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AKTION der Ostfriesen-Zeitung Weihnachts- SONNABEND, DEN 23. DEZEMBER 2017 OSTFRIESLAND OSTFRIESEN-ZEITUNG, SEITE 20 IHREN - Dicke, weiße Schnee- flocken fallen Mitte Dezem- ber vom Himmel. Der kleine Marlon sitzt auf dem Boden vor dem Küchenfenster und schaut sich das Treiben drau- ßen an. Der Junge staunt, zeigt mit dem Finger auf die Flocken, die an der Fenster- scheibe schmelzen. Für den Kleinen aus Ihren im Kreis Leer ist es der erste Schnee. Noch vor einem Jahr lag er auf der Frühchenstation im Klinikum Oldenburg. Wenige Monate vorher war Marlon dort zur Welt gekommen – 19 Wochen zu früh, mit ei- nem Gewicht von gerade ein- mal 460 Gramm. Maike Betz nimmt ihren Sohn auf den Arm. Gemein- sam schauen sie nach drau- ßen. Ob Marlon diesen Mo- ment auch mit seinem Zwil- lingsbruder geteilt hätte? Ur- sprünglich sollte die Familie zu viert sein. Doch dann kam alles anders. Felix wurde noch früher als Marlon gebo- ren, starb jedoch kurz nach seiner Geburt. Der „Bunte Kreis“ hat Marlon und seine Eltern an- fangs zu Hause geholfen. Die Einrichtung kümmert sich um Familien mit Frühchen und schwer- oder chronisch kranken Kindern nach einem Klinikaufenthalt. Eltern sol- len so ihre Ängste genom- men werden und sich im Umgang mit ihrem Kind si- cherer fühlen. Dieses Enga- gement möchte die OZ mit ihrer diesjährigen Weih- nachtsaktion unterstützen, indem sie Spenden für den „Bunten Kreis“ sammelt. Lange hatten Maike Betz und ihr Mann versucht, ein Kind zu bekommen. „Vor der Schwangerschaft mit Marlon und Felix hatte ich zwei Fehl- geburten“, sagt die 32-Jähri- ge. Auch die Schwanger- schaft der Zwillinge sei kom- pliziert gewesen, immer wie- der habe es Zwischenfälle ge- geben. Eines Morgens hatte Betz erneut eine Blutung. „Dieses Mal waren meine Schmerzen aber schlimmer.“ Die Untersuchungen zeigten, dass Marlon und Felix schon jetzt zur Welt kommen wür- den. „Aber kein Kind schafft eine Geburt in der 18. Schwangerschaftswoche. Meine Babys würden also sterben.“ Als sie das realisiert habe, habe die 32-Jährige ge- schrien – „vor Angst, Traurig- keit und Wut“, erinnert sie sich. Auf dem Weg ins Kran- kenhaus nach Leer platzte ei- ne der Fruchtblasen. Doch Betz weigerte sich, die Ge- burt einleiten zu lassen. „Vier Tage lang habe ich die Ärzte aus dem Zimmer geschickt. Ich hatte immer noch ge- hofft, dass beide Babys im Bauch bleiben.“ Dass sie dabei auch ihr Le- ben gefährde, war für Maike Betz zweitrangig. „Ich hatte keine Schmerzen und Blu- tungen mehr. Ich spürte, wie sich meine Söhne bewegen und dass es ihnen gut geht.“ Nach drei Wochen kamen die Beschwerden aber zurück. „Ich wusste, dass sie nun kommen“, sagt die 32-Jähri- ge. Doch sie wollte das ver- hindern, zog immer wieder ihren Bauch zusammen. Dann kam Felix zur Welt – lebend. „Es war klar, dass er die nächsten Stunden ster- ben würde“, sagt Betz und reibt sich die Tränen aus den Augen. Ihr Sohn wurde ihr in den Arm gelegt und sie sollte sich von ihm verabschieden. „Ich schaute ihn die ganze Zeit an.“ Immer wieder hät- ten die Ärzte geprüft, ob Felix noch lebt. Nach einer Stunde habe er aufgehört zu atmen. Marlon blieb an diesem Tag jedoch im Bauch, seine Mutter wurde ins Klinikum Oldenburg verlegt. 16 Tage später hatte sie dort diesel- ben Schmerzen wie bei Felix. „Ich wusste, dass Marlon kommt.“ Doch das wollte Maike Betz nicht wahrhaben, erzählte niemandem von ih- ren Schmerzen. „Irgendwann konnte ich aber nicht mehr.“ Als Marlon schließlich da war und Maike Betz ihn sah, habe sie sofort an Felix den- ken müssen. „Marlon sah aus wie er.“ Doch das Schicksal seines Bruders sollte ihn nicht ereilen. Marlon kämpf- te sich durch, trug als Früh- chen keine Schäden davon. Drei Monate blieben Mutter und Sohn im Krankenhaus. Zu Hause war der „Bunte Kreis“ dann für sie da. „Ich hatte so viele Fragen und Angst, etwas falsch zu ma- chen“, sagt Maike Betz. Aber egal was war: Sie habe die Mitarbeiter der Einrichtung immer anrufen können. Richtig Weihnachten fei- ern konnte die Familie ver- gangenes Jahr nicht. „Dafür feiern wir dieses Mal umso größer“, sagt die Mutter. Für ihren Sohn wünsche sie sich vom Weihnachtsmann nur eines: „Er soll gesund und so normal wie andere Kinder aufwachsen können.“ Nur einen Weihnachtswunsch für Marlon SCHICKSAL Der kleine Junge aus Ihren kam vor einem Jahr mit gerade einmal 460 Gramm zur Welt Ursprünglich sollte die Familie zu viert sein – doch dann kam alles an- ders. Der „Bunte Kreis“ hat sie in der ersten Zeit zu Hause unterstützt. VON ANTONIA RÜHLE Der kleine Marlon aus Ihren schaut sich mit seiner Mutter Maike Betz draußen die Schneeflocken an, die an der Fens- terscheibe schmelzen. BILDER: RÜHLE In der Klinik haben die Krankenschwestern in Marlons Na- men Briefe an seine Eltern geschrieben. Marlons ersten Schnuller und eine Mini-Windel hat Maike Betz immer noch aufbewahrt.

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AKTIONder Ostfriesen-Zeitung

Weihnachts-SONNABEND, DEN 23. DEZEMBER 2017 O S T F R I E S L A N D OSTFRIESEN-ZEITUNG, SEITE 20

IHREN - Dicke, weiße Schnee-flocken fallen Mitte Dezem-ber vom Himmel. Der kleineMarlon sitzt auf dem Bodenvor dem Küchenfenster undschaut sich das Treiben drau-ßen an. Der Junge staunt,zeigt mit dem Finger auf dieFlocken, die an der Fenster-scheibe schmelzen. Für denKleinen aus Ihren im KreisLeer ist es der erste Schnee.Noch vor einem Jahr lag erauf der Frühchenstation imKlinikum Oldenburg. WenigeMonate vorher war Marlondort zur Welt gekommen –19 Wochen zu früh, mit ei-nem Gewicht von gerade ein-mal 460 Gramm.

Maike Betz nimmt ihrenSohn auf den Arm. Gemein-sam schauen sie nach drau-ßen. Ob Marlon diesen Mo-ment auch mit seinem Zwil-lingsbruder geteilt hätte? Ur-sprünglich sollte die Familiezu viert sein. Doch dann kamalles anders. Felix wurdenoch früher als Marlon gebo-ren, starb jedoch kurz nachseiner Geburt.

Der „Bunte Kreis“ hatMarlon und seine Eltern an-fangs zu Hause geholfen. DieEinrichtung kümmert sichum Familien mit Frühchenund schwer- oder chronischkranken Kindern nach einemKlinikaufenthalt. Eltern sol-len so ihre Ängste genom-men werden und sich imUmgang mit ihrem Kind si-cherer fühlen. Dieses Enga-

gement möchte die OZ mitihrer diesjährigen Weih-nachtsaktion unterstützen,indem sie Spenden für den„Bunten Kreis“ sammelt.

Lange hatten Maike Betzund ihr Mann versucht, einKind zu bekommen. „Vor derSchwangerschaft mit Marlonund Felix hatte ich zwei Fehl-geburten“, sagt die 32-Jähri-ge. Auch die Schwanger-schaft der Zwillinge sei kom-pliziert gewesen, immer wie-der habe es Zwischenfälle ge-geben. Eines Morgens hatteBetz erneut eine Blutung.„Dieses Mal waren meineSchmerzen aber schlimmer.“Die Untersuchungen zeigten,dass Marlon und Felix schonjetzt zur Welt kommen wür-

den. „Aber kein Kindschafft eine Geburt in der18. Schwangerschaftswoche.Meine Babys würden alsosterben.“ Als sie das realisierthabe, habe die 32-Jährige ge-schrien – „vor Angst, Traurig-keit und Wut“, erinnert siesich. Auf dem Weg ins Kran-kenhaus nach Leer platzte ei-ne der Fruchtblasen. DochBetz weigerte sich, die Ge-burt einleiten zu lassen. „VierTage lang habe ich die Ärzteaus dem Zimmer geschickt.Ich hatte immer noch ge-hofft, dass beide Babys imBauch bleiben.“

Dass sie dabei auch ihr Le-ben gefährde, war für MaikeBetz zweitrangig. „Ich hattekeine Schmerzen und Blu-tungen mehr. Ich spürte, wiesich meine Söhne bewegenund dass es ihnen gut geht.“Nach drei Wochen kamen dieBeschwerden aber zurück.„Ich wusste, dass sie nunkommen“, sagt die 32-Jähri-ge. Doch sie wollte das ver-hindern, zog immer wiederihren Bauch zusammen.

Dann kam Felix zur Welt –lebend. „Es war klar, dass erdie nächsten Stunden ster-ben würde“, sagt Betz undreibt sich die Tränen aus denAugen. Ihr Sohn wurde ihr inden Arm gelegt und sie solltesich von ihm verabschieden.„Ich schaute ihn die ganzeZeit an.“ Immer wieder hät-

ten die Ärzte geprüft, ob Felixnoch lebt. Nach einer Stundehabe er aufgehört zu atmen.

Marlon blieb an diesemTag jedoch im Bauch, seineMutter wurde ins KlinikumOldenburg verlegt. 16 Tagespäter hatte sie dort diesel-ben Schmerzen wie bei Felix.„Ich wusste, dass Marlonkommt.“ Doch das wollteMaike Betz nicht wahrhaben,erzählte niemandem von ih-ren Schmerzen. „Irgendwannkonnte ich aber nicht mehr.“

Als Marlon schließlich dawar und Maike Betz ihn sah,habe sie sofort an Felix den-ken müssen. „Marlon sah auswie er.“ Doch das Schicksalseines Bruders sollte ihnnicht ereilen. Marlon kämpf-

te sich durch, trug als Früh-chen keine Schäden davon.Drei Monate blieben Mutterund Sohn im Krankenhaus.Zu Hause war der „BunteKreis“ dann für sie da. „Ichhatte so viele Fragen undAngst, etwas falsch zu ma-chen“, sagt Maike Betz. Aberegal was war: Sie habe dieMitarbeiter der Einrichtungimmer anrufen können.

Richtig Weihnachten fei-ern konnte die Familie ver-gangenes Jahr nicht. „Dafürfeiern wir dieses Mal umsogrößer“, sagt die Mutter. Fürihren Sohn wünsche sie sichvom Weihnachtsmann nureines: „Er soll gesund und sonormal wie andere Kinderaufwachsen können.“

Nur einen Weihnachtswunsch für MarlonSCHICKSAL Der kleine Junge aus Ihren kam vor einem Jahr mit gerade einmal 460 Gramm zur Welt

Ursprünglich sollte dieFamilie zu viert sein –doch dann kam alles an-ders. Der „Bunte Kreis“hat sie in der ersten Zeitzu Hause unterstützt.

VON ANTONIA RÜHLE

Der kleine Marlon aus Ihren schaut sich mit seiner Mutter Maike Betz draußen die Schneeflocken an, die an der Fens-terscheibe schmelzen. BILDER: RÜHLE

In der Klinik haben die Krankenschwestern in Marlons Na-men Briefe an seine Eltern geschrieben.

Marlons ersten Schnuller und eine Mini-Windel hat MaikeBetz immer noch aufbewahrt.