strafvollzug herauszuhalten. Geschlossenheit

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und Vollzug, das war eher etwas Schmuddeliges, damit wollte man sich nicht beschäftigen, man war auf der moralisch besseren Seite, in der es immer eben um Freiwilligkeit ging. Ein freier Träger der Jugendhilfe, der sich programmatisch für geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe einsetzt, wird verdächtigt, es mit der Fachlichkeit nicht ganz so ernst zu nehmen.

Dabei ist die Expertise der Jugendhilfe für die Diskussion um Innovationen im Strafvollzug aus meiner Sicht unverzichtbar. Immer wieder hat es auch die Jugend-hilfe mit Intensiv- und Mehrfachtätern zu tun, die dann in offenen Settings betreut werden. Das Projekt Chance in Baden-Württemberg ist vor diesem Hintergrund auch in enger Zusammenarbeit mit den beiden Jugendhilfeträgern, dem CJD und dem Verein Prisma entwickelt worden.

Der bundesdeutsche Jugendstrafvollzug ist in seiner aktuellen Form aus fachlicher Sicht der Jugendhilfe nicht dif ferenziert genug ausgestaltet. Insofern begrüßt die Jugendhilfe das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Jugendstrafvollzug und for-dert, dass damit auch die Ziele des Sozialgesetzbuches VIII für Jugendliche auch im Justizbereich im Jugendstrafvollzug gelten und umgesetzt werden müssen.

Das Bundesland Baden-Württemberg hat bereits im Jahr 2001 Neuland betreten und mit dem Projekt Chance gezeigt, dass es auch im Rahmen der Justiz gelingen kann, jugendliche Inhaftierte in einem Umfeld zu betreuen, das eher den Forde-rungen der Jugendhilfe entspricht. Vom Norden aus haben wir diese Reformbestre-bungen aufmerksam beobachtet und nunmehr auch für die norddeutschen Bundes-länder ein Konzept vorgelegt, das hoffentlich auch hier etwas in Bewegung bringt. Letztlich ist dabei vieles aus Baden-Württemberg übernommen und Bewährtes geblieben, einiges ist möglicherweise weiterentwickelt. In der praktischen Umset-zung denken wir dabei nicht daran, dieses Konzept selbst umzusetzen, sondern werden einen neuen Träger begründen, eine Stiftung – gegebenenfalls auch gern unter Beteiligung anderer Jugendhilfeträger – um hier unter enger Beteiligung der Justiz so etwas umzusetzen.

Nahmen Roeloffs, Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfe-Verbundes gGmbH

Nahmen Roelof fs: Begrüßung: Innovationen im Jugendstrafvollzug

8 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Jugendstrafvollzug in freien Formen Soziales Trainingszentrum

Powerpoint-Präsentation:

9Nahmen Roelof fs: Soziales Trainingszentrum

10 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

11Nahmen Roelof fs: Soziales Trainingszentrum

12 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

13Nahmen Roelof fs: Soziales Trainingszentrum

14 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

15Nahmen Roelof fs: Soziales Trainingszentrum

16 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

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Thorsten Geißler

Grußwort

Es ist erfreulich, dass die heutige Fachtagung vom Kinder- und Jugendhilfe-Verbund Kiel gemeinsam mit der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendge-richtshilfen, dem Fachverband für Jugendhilfe und Jugendkriminalität, der S & S gemeinnützigen Gesellschaft für Soziales mbH und der Universität Lüneburg veran-staltet wird. Alle Veranstalter tragen gemeinsam dazu bei, die komplexe Thematik, die während dieser Fachtagung erörtert wird, in all ihren Facetten zu beleuchten. Alle Verbände, die heute hier vertreten sind, leisten beeindruckende Beiträge, um Jugendlichen Hilfestellung zu gewähren, jeder für sich und auf seine Weise. Breit ist das Spektrum der Aktivitäten. Als Beispiele seien genannt: Erlebnispädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene und Familien bis zur Ursachenforschung der Jugendkriminalität.

Für Aufsehen hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006 gesorgt, mit der zunächst dem Bundesgesetzgeber aufgegeben wurde, für den Jugendstrafvollzug bis zum 31. Dezember 2007 gesetzliche Regelungen zu schaffen. Damit kann die bisherige Praxis, den Strafvollzug für Jugendliche in Deutschland auf der Grundlage einer bloßen Verwaltungsvorschrift zu vollstrecken, keinen Bestand haben. Auch das Jugendgerichtsgesetz und das Strafvollzugsgesetz bieten hierfür keine geeignete Grundlage. Hoch umstritten war die Entscheidung, die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug und damit auch für den Jugend-vollzug im Rahmen der Föderalismusreform auf die Bundesländer zu übertragen.

Nicht wenige befürchteten einen „run-to-the-bottom“. In Zeiten angespannter öffentlicher Haushalte, so wurde argumentiert, werde die Bereitschaft der Parla-mente, Geld für den Strafvollzug und auch für den Jugendvollzug zu bewilligen, nur gering ausgeprägt sein. Denn öffentlicher Beifall sei damit kaum zu erzielen. Der Hinweis auf bereits bestehende niedrigere Standards in anderen Bundesländern werde als wohlfeiles Argument für eigene Standardabsenkungen herhalten. Quali-tätseinbußen im Strafvollzug, aber auch im Jugendvollzug seien zu befürchten.

Thorsten Geißler: Grußwort

18 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Aber der Umgang mit jungen Straftätern ist eine besondere Herausforderung für jede moderne Gesellschaft. Wir können es uns nicht leisten, durch Mängel im Jugendvollzug kriminale Karrieren zu verfestigen oder individuelle Zukunftschancen dauerhaft zu verbauen. Jugendliche, die zu einer Jugendstrafe verurteilt sind und diese verbüßen, werden nach ihrer Entlassung noch viele Jahrzehnte Teil der Gesellschaft sein. Ob sie sich dann bewähren und ihr Leben in sozialer Verantwortung gestalten oder ob sie zu einem dauerhaften Problem für die Gesellschaft werden, hängt auch davon ab, welche Qualität der Jugendvollzug hat.

Es ist zu begrüßen, dass die Schleswig-Holsteinische Landesregierung einen Ent-wurf eines Landesgesetzes zum Jugendstrafvollzug vorgelegt hat, der die Befürch-tung, auch dieses Bundesland könne sich an einem „run-to-the-bottom“ beteiligen, jedenfalls nicht trägt: Wenn ich auch nicht verkenne, dass einzelne Regelungs-vorschläge auch von den hier vertretenen Verbänden durchaus kritisch beleuchtet werden, so verdient vieles auch Beifall. Dazu zählen die vorgesehene Einzelunter-bringung als Regel, die zahlreichen Vorschriften, die gewährleisten sollen, dass die Jugendlichen auf ein verantwortungsbewusstes Leben in Freiheit vorbereitet wer-den, durch Regelungen zur Arbeit und Ausbildung, Ruhe und Freizeiten, die Bereit-stellung von Sportangeboten, die Regelung für zusätzliche Besuchermöglichkeiten, individuelle Betreuung bis zum Umgang mit Geld. Das parlamentarische Verfahren ist nicht abgeschlossen, so dass Änderungsvorschläge, die vielleicht auch heute im Rahmen Ihrer Fachtagung noch erörtert werden, durchaus noch in das Gesetz einf ließen können.

Vor wenigen Tagen haben wir im Polizeibeirat der Hansestadt Lübeck über die Krimi-nalitätsentwicklung diskutiert. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist eine geringere Anzahl von Straftaten aus als noch vor 10 Jahren. Beklagt aber wird eine Zunahme von Gewaltbereitschaft, beklagt werden zunehmend brutalere Tatbegehungsformen auch bei jugendlichen Straftätern. Damit steht auch der Jugendvollzug seit gerau-mer Zeit vor neuen Herausforderungen, denn das Klientel ist schwieriger und auch gewaltbereiter als in früheren Jahren. Justizminister Uwe Döring beschreibt den typischen jugendlichen Gefangenen als „männlich, durchschnittlich 19 Jahre alt, arbeitslos, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und aufgrund seiner Sozialisation nicht hinreichend der deutschen Sprache mächtig“. Diese Menschen auf den Pfad eines Lebens in sozialer Verantwortung und des Respekts vor den Rechten ande-rer zurückzuführen, ist eine hoch anspruchsvolle und für die Gesellschaft äußerst

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wichtige Aufgabe. Sie bedarf ständig neuer Antworten auf immer neue Fragen. Nicht übersehen werden sollte dabei, dass, wer in die Qualität des Jugendvollzugs investiert, auch einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit der Allgemeinheit leistet.

Ich begrüße es ganz außerordentlich, dass sich Menschen wie Sie dem Thema „Innovationen im Jugendstrafvollzug“ widmen und danke Ihnen für die in der Vergangenheit geleistete wichtige Arbeit und ebenso dafür, dass Sie wichtige Beiträge dazu leisten, dass diese Gesellschaft ihrer Verpf lichtung nachkommt, auch denjenigen, die im jungen Alter Straftaten begangen und oft andere geschädigt haben, Hilfestellung zu gewähren, damit in Zukunft weder die Betroffenen noch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit weiteren Schaden nehmen.

In diesem Sinne wünsche ich der Fachtagung jeglichen Erfolg und danke Ihnen herz-lich für Ihre Aufmerksamkeit.

Thorsten Geißler, Senator für Umwelt, Sicherheit und Ordnung der Hansestadt Lübeck,

2. stellvertr. Bürgermeister

Thorsten Geißler: Grußwort

20 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Bernd-Rüdeger Sonnen

Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug

Das BVerfG hat dem Gesetzgeber mit seinem Urteil vom 31. Mai 2006 aufgegeben, bis Ende 2007 den Vollzug der Jugendstrafe auf gesetzliche Grundlagen zu stellen. Durch die Föderalismusreform sind nun die Länder für die Regelung des Straf-vollzugs zuständig. Diese Ausgangssituation macht die Formulierung einheitlicher Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug umso notwendiger. Die Häftlingsmorde von Siegburg und – drei Jahre vorher – Ichterhausen machen eindringlich die Wich-tigkeit humaner Strafvollzugstandards deutlich.

Guter (Jugend-)Strafvollzug ist immer auch eine Ressourcenfrage. Wir sind der Überzeugung, dass der allgemeinen Sicherheit am besten gedient ist, wenn die be-grenzten Ressourcen des (Jugend-)Strafvollzugs auf die wirklich schwerwiegenden Fälle konzentriert werden. Neben der Jugendstrafe steht der Jugendstraf justiz ein breites Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Diese müssen genutzt werden. Rückfallkriminalität würde so besser vermieden und die Integration der Betroffenen besser gefördert.

1. Eigenständige Jugendstrafvollzugsgesetze

Der Jugendstrafvollzug muss in einem eigenen, vollständigen Gesetz geregelt wer-den. Das Bundesverfassungsgericht hat ausführlich die Besonderheit des Jugend-strafvollzugs begründet und daraus gefolgert, dass das Strafvollzugsgesetz nicht analog auf den Vollzug der Jugendstrafe angewendet werden kann. Die geforderte Eigenständigkeit geht verloren, wenn die unterschiedlichen Vollzugsarten in einem Gesetz geregelt werden. Durch gesetzesinterne Querverweise verlieren die Gesetze zudem erheblich an Verständlichkeit.

2. Vollzugsziel ist die Resozialisierung (Wiedereingliede-rung, Integration)

Der Jugendstrafvollzug ist an dem Ziel auszurichten, den Gefangenen zu befähigen, ein Leben in Freiheit ohne erneute Straffälligkeit zu führen. Dadurch dient der Voll-zug zugleich der Sicherheit der Allgemeinheit (so hat es auch ausdrücklich das Bun-desverfassungsgericht festgehalten). Sicherheit wird letztlich durch Rückfallverhin-

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derung erreicht, die Rückfallverhinderung aber wird nicht dadurch optimiert, dass im Zweifel der Geschlossenheit und Restriktion Vorrang eingeräumt wird. Deshalb ist in der Gesetzesfassung darauf zu achten, dass das Resozialisierungsziel nicht durch andere Vollzugsziele oder -aufträge konterkariert wird, die den Anschein von Gleichrangigkeit erwecken.

3. Umfassende Beteiligung der Gefangenen

Die Gefangenen haben das Recht, an allen sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt zu werden (Art. 12 VN-Kinderrechtskonvention). Die Förder- und Erzie-hungsplanung ist daher unter aktiver Beteiligung des Gefangenen zu erarbeiten. Die Gefangenen sollen in die Lage versetzt werden, aktiv an der Gestaltung ihres Vollzugsalltags mitzuwirken.

4. Elternrechte wahren

Die verfassungsrechtlichen Elternrechte (Art. 6 GG) werden durch den Vollzug der Jugendstrafe zwar eingeschränkt, aber nicht suspendiert (vgl. BVerfGE 107, 104, 119 DVJJ-J 2003, 68, 71). Gerade in erzieherischen Belangen, wie bspw. der Aufstellung der Förder- und Erziehungspläne, ist den Eltern daher eine Mitsprache-möglichkeit einzuräumen. Sie sind nicht nur von wichtigen Vollzugsentscheidungen (insbesondere der Aufstellung, Änderung und Fortschreibung der Förder- und Er-ziehungspläne, Verlegungen usw.) zu informieren, sondern bereits an den Entschei-dungsprozessen zu beteiligen. Dies gilt auch für die Entlassungsvorbereitung.

5. Keine unbestimmte Pflicht zur Selbst-Resozialisierung

Der Gefangene unterliegt den im Gesetz genannten konkretisierten Einzelpf lichten und ist in deren Rahmen auch zur aktiven Mitwirkung angehalten. Eine allgemeine Pf licht des Gefangenen, „an der Erreichung des Vollzugszieles“ (seiner Resozialisie-rung) mitzuwirken, ist inhaltlich zu unbestimmt, praktisch nicht handhabbar, nicht willkürfest (weil Pf lichtverletzungen Disziplinarmaßnahmen oder den Ausschluss von Vergünstigungen zur Folge haben) und daher verfassungswidrig.

Bernd-Rüdeger Sonnen: Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug

22 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

6. Verbindliche Mitwirkung der Jugendhilfe

Die Zuständigkeit der Jugendhilfe ist während des Jugendstrafvollzugs nicht aufgeho-ben, Ansprüche aus dem SGB VIII werden durch diesen nicht ausgeschlossen. Das Ju-gendamt spielt daher von Beginn bis Ende des Vollzugs eine wichtige Rolle. Es muss verbindlich bei der Vollzugs- und Entlassungsplanung mitwirken und bereitet so rechtzeitig die Wiedereingliederung vor. Diese aktive Beteiligung des Jugendamtes muss verbindlich in den Jugendstrafvollzugsgesetzen sowie in den Ausführungsge-setzen zum SGB VIII verankert werden.

7. Umfassende Vernetzung des Vollzuges

Die Sozialen Dienste der Justiz, Bewährungshilfe, freie Straffälligenhilfe und Ju-gendhilfe müssen gemeinsam an kontinuierlichen, über den Vollzug hinausgehenden Betreuungsbeziehungen zum Gefangenen arbeiten. Relevante Erkenntnisse anderer Institutionen (bspw. Psychiatrie, Gericht, Polizei, Jugendhilfe) sind bei der Ein-gangsdiagnostik und der Erstellung der Förder- und Erziehungspläne heranzuziehen, damit nicht jedes Mal von vorne begonnen werden muss. Insbesondere im Rahmen der Entlassungsvorbereitung ist vernetztes Handeln und Planen wichtig.

8. Chancen für alle Gefangenen

Motivationsarbeit ist selbstverständlicher Teil Sozialer Arbeit, auch im Vollzug. Wer nur mit den schon Kooperationsbereiten und –fähigen arbeiten will, verschenkt fruchtbare Einf lusschancen und gibt die anderen auf. Nach dem Konzept des sog. Chancenvollzuges sollen Behandlungsmaßnahmen und Vollzugslockerungen nur den Gefangenen gewährt werden, die von sich aus kooperationsbereit sind. Er vernach-lässigt dadurch seinen erzieherischen Auftrag. Ein solcher Chancenvollzug bietet keine Chancen, sondern ist Ausgrenzungs- und Sparvollzug.

9. Offenen Vollzug nutzen und ausbauen

Für die Resozialisierung und Wiedereingliederung ist es von entscheidender Be-deutung, dass der Gefangene einen Bezug zur Außenwelt behält bzw. aufbauen kann, bevor er entlassen wird. Die Möglichkeiten des offenen Vollzuges (der in den letzten Jahren in der Praxis immer weiter reduziert wurde) und von Vollzugslocke-

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rungen sind daher vermehrt zu nutzen. Der offene Vollzug ist daher als Regelvoll-zug vorzusehen. Zumindest muss dies bei kürzeren Jugendstrafen (bis 3 Jahren) und bei Selbststellern geschehen. Grundsätzlich ist er nur auszuschließen, wenn auf Grund von Tatsachen die begründete Befürchtung des Missbrauchs durch Flucht oder die Begehung von Straftaten besteht.

10. Vollzugslockerungen & Vollzug in freien Formen

Vollzugslockerungen (insb. Urlaub, Freigang und Ausgang) sind für die Erreichung des Vollzugsziels besonders wichtig. Sie sind zu gewähren, wenn verantwortet wer-den kann zu erproben, dass der Gefangene die Vollzugslockerungen nicht zur Flucht oder Begehung von Straftaten missbrauchen wird. Vor allem bei der Entlassungs-vorbereitung ist eine zunehmende Orientierung nach „draußen“ unumgänglich.

Jugendstrafrecht und Jugendstrafvollzug sind immer wieder Vorreiter gewesen in der Erprobung neuer Methoden und Formen. Die Landes-Jugendstrafvollzugsgesetze sollten daher eine Regelung enthalten, die modellhafte Projekte des Vollzuges in freien Formen (91 Abs.3 JGG) ermöglicht.

11. Rechtzeitig mit der Entlassungsvorbereitung beginnen

Der Vollzug ist von Beginn an auf die Entlassung und Wiedereingliederung aus-zurichten. Spätestens sechs Monate vor der geplanten Entlassung (bei kurzen Jugendstrafen vier Monate) bereiten die Jugendstrafanstalten zusammen mit an-deren Behörden und Diensten (vgl. Nrn. 6 & 7) die Entlassung vor. Der Vollzug wird gelockert (vgl. Nr.10).

12. Unterbringung in Einzelhafträumen; Wohngruppen-vollzug

Die Häftlingsmorde von Siegburg und Ichtershausen zeigen, wie wichtig Einzelun-terbringung und ausreichende Betreuung der Gefangenen sind. Jeder Gefangene hat das Recht auf Unterbringung in einem Einzelhaftraum.

Überschaubare Wohngruppen sind für soziales Lernen, die Konstituierung funkti-onierender Gruppen und die Vermeidung von Subkultur unverzichtbar. Den Wohn-gruppen ist dauerhaft festes Personal zuzuweisen; sie sollten nicht mehr als 12

Mitglieder haben.

Bernd-Rüdeger Sonnen: Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug

24 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Die Jugendstrafvollzugsgesetze sollen hierzu klare und verbindliche Aussagen machen. Dies fordert auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31.05.2006 (ZJJ 2006, S.196f )

13. Eigenständige Jugendstrafanstalten

Der Vollzug der Jugendstrafe erfolgt in eigenständigen Jugendstrafanstalten. Die Angliederung an Anstalten des Erwachsenen-Vollzugs und der Vollzug von Jugend- und Freiheitsstrafe in einer Anstalt sind auszuschließen. Die Anstalten sollen sich zunächst (bei Übergangsfristen von maximal 10 Jahren) an einer Größe von höchs-tens 240 Gefangenen orientieren. Langfristig sollten kleinere dezentrale Einrichtun-gen angestrebt werden.

14. Besondere Situation von jungen Frauen und Mädchen

Mädchen und junge Frauen sind eine kleine Minderheit im (Jugend-) Strafvollzug, der oft nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Sie sind in eigenen Anstalten oder Häusern unterzubringen.

15. Außenkontakte fördern

Der Austausch mit der Außenwelt durch Briefe und Telefon ist zu fördern und umfassend zu ermöglichen. Die Mindestdauer für Besuche im Strafvollzug beträgt 4 Stunden monatlich. Familiäre Kontakte sind darüber hinaus besonders zu fördern und dürfen nicht aus disziplinarischen Gründen eingeschränkt werden. Der Empfang von Paketen, auch mit Lebensmitteln, ist zu gewährleisten.

16. Recht auf Bildung

Schulangebote sind für alle Gefangenen, die keinen ausreichenden Schulabschluss haben, zu gewährleisten. Für die beruf liche Bildung sind zukunftsweisende, zeit-gemäße Angebote zu schaffen, die den Gefangenen reale Beschäftigungschancen vermitteln. Im Vollzug begonnene Ausbildungen können auch nach der Entlassung in der Anstalt fortgesetzt werden. Schule und Berufsbildung haben Vorrang vor Arbeit; dies muss sich auch in der Bezahlung ausdrücken.

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17. Sozialversicherungen

Die Einbindung der Gefangenen in das System der Sozialversicherungen muss ge-währleistet sein.

18. Konfliktregelung vor Disziplinierung

Konf likte unter Gefangenen und mit den Mitarbeitern sind im Vollzug alltäglich. Ein auf Förderung und Erziehung ausgerichteter Jugendstrafvollzug muss primär auf Konf liktregelung anstelle von Disziplinierung setzen. Die Jugendstrafvollzugsge-setze haben daher Instrumente der Konf liktregelung vorzusehen und mit Vorrang gegenüber Disziplinarmaßnahmen auszustatten.

Konf likte können auch in pädagogischen Gesprächen aufgearbeitet werden. Für darüber hinausgehende, sanktionierende Erziehungsmaßnahmen ist hingegen kein Platz, da so das reglementierte Disziplinarwesen unterlaufen würde. Das Disziplinarwesen ist umfassend zu regeln. Die Normierung muss die zu ahnden-den Tatbestände und die zulässigen Sanktionsmaßnahmen hinreichend bestimmt regeln. Disziplinarmaßnahmen werden verhängt, wenn eine Konf liktregelung mit den Beteiligten gescheitert oder diese oder ein Erziehungsgespräch unangemessen wären – was zu begründen ist. Eine isolierte Unterbringung (Arrest) darf allenfalls als ultima ratio vorgesehen werden; Nr.67 der VN-Regeln zum Schutze von Jugend-lichen unter Freiheitsentzug verbietet die isolierende Einzelhaft als unmenschliche und entwürdigende Behandlung. Die Praxis zeigt, dass der Jugendstrafvollzug auch ohne dieses Disziplinierungsmittel auskommen kann.

19. Keine Schusswaffen im Jugendstrafvollzug

In Jugendstrafanstalten sind das Tragen und der Gebrauch von Schusswaffen nicht zuzulassen (Nr.65 der VN-Regeln zum Schutze von Jugendlichen unter Freiheitsent-zug). Für im Bedarfsfall hinzugezogene externe Polizeikräfte ist der Schusswaffen-gebrauch in der für diese geltende Rechtsgrundlage (Polizeigesetz) geregelt.

20. Effektiven Rechtsschutz schaffen

Das Rechtsschutzsystem ist effektiv im Sinne der Zielgruppe und für diese ver-ständlich auszugestalten. Das für Rechtsmittel gegen Vollzugsmaßnahmen zustän-

dige Gerichts muss ortsnah sein, ein rein schriftliches Verfahren (wie in § 109 ff StVollzG) ist unzureichend. Der Bundesgesetzgeber (der für den gerichtlichen

Bernd-Rüdeger Sonnen: Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug

26 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Rechtsschutz zuständig ist), hat daher unverzüglich ein den Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts entsprechendes Rechtsschutzsystem zu schaffen. Die Landesgesetzgeber müssen in ihren Jugendstrafvollzugsgesetzen ein effektives Beschwerde- und Wider-spruchsverfahren vorsehen.

21. Strafvollzugsbeauftragte

Um die Beachtung und Einhaltung internationaler Standards und völkerrechtli-cher Vorgaben sicherzustellen, wird in jedem Bundesland ein/e unabhängige/r Beauftragte/r für den Strafvollzug geschaffen, der/die Zugang zu allen Strafvoll-zugsanstalten hat und an den/die sich die Gefangenen jederzeit mit Beschwerden wenden können. Diese erfüllen die Aufgabe der nationalen Stellen zur Prävention von Folter und anderer unmenschlicher Behandlungen nach Art.3 des Zusatzproto-kolls zur Anti-Folter-Konvention.

Die Strafvollzugsbeauftragten sind mit einem ausreichenden verwaltungsmäßigen Unterbau zu versehen. Sie berichten jährlich über die Menschenrechtssituation in den Anstalten. Im Rahmen der Genehmigung von Anstaltsordnungen hat er ein Anhörungs- und Rügerecht. Er wirkt bei Auswahl der Experten des Periodischen Strafvollzugsberichts mit (s. Nr.22).

22. Wirksame Vollzugsgestaltung, Evaluation

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben die Länder die am Reso-zialisierungsgebot orientierte Wirksamkeit ihres Vollzugskonzeptes laufend zu überprüfen. Sie sind zur Beobachtung und Nachbesserung verpf lichtet. Dazu ist es erforderlich, die notwendigen Daten zu erheben und Statistiken zu führen. Die kriminologischen und sonst geeigneten Forschungseinrichtungen sind an der Wir-kungsforschung und der Vollzugsevaluation zu beteiligen. In regelmäßigen Abstän-den sind wissenschaftliche periodische Berichte über die Entwicklung des (Jugend-) Strafvollzugs vorzulegen, die konkrete Empfehlungen für die Verbesserung der Vollzugsgestaltung enthalten.

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23. Qualifiziertes und ausreichendes Personal

Die Gesetze müssen eine ausreichende Personalausstattung sicherstellen. Insbe-sondere muss der Personalschlüssel gewährleisten, dass die Gefangenen auch am Wochenende und an Feiertagen betreut werden und ein ausreichendes Freizeit-angebot vorgehalten wird. Das Personal – gleich ob Fachdienste oder Allgemeiner Vollzugsdienst – ist regelmäßig fortzubilden. Supervision muss gewährleistet sein.

Schlussbemerkung: Die Etablierung der hier benannten Mindeststandards im Ju-gendstrafvollzug mag mit Mehrkosten gegenüber dem Status Quo des Jugendstraf-vollzugs verbunden sein. Abgesehen davon, dass die Einhaltung dieser Mindeststan-dards durch die Verbesserung von Wiedereingliederung und Rückfallverhinderung an anderer Stelle menschliche und f inanzielle Kosten spart, sind diese Mindeststan-dards aus rechts- und sozialstaatlichen Gründen geboten.

Wer in einem an Menschenrechten und rationaler Intervention orientierten Europa des 21. Jahrhunderts den Jugendstrafvollzug betreiben will, kommt an ihnen nicht vorbei.

Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen, DVJJ, Hannover

Bernd-Rüdeger Sonnen: Mindeststandards für den Jugendstrafvollzug

28 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Bernd Maelicke

Integrierte Resozialisierung als strategische Innovationsaufgabe

Thesen:

1. Das System der Sozialen Strafrechtspflege zeichnet sich aus durch:

unterschiedliche rechtliche und gesellschaftspolitische Ziele und Rahmenbedin- •gungen auf Bundes- und Länderebene, die in wichtigen Faktoren divergent sind, aber auch große Innovationsmöglichkeiten eröffnen,

eine Aufteilung in verschiedene historisch gewachsene Aufgabenfelder, die deut- •lich voneinander abgegrenzt und „versäult“ sind,

vielf ältige Zuständigkeiten verschiedenster Organisationen, die hoch speziali- •siert sind und damit eine arbeitsfeldübergreifende Leistungserbringung er-schweren,

interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedenster Professionen mit unterschied- •licher Aus-, Fort- und Weiterbildung, häuf ig divergierendem Selbstverständnis und Status, Vielfalt unterschiedlicher berufsspezif ischer Kulturen,

formalisierte Verfahrensabläufe, die sich aus Teilleistungen der o. g. Organisa- •tionen und deren Fach- und Führungskräften zusammensetzen und zahlreiche Schnittstellen überwinden müssen,

fehlende bzw. unterentwickelte Methoden und Instrumente der evidenzbasierten •und wirkungsorientierten Steuerung,

geringe Erfolgsraten bei der Resozialisierung von Intensivtätern („Chroniker“), •

Schwerpunktsetzung der Personal- und Sachkosten für kleine Zahl von Intensiv- •tätern,

Schwerpunktsetzung der Kostenverteilung für den stationären Bereich •(geschlossener Strafvollzug),

neue Herausforderungen wie: veränderte Lebenslagen, veränderte gesellschafts- •und insbesondere kriminalpolitische Zielsetzungen und Prioritäten, wachsender Kosten- und Eff izienzdruck, zunehmend kritische mediale Begleitung.

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2. Das System der Sozialen Strafrechtspflege steht des-halb vor der Notwendigkeit umfassender und grundlegen-der Veränderungen, die für die Fach- und Führungskräfte und ihre Organisationen folgende strategische Innovati-onsaufgaben stellen:

Entwicklung eines Gesamtkonzeptes der ambulanten und stationären Resoziali- •sierung mit Überwindung der klassischen Trennung ambulant/stationär

Lebenslagen-, Lebenswelt- und Sozialraumorientierung •

„Durchgehende“ und „ganzheitliche“ Systementwicklung (Integration vorgehen- •der und nachfolgender Leistungsstufen)

Wertschöpfungsketten statt Teilleistungen (Überwindung der sektoralen Brüche •in der Wertschöpfungskette Resozialisierung)

Strukturierte schnittstellenübergreifende Behandlungsabläufe auf der Grundlage •evidenzbasierter Leitlinien/Standards für spezif ische Tätergruppen

Einsatz neuer Technologien zur Verbesserung der Planung, Dokumentation und •Kommunikation zwischen den Akteuren („Patientenakte“)

Vernetzte Organisationsstrukturen, Netzwerkmanagement •

Entwicklung neuer Organisationsmodelle Integrierter Resozialisierung (regionale •Reso-Zentren auf vertraglicher Grundlage der Akteure mit starker lokaler Orien-tierung und Vielfalt)

Leistungsverträge, Kontraktmanagement (Vergütung von Ergebnissen, nicht von •inputs)

Arbeitsfeldübergreifende Personalentwicklung •

Lebenslanges Lernen der Fach- und Führungskräfte •

Professionelle und kontinuierliche Systementwicklung (Reso-Management) •

Die „Reso-Kette“ ist so stark wie das schwächste ihrer Glieder, darum ist ein •für alle Akteure verbindliches und mit ihnen gemeinsam zu entwickelndes Gesamtkonzept und ein „Reso-Masterplan“ auf Landes- und regionaler Ebene erforderlich.

Entsprechend internationaler Vorbilder ist eine Vielfalt der Organisations- und •Kooperationsformen auf der Grundlage verbindlicher Leitlinien/Standards zu

Bernd Maelicke: Integrierte Resozialisierung als strategische Innovationsaufgabe

30 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

empfehlen, ein Angebots-Mix staatlicher, frei-gemeinnütziger und privater Leis-tungserbringer.

Je mehr Schnittstellen eine Versorgungskette aufweist, desto wichtiger ist die •Strukturierung der Prozessabläufe.

Der Fokus der Entwicklung muss auf den Faktoren Qualität und Kosten liegen. •

Die Anreize für die Fach- und Führungskräfte liegen darin, dass sie in dieser •Systementwicklung ihre Arbeitsinhalte besser realisieren, ihre Arbeitsbedin-gungen und Kooperationsbeziehungen verbessern und ihre beruf lichen Erfolge steigern können.

Für die Justizpolitiker und die Medien kann das Erfolgsversprechen Resoziali- •sierung seriös und glaubhaft erneuert werden. Die schnittstellenbedingten Miss-erfolgsquoten können reduziert, Betreuungs- und Sicherheitslücken geschlossen werden.

Die Gesamtkosten des Systems sind kritisch zu überprüfen – Einsparungen sind •nicht zu erwarten, wohl aber Eff izienz steigernde Untergewichtungen.

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Prof. Dr. Bernd Maelicke, Universität Lüneburg

Bernd Maelicke: Integrierte Resozialisierung als strategische Innovationsaufgabe

32 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Rüdiger Wulf

Projekt Chance – Jugendstrafvollzug in freien Formen und Nachsorge-netzwerk in Baden-Württemberg

Powerpoint-Präsentation:

33Rüdiger Wulf: Projekt Chance

34 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

35Rüdiger Wulf: Projekt Chance

36 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

37Rüdiger Wulf: Projekt Chance

38 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

39Rüdiger Wulf: Projekt Chance

40 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

41Rüdiger Wulf: Projekt Chance

42 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

43Rüdiger Wulf: Projekt Chance

44 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Ministerialrat Dr. Rüdiger Wulf, Geschäftsführer von Projekt Chance e. V.

Justizministerium Baden-Württemberg, Schillerplatz 4, 70173 Stuttgart,

Telefon: 0711/279-2340 E-Mail: [email protected]

Internet: www.projekt-chance.de

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Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser

Das Nachsorgeprojekt Chance für junge Inhaftierte in Baden-Württemberg

In diesem Nachsorgeprojekt für junge Inhaftierte gibt es grundlegende Neuerungen im Ablauf der Betreuung und eine neue Organisationsstruktur der freien Straffäl-ligenhilfe in Baden-Württemberg. Sie optimieren die seit Jahrzehnten geforderte durchgängige Betreuung von Straffälligen.

Das Entlassungsloch

Dieser Begrif f beschreibt die Situation, in der sich ein Proband direkt nach seiner Entlassung aus der Haft bef indet. Alte Beziehungsmuster und -regeln gelten nicht mehr, neue Beziehungen müssen erst wieder aufgebaut werden. Professionelle Hil-fen greifen, wenn überhaupt, nur auf Nachfrage des Klienten (ausgeprägte „Komm“-Strukturen, keine aufsuchende Sozialarbeit).

Selbst bei formellen Bestellungen von Bewährungshelfern kommt es in der Regel, auch durch verwaltungsbedingte Def izite, nicht zu einer nahtlosen Betreuung in der Übergangsphase vom Strafvollzug in die Freiheit.

Deshalb ist es besonders wichtig, bereits im Vollzug einen vertrauensvollen Zugang zum Inhaftierten aufzubauen, der dann tragfähig für den Übergang in die Freiheit ist. Die Eindrücke des Strafvollzugs auf den Probanden sind innerhalb der Gefäng-nismauern noch gegeben, viele Inhaftierte nehmen sich (zu) viel vor, wenn sie wieder in Freiheit sind: Sie wollen eine Therapie beginnen, eine Arbeit und Woh-nung f inden, längst fällige Schulden begleichen, ein neues soziales Umfeld f inden, zerrüttete familiäre Bindungen reparieren und anderes mehr.

Diese guten Vorsätze verblassen häuf ig, je länger der Entlassungstermin zurück-liegt. Altgewohnte, häuf ig dissoziale Verhaltensmuster, treten wieder in den Vor-dergrund. Angesichts einer niedrigen Frustrationstoleranz seitens der Entlassenen sind Rückfälle vorprogrammiert.

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

46 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Diese Rückfälle können durch eine möglichst intensive, kontinuierliche Betreuung vom Vollzug in die Freiheit, die in der Regel sechs bis neun Monate dauert, vermieden wer-den. Das so genannte Entlassungsloch kann überbrückt werden, wenn Mitarbeiter der Nachsorgeeinrichtungen bereits eine intensive Beziehung zum Probanden während der Haft aufbauen, die dann eine tragfähige Brücke des Übergangs vom Vollzug in Freiheit bildet. Deshalb sollten diese Kontakte f inanziell durch die Übernahme der Personal- und Fahrtkosten gefördert werden.

Die Impulse

Um vor diesem Hintergrund neue Impulse für eine landesweite Standardisierung der Arbeit mit Straffälligen zu geben, stellte die Landesstiftung Baden-Württemberg dem Projektträger, dem Verein „Projekt Chance e.V.“ (Vorsitzender: Justizminister Prof. Dr. Ulrich Goll MdL) im Jahr 2005 insgesamt 1,2 Millionen Euro zur Verfügung. Die Robert Bosch Stiftung förderte mit 70.000 Euro die wissenschaftliche Evaluati-on durch die kriminologischen Forschungsinstitute der Universitäten Heidelberg und Tübingen. Projekt Chance e. V. vergab die Durchführung dieses Nachsorgeprojektes nach einer Ausschreibung an eine Bietergemeinschaft, bestehend aus dem Badi-schen Landesverband für soziale Rechtspf lege mit Sitz in Karlsruhe, Verband der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V. Stuttgart und dem Paritäti-schen Wohlfahrtsverband, Landesverband Baden-Württemberg e. V., ebenfalls in Stuttgart. Diese Bietergemeinschaft gründete danach das sogenannte „Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg“ (GbR).

Das Netzwerk

Es umfasst insgesamt 45 Vereine und Einrichtungen der freien Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg, die sich in wechselnder Besetzung an verschiedenen Projekten beteiligen. Die große Anzahl von Vereinen und Einrichtungen, die sich auf alle Land-kreise des Bundeslandes verteilen und über 200 hauptamtliche Mitarbeiter beschäf-tigen, die von einer Vielzahl von ehrenamtlichen Mitglieder und Betreuer gestützt werden, ermöglicht es dem Netzwerk, f lächendeckende Angebote zu unterbreiten. Die Mitgliedsvereine verfügen über 500 betreute Wohnplätze für Straffällige und haben im Jahr 2006 in ihren Fachberatungsstellen über 10.000 Klienten betreut. Vielf ältige, innovative Projekte wie „Täter-Opfer-Ausgleich“, „Soziales Training“ usw., wurde von ihnen entwickelt und auch derzeit durchgeführt. Am „Nachsorgeprojekt

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Chance“ sind beispielsweise 21 Vereine und Einrichtungen beteiligt. Diese garan-tieren seit Herbst 2007 auch die f lächendeckende Vermittlung von Straffälligen in gemeinnützige Arbeit.

Unter dem Motto „Einheit in Vielfalt“ wurde eine Organisationsform gefunden, die dieser Individualität Raum gibt und gleichzeitig nach einheitlichen Qualitätsstan-dards arbeitet. Die Installation der Steuerungsgruppe aus Praktikern (s. u.) war eine Dienstleistung der Dachverbände, die es ermöglichte, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und die ehrenamtlichen Vorstände von der Alltagsarbeit zu ent-lasten. Die Vorstände und die Mitgliederversammlungen der Dachverbände geben die Zielrichtung vor, die Steuerungsgruppe setzt sie um.

Netzwerkarbeit braucht Information, Kommunikation und Partizipation, um von allen Projektbeteiligten gleichermaßen anerkannt zu werden. Die anfänglich vernach-lässigte Information und Einbindung der Sozialdienst-Mitarbeiter wurde inzwischen verbessert. Die Steuerungsgruppe hat einen Email-Verteiler aller Sozialarbeiter/innen in den JVAs in Baden-Württemberg aufgebaut. Sie bekommen Info-Briefe über den Projektverlauf und alle die Nachsorge betreffenden Themen. Außerdem werden sie über jeden abgeschlossenen Nachsorgefall informiert, den sie vermittelt hatten. Diese Organisationsentwicklung orientiert sich an den Prinzipien des „lean manage-ment“. Sie entspricht den Methoden moderner Unternehmensführung:

Minimale Hierarchie; •

Dezentrale Strukturen; •

Verantwortung wird möglichst weit nach unten abgegeben; •

Größtmögliche Transparenz, Information, Partizipation; •

Feed back erwünscht; •

Fehler sind erlaubt und werden als Lernchance begrif fen; •

Zentrale Dienstleistungen durch die Steuerungsgruppe; •

Einbindung aller Beteiligten bei der ständigen konzeptionellen Weiterentwick- •lung.

Die Steuerungsgruppe •

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

48 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Die Arbeit des Netzwerkes wird koordiniert durch die Steuerungsgruppe der Landesver-bände. In dieser Steuerungsgruppe ist der Erstverfasser vom Badischen Landesverband für soziale Rechtspf lege verantwortlich für Grundsatzfragen (Finanzierung, Software, Datenschutz, Statistik). Der Zweitverfasserin vom Verband der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg obliegt die Organisationsentwicklung, das Projekt-management und die zentrale Aus- und Weiterbildung von Ehrenamtlichen. Der Drittverfasser vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zuständig für die Qualitätsent-wicklung und –sicherung.

Die Betreuung

Die Ausschreibungsunterlagen des Vereins „Projekt Chance e.V.“ sehen eine f lä-chendeckende Übernahme der Nachsorge für unter 27-jährige Inhaftierte vor, da die Rückfallquoten der unter 27-jährigen in den ersten sechs Monaten nach der Haftentlassung besonders hoch sind. Die f lächendeckende Nachsorge soll außerdem dazu beitragen, dass Hafttage infolge früherer Entlassungen eingespart werden.

Betreut werden alle Inhaftierten unter 27 Jahren, die mit Endstrafe rechnen können oder für die eine vorzeitige Entlassung ohne Bewährungshelfer ansteht. Weitere Zielgruppen sind Personen, die mehrfach Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen oder Untersuchungsgefangene, um deren Untersuchungshaft zu vermeiden. Die Aufnahme in das Nachsorgeprojekt erfolgt nachrangig, d.h. gesetzlich verankerte Hilfen für Straffällige sind vorrangig zu beantragen und zu gewähren.

Da die Motivation für eine Inanspruchnahme von Nachsorge seitens des angestreb-ten Klientel - vor allem die Klienten mit Endstrafe - erfahrungsgemäß gering ist, soll die Motivation der Klienten und die Entlassungsplanung durch den Sozialdienst ergänzt werden durch die o.g. externen Fachkräfte. Dem liegt die Erfahrung zu-grunde, dass durch externe Fachkräfte (hauptamtliche wie ehrenamtliche) besser zur Inanspruchnahme von Leistungen nach der Inhaftierung motiviert werden kann. Beide – Sozialdienst im Vollzug mit Praktikanten der Berufsakademie Stuttgart unter Anleitung von Prof. Dr. Rieger sowie externe Fachkräfte sollen im Nachsor-geprojekt als Koordinatoren mit drei Aufgaben wirken: Motivation aus interner und externer Perspektive, gemeinsame Koordination von Entlassungs- und Nachsorge-planung sowie eine frühzeitige, noch in der JVA erfolgende Übergabe an die haupt- und ehrenamtlichen Nachsorgekräfte (Fallmanager) am Ort der Rückkehr. Sofern der Klient in den Umkreis der Anstalt entlassen wird, kann die externe Fachkraft den Klienten nahtlos weiterbetreuen; er wird dann vom Koordinator zum Fallmanager.

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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Vereine und Einrichtungen nehmen also die Funktion des Koordinators/Motivators und des Fallmanagers in der Nachsorge wahr. Die beiden Funktionen können durch haupt- und ehrenamtliche Kräfte erfolgen. Zu den Aufgaben der Koordinatoren gehört die intensive Zusam-menarbeit mit den Sozialdiensten, um gezielt für das Projekt in Frage kommende Inhaftierte anzusprechen und diese auf die Nachsorge vorzubereiten. Weiter wird der Fall dann an den zuständigen Fallmanager des geplanten Entlassungs-/Wohn-orts des Klienten weitergegeben.

Das Nachsorgeheft

Mit dem Nachsorgeheft wurde ein neuartiges Instrument der Dokumentation ge-schaffen, das zukunftsweisend zur interdisziplinären kontinuierlichen Kommunika-tion und Betreuungssteuerung dient. Für jeden Klienten wird ein solches Nachsor-geheft angelegt, das die Entlassung gezielt vorbereitet und den Klienten während der Nachsorge begleitet. Es dient außerdem der Abrechnung und der Evaluation.

Für die Anlage des Nachsorgeheftes ist das Einverständnis des Klienten notwendig. Deshalb muss von diesem eine datenschutzrechtliche Erklärung unterzeichnet wer-den. Diese ist Voraussetzung für die Aufnahme ins Projekt, damit eine Betreuungs-vereinbarung zwischen dem Klienten und dem „Projekt Chance e.V.“, vertreten durch die Nachsorgefachkraft /den Fallmanager, abgeschlossen wird. Diese Vereinbarungen sind auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit bekannt. Sie vermitteln Verbind-lichkeit der Abmachungen für beide Seiten. Der Fallmanager muss die vereinbarten Hilfen gewähren; der Klient ist „verpf lichtet“, sie trotz aller Freiwilligkeit anzuneh-men.

Der Sozialdienst erhebt die Grunddaten des Klienten und gibt Entlassungsemp-fehlungen, die von der Nachsorgefachkraft, dem Fallmanager gemeinsam mit dem Klienten in einen Nachsorgeplan eingearbeitet werden. Der Fallmanager kennt die konkrete Betreuungsinfrastruktur am Entlassungsort, so dass realisierbare Betreu-ungsvereinbarungen geschlossen werden können. Die durchgeführten Maßnahmen werden im Nachsorgeheft festgehalten, bei Bedarf kann auch der Nachsorgeplan geändert oder ergänzt werden.

Die weiteren Teile des Nachsorgeheftes dienen der Evaluation und der wissen-schaftlichen Begleitung.

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

50 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Die Akzeptanz des Nachsorgeheftes war insbesondere beim Sozialdienst im Vollzug und in den Vereinen zunächst nicht besonders groß. Mit 33 Seiten ist es umfangreich. Bei näherer Betrachtungsweise ist die anfallende Arbeit für die einzelnen Sozialarbeiter leistbar. Die Kritik einer weiteren „Bürokratisierung der sozialen Arbeit“ konnte durch persönliche Gespräche der Steuerungsgruppe in den Anstalten und Vereinen vor Ort gemindert werden. Schon jetzt kann das Nachsorgeheft als wegweisendes, vorbildliches Instrument der Dokumentation und Evaluation für weitere Bereiche der „Arbeit mit Menschen“ dienen, weil es fundierte Aussagen zum einzelnen Klienten und den gesamten Betreuungsverlauf enthält, auch wenn die Betreuung in einer Art „Staffellauf “ verläuft. Das Nachsorgeheft und die darin gespeicherten Informationen gehen mit dem Klienten weiter. Die Durchgängigkeit des Hilfeprozesses verbessert sich institutionsübergreifend.

Das Qualitätsmanagement

Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Nachsorgeprojekts und dient neben der Evaluation auch der landesweit einheitlichen Steuerung und Optimierung der Be-treuungsabläufe. Im Rahmen von Qualitätszirkeln, an denen alle am Prozess betei-ligten Fachkräfte teilnehmen (Mitarbeiter der Sozialdienste der Vollzugsanstalten und haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der Vereine der freien Straffälligenhilfe) werden standardisierte Abläufe erarbeitet und beschrieben, die es zum Ziel haben, dass landesweit einheitliche Hilfemaßnahmen angeboten und Qualitätsstandards eingehalten werden.

Mit Hilfe der „Methoden des lebendigen Lernens“ werden diese Qualitätswerkstätten gestaltet. Lebendiges Lernen heißt, lernen mit „Herz, Kopf und Hand“, entsprechend groß ist das Methodenrepertoire, dessen man sich bedient. Unterschiedliche Ar-beits- und Sozialformen und die Verwendung unterschiedlichster Medien sollen dazu beitragen, dass von allen Beteiligten gemeinsam Problemlösungswege erarbeitet und Entscheidungen getroffen werden, die dann allgemein verbindlich sind.

Diese Zusammenarbeit und Projektentwicklung ist eff izient, weil sie alle am Prozess beteiligten Personen und Institutionen in die Entscheidungsf indung einbindet. Die Mitarbeiter können selbst mitwirken; sie werden als Spezialisten wahrgenommen. Durch gemeinsame Kommunikation und Entscheidungsf indung erhöht sich zwangs-läuf ig die Identif ikation mit der Arbeit und dem Projekt selbst. In zentralistischen Entscheidungsstrukturen werden den Mitwirkenden Erkenntnisse „aufgedrückt“ – „Gegendruck entsteht“, Reibungsverluste verringern die Eff izienz.

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An Hand von Kennzahlenbewertungen wird der Verlauf des Projektes zwischen ver-schiedenen Qualitätswerkstätten dargestellt und gemeinsam mit allen Beteiligten überlegt, welche Qualitätsverbesserungen noch vorgenommen werden können und wie bei welchen Entwicklungen gegebenenfalls nachgesteuert werden muss.

Die Arbeit mit Kennzahlen (Indikatoren) ist ein Bestandteil der sogenannten Neuen Steuerungsmodelle in den Bereichen der Wirtschaft, aber auch der Verwaltung. Kennzahlen können sich auf Zustände, Eigenschaften und Leistungen eines Systems oder seiner Umwelt beziehen, sie können Ziele durch Soll-Werte vorgeben und de-ren Zielerreichung durch den Vergleich mit den Ist-Werten überprüfen. Kennzahlen ersetzen intuitive Urteile durch nachprüfbare Daten. Sie schaffen eine Vergleichs-basis und erlauben damit objektive Vergleiche Sie präzisieren Ziele und erlauben die Beurteilung der Zielerreichung:

über die Zeit: •„Gibt es auffällige Veränderungen zu den Vorjahren? Sind wir besser geworden? Wie ist der Trend?“

mit anderen (Benchmarking): •„Wie sind wir im Vergleich zu anderen? Wie entwickeln wir uns im Vergleich mit anderen? (Fallen wir zurück, holen wir auf ?)“

mit Soll-Werten (Plan-Werten): •Haben wir unsere Ziele erreicht? Wie ist die voraussichtliche Entwicklung?“

Kennzahlen sind deshalb ein unverzichtbares Element guten Managements. Entwick-lung, Pf lege, Nutzung und Auswertung von Kennzahlen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Controllings. Kennzahlen/Indikatoren können insbesondere folgende Funktionen haben:

Kennzahlen sensibilisieren für Aspekte, die oft nicht wahrgenommen werden •würden, und machen die Komplexität realer Situationen bewusster und greif ba-rer. Sie ersetzen intuitive - und oft pauschale, undif ferenzierte - Urteile durch nachprüfbare Daten. Kennzahlen lenken den Blick auf besonders wichtige Aspekte und versuchen die-se einfach und verständlich darzustellen.

Damit ermöglichen sie die Diskussion und versachlichen sie. Sie regen an, über •die Realität und die dokumentierten Aspekte zu diskutieren und sich mit den Entwicklungen kritisch auseinander zu setzen ...

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

52 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

... und sich ständig für Verbesserungen einzusetzen. Sie erlauben präzise und heraus- •fordernde Zielsetzungen.

Kennzahlen erlauben es, die Erreichung gesetzter Ziele zu überprüfen und Fehlent- •wicklungen entgegenzuwirken. Sie erlauben objektive und nachprüfbare Verglei-che.

Erfolge werden sichtbar und ermöglichen es, Unterstützung zu gewinnen und •für das öffentliche Anliegen zu werben

Die nachfolgenden Schaubilder verdeutlichen, was unter der Arbeit mit Kennzahlen zu verstehen ist. Es sind Praxisbeispiele aus den regelmäßig veranstalteten Quali-tätswerkstätten (Q):

Kennzahl Q4 Q5 Bewegung Tendenz

Fallzahl / Monat 20 19

Verhältnis NV zu NE 2 zu 1 2 zu 1

Abbruch vor Beginn trotz Positiverklärung

4,9 % 8,1 %

Abbrüche zu genehmigten NV 27,3 % 33,1 %

Beteiligung: JVA Vereine

83,0 % 95,2 %

88,2 % 100 %

Anteil „Sonstiges“ zu abgerechneten Stunden

16 % 11,5 %

Die Darstellung zeigt die Veränderungen zwischen den Qualitätswerkstätten 4 und 5 (Q 4 und Q 5) auf. Es wurden die ausgesuchten Items dargestellt. Die Fallzahlen pro Monat sind gesunken, das Verhältnis von Nachsorgevereinbarungen zu Nega-tiverklärungen ist nach wie vor 2 zu 1, eine leichte Steigerung der Abbrüche vor Beginn der Nachsorge ist zu verzeichnen, ebenso die Anzahl der Betreuungsabbrü-che bei genehmigten Nachsorgevereinbarungen.

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Die Beteiligung der am Projekt teilnehmenden Vollzugsanstalten ist gestiegen, nunmehr sind alle am Nachsorgeprojekt teilnehmenden Vereine und Einrichtungen aktiv ins Betreuungsgeschehen eingebunden. Der Anteil der „sonstigen Stunden“ an den abgerechneten Stunden ist gesunken, aber immer noch zu hoch. Eine besse-re Ausdif ferenzierung der Tätigkeiten, die Grundlage der Abrechnungen sind, ist wünschenswert.

Aufgrund der Kennzahlen wurde vereinbart, nochmals intensive Werbung für das Projekt in den Vollzugsanstalten zu betreiben, weiter wurde vereinbart, dass die Fallmanager die Besuche der Klienten in den Vollzugsanstalten intensivieren sollen, damit es zu tragfähigen Beziehungen zwischen Betreuern und Klienten kommt, um die Anzahl der Abbrüche zu minimieren. Weitere Tätigkeitsmerkmale wurden zum Abrechnungsblatt hinzugefügt, um die notwendigen Tätigkeiten dif ferenzierter betrachten zu können.

Kennzahl Q5 Q6 Bewegung Tendenz

Fallzahl / Monat 19 20

Verhältnis NE zu NV 49 % 47 %

Abbruch vor Beginn trotz Positiverklärung

8,1 % 6,9 %

Abbrüche zu genehmigten NV 33,1 % 31,0 %

Beteiligung: JVA Vereine

88,2 % 100 %

100 % 100 %

Anteil „Sonstiges“ zu abgerechneten Stunden

11,5 % 9,4 %

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

54 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Die Kennzahlen belegen, dass die in der fünften Qualitätswerkstatt vereinbarten Maßnah-men zu wirken beginnen: die Fallzahlen sind wieder leicht gestiegen, die Anzahl der Ne-gativerklärungen ist leicht gesunken, ebenso die Anzahl der Abbrüche. Nunmehr sind alle Justizvollzugsanstalten am Projekt beteiligt, der Anteil der sonstigen Stunden an der Anzahl der abgerechneten Stunden weiter gefallen.

Die Klientinnen und Klienten

Bis zum 30. September 2007 wurden vom Nachsorgeprojekt insgesamt 467 Klientin-nen und Klienten erfasst. Darunter waren 203 reine Koordinationsfälle zu verzeich-nen, in 264 Fällen kam es zu Nachsorgevereinbarungen.

Das Projekt lief im Herbst 2005 an. Somit sind bereits nach zwei Jahren Projekt-laufzeit die geplanten Teilnehmerzahlen von 100 pro Jahr weit überschritten wor-den. Hier stellt sich in der Tat ein sehr hoher Betreuungsbedarf dar, der zumindest teilweise wahrgenommen wird. Immerhin nahmen 53 % der auf das Projekt ange-sprochenen, das Angebot der Betreuung wahr. Bei den 264 Nachsorgevereinbarun-gen war der Anteil an weiblichen Inhaftierten mit 29 Frauen überdurchschnittlich hoch. Der Anteil der Frauen lag bei 11 %, der Anteil der Frauen in Gefängnissen liegt bei unter 5 %. Somit „prof itieren“ Klientinnen überdurchschnittlich von diesem Projekt. Bis zum Erhebungsstichtag waren 214 Nachsorgefälle beendet, davon 107 vereinbarungsgemäß nach Ablauf der Betreuungsfrist. In 95 Fällen beendeten die Klienten die Betreuung vorzeitig. In 12 Fällen wurde die Betreuung in Maßnahmen nach § 67 SGB XII umgewandelt.

Die Anzahl der vorzeitigen Beendigungen durch die Klienten erscheint auf den ersten Blick hoch. Dies bedeutet im Einzelfall aber kein Scheitern der Betreuung. Vielmehr beenden Klienten die Betreuung, wenn aus ihrer Sicht wesentliche Ziele, in der Regel f inanzielle, materielle Absicherung erreicht ist. Weitere mögliche Ziele, wie ein Leben ohne Suchtmittel, das Finden eines festen Arbeitsplatzes usw. treten dann manchmal in den Hintergrund, sodass ein weiterer Kontakt zum Betreuer, der einen daran erinnern könnte, nur „lästig“ sind.

Abbrüche der Betreuungen im Rahmen des Nachsorgeprojekts sind „ohne Folgen“, d.h. es erfolgen keine strafrechtlichen Konsequenzen.

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Andererseits ist jeder Betreuungsabbruch ein Abbruch zu viel. Man versucht daher, durch intensive Betreuung während der Haft ein gutes und stabiles Verhältnis zwischen Klient und Betreuer aufzubauen, das eine tragfähige Beziehung für eine längerfristige Betreuung bildet. Hierdurch kann man sich eine geringere Abbruch-quote erhoffen.

Fazit

Das Nachsorgeprojekt Chance ist ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der freien Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. Durch den politischen Willen von Justizminister Prof. Dr. Goll MdL, mit den von der Landesstiftung Baden-Württem-berg bereitgestellten Mittel und über das Engagement des Vereins Projekt Chance e. V. konnte ein Netzwerk der justiznahen Vereine aufgebaut werden, das sich in der Zwischenzeit zu einer tragfähigen Säule der Straffälligenhilfe im Land ent-wickelt hat. Dieses Netzwerk führt nun auch die Vermittlung von Straffälligen in gemeinnützige Arbeit nach landesweit einheitlichen Standards durch.

Die ersten Ergebnisse der kriminologischen Forschungsinstitute belegen die Wirk-samkeit der Betreuung im Nachsorgeprojekt. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Vereinen und Verbänden, den Sozialdiensten im Vollzug und dem Justiz-ministerium hat sich außerordentlich verbessert. Diese Form der systematischen, f lächendeckend standardisierten Nachsorge für Inhaftierte, sollte - eine entspre-chende dauerhafte Finanzierung vorausgesetzt - auf alle (Alters-) Gruppen von Inhaftierten erweitert werden.

Horst Belz Geschäftsführendes Vorstandsmitglied

des Badischen Landesverbandes für soziale Rechtspflege. E-Mail: [email protected]

Hilde Höll Geschäftsführerin des Verbandes

Bewährungs- und Strafffälligenhilfe Württemberg e. V. E-Mail: [email protected]

Oliver Kaiser Referent für Suchtberatung und Straffälligenhilfe

beim Paritätischen, Landesverband Baden-Württemberg. E-Mail: [email protected]

Horst Belz, Hilde Höll, Oliver Kaiser: Das Nachsorgeprojekt Chance

56 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Georg Horneber

Projekt Chance im CJD-Creglingen

Nachdem die Entstehungsgeschichte und die Finanzierung von Projekt Chance schon im Beitrag von Herrn Dr. Wulf erläutert wurde, werde ich hier die Rahmenbedingun-gen nur kurz streifen und auf einige wesentliche Strukturmerkmale von Projekt Chance sowie auf einige ausgewählte Schwerpunkte unserer Arbeit eingehen.

Projekt Chance im CJD-Creglingen ist eine Einrichtung der Kinder und Jugendhilfe, es liegt eine Betriebserlaubnis nach 45 SGB VIII vor. Das Leistungsangebot der Einrichtung ist Strafvollzug in freien Formen ursprünglich nach 91 Abs. 3 JGG und seit 1. August 2007 nach 5, 27 Abs. 1 JStVollzG Baden-Württemberg. Wir halten im Jahresdurchschnitt 15 Plätze vor und können, um Belegungsschwankungen auszu-gleichen, bis zu 18 Jugendliche aufnehmen. 34 Jugendliche haben das Trainingspro-gramm abgeschlossen und 42 junge Männer bestanden das Berufsvorbereitungsjahr unserer Sonderberufsfachschule.

Finanziert wird Projekt Chance aus Mitteln der Landesstiftung Baden-Württemberg gGmbH und ab März 2008 aus Mitteln des Justizministeriums des Landes Baden-Württemberg. Durchführender von Projekt Chance ist der Verein Chance e. V., Dienstleiter vor Ort ist das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands e. V. Es hat eine 60-jährige Erfahrung in den Bereichen Erziehung, Bildung und Ausbildung von jungen Menschen im ganzen Bundesgebiet. „Jedem seine Chance“ lautet das Motto im christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands und es wurde von uns um folgenden Zusatz ergänzt: „aber diese Chance muss erarbeitet werden.“

Zielgruppe und Aufnahmeverfahren

Aufnahme f inden männliche Jugendliche, die das erste Mal zu einer Haftstrafe im Umfang von bis zu max. 3 Jahren verurteilt wurden und sich freiwillig für das Projekt entschieden haben. Inzwischen wurde der Personenkreis auch auf Heran-wachsende erweitert, die bisher nur in Ausnahmefällen Aufnahme fanden. Ausge-schlossen sind Jugendliche mit einem aktuellen Therapiebedarf, einer manifesten Drogenabhängigkeit und junge Männer, denen Sexualstraftaten oder Brandlegung nachgewiesen wurde.

In Absprache mit dem Sozialdienst der Justizvollzugsanstalt gehen Mitarbeiter und der Jugenddorfsprecher des Projektes auf die jungen Männer zu und stellen ihnen

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die Inhalte des Projektes sowie den Alltag vor. Die Jugendlichen haben dann die Möglichkeit, sich auf das Projekt zu bewerben und es folgen weitere Gespräche. Diese dienen zur Abklärung der Motivation und der Prüfung der Eignung des je-weiligen Jugendlichen. Wir bringen unseren Vorschlag in der Zugangskonferenz der Justizvollzugsanstalt ein. Diese entscheidet, ob der Jugendliche für den Strafvoll-zug in freier Form geeignet ist.

Klare Grundnormen und gemeinsam erarbeitete Regeln

Die folgenden acht Grundnormen sind unveränderbar festgelegt. Die Jugendlichen in den Mitbestimmungsgremien leiten davon Regeln ab, die veränderbar sind und dem Alltag immer wieder angepasst werden.

1. Ich respektiere mich und alle anderen.

2. Ich respektiere mein Eigentum und das der anderen.

3. Ich bringe mich aktiv und positiv in die Gruppe und das Projekt Chance ein.

4. Ich begegne anderen höf lich und mit Achtung.

5. Ich begehe keine Straftaten.

6. Ich trinke keinen Alkohol.

7. Ich nehme keinen illegale Drogen.

8. Ich halte mich an die im Jugenddorfrat vereinbarten Regelungen.

Das Stufensystem als Privilegiensystem und Erziehungsplan

Der Trainingsprozess im Projekt Chance verläuft nach einem abgestuften Trainings-plan, der mit zunehmender Verantwortungsübernahme der Jugendlichen deren Freiräume und Mitgestaltungsmöglichkeiten erweitert. Durch das Stufensystem ent-stehen Gruppen, mit denen in den gruppendynamischen Trainings auch gesondert pädagogisch gearbeitet wird. Die Abgrenzung zwischen den Gruppen ist durchlässig und ein Wechsel kann wöchentlich erfolgen. Nur die wenigsten Jugendlichen durch-laufen das Stufensystem in 37 Wochen.

Wir erleben bei den meisten jungen Männern, dass sie nicht nur angepasstes Verhalten zeigen, sondern gegen Regeln und Normen verstoßen. Bei der Auf-

arbeitung der einzelnen Regel- und Normverletzungen in der Gruppe, werden die möglichen Folgen des Handelns sowie die Perspektive des Geschädigten

besonders betont. Wiedergutmachung ist mehr als nur Schadenersatz,

Georg Horneber: Projekt Chance im CJD-Creglingen

58 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

es beinhaltet immer eine Entschuldigung vor dem einzelnen Geschädigten, vor der Gruppe und Handlungen, die es dem Einzelnen ermöglichen durch außergewöhnliche Leistungen eine Aussöhnung mit dem Geschädigten und der Gruppe zu erreichen.

Stufe Neuling, Sammler

Kandidat A, B Tutor A, B Repräsentant Absolvent

Phase Orientierung Verantwortung Verantwortung, Mitgestaltung

Entlassungsvor-bereitung

Nachbetreuung

Aufgaben Integration in •die Gruppe

Kennenlernen •des Normen- und Regelsys-tems

Einüben des •Alltags

Sammeln von •Erfahrung

Einüben von •sozialen Kom-petenzen

Erbringen von •Leistung (am Bau, im Sport)

Erhalten von •Anerkennung

Übernahme von •Verantwortung (Regeln, Ablauf, Job…)

Vorbildfunktion •Zusammenar- •beit mit Trainer

Führen der •Gruppe in abgegrenzten Bereichen

Vertreten der •Normenund Regeln

Führen der •Gruppe

Führen der •Sammler

Identif ikation •mit dem Projekt

Einüben des •selbständigen Lebens,

Gestaltung der •organisatori-schen Ablaufs

Vertritt das •Projekt nach Außen

Auseinander- •setzung mit den zukünfti-gen Lebens-vollzügen und gleichzeitiger konstanter Leistung im Projekt

Integration •in das neue Lebensumfeld,

Erleben von •Krisen u. Rück-schlägen

Selbständiges •Leben in sozia-ler Verantwor-tung

Mindestzeit 11 Wochen 10 Wochen 12 Wochen 4 Wochen 3 Monate nach der Entlassung

Beteiligung wird gehört •kann Themen •und Vorschläge einbringen

macht über die •Gruppe der Samm-ler Vorschläge für Regeln

Beteiligt bei der •Festlegung von •Regeln

Beteiligt bei der •Beratung von Regeln

legt Auflagen u. •Konsequenzen fest

Entscheidet über: •Höherstufung; Jobvergabe, neue Regeln

wie Tutor •

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Alltag und Arbeit als herausfordernde Aufgabenstellung

Der Alltag im Projekt ist von 6.10 Uhr bis 20.15 Uhr durchstrukturiert und verbind-lich vorgegeben, auf die Einhaltung der Zeiten achten Jugendliche. Die verbindliche Struktur ist ein gezielter Gegenentwurf zum bisherigen Leben der Jugendlichen. Bisher war der Tagesablauf der jungen Männer von Beliebigkeit gekennzeichnet, die meisten standen gegen Mittag auf, die Schule interessierte nur wenig, sie trafen sich mit Freunden und zogen bis in die Nacht hinein los. Grenzen oder Einschrän-kungen, sofern diese überhaupt vorhanden waren, wurden ignoriert.

Das morgendliche Joggen ist eine Herausforderung für alle neuen Jugendlichen und ist sowohl Anreiz als auch Vorbehalt sich für das Projekt zu entscheiden. Wer es schafft, nach einer Woche die 3,8 Kilometer durchzulaufen, hat seine erste Heraus-forderung bestanden und etwas geleistet, das er sich bisher meist so nicht zuge-traut hat. Die Anerkennung der Jugendlichen und der Erwachsenen ist ihm sicher.

Die zentrale herausfordernde Aufgabenstellung ist der Umbau des Klosters aus dem 13. Jahrhundert. Die Arbeiten sind keine Übungsstücke, sondern haben einen Nutzen – die Wohnqualität und Arbeitsbedingungen in der Einrichtung zu ver-bessern. „Seht euch an, was Menschen vor euch geschafft haben, vor 700 Jahren haben Mönche ihre Spuren hinterlassen und die Häuser hier hochgezogen. Vor drei Jahren haben eure Vorgänger einen Schweinestall zu eurer Schule umgebaut. Nun liegt es an euch, eure persönlichen Spuren im Kloster zu hinterlassen“, lautet der gängige Spruch des Leiters im Arbeitsbereich.

Für viele Jugendliche ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sowohl von Erwachsenen und Jugendlichen gleichermaßen Anerkennung für ihre (Arbeits-) Leis-tungen erhalten. Das stabilisiert und stärkt die jungen Männer, sie entdecken neue Fähigkeiten, und entwickeln Zutrauen in ihr Leistungsvermögen.

Tägliches Feedback über das Bewertungssystem

Die Anpassung an das Werte- und Normensystem muss kontrolliert und bewertet werden. Der Einzelne bekommt eine dif ferenzierte Rückmeldung über sein Verhalten, seine Fortschritte und über die noch zu gehenden Schritte. Mittels eines Bewer-tungsbogens mit 23 Einzelnoten erhalten die jungen Männer täglich Rückmeldung über ihr Verhalten und ihre Leistungen. Die Trainer vergeben lediglich zwei Be-

wertungen, fünf Noten werden von Jugendlichen und Trainern bewertet und bei sechzehn weiteren Kriterien bewerten Jugendliche andere Projektteilnehmer. Die

täglichen Noten einer Woche werden zusammengefasst und während eines gruppendynamischen Trainings dem einzelnen Jugendlichen vorge-

Georg Horneber: Projekt Chance im CJD-Creglingen

60 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

stellt. In der Wochenauswertung bekommt der junge Mann zusätzlich von zwei Jugendli-chen Rückmeldung über sein Verhalten und seine Leistungen. Bei schlechten Leistungen muss er Stellung beziehen, wie es dazu kam und welche konkreten Ziele er sich für die folgende Woche setzt. Der dabei entstehende Gruppendruck ist ein Nebeneffekt, im Mittelpunkt des Feedbacks steht die fürsorgliche Beziehung unter den Jugendli-chen, die den einzelnen Jugendlichen dazu gewinnen will, sich auf positive Ziele und ein verantwortungsvolles Handeln in der Gemeinschaft auszurichten. Die „Methode“ des sog. Heißen Stuhls wenden wir nicht an.

Gruppendynamische Trainings und Beteiligungsgremien

Die gruppendynamischen Trainings f inden täglich vor dem Mittagessen und nach der Arbeit statt. Grundlegende Methodik dieser Trainings ist der Ansatz der „Positi-ve Peer Culture“ (PPC), der im Zentrum eine „fürsorgliche“ Beziehung unter den Jugendlichen anstrebt und den Einzelnen in der Gruppe dazu gewinnen will, sich auf positive Ziele und ein verantwortliches Handeln in der Gemeinschaft auszurichten. „Jeder Jugendliche trägt Verantwortung für sich und seine Mitmenschen und ist deshalb verpf lichtet dem Anderen zu helfen“ lautet der Grundsatz der PPC. Über-tragen auf unser Projekt Chance und die Bewohner steht folgende Frage im Mittel-punkt: „Wie bringt dein Handeln dich, den anderen, die Gruppe und das gesamte Projekt weiter?“, „Wo schädigst oder gefährdest du mit deinem Handeln die Weiter-entwicklung von dir, den anderen oder unseres gemeinsamen Projektes Chance?“.

Damit sich die Jugendlichen mit der Einrichtung identif izieren, nehmen wir sie als „Experten in eigener Sache“ ernst und beteiligen sie an Entscheidungs-, Planungs-, und Umsetzungsprozessen. Zudem muss eine Erziehung für das Leben in demo-kratischen Gesellschaften notwendigerweise die zentralen Elemente dieses Gesell-schaftssystems selbst in sich widerspiegeln. Um das Normensystem weiter zu ent-wickeln, sind die gruppendynamischen Trainings am Abend thematisch strukturiert. Jugendliche übernehmen Aufgaben in den Gremien und werden dadurch zu Akteuren einer Beteiligungskultur.

Am Sammler- und Kandidatenmeeting nehmen die Jugendlichen der Stufen Kandi-dat und Sammler teil. Das Meeting dient zur Klärung der alltäglichen Anliegen der Bewohner, hier werden Regeländerungen zur Vorlage an den Jugenddorfrat ausgear-beitet. Weiter dient es zur täglichen Einübung einer Feedback- und Gesprächskultur.

Das Tutorenmeeting behandelt Anträge der Jugendlichen auf Höherstufung, verteilt Verantwortungsstellen und spricht individuelle Auf lagen bei Fehlverhalten bzw. mangelnder Leistung aus. Hier wird der aktuelle Gruppenprozess diskutiert, sowie

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die Betreuungsprozesse der Tutoren mit ihren Sammlern ref lektiert und notwen-dige Interventionen geplant. Es werden übergreifende Situationen und Planungen besprochen sowie weitere Entwicklungsschritte der Einrichtung vorgestellt und thematisiert.

Der Jugenddorfrat setzt sich aus Tutoren und Kandidaten zusammen. In diesem Gremium werden Veränderungen der Regeln besprochen und neue Regeln verab-schiedet. Anträge für neue Regeln werden zuvor im Sammler- sowie im Tutoren-meeting diskutiert und entwickelt. Neue Regelungen oder Änderungswünsche an bestehenden Regeln müssen immer im Sinne der Grundnormen sein und dürfen diesen nicht widersprechen.

Die Vollversammlung wählt den Jugenddorfsprecher und seinen Stellvertreter. Bei gravierenden Normverletzungen wird zur Klärung ebenfalls eine Vollversammlung einberufen. Zusätzlich f inden wöchentlich thematische Abende statt, die von einem oder zwei Jugendlichen vorbereitet und durchgeführt werden.

Das Fairnesskomitee tritt auf Antrag eines Jugendlichen zusammen. Es versteht sich als ein Schlichtungsversuch auf der Basis der Aushandlung unterschiedlicher Interessen im Rahmen der Einrichtungskultur vom CJD-Creglingen. Das Gremium setzt sich zusammen aus dem Jugenddorfsprecher, seinem Stellvertreter und einem Vertreter des Leitungsteams. Es hat die Aufgabe den Sachverhalt zu klären und eine Entscheidung zu treffen. Wird die Entscheidung einstimmig beschlossen, ist diese für die gesamte Einrichtung bindend.

Zunehmende Verantwortungsübernahme durch differen-zierte Jobs

Die Funktionsstellen sog. Jobs wurden eingerichtet, um Jugendlichen für abgrenz-bare Bereiche Verantwortung zu übergeben. Die Bewohner sollen sich in der Verant-wortlichkeit erproben und mit der Funktion auch Führung innerhalb der Gruppe übernehmen. Die Jobs sind in Bezug auf die Verantwortlichkeit unterschiedlich ein-gestuft und können von Jugendlichen der jeweilig zugeordneten Stufe übernommen werden. Das Tutorenmeeting entscheidet über die Implementierung und Besetzung der Jobs. Die Funktionsstellen sind so konzipiert, dass auch ein durchsetzungs-schwächerer Jugendlicher seine Aufgabe gut erfüllen kann. Die Inhaber der Funkti-onsstellen werden in ihrer Tätigkeit von den Trainern gefördert und gestützt.

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62 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Begradigung der Schulkarriere und berufliche Integration

Viele der jungen Männer weisen abgebrochene Schulkarrieren auf, hier bietet das Berufsvorbereitungsjahr unserer Sonderberufsfachschule die Möglichkeit einen Ab-schluss zu erreichen, der dem Hauptschulabschluss gleich gestellt ist und dadurch die Chancen auf einen Ausbildungsplatz deutlich erhöht.

Die Berufsf indung geschieht überwiegend in unseren Werkstätten. Hier haben die Jugendlichen die Möglichkeit sich in folgenden Berufen auszuprobieren: Maler, Stuckateur, Trockenbauer, Fliesenleger, Maurer, Zimmermann, Gerüstbauer, Dach-decker, Steinmetz und Schreiner. Über Praktika bei Betrieben im Nahbereich der Einrichtung können in weiteren Berufsfeldern (Einzelhandel, kaufmännischer Bereich, Metallbearbeitung) Erfahrungen gesammelt werden. Ein Praktikum am Herkunftsort des Jugendlichen ist möglich, wenn der junge Mann sich das entsprechende Privileg erarbeitet hat. Es zielt darauf ab, dass der Einzelne einen solch positiven Eindruck hinterlässt, dass er einen Ausbildungsplatz bekommt. Gelingt die Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis nicht, streben wir an, dass er nach der Entlassung umgehend an einer Qualif izierungsmaßnahme der Agentur für Arbeit teilnimmt und so eine Alltagsstrukturierung gegeben ist.

Integration ins Lebensumfeld

Im Mittelpunkt stehen die Integration und die Beheimatung der jungen Menschen in dem von ihnen gewählten Wohnort. Wichtige Elemente neben der beruf lichen Integration sind hier die Zusammenarbeit mit den Eltern und mit örtlichen Behörden (z. B. Jugendamt, Bewährungshilfe, ARGE, freie Straffälligenhilfe).

Beim ersten Besuch der Eltern werden diese ausführlich über das Projekt Chance informiert, damit sie die Inhalte des Programms mittragen und gegebenenfalls ihren Sohn unterstützen, wenn dieser einen Motivationseinbruch hat. Indem die Eltern erleben, dass ihr Sohn Fortschritte macht (z. B. die Schule besteht) wächst die Bereitschaft, wieder auf ihn zuzugehen und diesen wieder bei sich aufzunehmen. Wir besuchen mit dem jungen Menschen mögliche Beratungs- und Anlaufstellen (Arbeitsagentur, Jugendamt, Bewährungshilfe), um ein individuelles Netzwerk an förderlichen und stützenden Beziehungen aufzubauen und beziehen auch Privatper-sonen in dieses Netzwerk mit ein.

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Um den Prozess der Eingliederung zu stabilisieren werden die jungen Männer nach der Entlassung drei Monate eng betreut und mit allen Netzwerkpartnern Kontakt gehalten. Danach besteht für die Jugendlichen weiterhin die Möglichkeit sich telefo-nisch an die Einrichtung zu wenden, um Beratung und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wissenschaftliche Begleitung und weitere Informationen

Die Robert Bosch Stiftung f inanziert die wissenschaftliche Begleitung von Projekt Chance, durchgeführt wird diese von den kriminologischen Instituten der Universi-täten Heidelberg und Tübingen. Ein erster Zwischenbericht steht auf der Hompage des Vereins Chance www.verein-chance.de zum Download bereit. Der Abschlussbe-richt soll 2008 erscheinen. Weitere Informationen sowie eine Literaturliste f inden Sie auf unserer Homepage: www.cjd-creglingen.de.

Georg Horneber, Projekt Chance im CJD Creglingen

Frauental 53, 97993 Creglingen E-Mail: [email protected];

Internet: www.cjd-creglingen.de;

Georg Horneber: Projekt Chance im CJD-Creglingen

64 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Tobias Merckle

Initiative für Jugendhilfe und Kriminalprävention e.V.

Jugendstrafvollzug in freien Formen – Das Seehaus Leon-berg

Seit 1953 bietet 91 Abs. 3 JGG (Jugendstrafvollzug in freien Formen) einen Weg für einen innovativen Jugendstrafvollzug zwischen geschlossenem und offenem Jugendstrafvollzug. Diesen Weg ist erstmals das Justizministerium Baden-Württem-berg unter Justizminister Prof. Dr. Ulrich Goll gegangen. Seit 2003 gibt es 2 solcher Einrichtungen in Deutschland: Das Projekt Chance in Creglingen und das Seehaus Leonberg. Jugendliche und Heranwachsende, die bereit sind an sich zu arbeiten, können sich vom Jugendstrafvollzug aus für das Projekt bewerben. Nach Zustim-mung des Anstaltsleiters verbringen sie ihre gesamte Haftzeit im Projekt. Dort erwartet sie ein durchstrukturierter und harter Arbeitsalltag. Um 5:45 Uhr beginnt der Tagesablauf mit Frühsport. Bis 22:00 Uhr sind die Jugendlichen in ein konse-quent durchgeplantes Erziehungsprogramm eingebunden. Hausputz, Schule, Arbeit, Berufsvorbereitung, Sport, gemeinnützige Arbeit, Täter-Opfer-Ausgleich, soziales Training und die Vermittlung christlicher Werte und Normen sind fester Bestandteil des Konzepts. Sie dienen dazu, dass die Jugendlichen lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich als gesetzestreue Bürger in die Gesellschaft einzugliedern.

Das Projekt in Stichworten:

Kriminalprävention

Die Rückfalldelinquenz nach dem Jugendstrafvollzug ist sehr hoch. Um konsequen-ten Opferschutz zu gewährleisten und neue Straftaten zu verhindern, muss alles getan werden, damit Jugendliche zur Verantwortung gezogen werden und auf ein selbstständiges Leben in Freiheit vorbereitet werden. Abseits von negativen Einf lüssen durch andere Straftäter im Gefängnis werden die Jugendlichen darauf vorbereitet, ihren Teil für die Gesellschaft beizutragen und sich positiv darin einzu-bringen.

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Wiedergutmachung

Im Seehaus Leonberg müssen die Jugendlichen beginnen, den von ihnen angerichte-ten Schaden wiedergutzumachen. In Seminaren und Gruppengesprächen werden sie mit der Opferperspektive konfrontiert und werden aufgefordert, einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen. Durch gemeinnützige Arbeit leisten sie einen symboli-schen Ausgleich für die Gesellschaft.

Das Prinzip Familie

Eine Mitarbeiterfamilie wohnt mit jeweils 5-7 Jugendlichen familienähnlich zusam-men. Auf diese Weise wird Familienleben, das die meisten der Jugendlichen nicht kennen, vorgelebt und vermittelt. Die Jugendlichen werden in eine Lebensge-meinschaft hineingenommen und haben einen engen pädagogischen Bezug zu den Mitarbeitern.

Positive Gruppenkultur

Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung füreinander und leiten einander an. Sie lernen, für andere da zu sein und sich gegenseitig zu helfen.

Konsequentes Erziehungs- und Trainingsprogramm

In einem durchstrukturierten Tagesablauf werden die Jugendlichen konsequent gefordert. Sie müssen Leistung erbringen. Gleichzeitig werden sie in allen Berei-chen (Schule, Arbeit, Sport, Musik, ...) gefördert und können sich so später in allen Bereichen in der Gesellschaft einbringen.

Schule und Ausbildung

In der Seehaus-Schule bereiten sich die Jugendlichen auf den Hauptschulabschluss vor und besuchen hausintern ein Berufsvorbereitungsjahr (Bau und Holz) oder absolvieren das 1. Lehrjahr in den Bauberufen. Sie renovieren das 1609 von Schick-hardt erbaute Seehaus, arbeiten auf verschiedenen internen und externen Baustel-len und bereiten sich auf eine Berufsausbildung außerhalb vor.

Tobias Merckle: Initiative für Jugendhilfe und Kriminalprävention e.V.

66 Sonderheft: Innovation im Jugendstrafvollzug

Vermittlung von Werten und Tugenden

Im Seehaus Leonberg vermitteln die Mitarbeiter christliche Normen und Werte. Auf die-ser Grundlage aufbauend werden Grundtugenden wie Fleiß, Ehrgeiz, Ordnung, Disziplin, Höf lichkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Pf lichtbewusstsein und Selbst-beherrschung abverlangt und eingeübt.

Bürgerschaftliches Engagement

Mit dem Seehaus Leonberg wird ein neuer Weg im Strafvollzug beschritten. Durch eine enge Kooperation von Landesregierung, einem gemeinnützigen Verein der Ju-gendhilfe, der freien Wirtschaft, der Kirchen und vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen entstand ein innovatives Konzept für einen modernen Jugendstrafvollzug. Auch viele Einzelpersonen und Gruppen setzen sich ehrenamtlich im Seehaus Leon-berg ein.

Nachsorge

Die Jugendlichen werden auch über ihren Aufenthalt im Seehaus Leonberg hinaus begleitet, z. B. durch Betreuung durch ehrenamtliche Paten, betreutes Jugendwoh-nen und eine Verselbständigungs-Wohngemeinschaft.

Ausblick

Durch das neue Jugendstrafvollzugsgesetz und die aktuelle Diskussion ergibt sich in den vielen anderen Bundesländern die Möglichkeit, Jugendstrafvollzug in frei-en Formen durchzuführen. Prisma e. V. will weitere Standorte aufbauen um auch Jugendlichen in anderen Bundesländern Chancen zu geben.

Tobias Merckle, Projekt Jugendhof Seehaus, Prisma e. V.

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Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Holstein

Arbeiterwohlfahrt Mittelholstein

Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Flensburg

Arbeiterwohlfahrt Unterelbe

Arbeitsgemeinschaft Deutsches Schleswig

Auxilia - Verein für Gefährdeten- und Straffäll igenhilfe, Itzehoe

Beratungsstelle im Packhaus bei Pro Familia, Kiel

Berufsfortbildungswerk des DGB (bfw) Schleswig-Holstein, Neumünster

Brücke Kiel

Brücke Rendsburg-Eckernförde

Caritasverband Schleswig-Holstein

Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands CJD-Landesgruppe Schleswig-Holstein

Deutsches Rotes Kreuz Schleswig-Holstein

Diakonisches Werk Schleswig-Holstein

Diakonisches Werk Husum Bredstedt

Diakonisches Werk der Kirchenkreise Rendsburg und Eckernförde

Diakonisches Werk des Kirchenkreises Schleswig

Evangelische Stadtmission Kiel

Förderverein Bewährungshilfe Neumünster

Forum Sozial, Kiel

Freie Jugendhilfe Kreis Herzogtum Lauenburg

Gefährdetenhilfe Norderstedt

Gefährdeten- und Straffäll igenhilfe Stormarn

Hempels, Kiel

Jugendhilfeverein Nordfriesland

Kinder- und Jugendhilfeverbund, Kiel

LAG der BewährungshelferInnen

LAG der Gerichtshelferinnen

LAG der TOA-KonfliktberaterInnen

LAG der Vollzugsabteilungsleitungen im Justizvollzug in Schleswig-Holstein

Land in Sicht, Husum

Lichtblick, Kiel

Norderhelp, Neumünster

Odyssee, Kiel

Paritätischer Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein

Rechtsfürsorge Lübeck - Resohilfe

Resohilfe Nordfriesland, Bredstedt

Sönke-Nissen-Park Stiftung, Glinde

Stiftung Straffäll igenhilfe Schleswig-Holstein

Resokette der Diakonie, Vorwerker Heime Lübeck

Verein für Gefangenenfürsorge und Bewährungshilfe, Pinneberg

Verein für Jugendhilfe, Pinneberg

Verein für Resozialisierung Rendsburg-Eckernförde

Verein für Straffäll igenbetreuung, Flensburg

Verein Hilfe zur Selbsthilfe, Flensburg

Wendepunkt, Elmshorn

ZBS des Diakonischen Werkes Neumünster

Die derzeitigen Mitglieder sind:

Der Schleswig-Holsteinische Verband für soziale Strafrechtspflege; Straffäl l igen - und Operhi lfe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die An-l iegen der sozialen Strafrechtspflege in Schleswig-Holstein geltend zu machen sowie die Strukturen und Inhalte der sozialen Strafrechtspflege Schles-wig-Holsteins zu stärken und weiter zu entwickeln.

Unter Strafrechtspflege wird die Arbeit sowohl mit straffäl l ig gewordenen Menschen und ihren Ange-hörigen als auch mit Opfern von Straftaten ver-standen. Der Verein arbeitet mit Organisationen ähnl icher Zielsetzung, auch außerhalb des Landes Schleswig-Holstein, zusammen. Er wurde 1951 von sozial engagierten Persönl ichkeiten gegründet.

Schleswig-Holsteinischer Verbandfür soziale Strafrechtspflege.Straffälligenhilfe und Opferhilfe

Z E I TS C H R I F T F Ü R S O Z I A L E S T R A F R E C H TS P F L E G E

S O N D E R H E F T

Innovationen im Jugendstrafvollzug Ergebnisse und Materialsammlung der Fachtagung vom 06.09.2007 in Lübeck