Spiegel: Der verletzte Stolz

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    WERNERSCHUERING(O.);BRIDGEMANART.COM(L.);KUGLER/DAVIDS(R.)

    Tod der Lucretia, Gemlde von Jrme Preudhomme, 1784

    Wann immer Politiker und Politologen sich ber denZustand einer modernen res publica Gedankenmachen, drngen Reminiszenzen an das alte Rom

    sich auf. Das widerfuhr auch jngst dem glcklosen deutschenAuenminister, als er, um den in seinen Augen allzu ppigen

    Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedankenverfiel, die heutigen Verhltnisse mit den Niederungen derrmischen Dekadenz zu vergleichen. Welche Vorstellungen erhiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleichtwaren dem Gast an der Spitze des Auswrtigen Amts vage

    Kultur

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    Peter Sloterdijk63, ist Philosoph und Rektor der Staatlichen Hochschule fr Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2002 moderiert erdas Philosophische Quartett im ZDF, zusammen mit Rdiger Safranski. Zu Sloterdijks bekanntesten Verffent-lichungen gehren: Kritik der zynischen Vernunft (1983), Regeln fr den Menschenpark (1999) und Dumut dein Leben ndern (2009). In diesem SPIEGEL-Essay beschftigt er sich mit dem brgerlichen Auf-

    begehren gegen Groprojekte wie Stuttgart 21 und der wachsenden Entfremdung zwischen Politik und Volk.

    D E B A T T E

    D S A B D

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    Polizei-Einsatz gegen G-8-Gegner in Rostock 2007

    Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen,mglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getrei-despenden fr die arbeitslosen Massen der antiken Metropole.Beides wren Nachklnge des hastigen Geschichtsunterrichts,den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961(Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu

    Besorgnis Anlass gbe.Der Hinweis auf die rmische Dekadenz im Mund eines deut-

    schen Politikers aber war nicht nur ein Symptom von standes-gemer Halbbildung. Er war auch nicht blo ein Symptomvon verbalem Draufgngertum, das bei einer gewissen KlientelEindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von gefhrlichenImplikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichenwre, htte er sie sich bewusst gemacht.

    Das rmische Brot-und-Spiele-System war ja nicht wenigergewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem20. Jahrhundert als Massenkultur bezeichnet. Es symboli-sierte die Wende von der gravittischen Senatorenrepublikzum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichenMimen im Zentrum. Dieser bergang war unausweichlich ge-worden, seit das rmische Imperium nach seiner Konversionzur caesarischen Monarchie mehr und mehr auf die Eliminie-rung von Senat und Volk aus der Regelung der ffentlichenAngelegenheiten zusteuerte. In dieser Sicht war die rmischeDekadenz nichts anderes als die Kehrseite der politischen Br-gerausschaltung: Whrend die Reichsverwaltung sich zuneh-

    mend in Formalien verstrickte, setzte sich auf der Seite derUnterhaltung namentlich in den Arenen rund um das Mittel-meer und bei den Festen der metropolitanen Oberschicht derTrend zur Verrohung und Enthemmung durch. Das Miteinandervon Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete aufeinen Weltzustand, in dem die Machtausbung nur noch durchdie weitgehende Entpolitisierung der Reichspopulationen ge-

    sichert werden konnte.Das Spiel mit rmischen Reminiszenzen rhrt frher oder

    spter an gefhrliche Materie. Wer Rom erwhnt, sagt zugleichres publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht versumen,nach dem Geheimnis ihrer Anfnge zu fragen. Mochten auchdie Caesaren ihre Dekrete nach wie vor mit der geheiligtenFormel Senat und Volk von Rom (SPQR) absegnen es standdoch fest, dass beide Instanzen so gut wie vllig entmachtetwaren.

    Die ffentliche Sache Alteuropas begann mit einem be-denkenswerten Affektsturm: Der Sohn des letzten rmisch-etruskischen Knigs, Tarquinius Superbus junior, war auf dieReize einer jungen rmischen Matrone namens Lucretia auf-merksam geworden, nachdem er durch die Prahlereien ihresGatten Collatinus von deren Schnheit und Sittsamkeit erfahrenhatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, dass ein Un-tergebener erotisch glcklicher sein sollte als er selbst. DerRest ist dank Livius Weltgeschichte und dank ShakespeareWeltliteratur: Der junge Tarquinius dringt in Lucretias Wohnungein und ntigt sie durch eine Erpressung, in ihre Vergewaltigung

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    einzuwilligen. Nach ihrer Entehrung ruft die junge Frau ihreVerwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfllen underdolcht sich vor den Augen der Versammelten. Eine Welleder Erschtterung verwandelt nun das harmlose Hirten- undBauernvolk der Rmer in eine revolutionre Menge. TarquiniusSuperbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist frimmer beendet. Nie wieder werden Hochmtige an der Spitze

    des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Knigs wirdfr alle Zeiten gechtet.

    Aus der Konvulsion der Brger erwchst eine folgen-schwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung wird knftigallein von Rmern ausgebt werden, sie wird prag-matisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegen-seitig in Schach, ihre jhrliche Neuwahl beugt jeder erneutenVerwechslung von Amt und Person vor. Aufgrund dieser Be-schlsse setzt sich im Jahr 509 vor Christus die am klgstenkonstruierte republikanische Maschine der Menschheitsge-schichte in Gang; durchdie nachtrgliche Hinzuf-gung des Volkstribunen-amts erlangt sie einen un-berbietbaren Grad anEffizienz. Eine Erfolgssto-ry ohnegleichen beginnt,bis, fast ein halbes Jahrtau-send spter, die berdeh-nung des rmischen Macht-komplexes den bergangzu neomonarchischen Ver-hltnissen erzwingt.

    Die Lucretia-Legendehandelt von der Geburtder res publica aus demGeist der Emprung. Wasman spter ffentlichkeit

    nennen wird, ist anfangsein Epiphnomen des Br-gerzorns. Aus dem Unmutder zusammenstrmendenMenge bildete sich das ers-te Forum. Die erste Tages-ordnung umfasste nur ei-nen einzigen Punkt: dieZurckweisung einer herr-scherlichen Infamie. Aus ihrer synchronen Erregung ber denzgellosen Hochmut der Machthaber lernten die einfachen Leute,dass sie von nun an Brger heien wollen. Der consensus, mitdem alles anfngt, was wir bis heute ffentliches Leben nennen,war die zivile Einmtigkeit hinsichtlich eines Affronts gegen dieungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Herzens.

    Um das Entscheidende noch einmal zu sagen: Was wir jetztmit dem griechischen Ausdruck Politik umschreiben, ist einDerivat des Ehrsinns und der stolzen Regungen gewhnlicherMenschen. Fr das Spektrum der stolzverwandten Affekte hltdie alteuropische Tradition den Ausdruck thyms bereit. Aufder thymotischen Skala der menschlichen Psyche erklingenviele Tne von Jovialitt, Wohlwollen und Generositt berStolz, Ambition und Trotz bis hin zu Emprung, Zorn, Ressen-timent, Hass und Verachtung. Solange eine politische Kommunevon ihrem Stolzzentrum her gelenkt wird, stehen Fragen vonEhre und Ansehen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksam-keit. Die Unverletztheit der zivilen Wrde gilt als hchstes Gut.Der ffentliche Argwohn wacht darber, dass Arroganz undGier, die immer virulenten Hauptmchte der Gemeinheit, inder res publica niemals die Oberhand gewinnen.

    Es drfte klar sein, warum es nicht unverfnglich ist, in un-seren Tagen von rmischer Dekadenz zu sprechen und aktuelleZustnde mit ihr gleichzusetzen. Wer so redet, bekennt sich

    implicite zu der Auffassung oder der Befrchtung, dass auchauf die moderne Republik wie sie vor gut 200 Jahren ausdem monarchiekritischen Zorn der Amerikanischen und Fran-zsischen Revolutionen hervorgegangen war zu gegebenerZeit eine postrepublikanische Phase folgen werde. Typischer-weise wre auch diese durch das erneute Miteinander von Brotund Spielen charakterisiert oder, um zeitgem zu reden, durch

    eine Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie. Es lsstsich nicht leugnen, dass die Vorboten solcher Doppelwirtschaftallgegenwrtig sind. Lesen wir nicht seit geraumer Weile dieZeichen, die fr die Rckentwicklung des ffentlichen Lebensauf Administration und Entertainment sprechen Wrmedm-mung fr Ministerien und Casting-Shows fr Ambitionen? Hatnicht der von Grobritannien ausgehende Diskurs ber Post-demokratie, also der Gedanke, dass Brgerbeteiligung durchdie hhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider einge-spart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologi-schen Seminare in der westlichen Hemisphre erobert? Sind

    nicht Unzhlige schon wie-der existentiell in De-ckung gegangen, wie einstdie antiken Stoiker undEpikureer, und haben sichdarauf eingerichtet, dassBrokratie, Spektakel undprivate Sammlungen jetztdie letzten Horizonte mar-kieren?

    Man knnte aus diesenBeobachtungen den vor-schnellen Schluss ziehen,die postdemokratischenTendenzen htten sich inder Dmmerung der zwei-ten republikanischen ra,die wir die politische

    Moderne nannten, bereitsauf ganzer Linie durchge-setzt. Dann bliebe uns,den Bewohnern der zwei-ten res publica amissa (despreisgegebenen Gemein-wesens) erneut nichts b-rig als das Warten auf dieCaesaren und auf deren

    billige Ausgaben, die Populisten, sofern Populismus heute denBeweis liefert, dass Caesarismus auch mit Komparsen funktio-niert. Also htte Oswald Spengler mit seiner gefhrlichen Sug-gestion recht behalten, man msse Dekadenztheoretiker sein,um als Zeitdiagnostiker auf der Hhe der Phnomene zustehen?

    Doch wir sind in dieser Angelegenheit besser beraten, wennwir uns vom Elan der Analogie nicht mitreien lassen. Zwarfehlt es nicht an Hinweisen darauf, dass wir postrepublikani-schen und postdemokratischen Zustnden entgegengehen. De-ren signifikantestes Symptom, die erneute Brgerausschaltungdurch eine monologisch in sich verschrnkte Staatlichkeit, istheute auf breiter Front zu diagnostizieren. Dass Politik hierzu-lande immer mehr dem Monolog eines Autistenclubs nahe-kommt, zeigt die aktuelle Linie der schwarz-gelben Regierungin Fragen der Atomenergie.

    Wer aber geglaubt htte, die Brgerausschaltung in derzweiten postrepublikanischen Situation werde so rei-bungslos verlaufen wie nach der Etablierung des an-tiken Caesaren-Regimes, she sich getuscht: Denn die klassi-schen Autoren Griechenlands besaen vom Menschen als zu-gleich erosbewegtem und stolzbewegtem Wesen ein ungleichtieferes Verstndnis als die modernen, weil Letztere sich mehr-

    Kultur

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    Die Politik hierzulande kommt immer mehrdem Monolog eines Autistenclubs nahe.

    Forum RomanumLANGROCK/ZE

    NIT/LAIF

    ReichstagBIALOBRZESKI/

    LAIF

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    heitlich damit begngten, die menschliche Psyche allein ausder Libido, dem Mangel und des Habenwollens zu deuten. ZuFragen des Stolzes und der Ehre fllt ihnen seit ber hundertJahren nichts mehr ein. Folglich nimmt es nicht wunder, wennheute weder Politiker noch Psychologen Rat wissen, sobald siees mit ffentlichen Regungen der vergessenen Stolzkomponenteim menschlichen Seelenhaushalt zu tun bekommen. Wer sich

    im Panorama der politischen Unruhen in Europa umsieht, be-sonders an den deutschen Krisenherden, sollte sich eines schnellklarmachen: Wenn heute dieBrgerausschaltung trotz allerAufgebote an Expertokratieund Amsierkultur nicht ganzgelingt, so darum, weil mandie Rechnung ohne den Br-gerstolz gemacht hat.

    Mit einem Mal steht erwieder auf der Bh-ne der thymotischeCitoyen, der selbstbewusste,informierte, mitdenkende undmitentscheidungswillige Br-ger, mnnlich und weiblich,und klagt vor dem Gericht derffentlichen Meinung gegendie misslungene Reprsenta-tion seiner Anliegen und sei-ner Erkenntnisse im aktuellenpolitischen System. Er ist wie-der da, der Brger, der emp-rungsfhig blieb, weil er trotzaller Versuche, ihn zum Libi-do-Bndel abzurichten, seinenSinn fr Selbstbehauptung be-wahrt hat, und der diese Qua-

    litten manifestiert, indem erseine Dissidenz auf ffentlichePltze trgt. Der unbequemeBrger weigert sich, ein politi-scher Allesfresser zu sein, duld-sam und fern von nicht hilf-reichen Meinungen. Dieseinformierten und emprtenBrger verfielen pltzlich,man begreift nicht wie, aufden Gedanken, den Artikel 20Absatz 2 des Grundgesetzesauf sich selbst zu beziehen, wo-nach alle Staatsgewalt vomVolk ausgehe. Was ist in ihn gefahren, wenn er das mysterise

    Verfassungsverbum ausgehen als Anweisung versteht, seinevier Wnde zu verlassen, um zu bekunden, was er will undwei und frchtet?

    An der Quelle des rmischen Gemeinwesengefhls stand dieUnwilligkeit, die allzu krass gewordene Arroganz der Herr-schenden lnger zu dulden. Auch heute sehen zahllose BrgerGrund, sich ber die Anmaung der Herrschenden zu erregen.Selbst wenn die Anmaung anonym geworden ist und sich inden sachzwanggetriebenen Systemen versteckt die Brger,insbesondere in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und als Adres-saten hohler Reden vor Wahlen, spren doch hin und wiederdeutlich genug, welches Spiel mit ihnen getrieben wird.

    Aber warum nur knnen die Leute mit einem Mal nicht aufden ihnen zugedachten Pltzen ruhig halten? Wieso ist auf ihresystemrelevante Lethargie kein Verlass mehr? In der reprsen-tativen Demokratie werden Brger in erster Linie als Lieferan-ten von Legitimitt fr Regierungen gebraucht. Deswegen wer-den sie in weitmaschigen Abstnden zur Ausbung ihres Wahl-

    rechts eingeladen. In der Zwischenzeit knnen sie sich vorallem durch Passivitt ntzlich machen. Ihre vornehmste Auf-gabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszu-drcken.

    Begngen wir uns, um hflich zu sein, mit der Feststellung,dass solches Vertrauen zu einer knappen Ressource gewordenist. Sogar Berliner Hofpolitologen sprechen von der manifesten

    Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Be-vlkerung. Noch scheuen die Experten vor der harten Diagno-

    se zurck, wonach die Politikder ntzlichen Entpolitisierungdes Volks vor dem Scheiternsteht.

    Den Rmern der Caesaren-zeit gelang ihr Entpolitisie-rungskunststck, weil die kai-serzeitlichen Eliten lange Zeitden Ansprchen ihrer Brger-welt halbwegs brauchbare Er-satzangebote machten trotzhandfester Anzeichen postre-publikanischer Dekadenz: Sieverstanden sich darauf, im ci-vis romanus den Stolz auf diezivilisatorischen Leistungendes Imperiums zu wecken; siebanden die Vlker der Periphe-rie durch rmische soft poweran das Zentrum; sie warenklug genug, den Massen in denStdten die Teilhabe am thea-tralischen Narzissmus des Kai-serkults zu gewhren. Im Ver-gleich hiermit springt die Hilf-losigkeit unserer politischenKlasse in allen Belangen des

    thymotischen Haushalts insAuge. Sie hat den Brgern oftnicht mehr zu bieten als dieAussicht auf Teilhabe an ihrereigenen Klglichkeit ein An-gebot, auf das die Bevlkerungin der Regel nur im Karnevalund bei Aschermittwochs-reden eingeht. Wird die Fragegestellt, wie das breite Volkauf die Performance der Regie-renden reagiert, verzeichnenMeinungsforscher seit einigerZeit am hufigsten die Aus-

    kunft: mit Verachtung. Unntig zu sagen, dass dieses Wort zum

    elementaren Vokabular der thymotischen Analyse gehrt.Wenn die Bezeichnung fr den Minuspol der Stolz-Skala sohufig und so heftig gebraucht wird wie zur Stunde, drfte be-greiflich werden, in welchem Ma die psychopolitische Regu-lierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder luft.

    Der Traum der Systeme gebiert Ungeheuer: Das erlebendie Regierenden auf ihre Weise, sobald unzufriedeneBrger sich ihren Projekten und Prozeduren in den Wegstellen. Es berrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Ver-achtung antwortet. Der unwillkommenen Brgerdissidenz tratman in Stuttgart und Berlin erschrocken mit Groaufgebotenvon Polizei und Schimpfworten entgegen. So also sieht es aus das dunkle Etwas, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? Be-rufsprotestierer, Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten,Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste! In diesen Vokabelnfassten die Landesregierung und ihre Alliierten in der Haupt-stadt ihre Eindrcke von den Zehntausenden zusammen, die

    Kultur

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    TEAM2

    Gladiatorenkampf, Bundesligaspiel

    Den Rmern gelang ihr Entpolitisierungskunst-stck, weil sie Ersatzangebote machten.

    LANGROCK/ZENIT/LAIF

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    gegen ein zerbrckelndes Groprojekt auf die Strae gingen.Soll man diese Wortwahl dadurch entschuldigen, dass die Spre-cher unter Schock standen? Im Gegenteil, man schuldet diesenPolitikern Dank, dass sie endlich aussprachen, wie sie ber dieBrger denken. Bemerkenswerterweise war ein wichtiger Teilder manchmal serisen Presse bereit, sich in die bedrngtepolitische Klasse einzufhlen: Wutbrger nannte man jngst

    die neuen Protestierer was eine kluge Prgung gewesen wre,htte sie die Erinnerung an den ursprnglichen Zusammenhangvon Emprung und Republik beschworen. Leider diente sie imaktuellen Gebrauch nur dazu, die lstigen Dissidenzfliegen zuverscheuchen. Man sieht jedenfalls: Manche Journalisten wissen,wie sie das Ihre zum Werk der Brgerausschaltung beitragenknnen.

    Mit Schlagstcken und Trnengas antwortete die verschreckteKaste auf resolute Argumentierer aus dem Volk, die Unstim-miges in den Plnen fr den neuen Stuttgarter Bahnhof entdeckthatten. Mit der Einleitung eines Parteiausschlussverfahrens rea-gierte die altehrwrdigeSPD auf ein bewhrt ro-bustes Mitglied, das unterAufbietung ausfhrlicherBeweise Unstimmiges inder deutschen Zuwande-rungspolitik aufdeckte und dabei Tatsachen vor-trug, die ohne genetischeBegrndungsversuche so-lider dastehen als mit die-sen. Beide Male hie es,man habe sich die not-wendigen Reaktionen, dasZuschlagen und das Aus-schlieen, nicht leicht-gemacht. Brgerausschal-tung als Beruf das ist

    gelegentlich noch hrterals das bliche Bohren vonharten Brettern.

    Auf breiter Front siehtman dieselben Bunker-reflexe gegen die Strungder Routinen, dasselbeUnbehagen an der Wort-ergreifung der Unberufe-nen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakter-festigkeit.

    ber so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine ge-nauere Analyse des politischen Systems und seiner Pa-radoxien hinausfhren: Den Caesaren gelang es noch

    scheinbar spielend, Brgerausschaltung und Brgerbefriedungmiteinander zu verbinden. Die moderne reprsentative Demo-kratie ist dazu in der Regel auerstande. Daher stehen den Mo-dernen nur zwei Auswege offen, von denen einer konomischruins, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Br-gerausschaltung durch Stillhalteprmien und die Brgerlhmungdurch Resignation. Wie Prmien funktionieren, wei jeder, derdie aktuellen Debatten ber den Alimentenstaat beobachtet.Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diesegleicht oberflchlich der Zufriedenheit unter einer guten Regie-rung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die mutlos grollendeStimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch allegleich sind. In solchem Klima knnen Wahlbeteiligungen, wiein den USA blich, auf unter 50 Prozent absinken, ohne dassdie politische Klasse Grund she, sich zu beunruhigen.

    Brgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit demFeuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Emprungund den manifesten Brgerzorn umschlagen kann. Hat der

    Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lsst er sich nicht mehrleicht davon ablenken. Fr die politische Klasse kommt hinzu,dass die moderne Brgerausschaltung sich als Einbeziehungdes Brgers prsentieren will. Dessen Entpolitisierung mussmit so viel restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zurSelbstreproduktion des politischen Apparats ntig ist.

    In keiner Hinsicht sind die Brger unserer Hemisphre so

    ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Es istdem modernen Staat gelungen, seinen Angehrigen im Momentihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augen-blick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse, die passivsteRolle aufzudrngen, die er zu vergeben hat: Statt die Geber-qualitt der Zahlenden hervorzuheben und den Gabe-Charak-ter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernenFiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwrdigenden Fiktion,sie htten bei der ffentlichen Kasse massive Schulden, so hoheSchulden, dass sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgenknnen. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die

    morgen und bis zu ihremletzten Atemzug fr dasbezahlen wird, was dieBrgerausschalter von heu-te ihr aufbrden. Man sa-ge nicht, die heutige Politikhabe keine Visionen mehr.Noch gibt es eine Utopiefr unser Gemeinwesen:Wenn das Glck auf unse-rer Seite ist und alle allestun, was in ihrer Machtsteht, gelingt am Endesogar das Unmgliche, dieStaatsbankrottvermeidung.Sie ist von nun an der roteStern am Abendhimmelder Demokratie.

    Unzhlige Kommentarehaben seit der 2008 aufge-brochenen Finanzkrise dieGefhrlichkeit der Speku-lation an den Finanzmrk-ten beschworen. Von dergefhrlichsten der Speku-lationen war nie die Rede:Die meisten heutigen Staa-

    ten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivittder Brger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihreBrger weiter in die Unterhaltung ausweichen werden; diestlichen wetten auf die unverwstliche Wirksamkeit offenerRepression. Die Zukunft wird bestimmt sein vom Wettbewerbzwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen

    Modus der Brgerausschaltung. Beide Verfahren gehen davonaus, man knne das Aufklrungsgebot der Reprsentation vonpositivem Brgerwillen und gutem Brgerwissen im Regierungs-handeln umgehen, indem man weiter mit hoher Brgerpassi -vitt rechnet. Das ging bisher erstaunlich gut: Sogar nach dermissglckten Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009 wid-meten sich die Brger Europas in jenem fatalen Dezember lie-ber ihren Weihnachtseinkufen als der Politik; sie zogen es vor,mit vollen Tten nach Hause zu kommen, statt ihre mit leerenHnden zurckgekehrten Vertreter zumindest symbolisch sozu teeren und zu federn, wie sie es verdient htten.

    Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Der-gleichen Spekulationen werden frher oder spter zerplatzen,weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilittvor der Emprung ihrer Brger in Sicherheit ist. Hat der Zornseine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturender politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Trsteht, wird warten mssen.

    Kultur

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    Brgerausschaltung als Beruf das ist gelegentlichnoch hrter als das bliche Bohren dicker Bretter.

    Kaiser AugustusDAPD

    Kanzlerin MerkelANNRONANPIC

    TURELIBRARY/TOPFOTO/HIP