26
Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland Einführende Darstellung für Auszubildende im Fachbereich Altenpflege von Uwe Bekemann, Währentruper Str. 71 33813 Oerlinghausen Tel.: 05202/5390 Fax: 05202/5541 E-Mail: [email protected] Stand: 20.6.2014

Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland - bekemann.de · Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland Einführende Darstellung für Auszubildende im Fachbereich Altenpflege von Uwe Bekemann,

Embed Size (px)

Citation preview

Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland Einführende Darstellung für Auszubildende im Fachbereich Altenpflege von Uwe Bekemann, Währentruper Str. 71 33813 Oerlinghausen Tel.: 05202/5390 Fax: 05202/5541 E-Mail: [email protected] Stand: 20.6.2014

2

Inhaltsverzeichnis

1. GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG ZUM HEUTIGEN SOZIALRE CHT ......................... 3

2. SOZIALSTAAT, SOZIALSTAATSPRINZIP ............... ................................................................ 4

3. SOZIALRECHT ............................................................................................................................... 5

4. GLIEDERUNG DER SOZIALEN SICHERUNG ......................................................................... 6

4.1 VIERSÄULENSYSTEM .......................................................................................................................... 6 4.2 UNTERSCHEIDUNG DER VIER SÄULEN ................................................................................................ 6 4.3 GESETZGEBUNGSKOMPETENZ ............................................................................................................ 7 4.5 INHALT DES SOZIALGESETZBUCHS (SGB) .......................................................................................... 7

5. WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG DES SOZIALRECHTS ..... ............................................ 9

6. S O Z I A L V E R S I C H E R U N G .......................................................................................... 10

6.1 GESCHICHTE DER SOZIALVERSICHERUNG ........................................................................................ 10 6.2 PRINZIPIEN DER SOLIDARGEMEINSCHAFT ........................................................................................ 10 6.3 MÖGLICHE ALTERNATIVEN ZUR SOZIALVERSICHERUNG ................................................................. 11

7. G E S U N D H E I T S W E S E N................................................................................................. 13

7.1 ZIELE DES GESUNDHEITSWESENS ..................................................................................................... 13 7.2 AUFBAU DES GESUNDHEITSSYSTEMS IN DEUTSCHLAND .................................................................. 13 7.3 FINANZIERUNG DES GESUNDHEITSSYSTEMS IN DEUTSCHLAND ....................................................... 13

8. K R A N K E N V E R S I C H E R U N G .................................................................................... 15

8.1 GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG ......................................................................................... 15 8.2 PRIVATE KRANKENVERSICHERUNG ................................................................................................. 16

9. P F L E G E V E R S I C H E R U N G ......................................................................................... 18

10. S O Z I A L H I L F E (NACH DEM SGB XII) ...... .................................................................... 19

10.1 HILFEARTEN NACH DEM SGB XII .................................................................................................. 19 10.2 GRUNDSÄTZE DER SOZIALHILFE .................................................................................................... 19

11. WOHLFAHRTSVERBÄNDE ALS WICHTIGE WEITERE TRÄGER DES GESUNDHEITS- UND SOZIALWESENS ............................................................................................................................... 24

12. EINFLÜSSE AKTUELLER ENTWICKLUNGEN AUF DAS SOZI ALVERSICHERUNGSSYSTEM .............................................................................................................................................................. 25

12.1 URSACHEN UND FOLGEN WIRTSCHAFTLICHER PROBLEME DES STAATES ....................................... 25 12.2 EXKURS: SOZIALABBAU ................................................................................................................. 25 12.3 KONSEQUENZEN EINZELNER AKTUELLER ENTWICKLUNGEN .......................................................... 26

3

1. Geschichtliche Entwicklung zum heutigen Sozialre cht (Grobbetrachtung)

Die heutige umfassende soziale Sicherung in der Bundesrepublik ist das Ergebnis einer lang-fristigen, nicht stetig verlaufenen Entwicklung. Noch bis zum 16. Jahrhundert wurden die Armen nur von privater Seite, Klöstern und Orden unterstützt.

1522/1523 Armenordnungen der Städte Nürnberg,

Augsburg, Breslau (nur für Einheimische waren Hilfen vorgesehen)

1530/1548/1577 Mittels Reichspolizeiverordnungen wur-den Bettelverbote ausgesprochen. So wurden Fremde ferngehalten.

1618 - 1648 Der 30jährige Krieg ist (mit-) verantwort-lich dafür, dass diese Anfänge wieder zum Erliegen kamen. Bis ca. 1800 ent-stand so ein „Soziales Niemandsland“

1794 Preußisches Allgemeines Landrecht: Verpflichtung der Gemeinden zur Durch-führung der Armenpflege

1881 Einleitung der Sozialversicherung durch kaiserliche Botschaft

1883 Krankenversicherungsgesetz 1884 Unfallversicherungsgesetz 1889 Invaliditäts- und Altersversorgungsgesetz

für Arbeiter 1911 Zusammenfassung der vg. 3 Sozialversi-

cherungsgesetze durch die RVO 1911 Angestelltenversicherungsgesetz 1922 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1923 Reichsknappschaftsgesetz 1924 Ablösung des Armenrechts durch die

„VO über die Reichsfürsorgepflicht“ und „Reichsgrundsätze über ... öffentl. Für-sorge“

1927 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Ar-beitslosenversicherung

1950 Bundesversorgungsgesetz 1960 Wohngeldgesetz 1961 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1975 Sozialgesetzbuch (SGB) - „Anfang“ - 1995 Inkrafttreten der Pflegeversicherung

(SGB XI) 2005 Inkrafttreten von SGB II und SGB XII 2007 Inkrafttreten des Bundeselterngeld- und

Elternzeitgesetzes - BEEG

4

2. Sozialstaat, Sozialstaatsprinzip

Als Sozialstaat wird ein Staat bezeichnet, der danach strebt, soziale Unterschiede zwischen seinen Bürgern bis zu einem gewissen Grad auszugleichen. Dieser Ausgleich soll bewirken, dass jeder einzelne an den gesellschaftlichen und politischen Einwicklungen Teilhabe nehmen kann. Der Sozialstaat soll soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit herstellen, seine Bürger vor Notlagen bewahren oder ihnen im Falle der Not Hilfe anbieten. Ausdruck des Sozialstaatsprin-zips in Deutschland sind z.B. die gesetzlichen Krankenversicherung, Rentenversicherung, Un-fallversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung. Das Sozialstaatsprinzip zählt (wie auch das Rechtsstaats-, das Föderalismus- und das Demo-kratieprinzip) zur Grundlage der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Es ist im Grundgesetz als unveränderliches Staatsziel verankert (das Sozialstaatsprinzip unterliegt der so genannten Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG (ebenso wie die Garantie der Men-schenwürde und der Menschenrechte). In Kürze: Sozialstaat und Sozialstaatsprinzip: Rechtsgrundlage : Art. 20 Abs. 1 GG („...demokratischer und sozialer Bundesstaat“) Inhalt : - Verpflichtung des Staates, - eine gerechte Sozialordnung zu schaffen

o Schutz der Schwachen (z.B. Behinderte Menschen, Kranke, Arbeitslose)

o Allgemeine Daseinsvorsorge (z.B. Renten, Versorgungsbezüge)

Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips: a.) im GG nur ausnahmsweise in Form einzelner Grundrechte: (Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 + 2, Art. 6 Abs. 1, 4 + 5, Art 9 Abs. 3, Art. 14 Abs. 2 + 3, Art. 15) b.) in einfachen Gesetzen Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen durch Erlass einzelner anspruchsbegründender Sozialleistungsgesetze

5

Homogenisierungsgebot: Art. 28 Abs. 1 GG: Die Verfassungsgrundsätze des Bundes gelten auch für die Länder.

3. Sozialrecht Begriff: Der Begriff des Sozialrechts kommt im Sozialgesetzbuch (SGB) nicht vor. § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I stellt auf die Wesentlichkeiten des Sozialrechts ab, um damit die begriffli-che Bestimmung zu umschreiben. Danach ist das Sozialrecht das der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit dienen-de Recht, das diese Ziele durch die Gewährung von Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen zu verwirklichen sucht. Die Ziele des Sozialrechts sind in § 1 S. 2 SGB I mittels eines ausführlichen Aufgabenkatalogs formuliert: • ein menschenwürdiges Dasein sichern, • gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere für junge

Menschen schaffen, • die Familie schützen und fördern, • den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit ermöglichen, • besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abwenden oder aus-

gleichen. Als verfassungsrechtliche Grundlage des vom Staat zu erfüllenden sozialen Auftrags ist das Sozialstaatsprinzip heranzuziehen (Art. 20 Abs. 1 GG). Als spezifisch sozialrechtliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips lassen sich die Aufga-ben des Sozialrechts wie folgt zusammenfassen: • Gewähr des Existenzminimums: Abwendung materieller Not • Gewähr elementarer personeller Dienste (Erziehung, Betreuung, Pflege) • Minderung und Kontrolle von Abhängigkeiten • Ausgleich von Wohlstandsunterschieden • Sicherung des erlangten Lebensstandards gegen wesentliche ökonomische Verschlechte-

rung.

6

4. Gliederung der sozialen Sicherung

4.1 Viersäulensystem Sozialversicherung Sozialversorgung Sozialförderung Soziale Hilfe Krankenversicherung Kriegsopferversor-

gung Ausbildungsförderung HLU

Rentenversicherung Wehrdienstopfer-versorgung

Elterngeld HbL

Unfallversicherung Zivildienstopferver-sorgung

Wohngeld Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung

Arbeitslosenversiche-rung

Opferentschädigung (Gewaltopfer)

Unterhaltsvorschuss Grundsicherung für Ar-beitssuchende

Pflegeversicherung Impfopferversorgung ... Wirtschaftliche Jugend-hilfe

... Kindergeld - nur noch in bestimmten Fällen

(Asylbewerberleistungen)

Viersäulensystem

Sozial-

versicherung

Sozial-

versorgung

Sozial- förderung

Soziale

Hilfe

4.2 Unterscheidung der vier Säulen

Sozialversicherung Risikoabsicherung für

• Krankheit • Arbeitsunfall • Erwerbsunfähigkeit • Alter • Arbeitslosigkeit

7

• Pflegebedürftigkeit Finanzierung durch Mitgliedsbeiträge (Prinzip der Gegenleistung)

Sozialversorgung Soziale Entschädigung für erlittenen Verlust in der Vergangenheit

• Kriegsfolgeschäden • Opfer von Gewalttaten • Bundeswehrgeschädigte • Bundesgrenzschutzgeschädigte • Zivildienstgeschädigte • …

Finanzierung durch öffentliche Mittel

Sozialförderung Verfolgung sozialer und gesellschaftlicher Ziele

• Familienpolitik (Elterngeld, Jugendhilfe, weniger Steuern) • Wohnungspolitik (Wohngeld, Wohnungsbauförderung, weniger Steu-

ern) • Bildungspolitik (Ausbildungsförderung)

Finanzierung durch öffentliche Mittel

Sozialhilfe Sicherung eines menschenwürdigen Lebens im Einzelfall, wenn andere ausreichende Mittel nicht zur Verfügung stehen Finanzierung durch öffentliche Mittel

4.3 Gesetzgebungskompetenz Liegt beim Bund im Rahmen der sog. konkurrierenden Gesetzgebung, d.h. der Bund hat das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht. Die Länder haben die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht oder er den Ländern bestimmte Gesetzgebungs-befugnisse überträgt (Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG).

4.5 Inhalt des Sozialgesetzbuchs (SGB) SGB I: Allgemeiner Teil SGB II Grundsicherung für Arbeitssuchende SGB III: Arbeitsförderung SGB IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung

8

SGB VI: Rentenversicherung SGB VII Unfallversicherung SGB VIII: Kinder- und Jugendhilferecht SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen SGB X:

⇒ Verwaltungsverfahren ⇒ Schutz der Sozialdaten ⇒ Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger und ihre Beziehungen zu Drit-

ten SGB XI: Soziale Pflegeversicherung SGB XII Sozialhilfe

9

5. Wirtschaftliche Bedeutung des Sozialrechts Das Sozialrecht regelt das Geben und das Nehmen, gestaltet den Transfer von Einkommen sowie die Bereitstellung vermögenswerter Dienste und Sachen. Im Bereich der drei Säulen Sozialversorgung, Sozialförderung und Sozialhilfe beschränkt sich das Sozialrecht auf die Regelung des Gebens, während das Nehmen über das Steuerrecht ge-regelt wird. Das Sozialrecht organisiert die Umverteilung innerhalb der Gesamtbevölkerung bzw. innerhalb der für die sozialen Zwecke geschaffenen Solidarverbände. Der Sozialaufwand, der in einer bestimmten zeitlichen Periode entsteht, ist aus dem wirtschaftlichen Ertrag der unmittelbar vor-hergehenden Periode zu tragen. Daraus wird geschlossen, dass nur insoweit Sozialleistungen verteilt werden können, wie die Volkswirtschaft Erträge erlangt hat. Marktwirtschaft sichert i.d.R. die bestmögliche Versorgung mit Gütern, gewährleistet aber nicht die bestmögliche Verteilung des Erwirtschafteten, garantiert somit nicht die Verteilungsgerech-tigkeit. Zwischen Marktwirtschaft und Sozialrecht bestehen Zielkonflikte: Marktwirtschaft setzt den Schwerpunkt auf die Produktion von Leistungen, Sozialrecht setzt den Akzent auf die Vertei-lung. Marktwirtschaft fördert die Freiheit des Leistungsstarken - Sozialrecht wirkt ausgleichend und tritt damit in Widerstreit zur Marktwirtschaft. Hieraus leiten sich zwei unterschiedliche Prob-lemkreise ab: Sozialrecht, das notwendigerweise korrigierend in die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozes-se eingreift, läuft ständig Gefahr, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu überfordern. Anderer-seits wird oftmals verkannt, dass sich das Sozialrecht befriedigend und hinsichtlich marktwirt-schaftlicher Belange leistungsfördernd auswirkt.

10

6. S o z i a l v e r s i c h e r u n g Die Sozialversicherung ist ein gesetzliches Versicherungssystem, dem als Teil der sozialen Sicherung insgesamt eine ganz zentrale Rolle zukommt. Sie begründet die Solidargemein-schaft, die wirksamen finanziellen Schutz vor den großen Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeits-losigkeit, Alter, Betriebsunfällen und Pflegebedürftigkeit und deren Folgen bietet.

6.1 Geschichte der Sozialversicherung Die Sozialversicherung findet ihre Wurzeln in Bismarcks Sozialgesetzgebung im Anschluss an die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881. Damit organisierte der Staat erstmals in großem Umfang eine soziale Absicherung gegen existentielle Lebensrisiken. Allerdings weiß man heute, dass diese Sozialgesetzgebung das Resultat politischer Taktik war und nicht aus humanitärer Überzeugung erfolgte. Durch die Einführung der sozialen Sicherung wurde der innerstaatliche Frieden in Deutschland gesichert; eine Gleichberechtigung der Arbei-ter im Staat wurde nicht verfolgt. Die Krankenversicherung wurde 1883 eingeführt, die Unfallversicherung 1884 und die Invalidi-täts- und Altersversicherung 1889. 1927 trat die Arbeitslosenversicherung hinzu. (Erst) ab 1995 wurde dann die soziale Pflegeversicherung stufenweise eingeführt. Während in den Anfängen nur etwa ein Fünftel der erwerbstätigen Menschen und etwa ein Zehntel der Bevölkerung erfasst war, sichert die Sozialversicherung in der Gegenwart rd. 90 Prozent der Menschen in Deutschland.

6.2 Prinzipien der Solidargemeinschaft Das Sozialsystem hat sich im Laufe der Zeit den aktuellen Bedingungen - auch im Hinblick auf die Europäische Union - erfolgreich angepasst. Diese Anpassungen erstrecken sich auch auf die Prinzipien der Sozialversicherung. Diese Prinzipien des Kernelements „Sozialversicherung“ des Sozialsystems, die für das allgemeine Bedürfnis nach sozialer Sicherheit. die Rahmenbe-dingungen schaffen, haben sich in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt. Auch gegenwärtig wird deshalb grundsätzlich an ihnen festgehalten. Die wichtigsten Prinzipien sind: Prinzip der Versicherung, Prinzip der Versicherungspflicht: Die Sozialversicherung basiert auf dem Prinzip der Versicherung, was bedeutet, dass die Versi-cherten Beiträge einzahlen und dadurch Anspruch auf Leistungen erwerben. Für die Personen, die von der Geltung der Versicherung erfasst werden, besteht Versicherungspflicht. Neben den Arbeitnehmern als Versicherte wird die Sozialversicherung auch von den Arbeitge-bern finanziert; beide Seiten tragen die Finanzierungslast zu grundsätzlich gleichen Teilen. Dabei legt die Selbstverwaltung (für Kranken- und Unfallversicherung [siehe hierzu auch das Prinzip der Verknüpfung von staatlicher Rahmengesetzgebung und sozialer Selbstverwaltung]) beziehungsweise der Gesetzgeber (für Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Pflegeversicherung) die Beitragssätze gesetzlich fest. Die Beiträge orientieren sich am Gehalt des Arbeitnehmers (für die Landwirtschaft gelten besondere Regelungen). Prinzip der Verknüpfung von staatlicher Rahmengesetzgebung und sozialer Selbstverwaltung:

11

Der Staat schafft den gesetzlichen Rahmen, in dem dann die Versicherten und die Arbeitgeber ihre Sozialversicherung über Vertreterversammlungen und Vorstände selbst verwalten. Durch die Delegation von Aufgaben und Verantwortungsbereichen erfüllen die Träger der Sozi-alversicherung als öffentlich-rechtliche Körperschaften alle Steuerungsaufgaben in Eigenver-antwortung unter Rechtsaufsicht des Staates. Hiermit verbunden ist die organisatorische und finanzielle Selbstständigkeit. Besonders hervorzuheben ist, dass die Arbeitnehmer und die Ar-beitgeber unmittelbar an der Selbstverwaltung beteiligt sind. Prinzip der organisatorischen Vielfalt: Es gibt keine Einheitsversicherung, sondern eine organisatorische Vielfalt sowohl der Versiche-rungsarten als auch der Versicherungsträger. Prinzip der Leistungsgerechtigkeit (Äquivalenzprinzip) / Prinzip der solidarischen Absicherung des Notwendigen: Hierbei handelt es sich um zwei unterschiedliche Prinzipien, die für unterschiedliche Versiche-rungen gelten. Nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit arbeiten die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung, nach dem Prinzip der solidarischen Absicherung des Not-wendigen die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit (Äquivalenzprinzip) bedeutet: die Ansprüche, die von den Versicherten durch ihre Beitragszahlungen erworben werden, stehen in einem unmittelba-ren Zusammenhang mit den Beiträgen (hinsichtlich der Dauer und / oder Höhe der Beitragszah-lungen einerseits und der Dauer / Höhe der Ansprüche). Das Prinzip der solidarischen Absicherung des Notwendigen steht dafür, dass die Leistungen, die von der Solidargemeinschaft im Anspruchsfall erbracht werden, nur dem grundsätzlich Not-wendigen entsprechen, somit unabhängig von der Höhe der geleisteten Beiträge sowie der Dauer der Beitragszahlungen sind. Die genannten Prinzipien sollen ein soziales Netzwerk sichern, das Gerechtigkeit mit Solidarität, Vielfalt, Effektivität, Effizienz und Bürger-/ Kundennähe verknüpft. Das Prinzip der Freizügigkeit: Das Prinzip der Freizügigkeit wurde innerhalb der Europäischen Union im Rahmen des Bin-nenmarktes eingeführt. Es beinhaltet das Recht der Staatsangehörigen der EWR-Staaten, in einen anderen EWR-Staat umzuziehen und dort auch soziale Leistungen in Anspruch zu neh-men. EWR-Bürger, die in einem anderen als dem Heimatstaat Arbeit annehmen, unterliegen grund-sätzlich den gleichen Bestimmungen über soziale Leistungen wie die Bürger des Gaststaates. Von Ausnahmen abgesehen gilt als Hauptregel, dass man in dem Staat sozialversichert ist, in dem man arbeitet, unabhängig vom eigenen Wohnort oder dem der Familie. Bei der Feststellung, ob die nationalen Mindestanforderungen in Bezug auf Versicherungszeiten erfüllt sind, werden die Versicherungszeiten in einem anderen EWR-Staat mit der Versiche-rungszeit im Aufenthaltsstaat zusammengerechnet.

6.3 Mögliche Alternativen zur Sozialversicherung Eine Entscheidung des Staates, auf jegliche Absicherung der Lebensrisiken zu verzichten, wäre mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar. Möglich aber wären andere Systeme, die auch teil-weise in anderen Ländern Praxis sind. Besonders deutlich wird dies hinsichtlich der Absiche-rung des Lebensrisikos „Krankheit“.

12

Die Gesundheitssysteme der OECD-Länder lassen sich in drei Typen einteilen (die sich insbe-sondere auch in der Finanzierung unterscheiden): 1. Sozialversicherung: gesetzliche Pflichtversicherung, Finanzierung vor allem durch Beiträge

(realisiert z.B. in Deutschland und in Frankreich), 2. Nationaler Gesundheitsdienst: Finanzierung aus Steuermitteln (realisiert z. B. in Großbritan-

nien und in Italien), 3. Privatversicherung: Private (Pflicht-) Versicherung, individuell finanziert, und / oder durch

Beiträge der Unternehmer (die Versicherungen bauen einen Kapitalstock auf, insbesondere aus dem sowie aus dessen Erträgen die Versicherungsleistungen erbracht werden).

Häufig hat man zu Mischformen der genannten drei Typen gegriffen.

13

7. G e s u n d h e i t s w e s e n Das Gesundheitssystem oder Gesundheitswesen steht für die Gesamtheit aller Personen, Or-ganisationen, Einrichtungen, Regelungen und Prozesse, deren Aufgabe die Förderung und Er-haltung der Gesundheit bzw. die Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und Verletzun-gen ist.

7.1 Ziele des Gesundheitswesens Das Gesundheitswesen verfolgt fünf Hauptziele. Diese sind: • Zugang für alle, • Qualität, • Wirksamkeit, • Wirtschaftlichkeit, • Zufriedenheit der Patienten und des Personals.

7.2 Aufbau des Gesundheitssystems in Deutschland Das deutsche Gesundheitssystem basiert sowohl auf staatlichen als auch nichtstaatlichen Insti-tutionen und Personen. Hierzu zählen vor allem: • der Staat in seinem Erscheinen als Bund, Länder und Gemeinden (Gesundheitsämter,

kommunale Krankenhäuser, Hochschulkliniken), • Krankenhäuser und Sanatorien in gemeinnütziger oder privater Trägerschaft), • Krankenversicherungen, • die Kassenärztlichen Vereinigungen, • die Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihre Verbände, • verschiedene im Gesundheitswesen tätige Interessenverbände, • Patienten, Patientenverbände und Selbsthilfeorganisationen, • Ärzte, Fachärzte, Zahnärzte, • Angehörige anderer Heilberufe (z.B. Heilpraktiker), • Pflegepersonen, • Apotheken (Apotheker und deren Personal). Das deutsche Gesundheitssystem ist augenfällig auch dadurch gekennzeichnet, dass die Ver-sorgung weitgehend in ambulante und stationäre Bereiche getrennt ist.

7.3 Finanzierung des Gesundheitssystems in Deutschl and Das deutsche Gesundheitssystem wird überwiegend und überwiegend paritätisch durch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern geleistete Versicherungsbeiträge finanziert. Eine Ausnahme ist hier der zum 1. Juli 2005 eingeführte Sonderbeitrag für Krankengeld und Zahnersatz. Seither müssen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung einen zusätzlichen Beitragssatz von 0,9 Prozent aufbringen, ohne dass sich der Arbeitgeber daran beteiligt. Dieser Sonderbeitrag ist mit Wirkung vom 1.1.2009 Teil des einheitlichen Beitragssatzes geworden. Zum 1. Januar 2009 wurde der Gesundheitsfonds in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt, in dem die Gelder der Versicherten, der Arbeitgeber und die Steuermittel zusam-menfließen. Seitdem gilt ein einheitlicher Beitragssatz.

14

Der Gesundheitsfond ist quasi eine Geldsammelstelle, über die dann die Krankenkassen ihre Anteile erhalten. Die Verwaltung des Fonds nimmt das Bundesversicherungsamt (BVA) in Bonn wahr. Mit der Einführung wurde der politische Beschluss gefasst, dass für alle gesetzlichen Kranken-kassen ein einheitlicher Beitragssatz gilt. Dessen Höhe wird jährlich neu vom Bundesgesund-heitsministerium festgelegt. Der Arbeitgeberanteil ist ab 2011 festgeschrieben, er beträgt 7,3 Prozent. Arbeitnehmer zahlen seit dem 1.1.2011 einen Anteil von 8,2 Prozent, sodass sich ein einheitlicher Beitragssatz von 15,5 Prozent ergibt. Zusatzbeiträge können die Belastung für die Versicherten weiter erhöhen. Mit dem Gesundheitsfond werden drei übergeordnete Ziele verfolgt:

• Transparenz: Mit dem zur Verfügung gestellten Geld nicht auskommende Krankenkas-sen, müssen Zusatzbeiträge verlangen, Überschüsse erzielende Krankenkassen können Prämien an ihre Mitglieder auszahlen.

• Gerechtigkeit: Steuer- und Beitragsgelder werden zentral an die Krankenkassen gege-ben. Krankenkassen mit vielen gesunden Menschen erhalten weniger Mittel, während Krankenkassen mit vielen kranken Menschen höhere Mittel erhalten.

• Wettbewerb: Versicherte können die Leistungen und den Service der Krankenkassen besser miteinander vergleichen, da diese alle denselben Beitragssatz verlangen, und sich so für bzw. gegen einzelne Kassen entscheiden.

Die Krankenkassen erhalten pauschale Zuweisungen des Gesundheitsfonds je versicherter Person. Unterschiede in der Risikostruktur der Kassen werden über Zu- bzw. Abschläge je nach Alter, Geschlecht und Krankheit aufgefangen. Kostenintensive chronische Erkrankungen werden besonders berücksichtigt. Weiterhin sind Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen von Patienten hinsichtlich der Finanzierung des Gesundheitssystems zu berücksichtigen, die einen wachsenden Anteil ausmachen. Als Konsequenz aktueller Entwicklungen (Globalisierung und damit Druck auf die Wettbewerbs-fähigkeit deutscher Unternehmen / Arbeitgeber, Verschiebung der Bevölkerungspyramide etc.) wird das Paritätsprinzip in Teilen zu Lasten der Arbeitnehmer eingeschränkt.

15

8. K r a n k e n v e r s i c h e r u n g Eine Krankenversicherung ist Teil des Gesundheitssystems und erstattet den Versicherten ganz oder teilweise die Kosten für die Behandlung bei Erkrankungen, nach Unfällen und bei Mutter-schaft; sie trägt in Deutschland weiterhin Kosten für Leistungen insbesondere zur Verhütung von Krankheiten, zu deren Früherkennung und zur Familienplanung. In Deutschland gibt es zwei Arten von Krankenversicherungen:

a. Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), b. Private Krankenversicherung (PKV).

Annähernd 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind in der Gesetzlichen Krankenversi-cherung versichert, etwa 9 Prozent sind privat krankenversichert. Neuere Quellen gehen davon aus, dass die Verteilung rd. 87,5 Prozent zu 12,5 Prozent beträgt. Freie Heilfürsorge (aus allgemeinen Finanzmitteln getragen) gibt es für Bundeswehrangehörige, Zivildienstleistende; für Personen, die keinen Versicherungsschutz haben und auch auf sonsti-gen Grundlagen basierenden Schutz bei Krankheit erhalten (können), sind die Hilfen zur Ge-sundheit im Rahmen der Sozialhilfe geschaffen worden (Finanzierung durch allgemeine staatli-che Mittel). Deren Gewährung setzen aber grundsätzlich eine sozialhilferechtliche Bedürftigkeit voraus, somit u.a. den (zumutbaren) Einsatz von Einkommen und Vermögen. Geschätzt zwischen 200.000 und 300.000 Menschen in Deutschland sind in keiner Weise ge-gen das Lebensrisiko Krankheit abgesichert (ermittelt auf der Basis des Mikrozensus). Die Zahl der Nichtversicherten zeigt eine erheblich steigende Tendenz. Dies wird vor allem auf einen gestiegenen und weiter steigenden wirtschaftlichen Druck zurückgeführt, der Menschen in die berufliche Selbstständigkeit drängt, ohne dass diese auf der Basis einer ausreichenden Kapital-decke erfolgt. Um Ausgaben zu sparen, verzichten die in dieser Weise selbstständig Tätigen nicht selten auf eine Krankenversicherung.

8.1 Gesetzliche Krankenversicherung Für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gilt die Versicherungspflicht, der insbesondere nicht-selbstständig Beschäftigte, Bezieher von Erwerbsersatzeinkünften (Arbeitslosengeld, Ren-te, Krankengeld u.a.), Studenten und deren Familienangehörige unterliegen. Darüber hinaus können sich Selbstständige, Bezieher von Einkünften über der so genannten Jahresarbeitsent-geltgrenze und Personen nach Ende einer Versicherungspflicht (geschiedene Ehepartner, Ar-beitslose ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld u.a. freiwillig in der GKV (weiter-) versichern. Sofern keine vorherige Pflichtversicherung bestand, können Selbstständige und Beamte nicht der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten. Die Beiträge der GKV orientieren sich an der Höhe des Einkommens der einzelnen Versicher-ten. Familienmitglieder haben unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf „Familienversiche-rung“ (sie sind beitragsfrei mitversichert). Der Leistungsanspruch ist unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge, allerdings begrenzt auf Leistungen, die notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind (vgl. das schon erwähnte Prinzip der Leistungsgerechtig-keit). Nur ausnahmsweise erhalten Versicherte Geldleistungen (Krankengeld); regelmäßig erbringt die GKV ihre Leistungen in der Form der Sachleistung. Hierfür erhalten die Versicherten eine Krankenversicherungskarte / Gesundheitskarte.

16

Die Sachleistungen decken nicht immer hundert Prozent der entstehenden Kosten ab; zum Teil haben die Versicherten Zuzahlungen zu leisten. Hierdurch wird die Beitragshöhe reduziert, die allgemeinen Lohnnebenkosten werden niedriger gehalten, als dies ohne Zuzahlungen möglich wäre. Die Zuzahlungen dienen weiterhin dem Zweck einer „Motivation zu einem gesunden Le-bensstil“. Sofern Entscheidungen auf der Basis medizinischer Beurteilungen zu treffen sind, bedient sich die GKV des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), bei dem es sich um einen unabhängigen Ärztedienst handelt. Ab dem 1.1.2009 ist der Gesundheitsfond der Empfänger der Beitragsleistungen (siehe hierzu die besonderen Ausführungen in „Finanzierung des Gesundheitssystems in Deutschland“).

8.2 Private Krankenversicherung Die private Krankenversicherung steht zunächst Selbstständigen und Beamten offen; während sich Selbstständige regelmäßig für eine Krankenvollversicherung entscheiden, sichern Beamte und deren Familienangehörige das Lebensrisiko Krankheit durch eine Teilversicherung ab. Je nach Familienstand und Zahl zu versorgender Kinder erhalten Beamte staatliche Beihilfen, die somit den Anteil des Arbeitgebers / Dienstherrn ausmachen, auf die entstehenden Kosten; die-se Beihilfen unterscheiden sich zudem in der Höhe des für die Erstattung anzuwendenden Pro-zentsatzes nach der Art der Kosten (ambulante oder stationäre Behandlungskosten, zahnmedi-zinische Kosten). Angestellte und Arbeiter können die GKV verlassen und sich bei der privaten Krankenversiche-rung versichern, wenn ihr monatliches Bruttoeinkommen oberhalb der so genannten Versiche-rungspflichtgrenze liegt (2014: 53.550 Euro/Jahr = 4462,50 Euro/Monat). In der privaten Krankenversicherung muss sich jedes Familienmitglied selbst versichern (wobei der Versicherungsschein alle Familienmitglieder gemeinsam aufführt). Für jedes zusätzlich zu versichernde Mitglied erhöht sich in der Summe der Versichertenbeitrag (die so genannte Prä-mie). Die Beitragseinstufung erfolgt individuell aufgrund von Alter, Geschlecht und Gesund-heitszustand für den jeweils vereinbarten Leistungsumfang. Im Allgemeinen gilt der Grundsatz: Je jünger (und gesünder) der Versicherungsnehmer ist, desto geringer ist der zu zahlende Bei-trag, je jünger das Mitglied im Zeitpunkt des Eingehens des Versicherungsverhältnisses ist, desto vorteilhafter ist dessen Beitragsentwicklung. Die Behandlungskosten eines Arztbesuches werden in der Regel vom Versicherungsnehmer vorgestreckt und dann vom Versicherer erstattet. Höhere Rechnungen können gleich an den Versicherer durchgereicht werden, der seinerseits dann unmittelbar die geschuldete Rech-nungssumme begleicht.

17

Beispiel für einen Versicherungsschein der PKV:

18

9. P f l e g e v e r s i c h e r u n g Die Soziale Pflegeversicherung wurde ab 1.1.1995 mit Einführung des SGB XI als „fünftes Ele-ment“ der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt (durch das „Gesetz zur sozialen Absi-cherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit, Pflegeversicherungsgesetz – PflegeVG“). Die Träger der Pflegeversicherung sind die Pflegekassen, deren Aufgaben von den Kranken-kassen wahrgenommen werden. Alle gesetzlich krankenversicherten Personen wurden mit In-krafttreten des SGB XI in die Pflegeversicherung aufgenommen. Den Versicherten einer priva-ten Krankenversicherung wurde die Verpflichtung zum Abschluss eines Vertrages mit einer pri-vaten Pflegepflichtversicherung auferlegt. Damit wurde erstmals in Deutschland ein Versiche-rungsschutz für nahezu die gesamte Bevölkerung eingeführt. Seit dem 1.4.1995 trägt die Pflegeversicherung Leistungen für die häusliche Pflege, seit dem 1.7.1996 auch für die stationäre Pflege.

19

10. S o z i a l h i l f e (nach dem SGB XII) Die Sozialhilfe gliedert sich in Leistungen, die für den Lebensunterhalt erbracht werden, sowie in Leistungen für qualifizierte (für besondere) Lebenslagen. Abgrenzung: Die Leistungen für den Lebensunterhalt stellen vornehmlich auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Menschen im täglichen Leben ab (also auf den Bedarf, den grundsätzlich jeder Mensch hat, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung); dem gegenüber sind Hilfen in besonderen Le-benslagen für die Fälle, in denen Menschen in qualifizierte Notlagen geraten. Qualifizierte Not-lagen sind z.B. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit. In diesen Fällen reicht also die De-ckung der Grundbedürfnisse des Menschen nicht aus; die Notlage der Betroffenen geht auf andere Ursachen zurück, sie beeinträchtigt das menschenwürdige Leben in anderer Weise und bedarf anderer Leistungen zur Beseitigung, zur Milderung, zur Beseitigung der Folgen oder aber - im besten Falle - bereits der Vorbeugung (um die Notlage möglichst gar nicht erst eintre-ten zu lassen).

10.1 Hilfearten nach dem SGB XII

Hilfen zum Lebensunterhalt und

Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung

Hilfen für besondere Lebenslagen

Sicherung des Existenzminimums durch Festlegung einer Bedürftigkeits-schwelle als untere Grenze für eine menschenwürdige Existenz Sicherstellung des notwendigen Lebens-unterhalts

Erfassung qualifizierter Bedarfssituat i-onen , z.B. bei • Eingliederungshilfe für behinderte

Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII • Krankheit: Hilfe bei Krankheit nach §

48 SGB XII • Pflegebedürftigkeit: Hilfe zur Pflege

nach §§ 61 ff. SGB XII

10.2 Grundsätze der Sozialhilfe Für alle Leistungen der Sozialhilfe gelten gemeinsame Grundsätze bzw. allgemeine Regelun-gen. Die wesentlichen Regelungen werden nachstehend im Einzelnen näher beschrieben. Aufgabe (§ 1 S. 1 SGB XII): Die Sozialhilfe hat die Aufgabe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermög-lichen, das der Würde des Menschen entspricht. Dieser aus dem Art 1 GG übernommene Leitgedanke muss in allen Fragen der Sozialhilfe be-achtet werden. Die Sozialhilfe soll einerseits eine Hilfebedürftigkeit beseitigen, deren Fortbestehen die Men-schenwürde des Hilfebedürftigen verletzen würde. Andererseits soll sie (grundsätzlich) erst ein-

20

setzen, wenn der Hilfebedürftige soweit in seiner Lebensführung absinkt, dass seine Men-schenwürde, gemessen an seiner Umwelt, Schaden erleidet. Ziel (§ 1 S 2 SGB XII): Die Sozialhilfe soll den Hilfeempfänger soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben. Hierbei muss der Hilfeempfänger nach Kräften mitwirken. Hieraus ergeben sich die Gesichtspunkte Hilfe zur Selbsthilfe und Mitwirkungspflicht des Hilfe-empfängers. Es soll durch entsprechende Leistungen erreicht werden, den Hilfeempfänger in die Lage zu versetzen, die Sozialhilfebedürftigkeit zu überwinden. Die Hilfe zur Selbsthilfe hat dort ihre Grenzen, wo bestimmte Gegebenheiten nicht oder nur schwer veränderbar sind oder sich keine Voraussetzungen für eine Verbesserung der Situation ergeben (Ältere, Kranke, Behinderte Menschen usw.). Bedarfsdeckungsprinzip: Sozialhilfe wird nur zur Deckung eines im Einzelfall konkret vorhandenen notwendigen Bedarfs gewährt, ohne Rücksicht darauf, wie und warum der Bedarf entstanden ist. Der Begriff „Bedarfsdeckungsprinzip“ lässt sich nicht, auch nicht in abgewandelter Form, einer einzelnen gesetzlichen Vorschrift entnehmen. Das Bedarfsdeckungsprinzip ergibt sich aus der Gesamtheit der Grundsätze der Sozialhilfe, der Struktur der Sozialhilfe und aus dem Verhältnis zu anderen Sozialleistungen. Es bedeutet, dass die Sozialhilfe nur die individuelle gegenwärtige Notlage mit dem daraus resultierenden Bedarf berücksichtigen kann, und nicht etwa eine rentenähnliche Dauerleistung ist. Die Sozialhilfe setzt unabhängig von der Ursache der Hilfebedürftigkeit ein. Auch eigenes Ver-schulden des Hilfebedürftigen ist zunächst unerheblich. Solches kann (lediglich) zu einer Rück-forderung der Leistungen im Rahmen eines sog. Kostenersatzanspruchs nach § 103 SGB XII führen. Nach § 17 Abs. 1 SGB XII besteht ein Anspruch auf Sozialhilfe, soweit das SGB XII bestimmt, dass die Hilfe zu gewähren ist. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass auf die Sozialhilfe ein Rechts-anspruch besteht, sofern die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. Im früheren Fürsorgerecht gab es diesen Rechtsanspruch nicht. Der Anspruch ergibt sich aus den jeweiligen konkreten Anspruchsnormen. Individualitätsprinzip [= Einzelfallgrundsatz], § 9 Abs. 1 SGB XII: Sozialhilfe richtet sich nach der Besonderheit des Einzelfalls, somit nach der Person des Hilfe-suchenden, der Art des Bedarfs, der örtlichen Verhältnisse, der eigenen Kräfte und Mittel usw. Besondere Bedeutung kommt dem Individualitätsprinzip zu, wenn Ermessensentscheidungen zu treffen sind („Kann“- und eingeschränkt „Soll“-Leistungen, Entscheidungen über Form und Maß), und wenn unbestimmte Rechtsbegriffe einer Auslegung bedürfen (Beispiele: Angemes-senheit, Härte, Zumutbarkeit). Formen der Sozialhilfe sind die Dienstleistung, die Geldleistung und die Sachleistung (§ 10 Abs. 1 SGB XII). Die Geldleistung hat Vorrang vor der Sachleistung (§ 10 Abs. 3 S. 1 SGB XII) Die Berücksichtigung von Wünschen des Hilfeempfängers nach § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII und § 9 Abs. 3 SGB XII unterstreicht den Individualitätsgrundsatz.

21

Kenntnisgrundsatz: Einsetzen der Sozialhilfe (§ 18 SGB XII): Die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung, setzt ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Das „Bekanntwerden ist erfüllt, wenn die Notlage erkennbar geworden ist. Bei der Erstbewilligung der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beginnt der Bewilligungszeitraum am Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist (§ 14 Abs. 1 SGB XII). „Sozialhilfeträger“ meint die „Behörde“, nicht die spezielle Organisationseinheit dieser Behörde, welche aufgrund interner Organisationsregelung für die Sozialhilfegewährung zuständig ist (Beispiel: Die Stadt Bielefeld ist ein Sozialhilfeträger, nicht aber das städtische Sozialamt). Da-mit wird dem Sozialhilfeträger gfs. auch dann eine Notlage bekannt, wenn Mitarbeiter anderer Ämter etc. hiervon Kenntnis erlangen. Aus dem Grundsatz folgt:

Sozialhilfe ist antragsunabhängig zu gewähren (Ausnahme: Grundsicherung),

Sozialhilfe soll nur eine gegenwärtige Notlage beseitigen,

in der Regel ist eine Sozialhilfegewährung für die Vergangenheit ausge-schlossen (die in der Vergangenheit liegende Notlage konnte gegenwärtig nicht mit Wirkung für die Vergangenheit beseitigt werden).

Wird die Beanspruchung von Sozialhilfe bei einem unzuständigen Sozialhilfeträger oder bei einer unzuständigen Gemeinde bekannt, so hat diese Stelle den zuständigen Träger hierüber umfassend zu unterrichten. Wenn sich dann tatsächlich ein Anspruch auf Sozialhilfe ergibt, setzt die Sozialhilfe mit dem Datum ein, an welchem die Notlage bei der unzuständigen Stelle bekannt geworden ist. Ausnahmen vom Grundsatz, dass Sozialhilfe nicht für die Vergangenheit geleistet wird: • Säumiges Verhalten des Sozialhilfeträgers, • Erfolgreicher Rechtsbehelf, • Vorbeugende Hilfen nach §§ 15, 34 Abs. 1 SGB XII, • Erstattung von Aufwendungen anderer in Eilfällen nach § 25 SGB XII, • Bekanntwerden der Notlage bei einer unzuständigen Stelle (§ 18 Abs. 2 SGB XII). Gesamtfallgrundsatz (§ 20 Abs. 1 SGB X): Wird dem Sozialhilfeträger die Notlage bekannt, hat er alle in Betracht kommenden Hilfemög-lichkeiten nach dem SGB XII zu prüfen, den Sozialhilfefall vollständig zu regeln und den Sach-verhalt von Amts wegen zu ermitteln, wobei der Hilfesuchende mitwirken muss Nachrang (§ 2 Abs. 1 HS 1 SGB XII): Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann oder die notwendige Hilfe von anderen (...) erhält. Die Sozialhilfe springt grundsätzlich erst dann ein, wenn alle sonstigen Möglichkeiten, den Be-darf zu decken, ausgeschöpft sind, wenn also der notwendige Bedarf ohne die Sozialhilfe nicht oder nicht rechtzeitig gedeckt werden könnte.

22

Besondere Bedeutung innerhalb dieser Bestimmung kommt dem Wort „kann “ zu. Abgestellt wird damit nur auf die Möglichkeit der Selbsthilfe durch den Hilfesuchenden. Grundsätzlich ist damit unerheblich, ob er die Möglichkeit der Selbsthilfe tatsächlich realisiert. Z.B. bei fehlender Mitwirkung des Hilfesuchenden kann der Nachrang der Sozialhilfe dazu führen, dass eine bean-tragte Hilfe nicht oder nicht in vollem Umfang gewährt werden kann, obwohl der Hilfesuchende eine vorhandene Selbsthilfemöglichkeit nicht nutzt, somit die Hilfebedürftigkeit eigentlich vor-liegt. Folgende Selbsthilfemöglichkeiten sind zu prüfen: • Einsatz der Arbeitskraft (um dadurch Einkommen zu erzielen), • Einsatz des Einkommens, • Einsatz des Vermögens, • Realisierung vorhandener Ansprüche gegen Dritte. In der Praxis kommt es häufig vor, dass die Durchsetzung von Ansprüchen gegen Dritte zu lan-ge dauert, als dass davon die Sozialhilfegewährung abhängig gemacht werden könnte. In die-sen Fällen muss der Sozialhilfeträger die notwendige Hilfe (zunächst) gewähren, um dann evtl. den Nachrang der Sozialhilfe auf anderem Wege wieder herzustellen (Beispiel Unterhaltsan-sprüche: Die Durchsetzung eines solchen Anspruchs kann ggf. Monate oder im Einzelfall sogar Jahre dauern. Der Nachrang der Sozialhilfe wird dadurch gewahrt, dass Unterhaltsansprüche des Hilfesuchenden auf den Sozialhilfeträger übergehen. Zusammenfassung: Der Nachranggrundsatz bildet „einen roten Faden“, der sich durch das gesamte SGB XII zieht. Ihm ist sowohl bei jeder Entscheidung über die Gewährung einer Leistung, als häufig auch bei späteren Entscheidungen, z.B. bei der Rückforderung ehemals gewährter Leistungen, Rech-nung zu tragen. Besondere Bedeutung im Bereich des Nachrangs der Sozialhilfe kommt der Mitwirkungspflicht des Hilfesuchenden zu. Der Nachrang der Sozialhilfe gehört zu den wesentlichen Grundsätzen. Detaillierte Ausführun-gen sind diesem Grundsatz an spezieller späterer Stelle in diesem Skript gewidmet. Sicherung der Menschenwürde (§ 1 S. 1 SGB XII):

Verwirklichung des Sozialstaatsgrundsatzes Begriff der Menschenwürde Alle Eigenschaften, die den eigenen Wert der einzelnen Persönlichkeit ausmachen. Einzelansprüche lassen sich nicht auf die Menschenwürde gestützt geltend machen. Die Be-deutung dieses Grundsatzes liegt jedoch darin, dass alle anderen Grundsätze der Sozialhilfe - u.a. Bedarfsdeckungsprinzip, Einzelfallgrundsatz - als eine Ausgestaltung der Menschenwürde zu sehen sind. Immer ist der Mensch als Subjekt mit eigenen Rechten und Pflichten zu sehen; eine Entschei-dung „über ihn“, wie sie bei Tieren oder nicht-lebenden Sachen erfolgen („Objekt“), sind ausge-schlossen Hilfe zur Selbsthilfe (§ 1 S. 2 SGB XII): Der Sozialhilfeempfänger soll durch die Sozialhilfe in die Lage versetzt werden, sich zukünftig (wieder) selbst zu helfen.

23

Idealvorstellung: Nur vorübergehende Hilfegewährung Familiengerechte Hilfe (§ 16 SGB XII): Ausfluss des Art. 6 GG - Schutz der Familie Die Sozialhilfe soll • den Zusammenhalt der Familie sichern, • die Selbsthilfekräfte der Familie anregen.

24

11. Wohlfahrtsverbände als wichtige weitere Träger des Gesundheits- und Sozialwesens Eine wichtige Stellung im Gesundheits- und Sozialwesen nehmen auch die Wohlfahrtsverbände ein. Zu den so genannten Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege werden allgemein ge-zählt die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Die besondere Bedeutung der Wohlfahrtsverbände wird auch darin deut-lich, dass sie zusammen

• deutlich mehr als eine Million hauptamtlich beschäftigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben,

• von rund 2,5 Millionen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern unterstützt werden, • mehr als 100.000 Einrichtungen mit deutlich mehr als 3 Millionen Betten bzw. Plätzen im

Sozial- und Gesundheitswesen unterhalten (die Wohlfahrtsverbände sind damit Träger von rund einem Drittel aller sozialen Dienstleistungseinrichtungen).

Die Wohlfahrtsverbände arbeiten – mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen - in den Auf-gabenfeldern der Fürsorge, der ambulanten und teilstationären Einrichtungen, dem Gesund-heitswesen und der Auslandshilfe. Zu den unverzichtbaren Wesensmerkmalen ihrer Arbeit zäh-len

1. die Betätigung auf dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, 2. die Betätigung im gesamten Spektrum der Wohlfahrtspflege; die Hilfeleistung erfolgt

durch eigene Stellen und eigenen Kräfte. Die Wohlfahrtsverbände werden auch als „Sozialleistungsverbände“ bezeichnet, was davon herrührt, dass sie als so genannte „Freie Träger“ soziale Einrichtungen und Dienste anbieten und unterhalten. Einerseits sind sie rechtlich, nach ihrem Selbstverständnis und auch nach der historischen Entwicklung private Institutionen, andererseits aber nehmen sie in einem außeror-dentlichen Rahmen öffentliche Aufgaben wahr. Sie sind dabei eng in das Sozial- und Gesund-heitswesen eingebunden und erhalten von der öffentlichen Hand in einem erheblichen Umfang die notwendigen Finanzmittel (diese staatlichen Finanzleistungen machen rund ein Drittel der Gesamteinnahmen der Wohlfahrtsverbände aus; je ein weiteres Drittel entfällt auf Erstattungen der Sozialleistungsträger sowie aus Mitgliedsbeiträgen und aus Spenden). Die Beziehungen der verschiedenen Wohlfahrtsverbände untereinander und zum Start sind gekennzeichnet von einem hohen Kooperationsbedarf. Als zentrale politische Koordinierungs-stellen fungieren dabei die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Ein Netz von Fachverbänden sorgt für die fachliche Koordination der Organisationen. Eine ähnlich starke gesellschaftliche Stellung und ein ähnlich bedeutendes politisches Gewicht wie die deutschen Wohlfahrtsverbände haben in Europa sonst nur noch die niederländischen Verbände. Verantwortlich für diese den deutschen Sozialstaat charakterisierende Situation sind vor allem nationale historische Entwicklungen und auch die gewachsenen deutschen Gesell-schaftsstrukturen.

25

12. Einflüsse aktueller Entwicklungen auf das Sozialversicherungssystem

12.1 Ursachen und Folgen wirtschaftlicher Probleme des Staates Angesichts wirtschaftlicher Probleme des Staates infolge

• Arbeitslosigkeit, • der deutschen Wiedervereinigung, • der Ausweitung der Staatsverschuldung und • der Globalisierung

kam es auch zur Kritik an der Ausgestaltung des Sozialstaats. Staatliche Leistungen, die über Steuern und Abgaben sowie Neuverschuldung des Staates nicht mehr finanziert werden konn-ten, wurden teilweise ebenso wie solche gekürzt, für die der Gesetzgeber nur den gesetzlichen Rahmen festlegt und die der Selbstverwaltung unterliegen.

12.2 Exkurs: Sozialabbau Die Diskussion dieser Entwicklung erfolgt auch unter dem Stichwort „Sozialabbau“, das zu ei-nem politischen Schlagwort geworden ist. Unter Sozialabbau wird in der politischen Diskussion jedoch nicht nur die Verminderung öffentli-cher Sozialleistungen verstanden, sondern auch

• die Forderung nach niedrigeren Löhnen (aktuell nicht, zurzeit wird demgegenüber über gesetzliche Mindestlöhne diskutiert),

• Einschnitte in Arbeitnehmerschutzrechte (z.B. Kündigungsschutz), • Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen, durch die sich der Staat neu positioniert

und Verantwortung, Belastungen etc. auf andere überträgt, • Einsparungen bei der Finanzierung von Projekten im Sozialbereich (z.B. Einsparungen

bei Beratungsstellen [Sucht, Verbraucherschutz, Schuldner etc.], im Bereich der sozio-psychologischen Betreuungsmöglichkeiten und bei der Jugendarbeit).

Als weitere Ursache eines Sozialabbaus wird von manchen auch immer noch die Überwindung der bipolaren Weltordnung gesehen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kam es zum Wegfall einer Systemalternative, die nach Meinung der Vertreter dieser These Motor eines Wettbewerbs auch hinsichtlich besserer Sozialleistungen zwischen den Wirtschaftsblöcken war. Kritiker des Sozialabbaus (u.a. Gewerkschaften, Sozialverbände, Globalisierungskritiker, Kir-chen) argumentieren, dass durch Sozialabbau die soziale Sicherheit abnehme und soziale Un-gleichheit wachse. Anstelle von Eingriffen in das Sozialsystem sprechen sie sich für Steuerer-höhungen für Besserverdienende („Reichensteuer"), Mindestlöhne und eine Verbreiterung der Einnahmebasis der Sozialversicherungen (Bürgerversicherung) aus. Sie verlangen Korrekturen bzw. die Streichung von Reformgesetzen, da sie die sozialen Einsparungen als ungerecht ins-besondere für die Armen ansehen und diese ein Grund für geringeres Wachstum (Kaufzurück-haltung) und damit eine hohe Arbeitslosigkeit seien.

26

12.3 Konsequenzen einzelner aktueller Entwicklungen Die Finanzierung der sozialen Sicherung wurde seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit den wachsenden wirtschaftlichen Problemen des Staates zunehmend schwierig. Die genannten Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Staates hatten vor allem nachstehende Fol-gen: Arbeitslosigkeit: Die hohe Arbeitslosigkeit wurde für die Sozialversicherung zu einem Kernproblem, da sie hohe Kosten verursachte und gleichzeitig zu sinkenden Einnahmen aus den Sozialversicherungsbei-trägen führte. Die deutsche Wiedervereinigung: Nach der Wiedervereinigung wurde die Sozialversicherung stark belastet, indem ihr versiche-rungsfremde Leistungen, die durch den Beitritt der ehemaligen DDR entstanden, auferlegt wur-den. Die Belastung der Sozialversicherung vermied dem gegenüber eine höhere Staatsver-schuldung bzw. Steuererhöhungen. Ausweitung der Staatsverschuldung: Eine wachsende Staatsverschuldung führt zu einem Abwälzen von Kosten auf zukünftige Gene-rationen. Deren Handlungsspielräume werden dadurch mehr und mehr eingeschränkt, da ein steigender Anteil der Einnahmen für die Abzahlung der Schulden und das Zahlen der Zinsen eingesetzt werden muss. Der aktuelle Schuldendienst des Staates aufgrund der in der Vergangenheit aufgenommenen Verbindlichkeiten schränkt wegen der hierdurch gebundenen Mittel seine Handlungspotenziale auch im Sozialbereich erheblich ein. Durch den europäischen Stabilitätspakt wurde das Wachstum der Staatsverschuldung vertrag-lich begrenzt. Aktuelle Probleme des Sozialstaats können auch deshalb nicht ohne weiteres über die Aufnahme neuer Kredite „gelöst“ werden. Globalisierung: Die härtere internationale Konkurrenz durch - die Öffnung der Märkte ohne begleitende Einführung internationaler Standards der sozialen Absicherung, - die wachsende Produktivität der Wirtschaft sowie vergleichbarer Bildungssysteme in Staaten mit weit geringeren Löhnen, drängt die deutsche, unter dem Druck von Steuern und Sozialleistungen stehende Wirtschaft, die Arbeitskosten zu senken. Zugleich entwickelt sich der Druck auf die Wirtschaft und die in-ländische Politik, die Sozialleistungen zu senken.