Spiegel: Ein Abgrund Von Föderalismus

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    Ein Abgrund von FderalismusFast hundert Ausbildungswege zum Lehrer, Tausende verschiedener Lehrplne und miserable

    Ergebnisse im internationalen Vergleich die Bildungs-Kleinstaaterei hat dazu gefhrt, dassDeutschlands wichtigste Ressource knapp geworden ist: Geist und Expertise. Von Thomas Darnstdt

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    Titel

    Feiernde Abiturienten in Husum

    HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS

    Immer im Februar holt Gerald Taubertdie lila Schachtel aus dem Wand-schrank in seinem Direktorenzimmer.

    Seine Sekretrin schreibt dann die Na-men hessischer Schulkinder auf kleineweie Zettel, auf jeden einen.

    Die Zettel werden gerollt, durch kleinewei-rot gestreifte Ringe gezogen und indie lila Schachtel geworfen. Unter Auf-sicht eines Rechtsanwalts pult dann derDirektor ein paar Rllchen nacheinanderwieder heraus, zieht den wei-roten Ring

    mit den Fingerngeln herunter und liestlaut vor, was eine Schreibkraft auf einerListe vermerkt: die Gewinner.

    Die Eltern der Glcklichen werden miteinem Formschreiben, das von Schul-leiter Taubert entworfen wurde, benach-richtigt, dass ihre Shne und Tchtereinen Platz am Gerstunger Philipp-Me-lanchthon-Gymnasium gewonnen ha-ben. Fr die Verlierer hat Taubert auchein Schreiben entworfen. Es beginnt mitLeider.

    Leider, leider. Es tut weh, sagt derPdagoge, aber so ist das im Fderalis-mus. Da muss man in der Schulpolitikein bisschen improvisieren.

    Leider, leider. Tauberts Melanchthon-Schule liegt in Thringen, die Bewerberaber, die, immer wenn das Schuljahr be-ginnt, das hundert Jahre alte Bildungs-institut berlaufen, sind Bildungsausln-der, die ber die Grenze kommen, ausdem Problemschulland Hessen ins Pisa-Erfolgsland Thringen.

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    Schule der Deutschen Einheit, diesenBeinamen hat Taubert seinem begehrtenGymnasium verschafft, weil es tatschlichfast auf der Grenze zwischen den beiden

    Lndern liegt, die einst durch den Todes-streifen zwischen Ost und West getrenntwaren. Am Bahnhof, wo heute die Fahr-schler aus Hessen in Rudeln eintreffen,wurden einst die Interzonenzge derReichsbahn abgefertigt, im Keller desSchulhauses saen damals die Sicherheits-organe der DDR und belauschten den Ost-West-Telefonverkehr.

    Doch die tolle Geschichte vom wieder-vereinten Lernen beeindruckte die Th-ringer Schulobrigkeit wenig. Als sich her-ausstellte, dass mehr als die Hlfte derMelanchthon-Schler aus Hessen kam,beschloss der Kreis das unter Fderalisten

    Naheliegende: zumachen. Denn warumsoll Thringen die Schulausbildung hes-sischer Kinder finanzieren?

    Schule ist ein Thema fr Volkszorn. Esgab einen Elternaufstand, Protestdemos,sogar die Wildecker Herzbuben (Herzi-lein) aus dem benachbarten West-Kreiskamen und sangen. Auf dem Hhepunktlie Taubert eine neue Mauer aus Kartonserrichten. Ergebnis: Die Schule bleibt,aber fr Hessen gilt ein strenger Numerusclausus. Seitdem hat Taubert die lilaSchachtel im Schrank. Denn der Ansturmder Schulflchtlinge aus Hessen wird im-mer grer. Sie sollten mal morgens umacht kommen, empfiehlt der Direktor,da stauen sich hier die Taxi-Kolonnen.Im Taxi zum Bildungsaufstieg: Kosten

    spielen fr Hessen-Eltern offenbar kei-ne Rolle. In Naturwissenschaften stehtThringen auf Platz 3, Hessen auf Platz12 der deutschen Lnder im Pisa-Ranking.

    Mag auch Thringen im neuen Englisch-Leseleistungstest schlecht abgeschnittenhaben, der gute Ruf des Gymnasiums ander Grenze ist ungebrochen. Denn derMann mit der lila Glckskiste versprichtLeistung: Schule ist kein Spa, das istdie Arbeit der Kinder.

    Diese pdagogische Einsicht muss nichtjeder teilen. Doch dass sich morgens dieTaxi-Kolonnen aus Hessen durchs Werra-tal qulen, lsst ahnen, unter welchem

    Druck das deutsche Bildungssystem steht.Auf der Suche nach dem Besten fr ihreKinder nehmen Eltern nicht mehr alsgottgegeben, welche Bildungspolitik auf-grund welcher Koalitionsvereinbarung inihrem Bundesland gerade Mode ist.

    Die meisten Bildungsbrger sind ein-gesperrt in das Labyrinth der 16 deut-schen Schulsysteme in 16 deutschen Bil-dungs-Zwergstaaten, deren Politik sichhufig auch noch im Rhythmus der Land-tagswahlen und wechselnder Koalitionenalle vier bis fnf Jahre ndert. Was dieEltern am meisten nervt, wei auchChristoph Matschie, der SPD-Kultus-minister in Thringen, ist die Zersplit-

    terung des Bildungssystems. Und derZorn wchst. Der provinzielle Bildungs-Lnderheckmeck so der ehemaligeBerliner und neue Hamburger Uni-Prsi-

    dent Dieter Lenzen hinterlsst Bildungs-verlierer. Deutschland hat nicht nur inder Qualitt seiner Schler und Studen-ten den Anschluss ans Weltniveau verlo-ren, in der Folge wird allen Prognosenzufolge auch die wichtigste Ressource ver-knappen, die Deutschland im weltweitenwirtschaftlichen Wettbewerb berhauptzu bieten hat: Geist und Expertise.

    Wer das Pech hat, im falschen Bundes-land zu wohnen, muss machtlos mit an-sehen, wie die eigenen Kinder verloren-gehen im Durcheinander, das inkompe-tente Politiker anrichten. So zeigte erstim vergangenen Monat der neue Schul-

    leistungs-Lndervergleich ber sprachli-che Kompetenzen im Auftrag der Kultus-ministerkonferenz das Bildungsgeflle inder 9. Klasse: Bremer und Berliner Sch-ler starten mit verminderten Chancen insBerufsleben, sie finden sich am unterenEnde der Lernerfolgsskala.

    Der Bildungs-Lnderheckmeck sttzunehmend auf Widerstand. Wir wollenlernen ist die Parole, mit der HamburgerBildungsbrger und ihre Kinder auf dieStrae gingen, um per Volksentscheid diePlne der schwarz-grnen Koalition frdie Einfhrung der Primarschulen, ei-ner Verlngerung der Grundschulzeit biszur Klasse 6, zu verhindern. CDU-Regie-rungschef Ole von Beust (Diesen erbit-terten Widerstand habe ich nicht erwar-

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    Die Brger sind eingesperrtin das Labyrinth der

    16 deutschen Schulsysteme.

    Protest gegen die Hamburger Schulreform: Eine neue Bildungs-Apo?MIKE SCHRDER / ARGUS

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    tet) hatte den Schulgroversuch demgrnen Koalitionspartner im Tausch ge-gen die Erlaubnis eingerumt, die Elbeauszubaggern.

    Ein hnlicher Schulkrieg droht nun inNordrhein-Westfalen, wo die knftige rot-grne Minderheitsregierung ohne hinrei-

    chende finanzielle und mit wackeliger par-lamentarischer Basis das neue Schulmodellder Gemeinschaftsschulen einfhren will falls sie sich noch ber den Weg dahin ei-nig wird. Es knnte dann zu Prozessen ge-gen diese in der Landesverfassung nichtvorgesehene Schulform kommen und da-mit fr Tausende Schulkinder zu Unklar-heit ber ihren knftigen Bildungsweg.

    In Niedersachsen luft mittlerweileebenfalls ein Volksbegehren. Hier richtetsich der Zorn gegen die Einfhrung derTurbo-Gymnasien, die in acht Jahrenzum Abi fhren sollen. Im Brgerzornber die G-8-Reform hat-te schon zuvor die hessi-sche CDU-KultusministerinKarin Wolff ihr Amt verlo-ren, ihr Regierungschef Ro-land Koch schrammte 2008wegen des Streits um bes-sere Schulen knapp an sei-ner Abwahl vorbei. DesG-8-rgers berdrssig, istdie Regierung in Schleswig-Holstein derweil dabei, dasalte, neunjhrige Gymna-sium wieder einzufhren.

    Es reicht. Kein Gesetz

    der Welt, schimpft Pd -agogikprofessor Lenzen,kann Eltern verbieten, dieSache der Bildung selbst indie Hand zu nehmen. Wo-rauf warten wir noch?Lenzen hoffte schon aufeine neue Bildungs-Apo.Bildungs-Lnderheckmeck:Die groe Mehrheit derDeutschen, 61 Prozent,will laut einer Allensbach-Umfrage von Mrz dieSchulen nicht lnger denLndern anvertraut sehen. Der Bund

    soll die Kontrolle ber die Schulen ber-nehmen.

    Und erst die Universitten: Waren esnicht die vereinigten Lnder, die berhas-tet und unterfinanziert jene Bologna-Re-formen eingefhrt haben, an der Studen-ten allerorten mittlerweile verzweifeln?Massenproteste, Sit-ins und Studenten-streiks haben die Landespolitiker zumkopflosen Einlenken gebracht. Nun wirdberall ebenso berhastet zurckrefor-miert. Das Durcheinander ist perfekt.Quote und Qualitt der Hochschulab-schlsse liegen deutlich unter dem inter-nationalen Durchschnitt. Die Abschaf-fung der Diplom- und Magister-Stu-diengnge zugunsten der Bachelor- undMaster-Abschlsse hat die Lage an den

    Unis eher noch angespannter gemacht.Teilweise hhere Abbruchquoten alsvor der Bologna-Reform meldete derBildungsbericht 2008, Orientierungspro-bleme, Entscheidungsunsicherheiten,Informationsdefizite haben HumboldtsUnis zu Tollhusern gemacht.

    Nur eine Handvoll Experten ist in derLage zu erklren, wie die Bundeslnderihren Freibrief zur Ausgestaltung ihrerBildungssysteme im Detail interpretierthaben, klagt der Dortmunder Bildungs-forscher Ernst Rsner. Blankes Unver-stndnis sei im Ausland ber das deut-sche Durcheinander anzutreffen.

    Erklren kann man in diesem Landnicht einmal mehr, was ein Lehrer ist. 98verschiedene Ausbildungswege habenForscher der Berliner Humboldt-Uni undder Uni Hamburg ermittelt. Es gibt keineEinigkeit, was jene Mnner und Frauen

    knnen mssen, denen die Nation ihre

    Zukunft anvertraut.Am schlimmsten geht es am unteren

    Ende der Bildungsleiter zu. Die Zahl der jungen Leute, die durch die Ritzen desSchuldurcheinanders rutschen und im ge-sellschaftlichen Abgrund verschwinden,ist alarmierend hoch. Fast 20 Prozent der20- bis 30-Jhrigen in Deutschland dr-cken sich ohne Berufsabschluss in den Ni-schen der Leistungsgesellschaft herum:Bildungsverlierer.

    Eine dstere Zukunft prophezeit derBildungsbericht 2010: 1,3 Millionen Deut-sche, so die Prognose, werden bis 2025mangels brauchbarer Ausbildung dauer-haft keine Arbeit finden.

    * In Saarbrcken 2008.

    In Problemlndern wie Hamburg gel-ten mehr als 25 Prozent der 15-Jhrigenals Risikoschler, deren Lesebildungauf Grundschulniveau stehengebliebenist. An Berlins Hauptschulen findet Bil-dung praktisch nicht mehr statt. Mehrals 70 Prozent der Schler erreichten 2006

    nicht die Minimalanforderungen fr Le-sen und Rechnen.

    Das Bildungsminimum, das der Staatseinen Brgern schulde, sei in vielen Ge-genden Deutschlands nicht mehr gesi-chert, alarmierend sei der Anteil derchancenlosen Risikoschler, offen-sichtliche Fehlplatzierungen der Schlerbelasteten des Schulsystem, unange-nehm sei es, dies so offen auszu-sprechen, aber die Zeit fr die Rettungdes deutschen Schulsystems werde knapp:So warnte in einem internen Papierder Wissenschaftliche Beirat fr die Ge-

    meinschaftsaufgabe Fest-stellung der Leistungsfhig-keit des Bildungswesens iminternationalen Vergleichgem Art. 91b Abs. 2Grundgesetz.

    Der was? Die Bezeich-nung dieser hochkartigenWissenschaftlerrunde istAlarmruf genug: Sie lsst ineinen Abgrund von Verant-wortungslosigkeit blicken,der noch bedrohlicher wird,wenn man wei, dass jenesunaussprechliche Gremium

    mit seinem Notruf seineKompetenzen berschrittenhat.

    Ein Abgrund von Fdera-lismus: Niemand in diesemLand ist befugt, der von An-gela Merkel ausgerufenenBildungsrepublik Deutsch-land den Weg zu weisen.Der Beirat, dessen Bezeich-nung sich niemand merkenkann, ist das machtlose Pro-dukt jahrelangen Gezerresum die Bildungszustndig-

    keit im Bundesstaat, ohne Kompetenzen,

    ohne Gehr. Seine Warnungen bliebenebenso folgenlos wie ein Bericht der Ver-einten Nationen, deren Schul-Tester in ei-nem Bericht die Befrchtung uerten,im Mitgliedstaat Deutschland werde dasMenschenrecht auf Bildung verletzt.

    Sollen sich raushalten, sind ja nicht zu-stndig.

    Das System kann es sich nicht leisten,seine Bildungsverlierer einfach zu miss-achten, warnt der Berliner Bildungs-experte Hans-Peter Fssel, Mitautor desneuen Bildungsberichts vom DeutschenInstitut fr Internationale PdagogischeForschung (Dipf). Beunruhigen mssendie Dritte-Welt-Zustnde in den Slumsdes deutschen Bildungswesens genausodie Vter und Mtter, die ihre Kinder im

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    Titel

    Sitzung der Kultusministerkonferenz*:Kein Geist, nirgendwoSVENP

    AUSTIAN/

    AGENTUR

    FOCUS

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    gepflegten Privatgymnasium unterge-bracht haben. Was ntzen den Bildungs-brgern noch ihre schnen Gymnasien,berlegt ein Bildungsexperte in Hamburg,

    wenn ihnen die Verlierer aus den Haupt-schulen ihre Huser anznden?Wie schafft es unser Bildungssystem,

    zugleich leistungsfeindlich und ungerechtzu sein?, fragt der SPD-Politiker KarlLauterbach, der sich als Gesundheits-experte seiner Partei auch um die geistigeGesundheit der Nation Gedanken macht.Wir sind nicht nur schlecht, wir sind auchgemein so karikiert sich das Systemnach einem Berliner Schulbehrden-schnack selbst.

    So schlecht und so gemein: Wer ist das,dieses System?

    Adresse: Taubenstrae 10, Berlin Mitte.

    Erster Stock: Auslandsschulen, zweiterStock: Allgemeinbildende Schulen, drit-ter Stock: Berufliche Bildung, vierterStock: Europa-Angelegenheiten , fnf-ter Stock: Generalsekretr. Da sitzt er.Der Chefdirigent des Bildungswesens,Generalsekretr der Kultusministerkon-ferenz, Professor Erich Thies. Der weialles ber die deutsche Bildungskatastro-phe. Aber so viel muss klar sein: Verant-wortlich ist er fr gar nichts.

    KMK, das Krzel fr Kultusminister-konferenz, kennen alle Eltern, alle Stu-denten. Die KaEmKa ist schuld, dass esim Schulwesen drunter und drber geht,die KaEmKa ist schuld, dass die Univer-sitten flchendeckend zugrunde refor-miert worden sind. Die haben alle, macht

    der Generalsekretr deutlich, das Pro-blem nicht begriffen: Die KMK produ-ziert eine Menge Papier. Und das Sekre-tariat hat hier hufig nur die undankbare

    Aufgabe, all dieses Papier hin und her zuschieben. Mit der wirklichen Politiksei man nicht direkt befasst. Auch dieKaEmKa kann nichts dafr.

    Niemand kann etwas dafr. Neun Mil-lionen Schler werden jeden Morgen vonihren Eltern auf den Weg geschickt, im Ver-trauen, dass einer sich fr sie verantwortlichfhlt. Hunderttausende Lehrer versuchen

    jeden Morgen pnktlich zum ersten Klin-geln den Jungen und Mdchen etwas frs

    Leben zu erklren im Vertrauen darauf,dass es sinnvoll organisiert und ausgesuchtist, was sie da lehren mssen. 2,1 MillionenStudenten schlagen sich Tage und Nchtein den Bibliotheken und Seminaren um dieOhren, im Vertrauen darauf, dass sie diebeste Zeit ihres Lebens in etwas investieren,womit sie mal etwas anfangen knnen. Wertrgt fr all das die Verantwortung?

    Die abschlieende gesamtpolitischenationale Verantwortung fr die Bildungder Deutschen werde von der KMK wahr-genommen, so drckte das einmal dieehemalige KMK-Prsidentin und neueniederschsische WissenschaftsministerinJohanna Wanka (CDU) aus. Im fnften

    Stock kann man lernen, dass das gar nichtgeht: Alles hngt von den Lndern ab.Und die Lnder, sagt Thies, sind nichtimmer bereit, gesamtstaatliche Verant-

    wortung zu bernehmen. Jeder im Clubdenkt zuerst an sich: Das eigene Landsteht im Mittelpunkt des politischen Inter -esses. Irgendwo im Kreis der 16 stehenimmer Wahlen bevor. Und mit solchenLndervertretern ist erfahrungsgemberhaupt nichts anzufangen.

    Mit dem Thema Schulen verliert manWahlen die Warnung des Dipf-Exper-ten Fssel ist Grundregel Nummer einsin den meisten Lnder-Staatskanzleien.

    Kein Geist, nirgendwo, Thies sitzt jaimmer dabei, wenn die Vorkmpfer desBildungsfderalismus miteinander ringen.Politische Entscheidungen haben oft ei-

    nen irrationalen Anteil, sagt er ganz di-plomatisch. Jedenfalls so fundamentaleFragen wie die Verkrzung der Lernzeitvon Jugendlichen sollten grndlicher dis-kutiert werden, findet der General. Acht-jhriges Gymnasium, Umbau des Schul-systems, Umbau der Universitten: Jederhats gewollt, weil die anderen es ja auchwollten. Keiner hat gefragt: wozu?

    Wozu soll Bildung dienen? Die Lnder-herrlichkeit der Kultus-Kompetenz, dasBildungskartell mit den drei Buchstabenfunktionierte so lange unauffllig, wiesich in Deutschland diese Frage nicht stell-te. Die Bildungsidee des KulturstaatesDeutschland stand mit Verabschiedungdes Grundgesetzes weitgehend fest. DerGeist muss in die Kpfe, weil dies ein Er-

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    Jeder hat es gewollt,weil die anderen

    es ja auch wollten.

    Deutschunterricht im Gerstunger Philipp-Melanchthon-Gymnasium: Taxi-Kolonnen morgens um achtBERT BOSTELMANN / BILDFOLIO

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    Neuer LndervergleichLeseleistung in Deutschvon Schlern der 9. Klasse

    Leseleistung in Englisch

    1. Bayern 5212. Baden-Wrttemberg 507

    3. Rheinland-Pfalz 502

    4. Hessen 501

    Durchschnitt 500

    5. Nordrhein-Westfalen 499

    6. Schleswig-Holstein 492

    7. Hamburg 490

    8. Sachsen 489

    9. Berlin 487

    10. Thringen 486

    11. Sachsen-Anhalt 486

    12. Niedersachsen 484

    13. Saarland 483

    14. Mecklenburg-Vorpommern 481

    15. Brandenburg 468

    16. Bremen 467

    1. Bayern 509

    2. Sachsen 508

    3. Baden-Wrttemberg 504

    4. Thringen 497

    5. Rheinland-Pfalz 497

    Durchschnitt 496

    6. Sachsen-Anhalt 4967. Mecklenburg-Vorpommern 493

    8. Saarland 492

    9. Hessen 492

    10. Nordrhein-Westfalen 490

    11. Niedersachsen 490

    12. Schleswig-Holstein 488

    13. Brandenburg 485

    14. Hamburg 484

    15. Berlin 480

    16. Bremen 469

    Quelle: IQB-Studie SprachlicheKompetenzen 2008/09

    fordernis der im Artikel 1 der deutschenVerfassung statuierten Menschenwrdeist: Die allseits entwickelte, mndige Per-snlichkeit, tolerant, weil klug, klug, weilgebildet, das war die Idee der neuenmenschlichen Gesellschaft, dafr kmpf-ten noch die Revoluzzer von 68, deren

    Zorn ja zuerst vor allem ein Verzweifelnam Bildungssystem war.

    Fr Linke wie Rechte stand stets alseinigendes Band das Erneuerungswerkdes preuischen Bildungspolitikers Wil-helm von Humboldt zur Verfgung, des-sen Humanismusidee Lernen zum Selbst-zweck, zur Bildung des Menschen erhob.Von da an war ausgemacht, dass Bildungnicht dem Gemeinwohl dienen muss,sondern selbst das Gemeinwohl ist. Undes war ein genialer PR-Coup der DDR-Fhrung, die alte Uni gleich hinter demBrandenburger Tor zur Humboldt-Universitt zu taufen. Dieser Geist einteBildungswelten ber Stacheldraht undMauer. Streit gab es im Westen allenfallsum die gerechte Verteilung der schonstets knappen Ressourcen. Die SPD en-terte in den Siebzigern weite Teile derSchulpolitik, um die Wohltat der hherenBildung auch Arbeiterkindern zukom-men zu lassen.

    Doch zehn Jahre nach dem Fall derMauer gab es eine Wende, die den deut-schen Bildungsfderalismus in seinenGrundfesten erschtterte. Bildungsexper-ten der OECD testeten weltweit und auchin Deutschland die Fertigkeiten 15-jhri-

    ger Schler. Das Ergebnis stellte alles inFrage, was bislang in Deutschland berBildung gedacht worden war. Pisa warein Schock, erinnert sich heute die Main-zer SPD-Kultusministerin Doris Ahnen.

    Schlimm fr die Lnder: Die ganzeSelbstsicherheit der Lnderfrsten, die ingemeinsamen Statements so gern be-schworene Kernkompetenz fr Bil-dung, war dahin. Schlimm war nicht nur,dass Deutschland beim Lesen im Staaten-ranking auf Platz 21 landete, dass ein Vier-tel der deutschen Schler im Rechnenund Lesen nicht mehr den Mindestanfor-derungen gengte, das Schlimmste: Nie-

    mand hatte es ber Jahrzehnte gemerkt.Das war auch gar nicht zu merken.

    Deutsche Bildung, wie sie von Philolo-genverbnden, Lehrer-Lobbys und demTraditionsclub der KMK verstanden wur-de, bestand aus Beschulung. Input-Bil-dung heit das Modell, das mit demNrnberger Trichter versinnbildlicht wur-de. Das Lernen findet nach Lehrplnenstatt. Lernerfolg ist, wenn die Lehrplneabgearbeitet sind. Wer nicht hinterher-kommt, bleibt sitzen oder fliegt raus. 4403Lehrplne aus den deutschen Lndernverwaltete zeitweise die KMK in ihrenSchubladen, jedes Land machte seine ei-genen. Was in den Kpfen der Kinder an-kam, wie kompatibel es war mit dem In-halt der Kpfe anderer Kinder, mit den

    Erwartungen der Universitten, der Un-ternehmen, ging niemanden etwas an.

    Der Pisa-Schock brachte erstmals dendeutschen Fderalismus an den Rand sei-ner Glaubwrdigkeit. Der Bund griff imDurcheinander nach der Bildungskompe-tenz. Kanzler Gerhard Schrder (SPD)

    hatte sich von seinen Beratern eine Rede

    schreiben lassen, eine Rede ganz im Sinneder kritischen Geister, die das Bildungs-system nicht nur als schlecht, sondernauch noch als gemein bezeichnen. Wirsind nicht nur schlecht, sondern auch ge-mein, sollte Schrder sagen, und auchdies: Die KMK ist nicht mehr Herrin des

    Verfahrens wir mssen die deutscheSchule retten und nicht die Kultusminis-ter, und ergo: Wir brauchen eine gewal-tige nationale Kraftanstrengung. Ein na-tionales Rahmengesetz fr die Schule.

    Die Rede lag schon auf SchrdersSchreibtisch, aber gehalten hat er sienicht. Vielleicht war es klger so. Es htteeinen Krieg mit den Lndern bedeutet,den der Kanzler nicht htte gewinnenknnen. Fr ein Bundesbildungsgesetzmsste die Verfassung gendert werden.

    Doch diesmal, dieses eine Mal, bewegtesich die KMK. In einem historischenBeschluss verpflichtete sich 2003 dieRunde, das Heft der Reform gemeinsamin die Hand zu nehmen. Gemeinsam wer-de man fr alle Lnder geltende Bildungs-standards ausarbeiten lassen, jedes Landsei verpflichtet, die Einhaltung dieser Stan-dards an seinen Schulen zu berprfenund die Lehrer entsprechend zu schulen.

    Damit bei berprfungen nicht mehr,wie bislang blich, gemogelt werden kn-ne, grndete die KMK 2004 ein eigenesInstitut zur Qualittsentwicklung im Bil-dungswesen (IQB), das mglichst schnellMusteraufgaben fr bundesweit verbind-liche Tests an den Schulen entwickeln

    sollte. Thies sicherte dem Institut durchAnbindung an die Berliner Humboldt-Uni wissenschaftliche Unabhngigkeit:Das ist schon etwas Besonderes.

    Die empirische Wende, wie unter Bil-dungsexperten der Systemwechsel voninputorientierten Lehrplnen auf output-orientierte, abprfbare Kompetenzstan-dards gedeutet wird, war bei Thies 16er-Bande nicht einfach durchzusetzen. VonBrllereien zwischen Staatssekretrenber die Einzelheiten der Lndertests be-richtet ein Schulwissenschaftler, der be-ratend dabeisa.

    Immerhin ging es um das Krongut des

    Fderalismus, wie das einmal ein baye-rischer Kultusminister ausdrckte, dieHoheit ber die Lehrplne. DieselbenBildungsautoritten, die hinter den deut-schen Pisa-Tests steckten, eine Gruppevon Wissenschaftlern um den langjhri-gen Chef des Berliner Max-Planck-Insti-tuts fr Bildungsforschung Jrgen Bau-mert, sollten knftig die Verantwortungfr die Schulbildung bernehmen.

    Nicht mehr Wissen soll seitdem in denKpfen der Kinder akkumuliert werden,sondern die Fhigkeit, Probleme zu lsen,sich Wissen kraft des eigenen Kopfes an-zueignen. Die neue Generation der Un-terrichtsplne fr Deutsch setzt nichtmehr auf die Lektre von Kafka und dasAuswendigknnen von Gedichten, son-

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    Gerstunger Schulleiter Taubert, Losbox

    Es tut weh

    Titel

    BERT

    BOSTELMANN

    /BILDFOLIO

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    dern auf die Kompetenz, schwierige Tex-te zu entschlsseln. Abgeprft in den IQB-Tests werden auch ganz unliterarischeAufgaben, eine Gebrauchsanweisung frein Handy zum Beispiel.

    Oder in Mathe: Maria lebt zwei Kilo-meter von der Schule entfernt, Martin

    fnf Kilometer. Wie weit leben Martinund Maria voneinander entfernt? DieAufgabe ist unlsbar, und dies zu erken-nen und zu begrnden wird von denSchlern der neuen Generation erwartet.

    Fr Deutsch und Mathe an den Grund-schulen, fr den Sekundarbereich auchin der ersten Fremdsprache und in denNaturwissenschaften liegen mittlerweileStandards vor. Aber sie legen, entgegenden Ratschlgen der Experten, keine ver-bindlichen Mindestkenntnisse fr alleSchler einer Altersgruppe fest, sondernsind nach Schulformen abgestuft und ver-langen auch nur ein Erreichen der Leis-tungsgrenzen in der Regel.

    Dennoch sind die Kultusminister mch-tig stolz auf ihre dnne Suppe. Wir ha-ben jetzt die Standards, antwortet diehessische Kultusministerin DorotheaHenzler (FDP), wenn man sie fragt, wel-che nationale Verantwortung fr Bildungzum Beispiel sie in der Runde der KMKbisher wahrgenommen habe.

    Fragt man dann, warum die hessischenLehrplne noch immer nicht auf dieStandards umgestellt sind, kommt dieWahrheit ans Licht: Sie lsst sie jetzt um-schreiben. Zu wenig Inhalte, zu viel

    Kompetenzen. In Deutsch vermisst sieeine Liste der Pflichtlektre, wenigstenseine kleine: Ohne Faust geht das nicht.

    Manche Kultusminister, beobachtendie Bildungsprofis, haben das mit der em-pirischen Wende nie richtig verstanden.Es ist eine Wende weg von Humboldt:Nun zhlt nicht mehr, wie viel in denKpfen ist, sondern was es nutzt. WozuBildung? Die neue Antwort lautet: damitdie Brger in Zukunft noch einen Job fin-den. Auf den Output kommt es an. Bil-dung soll wieder einen Zweck haben.

    Am weitesten in der Umsetzung ber-prfbarer Standards ist nach Einscht-

    zung von Bildungsexperten Hamburg, amweitesten entfernt vom gemeinsamenZiel sind Bayern und Baden-Wrttem-berg. Die reichen Sdlnder, sagt Thies,haben nach der Fderalismusreform ih-ren greren Spielraum stark genutzt, umihre eigenen Wege zu verfolgen.

    Da, wo die Bayern versuchten, ihreLehrplne eilig der neuen Zeit anzupas-sen, ist es deutlich misslungen. Die Kon-trolleure vom IQB schickten dem Mnch-ner Kultusministerium die Reformplneals weitgehend unbrauchbar zurck. Wirgehen nicht davon aus, heit es in einemGutachten der Qualittsagentur, dass mitdem bayerischen Franzsischunterrichtdie Erwartungen der Bildungsstandardserreicht werden knnen. In Englisch sei-

    en die bayerischen Planungen der Jahr-gangsstufen 5 bis 10 in einem doch sehrtraditionellen Sinne auf einzelne Gram-matikkapitel hin fokussiert. Zum Bei-

    spiel das past perfect progressive, Phi-lologenspielerei von fragwrdiger kom-munikativer Relevanz, mit der man denSchlern des Jahrgangs sieben doch nichtim Ernst kommen knne.

    Mit solchem Unterricht, drohten die In-spektoren, knnten bayerische Schlermodernen Anforderungen nicht mehr ge-ngen. Es sei denkbar, dass bayerischeAbiturienten in Zukunft im Fach Englischeher auf der Seite ,ausreichend als aufder Seite ,gut angesiedelt sind.

    Doch das mit Abstand beste Schulsys-tem so der Fuballmanager Uli Hoe-ne hlt eisern an seiner traditionellenBildung fest und sortiert gnadenlos dieje-nigen aus, die nicht mitkommen. Der An-teil der Schler, die es aufs Gymnasium

    schaffen, ist in Bayern am geringsten, dieQuote der Hauptschler am grten.

    Yanneck Kirsten, 11, haben sie aussor-tiert. Der kleine Blonde kam im Mai vor

    einem Jahr heulend von der Schule nachHause: Mami, ich will nicht auf dieHauptschule. Da wird man Hartz IV.

    Yanneck will Lehrer werden. Aber amEnde seiner Grundschulzeit im nordbaye-rischen Hsbach hie es im bertritts-zeugnis: Der Schler ist fr den Besucheiner Hauptschule geeignet. Fassungslos,so Mutter Kerstin, habe der Bub seinenEltern das Zeugnis hingeknallt, fr ihnwar das Verbot, aufs Gymnasium zu ge-hen, so etwas wie ein Todesurteil.

    Mathe drei, Deutsch drei, Heimat- undSachunterricht zwei. Der ehrgeizige Yan-neck, in dessen Zimmer schon jetzt mehrBcher stehen, als manche Menschen ihrganzes Leben lang lesen, bekam am Endeseiner Grundschulzeit in den wichtigen

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    Berliner Humboldt-Universitt, Namensgeber: Lernen als SelbstzweckGERDLUDWIG/VISUM

    Schulpendler Yanneck: Auf der Hauptschule wird man Hartz IVBERTBOSTELMANN/BILDFOLIO

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    rmsten Bildungsbudget der Nation da-bei, seine Hauptschulen mit seinen Real-schulen und seinen Gesamtschulen zu Ge-samt-Gesamtschulen zusammenzuwer-

    fen. In den neuen Stadtteilschulen wirdvom Hauptschulabschluss bis zum Abituralles angeboten, was das Bildungswesenan Zertifikaten bereithlt.

    Zugleich aber werden die Gymnasiender Stadt, noch immer unter dem Stressder dilettantisch durchgesetzten G-8-Re-form und desorientiert von der ebensoberhasteten Reform der Oberstufe zurProfiloberstufe nun von Bauarbeiterngenervt. Die fnfte und sechste Klassewerden mit laut Hamburger Abendblattbehrdenintern geschtzten 390 Millio-nen Euro abgemauert und knftig denGrundschulen zugeschlagen. Primar-

    schule heit das Konstrukt der so ent-stehenden sechsjhrigen Grundschule, inder alle gemeinsam zur Schule gehen.

    brig bleibt ein am Kopf und an denFen amputiertes hanseatisches Gym-nasium, einst G9, dann G8, nun G6 sohnlich wie in Berlin, wo schon immeralle sechs Jahre zur Grundschule gehen.Fast alle. Denn Berlin bietet alternativauch den Wechsel aufs Gymnasium nachder vierten Klasse an.

    Der berraschende Erfolg der Eltern-initiative, die sehr schnell 182000 Unter-schriften fr ein Hamburger Volksbegeh-ren gegen die Primarschule zusammen-brachte, fhrte nicht etwa zum Stopp aufder Grobaustelle. Umso grer ist viel-mehr die Eile, das Projekt voranzubrin-

    gen. Weil die Primarschule starten soll,bevor der Umbau fertig ist, sollen 45 Klas-sen frs Schulsystem der Zukunft vorerstin Containern unterrichtet werden.

    Der Volksentscheid am 18. Juli wirdmit hoher Wahrscheinlichkeit gegen diePrimarschulen ausgehen. Dann stehen inHamburg nicht nur das Schulumbau-Ge-werbe und die Lehrerschaft vor einemProblem sondern die schwarz-grneKoalition vor dem Ende. BrgermeisterBeust soll seine Demission fr die nchs-ten Wochen bereits vorbereitet haben.

    Dabei hat die Frage, wie Schulen orga-nisiert und Schler sortiert werden, keine

    Bedeutung fr die Qualitt von Bildung.Bildungspolitisch gesehen ist jede Schul-strukturreform Geldverschwendung. Indieser Einsicht sind sich alle einig, dievon Schulqualitt etwas verstehen. Keinebelastbare Evidenz, so fein drckt dasder Bildungsforscher Jrgen Baumert aus,gebe es fr den Nutzen einer Verlnge-rung der Grundschule.

    Annette Schavan, als Kultusministerinin Stuttgart selbst heftige Reformerin,steht als Bundesbildungsministerin bersolchen Spielen: Es kommt nicht aufdie Strukturen an, sondern auf die Inhal-te. Und selbst bei Kultusministernwchst der berdruss. Das Thema der

    Schulgliederung, sagt Jan-Hendrik Ol-bertz, ehemals parteiloser Ressortchef inSachsen-Anhalt, hngt mir zum Halsraus. Strukturfragen sind Fragen von

    gestern.Dass dennoch so heftig um Projektewie Lnger gemeinsam lernen, denUmbau des gegliederten Schulsystems inGemeinschaftsschulen gerungen wird,beruht auf einem bildungspolitischenMissverstndnis. Wahrscheinlich ist diezwangsweise Zusammenfhrung hetero-gener Schlerschichten zwar ein Schrittgegen Ungerechtigkeit. In allen Bundes-lndern haben Kinder aus bildungs-fernen Schichten geringere Chancen, aufdie hhere Schule zu kommen, als Kin-der, deren Eltern viele Bcher im Schrankhaben.

    Aber das bringt wenig. Untersuchun-gen von Forschern des Berliner Max-Planck-Instituts fr Bildungsforschungbelegen, dass dieser Effekt minimal ist gemessen an dem Einfluss, den die Bil-dungswelt daheim auf die Schulkarrierender Kinder hat. Eine bestimmte Schul-form im Sekundarbereich hat nahezukeinen Einfluss auf die vorgefundeneQualitt von Unterricht, schrieben dieSchulexperten des Hamburger Institutsfr Bildungsmonitoring ihrer Senatorinin eine Studie. Vergebens.

    Dass die meisten der 16 Kultusministerder Lnder dennoch unverdrossen ihrenso teuren wie aufsehenerregenden Schul-reformen nachgehen, liegt daran, dassman die richtigen Reformen nicht sehen

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    brig bleibt ein am Kopfund an den Fen

    amputiertes Gymnasium.

    Abiturienten im Schlerlabor der Universitt Frankfurt: Bildungspolitisch gesehen ist jede Strukturreform GeldverschwendungM. LEISSL / VISUM

  • 8/9/2019 Spiegel: Ein Abgrund Von Fderalismus

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    Flucht ins PrivateSchler an Privatschulen*in Deutschland, in Tausend

    * Allgemeinbildende SchulenQuelle: StatistischesBundesamt

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    +55%gegenber

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    kann. Sie finden in den Kpfen statt. DerFluch dieser empirischen Wende in derBildungspolitik liegt darin, dass sie ihrenEntdeckern keinen Lorbeer bringt, weilsie Zeit braucht.

    Es ist schn, etwas gestalten zu kn-nen, freut sich die hessische Kultusmi-

    nisterin Dorothea Henzler (FDP). Fr sojemanden ist es reizlos, sich mit den Ant-worten von morgen, der Verbesserungder Schulqualitt zu beschftigen. ZehnJahre, schtzen die Qualittsexpertenbeim IQB ebenso wie Bildungsforscher,dauert es mindestens, bevor man etwasmerkt von der Wende. Bevor die Testsnach oben gehen.

    Die Ochsentour zur besseren Bildungliegt in der Verbesserung der Lehrer. Inkeinem Bundesland, wei der BerlinerBildungsforscher Hans-Peter Fssel, las-sen sich die neuen Bildungsstandards ein-fach von oben durchsetzen: Das ms-sen die 800000 Lehrer machen.

    Die knnen es aber nicht. Generatio-nen deutscher Schulmeister sind daraufgetrimmt, ihre Lehrplne abzuarbeiten wenn ein Schler nicht mitkommt, bleibter sitzen oder muss schlimmstenfalls dieSchule verlassen. Es gilt auch an deut-schen Schulen das Prinzip der Verantwor-tungslosigkeit. Kein Lehrer ist schuld,wenn seine Schler nichts lernen.

    Die neue Output-Philosophie derSchulqualitt verlangt eine neue Lehrkul-tur. Jeder Lehrer ist danach verpflichtet,definierte Kompetenzen, einen vernnf-

    tigen Lernerfolg herzustellen. Der Kernder Reform des Lernens ist die individu-elle Frderung: Ein Stachel im Fleischdes Bildungswesens sei das, meint der Di-rektor des Hamburger Instituts fr Leh-rerbildung und Schulentwicklung PeterDaschner, eine Herausforderung: Wirmssen uns etwas einfallen lassen, fr je-den einzelnen Schler.

    Daschner steht vor der Herkules-Auf-gabe, die neue Lernkultur bei den15000 Hamburger Lehrern durchzuset-zen. Durch 80000 Schulungen im Jahrwerden die Hamburger Pdagogen ge-schleust, mit leichtem Druck: In Hamburg

    gilt Fortbildungspflicht.Das Ziel liegt in weiter Ferne. Groe

    Defizite beim individuellen Frdern anden Gymnasien bescheinigt der Hambur-ger Jahresbericht der Schulinspektionvon 2008 den Hamburger Lehrern. Nurwenigen beobachteten Schulen gelingt es,schulweite Konzepte fr Binnendifferen-zierung zu entwickeln. Ja, gerade unterden Hamburger Nobelgymnasien in bes-ten Lagen gibt es behrdenintern als Fai-ling Schools eingestufte Problemanstal-ten: eine besondere Art von pdagogi-scher Wohlstandsverwahrlosung.

    Immer zu dritt fallen nun die Inspekto-ren ber die Hamburger Schulen her, set-zen sich, immer 20 Minuten lang, in denUnterricht und legen Dossiers ber Schu-

    len, Klassen, Lehrer an: Wo werden dieSchler erreicht, welche Klassen fallenzurck, woran liegt das?

    Die sanfte Tour in Deutschland kostetnicht nur Zeit, sie kostet auch Geld. Nie-mand kann zurzeit ausrechnen, was eskosten wrde, gengend geeignete Lehrer

    fr die individuelle Betreuung von Sch-lern auszubilden. Absprachen in der KMKber gemeinsam organisierte Lehrerbil-dung blieben im Ansatz stecken. Denn je-des Bundesland htet die Ausbildung sei-ner Lehrer als Teil seiner Kernkompetenz.

    So bleiben Qualittsoffensiven wie inHamburg Einzelflle und ungeliebt beivielen Politikern. Schleswig-Holstein hatdie Schulinspektion, die 2003 unter derGroen Koalition eingefhrt wurde, nachdem Farbenwechsel zu Schwarz-Gelbganz schnell wieder abgeschafft, in ande-ren Lndern ist man kurz davor. Die zu-verlssigsten Partner knnen leicht weg-brechen, ahnt der BildungsprofessorOlaf Kller, der bis vor kurzem Chef desBerliner IQB war. Das Gefeilsche unterden Lndern um die berprfung derSchulqualitt werde immer schlimmer:Na klar, kein Kultusminister mag stndigschlechte Nachrichten hren.

    Nur etwa in der Hlfte der Bundesln-der, so rechnen Beobachter, kommen dieBildungsstandards wirklich an den Schu-len an. Viele Politiker haben keine Lustmehr auf Reformen, die vorerst nichts alsrger bringen. Denn jeder Experte wei:Die Ergebnisse der Neuordnung sind erst

    in der nchsten Generation sichtbar.

    Etwas fr gleich war gesucht im Kreisder Kultusminister. So verabredeten sie,die Gymnasiumszeit auf acht Schuljahrezu verkrzen. Die Mainzer SchulchefinAhnen legte sich quer und beschrnktedas Schnell-Modell auf Ganztagsschulen.Ich mache keinen Hehl daraus, klagte

    die Ministerin ffentlich, dass ich zeit-weise sehr unter Druck gestanden habe,weil wir den bundesweiten Weg nicht mit-gegangen sind.

    Dass man in acht Jahren nur schlechtein Qualitts-Abitur machen kann, warim Kreis der KMK lange Zeit nahezuKonsens. Bayern und Baden-Wrttem-berg vertraten die Ansicht, den neuenLndern knne nur gestattet werden, dasaus der DDR geerbte G-8-Modell weiter-zufhren, wenn sichergestellt sei, dass inder verkrzten Schulzeit das westdeut-sche Abi-Niveau erreicht werden knne.Sonst werde man den Ost-Abschlussnicht anerkennen. Die magische Zahl,einst von der KMK festgelegt, betrgt265 Jahreswochenstunden Gymnasiumbis zum Abi.

    265 Stunden? Die ostdeutschen Lehrer,Stress und Leistungsdruck schon stetsgewohnt, steckten das, ohne zu murren,in acht Schuljahre, was die Westdeut-schen damals noch in neun Jahren ab-solvierten. Als dann auch West-LnderG8 einfhrten, schlugen die tapferenOst-Schulmeister zurck. Selbstverstnd-lich, so hielten sie Wnschen nach Unter-richtskrzungen der West-Kollegen ent-

    gegen, mssten auch im verkrztenGymnasium die 265 Stunden abgeleistetwerden. Dass das nun pltzlich nichtmehr erfllbar sein soll, lsterte Sach-sen-Anhalts Kultusminister Olbertz,stt im Osten sauer auf.

    Emprte Eltern, berforderte Kinder auch in Bayern mussten mehrfach dieberladenen Lehrplne gekrzt werden.In Hessen musste die verantwortliche Ka-rin Wolff ihren Hut nehmen. Sicher ha-ben wir in kurzer Zeit sehr viel verndernund damit aufholen wollen, vielleicht wa-ren wir dabei zu schnell, sagt sie heute.

    Zu schnell zu viel: Fr individuelle Fr-

    derung braucht es Zeit, lnger, nicht kr-zer mssen sich die Lehrer gerade um dieProblemkinder kmmern. G8 entpupptesich schnell als Zeitdiebstahl. Als Ersteswurden, zur Besnftigung von Eltern undSchlern, hufig die gerade erst einge-fhrten Zusatzstunden fr individuelleFrderung gestrichen. Die Umsetzungvon G8 war falsch, sagt die HamburgerReformerin Christa Gtsch, aber daswar vor meiner Zeit.

    Auch Christa Gtsch kann nichts dafr.Aber wer denn dann? Eine Umfrage un-ter deutschen Kultusministern, wer ei-gentlich die Idee hatte und was er sichdabei gedacht hat, ist nicht sehr ergiebig.

    Die Schavan wars, ist die hufigsteAntwort, die man hrt. Tatschlich ver-

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    Hamburger Lehrer-Trainer Daschner

    Stachel im Fleisch

    GREGORS

    CHLGER

    Titel

  • 8/9/2019 Spiegel: Ein Abgrund Von Fderalismus

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    teidigt Annette Schavan, die ehemaligeStuttgarter Kultusministerin, auch in ihrerneuen Rolle als Bundesforschungsminis-terin noch immer die unsinnige Reform:Ein Gymnasium fr 50 Prozent eines

    Schlerjahrgangs muss anders aussehen,als wenn, wie frher, nur 5 Prozent dieseSchulform besuchen.

    Weil die Bundesministerin in den Schu-len der Lnder nichts zu sagen hat, ist sieauf solche Statements angewiesen, dieewig wahr und vllig nutzlos sind. Dassdie deutschen Schulen sich verndernmssen, wird niemand bestreiten. Wasaber soll geschehen?

    Wer hat ein Konzept zur Rettung derdeutschen Schulpolitik? Die Kultusminis-ter haben es jedenfalls nicht, und wennsie es htten, drften sie es nicht sagen.Denn die Lnder, von Finanznot ausge-

    zehrt und immer fter im Stress knappkalkulierter Koalitionsregierungen, habenandere Sorgen. Bildungspolitiker habenan den Kabinettstischen wenig Ansehen;regelmig, so die heimliche Klage ausvielen Lndern, zerhaut der Ministerpr-sident mit seiner Richtlinienkompetenzzarte Pflnzchen der in der KMK verab-redeten Reformen. Denn viele Chefs wol-len sich fr die Bundespolitik profilieren,wo man mit guten Schulen wenig Ein-druck macht.

    Ich wnsche mir manchmal, sagtThies, eine Instanz, die stark genug ist,die Weichen richtig zu stellen. Die KMKknnte das sein. Aber das Gremium seibehindert unter dem Druck der Einstim-migkeit.

    Nicht nur die KMK, die ganze Bil-dungspolitik leidet unter einem Legiti-mationsdefizit (Thies) gegenber der kri-tischen ffentlichen Meinung. Anders alseine Regierung ist die KMK von nieman-

    dem legitimiert, Entscheidungen zu tref-fen: Sie kann nur Empfehlungen geben,die man befolgen kann, sagt Thies,oder eben auch nicht.

    Die Lnder-Runde sucht sich jedes Jahreinen anderen Landesminister als ihrenPrsidenten, aber dessen Befugnisse rei-chen auch nicht ber die Richtlinien derLandespolitik hinaus, die der Minister-prsident daheim verkndet hat. Der Ge-neralsekretr wnscht sich einen fr

    mehrere Jahre gewhlten Prsidenten,der dem Gremium neue Entscheidungs-kraft geben knnte.

    Der noch amtierende Dsseldorfer Wis-senschaftsminister Pinkwart schlgt vor,dem Bund Sitz und Stimme in der KMKzu geben, um so die Bildungspartner-schaft zwischen Bund und Lndern zustrken. Doch die Idee wrde alles nochkomplizierter machen. Statt 16 gibt esdann 17 Vetomchte.

    Es geht vielleicht so, wie es die kleinefderale Schweiz 2006 vorgemacht hat.Die Eidgenossen haben in ihre Verfassungeine Klausel aufgenommen, die es derBundesregierung in Bern erlaubt, die Ent-

    scheidungsgewalt in Bildungsfragen zubernehmen, wenn sich die Kantonenicht einigen knnen. Eine solche Er-satzvornahme des Bundes knnte nachThies Vorstellungen auch in Deutschland

    Verbesserungen bringen. Doch wieschlecht muss es den Lndern gehen, bissie endlich das Elend des deutschenFderalismus durch eine Verfassungs-nderung lindern?

    Es gibt in der Bildungsrepublik Deutsch-land kein demokratisches Verfahren freinen nationalen Konsens ber das, wasim Land der Dichter und Denker geltensoll. Dabei wird nichts dringender als diesgesucht. Eine neue Bildungsidee, die ausdem Gezerre zwischen Humboldt undPisa herausfhrt. Man muss Humboldtneu denken, fordert ganz oben die Bun-desforschungsministerin Schavan.

    Wer ist man?In der Bildungswste Nordrhein-West-

    falen klagt die grne Spitzenkandidatinund Schulexpertin Sylvia Lhrmann berden Treppenwitz, dass im Land der Dich-ter und Denker an der Spitze niemandfr die Bildung verantwortlich ist. Dennin den Lndern, pflichtet ihr der SPD-Schulexperte im Bayerischen LandtagMartin Gll bei, gibt es keine Visionre,nur Verwalter.

    Soll die nationale Aufgabe Bildung einReservat fderaler Vielfalt sein? Nur vor-sichtig fragte Horst Khler, wenige Wo-chen vor seinem Rcktritt, ob in der Bil-dungspolitik nicht die derzeit geltendenBedingungen des Fderalismus selbst aufden Prfstand gehren.

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    In der Bundespolitik machtman mit guten

    Schulen wenig Eindruck.

    Titel

    Abiturprfung am Gymnasium: Dreierlei Menschen braucht die MaschineFALK HELLER / ARGUM

  • 8/9/2019 Spiegel: Ein Abgrund Von Fderalismus

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    Da waren sie nun lange genug. DieKonsequenz der deutschen Schulmiserewre eine Kompetenzverlagerung vonden Lndern zum Bund. Bildungspolitikist zu wichtig, um sie weiterhin engagier-ten und wohlmeinenden Studienrtinnenzu berlassen. Berufspolitiker mit einem

    groen Apparat, mit der Rckendeckungder Kanzlerin und Zugriff auf die Bun-desfinanzen mssen sich dranmachen das Thema muss wahlentscheidend frdie nchsten Bundestagswahlen werden.

    Die Lnder, die ihre Kernkompetenzin Gefahr sehen, haben sich mit Gegen-argumenten gut ausgerstet. Der frhereKultusminister Sachsen-Anhalts und knf-tige Prsident der Humboldt-UniversittOlbertz etwa warnt: Ich kenne das nochaus der DDR: Macht die Zentrale einenFehler, wird er berall und grndlich ge-macht.

    Solche Argumente aber sind Irrefh-rung. Dem Bund Kompetenzen fr dieSchulpolitik einzurumen bedeutet ledig-lich, ihm Gesetzgebungsmacht zu geben:Die Grundfragen der deutschen Schulbil-dung knnen zentral als Ergebnis einernationalen demokratischen Debatte ver-bindlich fr alle Lnder geregelt werden.Die Aufgabe der Lnder-Kultusministerbeschrnkt sich dann auf die Durchfh-rung der Bundesgesetze.

    Der Verlust der Lnder-Herrlichkeitwre ein Verlust von Vielfalt. Doch wemauer der teuren Kultusbrokratie undden Verlagen, die Sammlungen der Ln-

    der-Schulgesetze herausgeben, nutzt die-se Vielfalt? Ein Schler, der in seinemBundesland bleibt, hat nichts davon, dasses in anderen Bundeslndern anders ist.Und wer das Land wechseln will, leidetmeist unter solchem Fderalismus.

    Vielfalt ist eine Chance fr Politiker,die lernen wollen von denen im Nach-barland. Doch darauf hat sich kaum jeein Kultusminister eingelassen. Sie ha-ben ja die KMK ein Kartell der Dumm-heit.

    An der Grenze zwischen Thringenund Hessen bedeutet Vielfalt nichts alsrger. All die Absagebriefe, die der Gers-

    tunger Schulleiter an die Eltern drbenin Hessen schicken muss, all die Diskus-sionen, die dann wieder losgehen.

    Wre es da nicht sinnvoll, sich mal mitden Schulleitern von jenseits der Grenzezusammenzusetzen? Einfach so, auf einBier, und mal Erfahrungen ber Schlerund Lehrer auszutauschen. So weit,sagt Taubert, ist es noch nie gekommen.Was soll man da auch besprechen, fragtsich der Schulmeister: Wir haben dochFderalismus.

    Im nchsten Heft:

    Wie die Lnder die Universitten zu Tode re-

    formieren Warum die Bologna-Reform ge-

    scheitert ist Der Bund muss die finanzielle

    Verantwortung fr Bildung bernehmen.

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