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1 Physik in unserer Zeit 27/2 (1996), S. 77-78 Sonnentaler – Abbilder der Sonne Hans Joachim Schlichting, Christian Ucke Jeder hat schon einmal an einem sonnigen Tag unter Bäumen Sonnentaler auf dem Boden gesehen. Als physikalisches Phänomen ziehen sie sich seit der Antike durch die Geschichte. Den meisten Menschen, die an einem strahlenden Sonnentag unter dem B1ätterdach von Bäumen spa- zierengehen, fällt normalerweise nichts auf an den ineinander verwobenen Licht- und Schattenstruktu- ren, die den Boden und andere Gegenstände bedek- ken (Abbildung 1). Aber selbst wenn sie auf die kreis- und ellipsenförmigen Lichtflecken aufmerk- sam gemacht werden, sind sie nur selten überrascht und erklären das Phänomen vor allem mit zufällig auftretenden runden Öffnungen zwischen den Zwei- gen, manchmal aber auch mit einer nicht weiter spezifizierbaren ,,Tendenz des Lichts, scharfe Kan- ten abzurunden". Der Hinweis, daß es sich bei diesen sogenannten Sonnentalern um Abbilder der Sonne handelt, wird zunächst oft mit Skepsis und Erstaunen zur Kennt- nis genommen. Interessant ist in diesem Zusam- menhang, daß die Sonnentaler, nachdem sie einmal als solche wahrge- nommen wurden, an- schließend immer wieder gesehen wer- den. Hier zeigt sich einmal mehr, daß oft erst der physikalische Blick Phänomene aus dem Einerlei lebens- weltlicher Selbstver- ständlichkeiten her- auszulösen und damit sichtbar zu machen vermag. Sonnentaler spielen in der Geschichte der geometrischen Optik eine paradigmatische Rolle. Schon Aristoteles hat sich mit ihnen beschäftigt. In seinem Werk Proble- mata finden wir folgende Bemerkungen. ,,Warum erzeugt die Sonne, wenn sie durch vierek- kige Gebilde dringt, nicht rechteckig gebildete Formen, sondern Kreise, wie z. B. wenn sie durch Flechtwerk dringt!" (Buch XV, Problem 6) Warum treten bei Sonnenfinsternis, wenn man durch ein Sieb oder durch Blätter(lücken) sieht, et- wa einer Platane oder eines anderen breitblättrigen Baumes, oder wenn man die Finger der einen Hand mit denen der anderen verflechtet, die Sonnen- strahlen auf der Erde halbmondförmig in Erschei- nung!" (Problem 11) [1] Erst Johannes Kepler gelingt es im Jahre 1604, den scheinbaren Widerspruch zwischen der ,,Geradlinigkeit der Lichtausbreitung" und der ,,Krümmung des Lichts", wie sie in den Sonnenta- lern zum Ausdruck kommt, aufzulösen und damit eine aus der Sicht der neuzeitlichen Physik befrie- digende, rein geometrische Erklärung zu geben (siehe ,,Kepler als neuzeitlicher Physiker"). Der entscheidende Schritt Keplers besteht darin, die spätestens seit Euklid bekannte Vorstellung, daß ein leuchtender Punkt radial in alle Rich- tungen strahlt, mit der Idee zu vereini- gen, daß eine leuchtende F1äche als Ensemble un- endlich vieler leuchtender Punkte angesehen werden kann. So gesehen entwirft jedes von den Punkten der Lichtquelle ausge- hende, vom Loch begrenzte Licht- bündel auf dem Schirm ein eigenes Bild des Loches (Abbildung 1). In der Überlage- rung sämtlicher Bilder des Loches entsteht ein hy- brides Gebilde, das der Form der Lichtquelle (des Loches) umso ähnlicher wird, je kleiner (größer) das Loch und/oder je entfernter (näher) der Schirm ist. Bild 1: Sonnentaler säumen den Weg

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Physik in unserer Zeit 27/2 (1996), S. 77-78

Sonnentaler – Abbilder der Sonne

Hans Joachim Schlichting, Christian Ucke

Jeder hat schon einmal an einem sonnigen Tag unter Bäumen Sonnentaler auf dem Boden gesehen. Alsphysikalisches Phänomen ziehen sie sich seit der Antike durch die Geschichte.

Den meisten Menschen, die an einem strahlendenSonnentag unter dem B1ätterdach von Bäumen spa-zierengehen, fällt normalerweise nichts auf an denineinander verwobenen Licht- und Schattenstruktu-ren, die den Boden und andere Gegenstände bedek-ken (Abbildung 1). Aber selbst wenn sie auf diekreis- und ellipsenförmigen Lichtflecken aufmerk-sam gemacht werden, sind sie nur selten überraschtund erklären das Phänomen vor allem mit zufälligauftretenden runden Öffnungen zwischen den Zwei-gen, manchmal aber auch mit einer nicht weiterspezifizierbaren ,,Tendenz des Lichts, scharfe Kan-ten abzurunden".

Der Hinweis, daß es sich bei diesen sogenanntenSonnentalern um Abbilder der Sonne handelt, wirdzunächst oft mit Skepsis und Erstaunen zur Kennt-nis genommen. Interessant ist in diesem Zusam-menhang, daß die Sonnentaler, nachdem sie einmalals solche wahrge-nommen wurden, an-schließend immerwieder gesehen wer-den. Hier zeigt sicheinmal mehr, daß ofterst der physikalischeBlick Phänomene ausdem Einerlei lebens-weltlicher Selbstver-ständlichkeiten her-auszulösen und damitsichtbar zu machenvermag.

Sonnentaler spielenin der Geschichte dergeometrischen Optikeine paradigmatische Rolle. Schon Aristoteles hatsich mit ihnen beschäftigt. In seinem Werk Proble-mata finden wir folgende Bemerkungen.

,,Warum erzeugt die Sonne, wenn sie durch vierek-kige Gebilde dringt, nicht rechteckig gebildeteFormen, sondern Kreise, wie z. B. wenn sie durchFlechtwerk dringt!" (Buch XV, Problem 6)

Warum treten bei Sonnenfinsternis, wenn mandurch ein Sieb oder durch Blätter(lücken) sieht, et-wa einer Platane oder eines anderen breitblättrigenBaumes, oder wenn man die Finger der einen Handmit denen der anderen verflechtet, die Sonnen-strahlen auf der Erde halbmondförmig in Erschei-nung!" (Problem 11) [1]

Erst Johannes Kepler gelingt es im Jahre 1604, denscheinbaren Widerspruch zwischen der,,Geradlinigkeit der Lichtausbreitung" und der,,Krümmung des Lichts", wie sie in den Sonnenta-lern zum Ausdruck kommt, aufzulösen und damiteine aus der Sicht der neuzeitlichen Physik befrie-digende, rein geometrische Erklärung zu geben(siehe ,,Kepler als neuzeitlicher Physiker").

Der entscheidende Schritt Keplers besteht darin, diespätestens seit Euklid bekannte Vorstellung, daß ein

leuchtender Punktradial in alle Rich-tungen strahlt, mitder Idee zu vereini-gen, daß eineleuchtende F1ächeals Ensemble un-endlich vielerleuchtender Punkteangesehen werdenkann. So gesehenentwirft jedes vonden Punkten derLichtquelle ausge-hende, vom Lochbegrenzte Licht-bündel auf demSchirm ein eigenes

Bild des Loches (Abbildung 1). In der Überlage-rung sämtlicher Bilder des Loches entsteht ein hy-brides Gebilde, das der Form der Lichtquelle (desLoches) umso ähnlicher wird, je kleiner (größer)das Loch und/oder je entfernter (näher) der Schirmist.

Bild 1: Sonnentaler säumen den Weg

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Stellt man sich gemäß Abbildung 1 einen Licht-punkt vor, der den Rand der Lichtquelle ,,abtastet",so ,,sieht" man vor seinem geistigen Auge, wie daszugehörige Lichtbündel ein Dreieck von Kreisenund damit ein mehr oder weniger stark aufgeblähtesBild der Lichtquelle (sprich des Loches) entwirft.

Sonnentaler entdeckt man nicht nur unterB1ätterdächern, sondern gelegentlich auch in jalou-sieverdunkelten Räumen. Hier liegen sie dann auf

Tischen und Bänken zu physikalischen Untersu-chungen bereit [3]. Es ist ein leichtes, sowohl ihrenRadius r als auch ihren Abstand I von der rechtek-kigen Öffnung in den Jalousien zu messen. Darausläßt sich mit Hilfe des Strahlensatzes das Verhältnisdes Radius der Sonne R zum Abstand L der Sonnevon der Erde R/L ermitteln: R/L = r/l.

Während des Ausmessens stellt man fest, daß dieSonnentaler wandern. Innerhalb von zwei Minutenverschieben sie sich genau um den eigenen Durch-messer. Da das Verhältnis R/L dem Sehwinkel derSonne a (im Bogenmaß) entspricht, kann man dar-aus die Umdrehungszeit der Erde berechnen: U = t360°/α = 1/30 h 360°/0,5° = 24 h. Obwohl diesesErgebnis bekannt ist, zeigen sich oft selbst hartge-sottene Physikstudenten beeindruckt davon, daß dieNatur ihre ,,Geheimnisse" in so bescheidenen Licht-flecken bereithält. Außerdem läßt sich aus den Ach-sen eines ebenen elliptischen Sonnentalers die mo-mentane Sonnenhöhe abschätzen.

Die kreisförmigen und elliptischen Lichtflecken be-eindrucken vor allem dadurch, daß sie unabhängigvon der Form der Öffnung entstehen, durch die dasSonnenlicht hindurchgeht. Dieser Eindruck wirdnoch verstärkt, wenn die Sonne bei einer teilweisenBedeckung eine Sichelform annimmt (Abbildung 2und 3). In diesem Fall erblickt man unter dem Blät-terdach der Bäume oder im verdunkelten Zimmerlauter Halbmonde oder Sicheln. Um dieses Phäno-men zu beobachten, ist man gar nicht einmal auf ei-ne Sonnenfinsternis angewiesen. An Tagen, an de-nen Wolken vor der Sonne vorbeiziehen, läßt essich in ähnlicher Form genauso gut beobachten.

Wenn man die Geduld dazu nicht aufbringt, kannman Sonnentaler auch künstlich mit einer geeigne-ten Lichtquelle herstellen. Hierzu schneidet man indünnen Karton ein Loch mit der Form der ge-wünschten Lichtquelle, also beispielsweise einenHalbmond, überklebt es mit halbtransparentem Pa-pier (Butterbrotpapier) und paßt ihn in einen Di-arahmen ein. Dieses Dia wird mit Hilfe eines Pro-jektors beleuchtet, dessen Objektiv man zuvor ent-fernt hat. Hält man einen Zweig mit: kleinenB1ättern oder ein Stück Karton mit beliebig ge-

Abb. 1: Ein von einer flächenhaften Lichtquelledurchstrahltes Loch er zeugt hybride Abbildungenvon der Form des Loches und der Lichtquelle. Sie äh-neln umso mehr der Form der Lichtquelle, je kleinerdas Loch ist

Abb. 2: Historische Darstellung sichelförmiger Son-nentaler bei einer partiellen Sonnenfinsternis.

Abb. 3: Dasselbe Phänomen wie in Abb. 2, aufgenom-men während der Finsternis vom 30. 6. 1954 (Foto:Bleichroth).

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formten kleinen Löchern in den Strahlengang zwi-schen beleuchtetem Dia und Projektionsschirm, soentstehen Abbilder der Form der Lichtquelle.

Literatur

[1] Pseudo-Aristoteles, Problemata Physica, Wiss.Buchgesellschaft, Darmstadt 1962.

[2] Schlichting, H. J., Sonnentaler fallen nicht vomHimmel. MNU 4X, 199 (4/1995); dort weitere Lite-ratur.

[3] Schlichting, H .J., Praxis der Naturwissenschaften,43, 19(4/1994).

Kepler als neuzeitlicher Physiker

Ausgangspunkt für Keplers Aktivitäten im Bereichder Optik insbesondere im Zusammenhang mit demSonnentalerphänomen ist ein astronomisches Pro-blem. Tycho Brahe stellt angesichts der Beobach-tung der Sonnenfinsternis am 25. Februar des Jahres1598 fest, daß der Neumond bei einer Sonnenfin-sternis "nicht in der Größe erscheint, die er zu ande-ren Zeiten bei Vollmond hat, obwohl er dann ge-nauso weit von der Erde entfernt ist" [2].

Für Kepler ist dieser Befund mehr als ein Rätsel".Zutiefst von der Gültigkeit der erst im kopernikani-schen Weltbild begründbaren neuzeitlichen Him-melsmechanik überzeugt, also insbesondere von derUnveränderlichkeit der Bahnen und Größen derHimmelkörper, ist es für ihn völlig inakzeptabel,darin eine ,Schrumpfung" des Mondes oder eineweitere Entfernung des Mondes von der Erde beiSonnenfinsternissen zu sehen. Stattdessen stellt erdie allgemein anerkannte Beobachtungsmethodeselbst in Frage, Sonnenfinsternisse beobachtet mannämlich zur Schonung der Augen nicht direkt, son-dern in Gestalt der Lochkamerabilder, also der Son-nentaler, die hinter einer Öffnung auf einem Schirmentstehen.

Kepler findet schließlich heraus, daß man strenggenommen nur im Falle einer sehr kleinen Öffnungund /oder in hinreichend großer Entfernung von ei-ner Öffnung mit endlichem Durchmesser eine kor-rekte Abbildung erwarten kann. Die beobachteteMondverkleinerung von 20% stellt sich daher alsein Beobachtungsfehler heraus, der darauf beruht,daß der Projektionsschirm zu dicht hinter dem Lochangebracht ist.

Mit der Klärung des Sonnentalerproblems schafftKepler den Grundstein für eine völlig neue geome-trische Optik, die er selbst kurze Zeit später ausar-beiten sollte. Die Keplersche Optik muß aber als ei-ne der Grundvoraussetzungen für die Leistungen imBereich der Himmelsmechanik angesehen werden,die ihrerseits ein Kernstück der neuzeitlichen Phy-sik ausmacht.