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614 Stahlbau 77 (2008), Heft 8 Berichte Spektakulärer Kranunfall in New York City* Geraldine Buchenau Der spektakuläre Zusammenbruch des rund 60 m hohen Turmdrehkrans ereignete sich auf der Baustelle eines 18-geschossigen Rohbaus in Manhat- tan. Während der Vorbereitungen des Klettervorgangs verloren Arbeiter in der Höhe des 18. Stockwerks die Kon- trolle über eine knapp 6 t schwere Stahlmanschette (engl. collar), über die der Kran mit dem Gebäude veran- kert werden sollte. Der zum Zeitpunkt ca. 22 geschosshohe Turm kippte quer über die 51. Straße auf den gegenüber- liegenden Häuserblock. Der Mast des Turmdrehkrans schlug auf der ande- ren Straßenseite in die Brüstung ei- nes 15-geschossigen Wohngebäudes ein (Bild 1). Das vom Mast losgelöste Führerhaus überschlug sich samt Nadelausleger und dem ca. 36 t schweren Gegenballast und zertrüm- merte ein kleineres Stadthaus in der 50. Straße (Bild 2). Bei dem Unfall am 15. März 2008 starben sieben Men- schen, 24 wurden zum Teil schwer ver- letzt. Der Kran zerstörte ein Gebäude und beschädigte drei weitere. Wegen der Gefahr einer Gasexplosion wurden 17 Nachbargebäude evakuiert und die Gegend weiträumig abgesperrt. New Yorks Bürgermeister Michael Bloom- berg sprach von einem der schwersten Bauunfälle, den die Stadt je erlebt hat. Bei dem Kran handelte es sich um einen obendrehenden, dieselhy- draulisch betriebenen Nadelausleger des Typs M440 (Bild 2) der ursprüng- lich aus Australien stammenden Firma Favelle Favco (Bild 3). Er war zum Zeitpunkt des Unglücks bereits durch Abspannungen in der Höhe der dritten und der neunten Geschossdecke mit dem Gebäude verankert (Bild 5). Am 15. März sollte der Kran im 18. Stock- werk mit dem Gebäude verbunden werden, um ihn für den Baufortschritt des Hochhauses aufstocken zu kön- nen. Dabei riss sich die Verankerungs- manschette los, rutschte den Turm abwärts und durchtrennte die Gebäu- deverankerung im neunten Stock. Der gesamte Kran wurde instabil und knickte. Die zwei fallenden Man- schetten durchtrennten abschließend noch die Verbindung vom Kranmast zum dritten Stockwerk. Bild 4 zeigt die aufeinander ste- ckenden Manschetten am Mastfuß Bild 1. Der Mast des Turmdrehkrans war quer über die 51. Straße in Manhattan gekippt [3] Bild 2. Stadthaus in Ziegelbauweise völlig zertrümmert [3] Bild 3. Obendrehender Favelle Favco Kran der M-Serie Bild 4. Die drei am Mastfuß aufeinan- der steckenden Stahlmanschetten [3] * nach [1]

Spektakulärer Kranunfall in New York City

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614 Stahlbau 77 (2008), Heft 8

Berichte

Spektakulärer Kranunfall in New York City*Geraldine Buchenau

Der spektakuläre Zusammenbruchdes rund 60 m hohen Turmdrehkransereignete sich auf der Baustelle eines18-geschossigen Rohbaus in Manhat-tan. Während der Vorbereitungen desKlettervorgangs verloren Arbeiter inder Höhe des 18. Stockwerks die Kon-trolle über eine knapp 6 t schwereStahlmanschette (engl. collar), überdie der Kran mit dem Gebäude veran-kert werden sollte. Der zum Zeitpunktca. 22 geschosshohe Turm kippte querüber die 51. Straße auf den gegenüber-liegenden Häuserblock. Der Mast desTurmdrehkrans schlug auf der ande-ren Straßenseite in die Brüstung ei-nes 15-geschossigen Wohngebäudesein (Bild 1). Das vom Mast losgelösteFührerhaus überschlug sich samtNadelausleger und dem ca. 36 tschweren Gegenballast und zertrüm-merte ein kleineres Stadthaus in der50. Straße (Bild 2). Bei dem Unfall am15. März 2008 starben sieben Men-schen, 24 wurden zum Teil schwer ver-letzt. Der Kran zerstörte ein Gebäudeund beschädigte drei weitere. Wegender Gefahr einer Gasexplosion wurden17 Nachbargebäude evakuiert und die

Gegend weiträumig abgesperrt. NewYorks Bürgermeister Michael Bloom-berg sprach von einem der schwerstenBauunfälle, den die Stadt je erlebt hat.

Bei dem Kran handelte es sichum einen obendrehenden, dieselhy-draulisch betriebenen Nadelauslegerdes Typs M440 (Bild 2) der ursprüng-lich aus Australien stammenden FirmaFavelle Favco (Bild 3). Er war zumZeitpunkt des Unglücks bereits durchAbspannungen in der Höhe der drittenund der neunten Geschossdecke mitdem Gebäude verankert (Bild 5). Am15. März sollte der Kran im 18. Stock-werk mit dem Gebäude verbundenwerden, um ihn für den Baufortschrittdes Hochhauses aufstocken zu kön-nen. Dabei riss sich die Verankerungs-manschette los, rutschte den Turmabwärts und durchtrennte die Gebäu-deverankerung im neunten Stock.Der gesamte Kran wurde instabil undknickte. Die zwei fallenden Man-schetten durchtrennten abschließendnoch die Verbindung vom Kranmastzum dritten Stockwerk.

Bild 4 zeigt die aufeinander ste-ckenden Manschetten am Mastfuß

Bild 1. Der Mast des Turmdrehkrans war quer überdie 51. Straße in Manhattan gekippt [3]

Bild 2. Stadthaus inZiegelbauweise völligzertrümmert [3]

Bild 3. Obendrehender Favelle FavcoKran der M-Serie

Bild 4. Die drei am Mastfuß aufeinan-der steckenden Stahlmanschetten [3]

* nach [1]

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nahe dem Straßenlevel. Die gelbenSpanngurte zusammen mit ihren rotlackierten Hebelzügen befanden sichnach dem Absturz noch an der ober-sten Manschette. Sie sollten der tem-porären Sicherung der Stahlman-schette dienen, während die Abspan-nungen zum Gebäude montiert wer-den. Sachverständige vermuten, dassein verschlissener Nylonspanngurt(s. Bild 4) den Zusammenbruch desKletterkrans ausgelöst hat.

Die amerikanische Arbeitsschutz-organisation OSHA (OccupationalSafety and Health Administration) willbis zum September diesen Jahres –vielleicht auch eher – ihre Untersu-chungsergebnisse offiziell zurAusspra-che bringen. Der Kranunfall hat dieOSHA endlich dazu bewegt, noch indiesem Sommer eine überarbeiteteFassung der Kranvorschrift „crane-and-derrick standard“ herauszugeben.Interessengruppen aus der Bauindu-strie bemängeln, dass die Erarbeitungdieser Ausgabe bald mehr als dreiJahre gedauert habe. Dieser Zustandführt zu Alleingängen einzelner Staa-ten, wie z. B. in Florida, Washingtonund Kalifornien [2]. Eine bundesstaat-liche Vorschrift könnte helfen, das be-reits bestehende Flickwerk von Rege-lungen aufzulösen.

Planungs- und Ausführungsun-ternehmen des 43-geschossigen Woh-nungsbauprojekts ist die RCG, Parsip-pany, New Jersey – die U.S. Abteilungder Reliance Construction Group(RCG), Montreal. Eigentümer desWohngebäudes mit 240 Wohneinhei-ten ist Kennelly Development Co.LLC, NewYork City. RCG sprach denFamilien der Opfer und den Ver-letzten herzliches Beileid aus. Sie ver-sprach engste Zusammenarbeit mit al-len beteiligten Organen und merktedazu allerdings an, einen Subunter-nehmer auf der Baustelle eingesetzt zuhaben. Den Subunternehmer Joy Con-tractors Inc. (JCI), Elizabeth, New Jer-sey, für eine Stellungnahme zu errei-chen, war erfolglos.

Bekannt ist, dass der Kran vonNewYork Crane & Equipment Corp.,Brooklyn, New York, bereitgestelltwurde. Sie hat innerbetriebliche Er-mittlungen in Gang gesetzt. James F.Lomma, der Direktor von New YorkCrane & Equipment, bestätigte, dassanscheinend ein synthetischer Gurtversagt habe, während der Kran auf-gestockt werden sollte. Er wolle je-

doch erst die Untersuchungsergeb-nisse abwarten. Auf Nachfrage be-züglich der Nylonspanngurte sagteLomma, er persönlich möge Nylon-spanngurte nicht, da man sie sehrleicht verletzen kann. Letztendlichliegt es jedoch am Bauunternehmerzu entscheiden, ob die Arbeit sicherund in Übereinstimmung mit denörtlichen Verordnungen ausgeführtwurde. Lomma selbst vermietet inNew York City Kräne nur „nackt“,d. h. ohne Personal.

Kranexperten halten das inBild 5 dargestellte „falling-collarscenario“ für plausibel und stelltenfest, die Manschette dieses Kranes seieine überaus große. Unabhängig vonder Last sollten jedoch in der Regeldoppelt so viele Spanngurte einge-setzt werden wie notwendig, um imVersagensfall mit den verbleibendenGurten die zu sichernde Last in ihrerPosition halten zu können.

Der Kran- und Montageingenieursowie Autor des „Bob’s Rigging &Crane Handbook“, Don Pellow, be-tonte, wie wichtig es sei, Nylonspann-gurte vor Einschnitten zu schützen.Die Gurte sollten gepolstert oder an-derweitig vor scharfen Kanten desKrans und derzu tragenden Lasten ge-schützt werden, wie es die Regelungder OSHA vorschreibt. Für besondersschwere oder kritische Lasten werdenspezielle Kantenschoner empfohlen.Erkennbare Einschnitte an den Gurt-bändern sollten sofort Anlass zur Ent-sorgung geben. Probleme mit syntheti-schen Gurten können weiterhin in-folge UV-Strahlung, Hitze und Abrieb

auftreten. Aus Erfahrung weiß Pellow,dass Arbeiter neben verschlissenenGurten oft auch provisorische Mate-rialien einsetzen, wie z. B. Feuerwehr-löschschläuche. Er plädiert für eineZertifizierung der Kranmonteure.

Am Tag vor der Aufstockung wa-ren bei einer Inspektion der Bau-behörde (New York City Departmentof Buildings, DOB) keine Mängel andem Kran festgestellt worden. DieBeauftragte der Baubehörde, PatriciaJ. Lancaster, erklärte, dass es sich beidieser Inspektion um eine „pre-jumpinspection“ handele, d. h. um eine In-spektion kurz vor dem so genanntenjumping – dem Klettern bzw. dem Auf-stocken des Kranmasts. Dabei wer-den in der Regel die neu gelieferten,einzusetzenden Mastteile geprüft, umTransportschäden ausschließen zukönnen. Hebelzüge und Spanngurte,die der temporären Sicherung derStahlmanschetten dienen, sind davonausgeschlossen. Die Kranmonteuresorgen für die Gurtbänder.

Die DOB hat anlässlich desschweren Unfalls die Sicherheitsvor-kehrungen für Kräne verändert, indemsie zukünftig stichprobenartige unan-gemeldete Baustellenkontrollen vor-sieht. Weiterhin schreibt sie der Kran-belegschaft vor, sich zu einem Sicher-heits-Meeting einzufinden, um anste-hende Montagevorgänge zu bespre-chen. Nur noch vom Kranherstellerempfohlene Nylonspanngurte in Ver-bindung mit speziellen Kantenscho-nern dürfen zukünftig verwendet wer-den. Für die Kranmonteure, die denKlettervorgang durchführen – die so

Bild 5. Verankerung des Kletterkrans durch Abspannungen zu den Geschoss-decken des dritten, neunten und 18. Stockwerks nach [3]

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genannte jumping-crew – soll ein 30-stündiges Spezialtraining Pflicht wer-den.

Bei dem derzeitigen Bauboom inNew York City sind allein in der Stadtetwa 250 Kräne im Einsatz, wovon 40dem umgestürzten Turmdrehkran glei-chen. Die Turmdrehkräne haben mitihren beliebten Klettereinrichtungenallmählich andere Kräne ersetzt, wasden Bedarf nach qualifizierten Kran-monteuren vorantreibt. Die Anzahlder Kräne hat sich in den letzen zehnJahren verdreifacht und nimmt weiterzu. Die Daten des US-amerikanischenBundesamtes für Arbeitsstatistik (U.S.Bureau of Labor Statistics) über töd-liche Unfälle zeigen keinen klaren Zu-sammenhang zwischen dem zuneh-

menden Kraneinsatz und Baukranun-fällen. 2003 wurden 30 Menschen beiBaukranunfällen getötet, 40 im Jahr2004, 33 in 2005 und 27 in 2006.

Im Zuge der Untersuchungenzum Kranunglück in Manhattanwurde der zuständige Kraninspektorder Baubehörde (DOB), Edward J.Marquette verhaftet. Ihm wird vorge-worfen, den Inspektionstermin am4. März 2008 nicht wahrgenommenund das Protokoll dazu gefälscht zuhaben. Er ist einer von fünf Inspekto-ren, die für die 250 Kräne in NewYork City zuständig sind. Es ist je-doch unwahrscheinlich, dass eine In-spektion am 4. März den entsetz-lichen Kranunfall hätte verhindernkönnen, meint Patricia J. Lancaster.

Literatur

[1] Sawyer, T., Van Hampton, T., Rubin,D., Buehrer, J.: Crane-accident probetargets nylon slings. ENR, EngineeringNews-Record, March 24, 2008, pp. 10-12.

[2] Bergeron, A., Wood. D.: Stalled fe-deral rules prompt state action. ENR,Engineering News-Record, March 10,2008, pp. 12-13.

[3] The New York Times Company,March 17, 2008.

Autorin dieses Beitrages:Dr.-Ing. Geraldine Buchenau,Bergstraße 140,73733 Esslingen

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