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Klartext Im PLP seien keine eindeutigen Vorgaben in Bezug auf eine Requalifizierung enthalten! Wo bleibt denn da die Wertschöpfung? Eine Diskussion mit dem Auditor erweist sich als sinnlos. Er bringt zwar großes Ver- ständnis für die Situation des Lieferanten auf, kommt aber zu folgendem Schluss: „Selbst wenn ich Ihnen heute keine Abwei- chung schreiben würde, müsste ich das auf jeden Fall tun, wenn einmal ein Witness- audit ansteht.“ Daher sehen die Korrekturmaßnahmen des Lieferanten nun jährliche Requalifikationen al- ler Produkte vor,die PLP werden entsprechend ergänzt. Den finanziellen Aufwand für diese Requalifikationen schätzt das Unternehmen grob ab und fragt sich, wo die Wertschöpfung stattfindet. Denn eine Erhöhung der Kunden- zufriedenheit ist nicht festzustellen, und eine Verbesserung der Produktqualität wird mit die- sen Requalifikationen wirklich nicht erreicht. Der einzig positive Aspekt besteht darin, dass der Auditor zufrieden ist. Und dies in erster Linie deshalb, weil auch Auditoren überwacht werden. Wenn ein Auditor relativ wenige Ab- weichungen feststellt oder einem Unterneh- men keine oder nur wenige Abweichungen at- testiert, dann kann dies ein Witnessaudit zur Folge haben. Dazu muss man wissen, dass derartige Informationen bei der International Automotive Task Force (IATF) gesammelt wer- den. Und wenn ein Auditor bei einem Witness- audit sehr schlecht abschneidet, kann es sein, dass man ihm die Zulassung entzieht. Die Existenz vieler freiberuflicher Auditoren würde dann auf dem Spiel stehen. Dieses Risiko will natürlich niemand einge- hen, und so bereitet man eine Firma bei ei- nem „normalen“ Audit schon mal auf ein Wit- nessaudit vor und auditiert im Fall der Fälle natürlich noch etwas intensiver. Das belegen eindeutig die Auswertungen des Verbands der Automobilindustrie (VDA), in denen die Anzahl der Abweichungen bei Witnessaudits mit der Anzahl der Abweichungen bei normalen Au- dits verglichen wird. Angesichts dieser Statis- tik fragt man sich, ob die Auditoren vorher ge- schlafen haben oder ob man bei einem Wit- nessaudit lieber noch etwas nachlegt. Die Fra- ge nach der Wertschöpfung für das auditierte Unternehmen stellt man besser nicht. Seit Jahren versucht die Automobilindu- strie,Automotive-Auditoren gemäß ISO/TS 16949 zu kalibrieren. Auftrag dieser Gut- achter ist es, die Anforderungen der Auto- hersteller bei deren Zulieferfirmen zu über- prüfen. Indes würde ein direkter Austausch zwischen Kunde und Lieferant helfen, in- dividuelle Wünsche wertschöpfend umzu- setzen. Wer kennt sie nicht, die Auditfragen nach regelmäßigen Requalifikationsprüfungen, vorausschauender und vorbeugender In- standhaltung, Mitarbeitermotivation und -zufriedenheit, Prüfmittelfähigkeitsunter- suchung, Produkt- und Prozess-FMEAs oder Lieferantenentwicklung? Diese Auditschwer- punkte machen durchaus Sinn und bilden zweifellos eine solide Basis für gutes Ma- nagement und die Herstellung von Qualitäts- produkten. Schwierig wird es in der Audit- praxis, wenn im Zuge von Witnessaudits der Third-Party-Auditor vor Ort überprüft wird. Warum? Ein Grund ist, dass kalibrierte ISO/TS-Auditoren individuelle Vereinbarun- gen zwischen Lieferanten und Kunden nicht kennen und selten akzeptieren. Denn diese könnten unter Umständen allgemeine For- derungen der ISO/TS 16949 aushebeln. Dazu ein Fall aus der Praxis: Auf die Frage nach der Durchführung von Requalifikations- prüfungen teilt ein Lieferant dem Auditor mit, dass man sich mit dem Kunden geeinigt ha- be, die Requalifikationen aus Kostengrün- den nur in bestimmten Fällen und nach Kun- denbeauftragung durchzuführen. Ein ent- sprechender Passus in der allgemeinen Qua- litätssicherungsvereinbarung zum Thema Requalifikation wurde gestrichen. Zudem liegt eine E-Mail des Q-Leiters des Kunden vor, aus der hervorgeht, dass Requalifika- tionen generell nicht vorgesehen sind. Den- noch wird dem Unternehmen eine Abwei- chung attestiert und damit zunächst kein Zertifikat ausgestellt. Die Begründung des Auditors: In der ISO/TS 16949 sei vorgese- hen, dass alle Produkte gemäß den Produk- tionslenkungsplänen (PLP) requalifiziert wer- den. Und da im PLP des Lieferanten ver- merkt ist, dass Requalifikationen nur auf Kundenwunsch durchgeführt werden, wird noch eine zweite Abweichung festgestellt: © Carl Hanser Verlag, München QZ Jahrgang 55 (2010) 6 FORUM Klartext 22 WAS NÜTZEN ISO/TS 16949-AUDITS LIEFERANTEN UND IHREN KUNDEN? Spiel mit kalibrierten Auditoren Klaus Grönen, Würzburg

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tIm PLP seien keine eindeutigen Vorgaben inBezug auf eine Requalifizierung enthalten!

Wo bleibt denn da die Wertschöpfung?

Eine Diskussion mit dem Auditor erweistsich als sinnlos. Er bringt zwar großes Ver-ständnis für die Situation des Lieferantenauf, kommt aber zu folgendem Schluss:„Selbst wenn ich Ihnen heute keine Abwei-chung schreiben würde, müsste ich das aufjeden Fall tun, wenn einmal ein Witness-audit ansteht.“ Daher sehen die Korrekturmaßnahmen desLieferanten nun jährliche Requalifikationen al-ler Produkte vor,die PLP werden entsprechendergänzt. Den finanziellen Aufwand für dieseRequalifikationen schätzt das Unternehmengrob ab und fragt sich, wo die Wertschöpfungstattfindet. Denn eine Erhöhung der Kunden-zufriedenheit ist nicht festzustellen, und eineVerbesserung der Produktqualität wird mit die-sen Requalifikationen wirklich nicht erreicht.Der einzig positive Aspekt besteht darin,dassder Auditor zufrieden ist. Und dies in ersterLinie deshalb,weil auch Auditoren überwachtwerden. Wenn ein Auditor relativ wenige Ab-weichungen feststellt oder einem Unterneh-men keine oder nur wenige Abweichungen at-testiert, dann kann dies ein Witnessaudit zurFolge haben. Dazu muss man wissen, dassderartige Informationen bei der InternationalAutomotive Task Force (IATF) gesammelt wer-den. Und wenn ein Auditor bei einem Witness-audit sehr schlecht abschneidet, kann essein, dass man ihm die Zulassung entzieht.Die Existenz vieler freiberuflicher Auditorenwürde dann auf dem Spiel stehen. Dieses Risiko will natürlich niemand einge-hen, und so bereitet man eine Firma bei ei-nem „normalen“ Audit schon mal auf ein Wit-nessaudit vor und auditiert im Fall der Fällenatürlich noch etwas intensiver. Das belegeneindeutig die Auswertungen des Verbands derAutomobilindustrie (VDA), in denen die Anzahlder Abweichungen bei Witnessaudits mit derAnzahl der Abweichungen bei normalen Au-dits verglichen wird. Angesichts dieser Statis-tik fragt man sich, ob die Auditoren vorher ge-schlafen haben oder ob man bei einem Wit-nessaudit lieber noch etwas nachlegt. Die Fra-ge nach der Wertschöpfung für das auditierteUnternehmen stellt man besser nicht.

Seit Jahren versucht die Automobilindu-

strie,Automotive-Auditoren gemäß ISO/TS

16949 zu kalibrieren. Auftrag dieser Gut-

achter ist es, die Anforderungen der Auto-

hersteller bei deren Zulieferfirmen zu über-

prüfen. Indes würde ein direkter Austausch

zwischen Kunde und Lieferant helfen, in-

dividuelle Wünsche wertschöpfend umzu-

setzen.

Wer kennt sie nicht, die Auditfragen nachregelmäßigen Requalifikationsprüfungen,vorausschauender und vorbeugender In-standhaltung, Mitarbeitermotivation und -zufriedenheit, Prüfmittelfähigkeitsunter-suchung, Produkt- und Prozess-FMEAs oderLieferantenentwicklung? Diese Auditschwer-punkte machen durchaus Sinn und bildenzweifellos eine solide Basis für gutes Ma-nagement und die Herstellung von Qualitäts-produkten. Schwierig wird es in der Audit-praxis, wenn im Zuge von Witnessaudits derThird-Party-Auditor vor Ort überprüft wird.Warum? Ein Grund ist, dass kalibrierteISO/TS-Auditoren individuelle Vereinbarun-gen zwischen Lieferanten und Kunden nichtkennen und selten akzeptieren. Denn diesekönnten unter Umständen allgemeine For-derungen der ISO/TS 16949 aushebeln. Dazu ein Fall aus der Praxis: Auf die Fragenach der Durchführung von Requalifikations-prüfungen teilt ein Lieferant dem Auditor mit,dass man sich mit dem Kunden geeinigt ha-be, die Requalifikationen aus Kostengrün-den nur in bestimmten Fällen und nach Kun-denbeauftragung durchzuführen. Ein ent-sprechender Passus in der allgemeinen Qua-litätssicherungsvereinbarung zum ThemaRequalifikation wurde gestrichen. Zudemliegt eine E-Mail des Q-Leiters des Kundenvor, aus der hervorgeht, dass Requalifika-tionen generell nicht vorgesehen sind. Den-noch wird dem Unternehmen eine Abwei-chung attestiert und damit zunächst keinZertifikat ausgestellt. Die Begründung desAuditors: In der ISO/TS 16949 sei vorgese-hen, dass alle Produkte gemäß den Produk-tionslenkungsplänen (PLP) requalifiziert wer-den. Und da im PLP des Lieferanten ver-merkt ist, dass Requalifikationen nur aufKundenwunsch durchgeführt werden, wirdnoch eine zweite Abweichung festgestellt:

© Carl Hanser Verlag, München QZ Jahrgang 55 (2010) 6

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WAS NÜTZEN ISO/TS 16949-AUDITS L IEFERANTEN UND IHREN KUNDEN?

Spiel mit kalibrierten Auditoren

Klaus Grönen, Würzburg

022-023_QZ810058_QZ6 25.05.2010 17:36 Uhr Seite 22

Seit Jahren versucht der VDA im großen Stil,Automotive-Auditoren zu kalibrieren. Dasoben genannte Beispiel macht aber deut-lich, dass Audits für alle Beteiligten effizien-ter und wertschöpfender ablaufen, wenn siedirekt zwischen Kunde und Lieferant erfol-gen. Die individuellen Kundenwünsche (ab-seits von diversen VDA-Bänden, APQP- oderPPAP-Handbüchern) können im direkten Aus-tausch besser hinterfragt und wertschöp-fend umgesetzt werden. Ein Lieferant weißdann genau, was sein Kunde wünscht, undkann seine internen Abläufe kundenspezi-fisch optimieren und auch Qualitätskostenreduzieren.

Was bedeutet eigentlich

Lieferantenentwicklung?

Ein weiteres Problem bei der Auditierungnach ISO/TS 16949 wird deutlich, je weiterman sich vom OEM entfernt. Es zeigt sichin den Reihen der Tier 2-, Tier 3- oder Tier 4-Lieferanten. Dort trifft man in der Regel aufmittelständische Firmen mit 15 bis 30 Mit-arbeitern, die irgendwann auch auf dasISO/TS-System umsteigen müssen, da ihreKunden nach diesem Standard zertifiziertsind. Zwar gibt man sich zunächst mit einem

ISO 9001-Zertifikat zufrieden, muss dannaber nach und nach Instrumente der Auto-mobilindustrie umsetzen und sich letztend-lich für die ISO/TS entscheiden. Dafür sor-gen schon die Einkäufer und Q-Leiter desKunden,denn dieser muss wiederum bei sei-ner Auditierung nachweisen, dass er seineLieferanten aktiv gemäß ISO/TS „entwi-ckelt“. Aus der Erfahrung heraus kann manjedoch sagen, dass eine aktive Lieferanten-entwicklung erst dann abgeschlossen ist,wenn er gemäß ISO TS zertifiziert ist. Demkönnen sich auch die kleinen Unternehmennicht entziehen, selbst wenn klar ist, dassdiese Entwicklung Jahre dauern wird.Dabei haben es die Kleinunternehmen in derPraxis doppelt schwer: Verschiedene Funk-tionen müssen in Personalunion ausgeführtwerden, denn zusätzliches Personal für Prüf-tätigkeiten ist finanziell nicht tragbar. Außer-dem sind die Forderungen der Autoherstel-ler zumeist unbekannt. Das liegt daran,dassman keinen Zugriff auf die Lieferantenpor-tale des OEM besitzt oder die Vorgaben desOEM nicht in vollem Umfang über die Liefer-kette an den Unterlieferanten weitergege-ben werden. Diese sind jedoch auch Be-standteil des ISO/TS-Audits. Gerade hier isteine hundertprozentige Umsetzung derISO/TS-Forderungen nur unter größten An-strengungen zu erreichen. Aber nicht nur die kundenspezifischen For-derungen können bei der Auditierung Proble-me bereiten, auch die ISO/TS 16949-Forde-rungen selbst haben ihre Tücken. Das zeigtein Fall, in dem es darum ging, den Unter-schied zwischen Mitarbeitermotivation undMitarbeiterzufriedenheit inklusive der zuge-hörigen Kennzahlen darzustellen. Auch hierwurden Abweichungen aufgrund fehlenderKennzahlen festgestellt, und das Unterneh-men wurde aufgefordert, Korrekturen einzu-leiten. Doch was würde wohl der Kunde die-ses Unternehmens sagen,wenn er davon er-führe? Insbesondere, wenn er seit Jahrenmit ausgezeichneten Produkten beliefert wur-de (ohne Kenntnis des Motivationsstands). Was im Rahmen von ISO/TS 16949-Zertifi-zierungen immer wieder zu Irritationen führt,ist die unterschiedliche Bewertung vonLieferanten durch den OEM bzw. Tier 1 vorund nach dessen Zertifizierung. Ist ein Lie-ferant nicht zertifiziert, fordern Einkauf undQ-Leitung vehement und unter Androhungvon Auftragsentzug die Zertifizierung nachISO/TS 16949. Hängt das Zertifikat schließ-lich an der Wand, verändert sich der Fokusdes Kunden.Der zertifizierte Lieferant wird zu einemPreisgespräch gebeten, wobei das künftige

Preisniveau ganz klar im Vordergrund steht.Forderungen nach dem Aufbau oder der Nut-zung eines bestehenden Niedriglohnstand-orts sind keine Seltenheit. Die dabei entste-henden Kostenvorteile sollen dann eins zueins an den Kunden weitergegeben werden.Führt der Lieferant das Argument der feh-lenden Zertifizierung an diesen Standortenins Feld, so wird dieses erstaunlicherweiseals „nicht relevant“ entwertet. Denn der Ein-käufer des Kundenunternehmens muss zweiinterne Vorgaben verfolgen:� Einkauf nur bei ISO/TS 16949-zertifizier-

ten Unternehmen und� internationaler Einkauf zu günstigsten

Konditionen.Dass die Anzahl an Rückrufaktionen trotzISO/TS 16949 weiter zugenommen hat, er-scheint vor diesem Hintergrund nachvollzieh-bar. Verständlich ist auch, dass der deut-sche Automobilverband an diesem Standardfesthält. Rund fünf Prozent der Zertifizie-rungskosten gehen bei jedem Audit an denVDA. Hinzu kommen Einahmen aus denSchulungen der Auditoren, der Überwachungder Zertifizierungsstellen und der Zulassungjedes einzelnen Auditors.

Geht es auch ohne ISO/TS 16949?

Die Lust vieler Lieferanten, das Spiel derISO/TS 16949 fortzusetzen, nimmt ab. Ei-nige Mutige gehen wieder zurück auf die Ba-sisnorm ISO 9001. Was hindert uns daran,die Praxis der Freigabeaudits oder Prozess-abnahmen durch den Kunden beim Lieferan-ten auszubauen? Warum nicht auf das Sys-tem der ISO/TS 16949-Zertifizierung verzich-ten, zumal fast alle Zusatzforderungen die-ser Automobilnorm in den allgemeinenkundenspezifischen Forderungen und Qua-litätssicherungsvereinbarungen definiertsind? Diese Customer Specific Require-ments sind heute fester Bestandteil jederVertragsbeziehung, die auch bei einem ISO9001-Audit überprüft werden. �

QZ Jahrgang 55 (2010) 6

Klartext F O R U M

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geb. 1964, ist

Qualitätsmanage-

mentbeauftragter

der SKZ-Cert

GmbH, Würzburg.

Er ist qualifizier-

ter Auditor für

ISO 9001,

VDA 6.1 und ISO/TS 16949 (bis 2006).

Jährlich führt er bis zu 130 Audits

durch, wobei der Branchenschwerpunkt

bei der kunststoff- und metallverarbei-

tenden Industrie liegt, darunter zahlrei-

che Automobilzulieferer. Daneben ist er

Referent bei der IHK und der HWK. Er

leitet zahlreiche Arbeitskreise und Semi-

nare zum Thema Qualität.

KontaktKlaus Grönen

T 0931 4104-314

[email protected]

www.qm-infocenter.de

Diesen Beitrag finden Sie online unter der Dokumentennummer: QZ810058

Dipl.-Betriebswirt Klaus Grönen,

022-023_QZ810058_QZ6 25.05.2010 17:36 Uhr Seite 23