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sich durch die wachsende Bedeutung „bilanzun- wirksamer Finanzinnovationen“ (139) ausdrückt und im Handel derivativer Produkte verkörpert. Das Ergebnis: Verschärfung des Systemrisikos (140), das auch durch Basel II kaum aufgefangen wird. Im dritten Beispiel diskutiert Strulik die Wirtschaftsprüfung als „Institutionalisierung von Misstrauen“. Sie ist Problem und Antwort auf eine „tiefgreifende Verunsicherung des Vertrau- ens in die Wirksamkeit privater Institutionen“ (153). Jedoch wird ihr „Misstrauensauftrag“ not- wendiger und problematischer (155), weil Wirt- schaftsprüfungsgesellschaften als Kontrolleure und Berater zugleich auftreten. Die versuchte „Festigung normativer Ansprüche an die Funkti- on der Wirtschaftsprüfung“ (169f.) könnte vor diesem Hintergrund dazu führen, überzogene Si- cherheitserwartungen zu erzeugen und einer Ab- kopplung des regulatorischen Arrangements von realen Entwicklungen Vorschub zu leisten (173). Die Stärke der vorgelegten Studie besteht zweifelsohne darin, die Steigerungsdynamik von Differenzierungsprozessen zu veranschaulichen. Sie zeigt plastisch die Entfesselungslogik von Handlungsoptionen in modernen Gesellschaften und das beschleunigende Moment von eingesetz- ten Lösungsstrategien, die bei der Bearbeitung von Nebenfolgen zu neuen Nebenfolgen führen und die Konflikte verschärfen. Zwei kritische Be- merkungen seien an dieser lesenswerten Studie angebracht. Zum einen fällt die Rezeption von anderen Theoriepositionen z.T. zu holzschnittar- tig aus. Wenn etwa der Theorie reflexiver Moder- nisierung unterstellt wird, dass sie „Lösungen im Sinne der Überwindung von Nichtwissen in Richtung Wissen“ (97) suche, dann ist das falsch. Vielmehr wird die Nichtwissensproblematik sehr differenziert analysiert und gerade im Sinne eines „Prozessierens von Unlösbarkeit“ (Wehling) ent- faltet. Zum anderen wird die wandlungstheoreti- sche Frage nur in einer Richtung aufgegriffen, wie sie auch aus der systemtheoretisch inspirier- ten Beobachtung zu erwarten ist – nämlich in Richtung einer Steigerung der modernen „Entfes- selungslogik“. Es wird eine „Verschärfung der Steigerungsverhältnisse“ (12) ausgemacht, wobei die wandlungstheoretische Qualität dieser „Ver- schärfung“ blass bleibt (65). Inwieweit also gera- de die durch Nebenfolgen provozierten Lösungs- versuche das institutionelle Gefüge moderner Ge- sellschaften tangieren, einen Grundlagenwandel auslösen und dabei die systematische Frage nach einer „Begrenzungslogik“ provozieren, diese Frage bleibt ausgespart und sollte zum Gegenstand wei- terer Diskussionen gemacht werden. Stefan Böschen ERZIEHUNGSSOZIOLOGIE Elmar Lange: Soziologie des Erziehungswesens. Studienskripte zur Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 230 Seiten. ISBN: 3-531-14122-8. Preis: 19,90. Bei diesem Band handelt es sich um eine zweite, überarbeitete Auflage aus der Reihe der Studien- skripte zur Soziologie. Die Erstauflage ist im Jah- re 1986 bei Teubner erschienen. Dass dieses Buch in der Zweitauflage erscheint, liegt nicht nur daran, dass ältere Bände aus der Studien- skripten-Reihe ohnehin überarbeitet werden, son- dern auch an einem anhaltenden Interesse am Thema. So liefert der Autor eine umfängliche so- ziologische Einführung in Aufgaben, Strukturen und Entwicklung des Erziehungswesens Deutsch- lands im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Ordnungen und teilweise im internationalen Ver- gleich. Hierbei wird in fünf Kapiteln das Schwer- gewicht auf das (deutsche) Schulwesen als zentra- le sekundäre Sozialisationsinstanz gelegt. Im ersten Kapitel führt Lange in die Frage- stellungen und theoretischen Grundlagen des Lehrbuchs ein. In der Tradition des struktur- funktionalen Ansatzes der Soziologie wird nach den Aufgaben und dem Ausmaß der Funktionen des Erziehungswesens im wechselseitigen Verhält- nis zu Wirtschaft, Politik und Individuum ge- fragt. Für die Beantwortung dieser Fragen soll dem Autor zufolge auf eine „aufgeklärte Version“ der Rational-Choice-Theorie zurückgegriffen werden, da die zu erklärenden Phänomene aggre- gierte Ergebnisse individueller Handlungen seien. Aus methodologischer Sicht müsse daher konse- quenterweise für eine sozialwissenschaftliche Er- klärung zwischen der Makro- und Mikroebene der Gesellschaft unterschieden werden. Das Er- ziehungswesen ist eine gesellschaftliche Instituti- on (auf der Meso-Ebene), die wichtige Kenntnis- se über gesellschaftliche Strukturen und die da- mit verbundenen Handlungsmöglichkeiten ver- mittelt, an denen sich Individuen in ihrem Han- deln orientieren. Somit wird die Sozialisation als ein wichtiger Prozess verstanden, „dessen Ver- ständnis für die Analyse des Erziehungssystems grundlegend ist“ (24). Verfolgt man die Ausführungen in den fol- genden Kapiteln, so liest sich in der überarbeite- ten Auflage die Einführung in die theoretischen Grundlagen der RC-Theorie wie ein leeres Glau- bensbekenntnis eines scheinbar bekehrten Sün- ders, der aber von seinen lieb gewonnenen Ge- wohnheiten (in diesem Falle das Bestreben, sozio- logische Phänomene aus struktur-funktionalisti- Literaturbesprechungen 177

Soziologie des Erziehungswesens. Studienskripte zur Soziologie

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sich durch die wachsende Bedeutung „bilanzun-wirksamer Finanzinnovationen“ (139) ausdrücktund im Handel derivativer Produkte verkörpert.Das Ergebnis: Verschärfung des Systemrisikos(140), das auch durch Basel II kaum aufgefangenwird. Im dritten Beispiel diskutiert Strulik dieWirtschaftsprüfung als „Institutionalisierung vonMisstrauen“. Sie ist Problem und Antwort aufeine „tiefgreifende Verunsicherung des Vertrau-ens in die Wirksamkeit privater Institutionen“(153). Jedoch wird ihr „Misstrauensauftrag“ not-wendiger und problematischer (155), weil Wirt-schaftsprüfungsgesellschaften als Kontrolleureund Berater zugleich auftreten. Die versuchte„Festigung normativer Ansprüche an die Funkti-on der Wirtschaftsprüfung“ (169f.) könnte vordiesem Hintergrund dazu führen, überzogene Si-cherheitserwartungen zu erzeugen und einer Ab-kopplung des regulatorischen Arrangements vonrealen Entwicklungen Vorschub zu leisten (173).

Die Stärke der vorgelegten Studie bestehtzweifelsohne darin, die Steigerungsdynamik vonDifferenzierungsprozessen zu veranschaulichen.Sie zeigt plastisch die Entfesselungslogik vonHandlungsoptionen in modernen Gesellschaftenund das beschleunigende Moment von eingesetz-ten Lösungsstrategien, die bei der Bearbeitungvon Nebenfolgen zu neuen Nebenfolgen führenund die Konflikte verschärfen. Zwei kritische Be-merkungen seien an dieser lesenswerten Studieangebracht. Zum einen fällt die Rezeption vonanderen Theoriepositionen z.T. zu holzschnittar-tig aus. Wenn etwa der Theorie reflexiver Moder-nisierung unterstellt wird, dass sie „Lösungen imSinne der Überwindung von Nichtwissen inRichtung Wissen“ (97) suche, dann ist das falsch.Vielmehr wird die Nichtwissensproblematik sehrdifferenziert analysiert und gerade im Sinne eines„Prozessierens von Unlösbarkeit“ (Wehling) ent-faltet. Zum anderen wird die wandlungstheoreti-sche Frage nur in einer Richtung aufgegriffen,wie sie auch aus der systemtheoretisch inspirier-ten Beobachtung zu erwarten ist – nämlich inRichtung einer Steigerung der modernen „Entfes-selungslogik“. Es wird eine „Verschärfung derSteigerungsverhältnisse“ (12) ausgemacht, wobeidie wandlungstheoretische Qualität dieser „Ver-schärfung“ blass bleibt (65). Inwieweit also gera-de die durch Nebenfolgen provozierten Lösungs-versuche das institutionelle Gefüge moderner Ge-sellschaften tangieren, einen Grundlagenwandelauslösen und dabei die systematische Frage nacheiner „Begrenzungslogik“ provozieren, diese Fragebleibt ausgespart und sollte zum Gegenstand wei-terer Diskussionen gemacht werden.

Stefan Böschen

ERZIEHUNGSSOZIOLOGIE

Elmar Lange: Soziologie des Erziehungswesens.Studienskripte zur Soziologie. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften. 230 Seiten.ISBN: 3-531-14122-8. Preis: € 19,90.

Bei diesem Band handelt es sich um eine zweite,überarbeitete Auflage aus der Reihe der Studien-skripte zur Soziologie. Die Erstauflage ist im Jah-re 1986 bei Teubner erschienen. Dass diesesBuch in der Zweitauflage erscheint, liegt nichtnur daran, dass ältere Bände aus der Studien-skripten-Reihe ohnehin überarbeitet werden, son-dern auch an einem anhaltenden Interesse amThema. So liefert der Autor eine umfängliche so-ziologische Einführung in Aufgaben, Strukturenund Entwicklung des Erziehungswesens Deutsch-lands im Verhältnis zu den gesellschaftlichenOrdnungen und teilweise im internationalen Ver-gleich. Hierbei wird in fünf Kapiteln das Schwer-gewicht auf das (deutsche) Schulwesen als zentra-le sekundäre Sozialisationsinstanz gelegt.

Im ersten Kapitel führt Lange in die Frage-stellungen und theoretischen Grundlagen desLehrbuchs ein. In der Tradition des struktur-funktionalen Ansatzes der Soziologie wird nachden Aufgaben und dem Ausmaß der Funktionendes Erziehungswesens im wechselseitigen Verhält-nis zu Wirtschaft, Politik und Individuum ge-fragt. Für die Beantwortung dieser Fragen solldem Autor zufolge auf eine „aufgeklärte Version“der Rational-Choice-Theorie zurückgegriffenwerden, da die zu erklärenden Phänomene aggre-gierte Ergebnisse individueller Handlungen seien.Aus methodologischer Sicht müsse daher konse-quenterweise für eine sozialwissenschaftliche Er-klärung zwischen der Makro- und Mikroebeneder Gesellschaft unterschieden werden. Das Er-ziehungswesen ist eine gesellschaftliche Instituti-on (auf der Meso-Ebene), die wichtige Kenntnis-se über gesellschaftliche Strukturen und die da-mit verbundenen Handlungsmöglichkeiten ver-mittelt, an denen sich Individuen in ihrem Han-deln orientieren. Somit wird die Sozialisation alsein wichtiger Prozess verstanden, „dessen Ver-ständnis für die Analyse des Erziehungssystemsgrundlegend ist“ (24).

Verfolgt man die Ausführungen in den fol-genden Kapiteln, so liest sich in der überarbeite-ten Auflage die Einführung in die theoretischenGrundlagen der RC-Theorie wie ein leeres Glau-bensbekenntnis eines scheinbar bekehrten Sün-ders, der aber von seinen lieb gewonnenen Ge-wohnheiten (in diesem Falle das Bestreben, sozio-logische Phänomene aus struktur-funktionalisti-

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scher bzw. systemtheoretischer Sicht erklären zuwollen) nicht gänzlich ablassen kann oder diesennoch zu sehr verhaftet ist. Ein illustratives Bei-spiel dafür ist die Diskussion über den Zusam-menhang von sozialer Herkunft, Schulbesuchund Ungleichheit von Bildungschancen im drit-ten Kapitel; in bezeichnender Weise wird derentsprechende Abschnitt dazu mit „Erziehungs-system und System gesellschaftlicher Gemein-schaft“ überschrieben. Weder bei den „Elternent-scheidungen beim Übergang von der Grundschu-le zu weiterführenden Schulen“ (110) noch inBezug auf die „Schichtspezifische Selektion durchdie Lehrer und die schulische Organisationsstruk-tur“ werden die nunmehr seit den 1990er Jahrenwieder verstärkt diskutierten handlungstheoreti-schen Ansätze für die Erklärung von sozialen Un-gleichheiten von Bildungschancen aufgeführt.Auch unterlässt es der Autor, über empirischeAnwendungen dieser aufgeklärten RC-Variantenüber Mechanismen und Prozesse elterlicher Bil-dungs- und schulischer Selektionsentscheidungenseitens der Lehrer zu berichten. Anstelle empi-risch fundierter strukturell-individualistischer Er-klärungen werden beschreibende Fakten älterenDatums aus Lehrbüchern für die SozialstrukturDeutschlands wiedergegeben. Überhaupt bleibtdie gesellschaftstheoretische Analyse des Erzie-hungssystems weitgehend der Denkfigur einerstruktur-funktionalistischen Sichtweise verpflich-tet, wenn es beispielsweise um Qualifikations-,die Selektions- und die Arbeitsmarktregulations-aufgaben von Schule und Universität, also umihre Funktionen, geht. Auch die Abhandlung derBildungspolitik und bildungspolitischen Pro-gramme hätte mit den handlungstheoretischenÜberlegungen von „Public choice“-Ansätzen be-reichert werden können. Schließlich wäre die Bil-dungsfinanzierung – übrigens ein Kerngebiet dermodernen Bildungsökonomie, die dem methodo-logischen Individualismus verpflichtet ist – einParadebeispiel gewesen, bei dem der Autor, wiees sich für ein einführendes Lehrbuch gehört, ne-ben den älteren humankapitaltheoretischen Er-klärungsvarianten eine „aufgeklärte Version“ derRC-Theorie in exemplarischer Weise hätte an-wenden können.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass dem Lehr-buch eine gründlichere Überarbeitung gut getanhätte, ist das zweite Kapitel, in dem der Autor ei-nen Überblick über die Struktur des deutschenBildungssystems liefert und diesen mit Zahlender amtlichen Statistik, direkt aus dem Statisti-schen Jahrbuch entnommen, untermauert. Gera-de bei den Ausführungen zur historischen Ent-wicklung von Schule und Hochschule einschließ-lich ihrer Strukturen und Inhalte von Erziehung

und Bildung vermisst man beispielsweise die in-teressanten theoretischen und empirischen Arbei-ten des Neo-Institutionalismus, die unter ande-rem von John W. Meyer vorgelegt worden sind.Wenn zudem im einführenden Lehrbuch der An-spruch erfüllt werden soll, das ErziehungssystemDeutschlands international vergleichen zu wol-len, käme man eigentlich an diesen internationalund historisch vergleichenden Studien nicht vor-bei.

Eine organisationssoziologische Analyse desErziehungssystems bildet das vierte Kapitel desBuches, in dem das Bildungswesen als ein formalorganisiertes Subsystem – als bürokratische undals Dienstleistungsorganisation – beschriebenwird. Die organisationsstrukturellen Spannungenzwischen der bürokratischen Organisation undder Dienstleistungsorganisation werden am Bei-spiel der Lehrerrolle und den schulischen Lern-prozessen verdeutlicht. Abgeschlossen wird dasKapitel über die Auswirkungen der Organisa-tionsstrukturen des dreigliedrigen Schulwesensauf die soziale Selektivität der Schülerschaft, dasSchulklima und die individuellen Schulleistun-gen.

Im letzten Kapitel des Buches („Interaktions-soziologische Analyse“) beschreibt der Autor Er-ziehungsprozesse im Unterricht als sozialeInteraktion zwischen Lehrern und ihren Schülernsowie die Effekte didaktischer Ansätze auf dieQualität des Unterrichts und die schulischenLeistungen. Aus der Perspektive der Schulfor-schung und der Frage, was eine gute Schule aus-mache, wird vor allem auf die Erziehungsergeb-nisse und ihre Voraussetzungen eingegangen. Ab-geschlossen wird das Kapitel mit einer Diskus-sion über die Rolle von Ganztagsschulen, be-stimmte Erziehungsziele zu realisieren.

Zweifelsohne gibt Lange einen guten soziolo-gischen Überblick über das deutsche Erziehungs-und Bildungswesen, der zudem durch detaillierteinternationale und historische Vergleiche ergänztwird. Allerdings wird das Ziel, eine fundierteEinführung in die Soziologie des Erziehungssys-tems zu liefern, nicht in allen Punkten erreicht.Einige Defizite wurden bereits genannt. Zudemfehlt beispielsweise auch ein abschließendes Kapi-tel, das den Bogen zu den in der Einleitung an-geführten theoretischen Grundlagen und Frage-stellungen schlägt. Des Weiteren sind handwerk-liche Mängel im Layout störend: Nicht nur dassdie Kopfzeile des dritten Kapitels einen Tippfeh-ler enthält, sondern das vierte Kapitel auch nochmit der falsch geschriebenen Kopfzeile des vorhe-rigen Kapitels versehen ist, lässt auf eine man-gelnde Sorgfalt beim Verfassen des Bandes schlie-ßen. Dieser fauxpas dürfte eigentlich bei einem

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Lehrbuch über solch ein wichtiges Thema nichtauftreten. Auch die aktuelle Literatur zum The-ma wurde – sofern sie überhaupt berücksichtigtwird – wenig sorgfältig aufbereitet. Trotz dieserWermutstropfen ist dieses Buch in der akademi-schen Lehre (noch) ohne Alternative.

Rolf Becker

MILITÄRSOZIOLOGIE

Ines-Jacqueline Werkner (Hg.): Die Wehrpflichtund ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftli-che Beiträge zur aktuellen Debatte. Schriften-reihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts derBundeswehr. Band 2. Wiesbaden: VS Verlagfür Sozialwissenschaften 2004. 227 Seiten.ISBN 3-531-14273-9. Preis: € 21,90.

Klagen über das in Deutschland zu beobachtendeDesinteresse an der Militärsoziologie haben inder Vergangenheit wenig bewirkt und werdenwohl auch in naher Zukunft nicht viel am kriti-sierten Zustand ändern. Die Geschichte der So-ziologie hierzulande war nicht so, als dass sichviele Soziologinnen und Soziologen mit demThema Militär und Gesellschaft hätten auseinan-dersetzen wollen – mit dem Resultat, dass eineganze Reihe brisanter gesellschaftspolitischerThemen innerhalb der Disziplin kaum beachtetwerden. Dies betrifft auch das Thema der Wehr-pflicht bzw. dasjenige ihrer zukünftigen Ausset-zung oder Abschaffung, von dem man nicht be-haupten kann, dass hierzu die wegweisenden(und vor allem: öffentlichkeitswirksamen) Beiträ-ge aus der Soziologie geliefert worden wären. Dervorliegende Sammelband mit Beiträgen von Au-toren, von denen viele aus dem Umkreis desStrausberger Sozialwissenschaftlichen Instituts derBundeswehr stammen, will dies nun ändern. Mitihm sollen die bisherigen Erkenntnisse zur Wehr-pflicht, zu ihrer Abschaffung und zu den darausresultierenden Folgen einem größeren Publikumzugänglich gemacht werden.

Aktueller Anlass für eine größere, auch öffent-lich geführte und sozialwissenschaftlich infor-mierte Debatte um die Wehrpflicht besteht janun wahrlich, ist doch offensichtlich, dass sichdas, was man als die Wehrverfassung bezeichnenkönnte, derzeit im Umbruch befindet: Die in derBundesrepublik Deutschland bestehende Wehr-pflicht scheint angesichts der mittlerweile in vie-len west- und osteuropäischen Staaten geschaffe-nen Berufsarmeen ein Auslaufmodell zu sein, sodass nur noch das „Wann“ der Beseitigung dieser

Institution zur Diskussion zu stehen scheint,nicht mehr das „Ob“. Analysen zu den Bestands-voraussetzungen der Wehrpflicht und den Folgenihrer Beseitigung dürften somit auf ein größeresInteresse stoßen.

Die beiden Aufsätze im ersten Teil des Buches(„Grundlagen“) stecken begrifflich das Feld ab,insofern sie darlegen, wie sich die Institution derWehrpflicht von anderen Formen der Militärver-fassung unterscheidet. Paul Klein liefert einen gutstrukturierten Überblick über Wehrpflichtigen-systeme, bei denen sich Milizsysteme und Wehr-pflichtarmeen unterscheiden lassen, und überFreiwilligenarmeen, bei denen zwischen Söldner-armeen, ausländischen Kriegsfreiwilligen, freiwil-ligen Milizsystemen und Berufsarmeen zu diffe-renzieren ist. Diskutiert werden von ihm die Vor-und Nachteile dieser Systeme im Hinblick aufRekrutierung, Mobilisierung und Reservebil-dung. In die gleiche Richtung zielt der Beitragvon Giuseppe Caforio, der untersucht, warum inEuropa dieser Trend zur Aussetzung der Wehr-pflicht seit 1989 zugenommen hat und welcheFolgen die Einführung von Freiwilligenarmeenfür Ausbildung und Rekrutierung nach sichzieht.

Während dieser erste Teil überwiegend be-griffliche und organisationssoziologische Ergeb-nisse vorträgt, kommt im zweiten Teil des Buches(„Demokratietheoretische Aspekte“) wahrhaft Le-ben in die Diskussion, wird hier doch das Ver-hältnis zwischen Staatsverfassung und Heeresver-fassung (Otto Hintze) ausgeleuchtet – und diesdurchaus kontrovers.

Die renommierte Historikerin Ute Frevertzeigt, welche politischen Widerstände es gegendie Einführung der Wehrpflicht im Deutschlanddes frühen 19. Jahrhunderts gegeben hat, wie dieWehrpflichtigenarmee zu einer Schule der Nationgeworden ist – in der Juden, Frauen, Sozialdemo-kraten allerdings nicht erwünscht waren –, undwie wenig dies alles mit Demokratie zu tun hat-te. Auch wenn Frevert bemüht darum ist, ihrepolitische Einschätzung zur aktuellen Debatteum die Wehrpflicht eher zu verstecken, so wirdklar, dass sich ihrer Auffassung nach „die Wehr-pflicht in ihren militärischen, politischen und ge-sellschaftlichen Funktionen überlebt hat“ (45).

Franz Kernic diskutiert in seinem eher theore-tisch gehaltenen Beitrag in vorsichtiger und klugabwägender Weise jenen Hintzeschen Kausal-nexus zwischen Heeresverfassung und Staatsver-fassung, fragt also, ob die Demokratie einer ganzspezifischen Wehrform bedarf. Er kritisiert dieVorstellung, dass eine bestimmte militärischeStruktur notwendig auch spezifische Verfassungs-strukturen nach sich ziehen würde; er ist aber

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