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Modul A1: Kognitive Prozesse (SS 2013)
Sprache II. Visuelle Worterkennung
Thomas Goschke
1
Fachrichtung Psychologie Professur Allgemeine Psychologie
Ward, 2010. Psychology Press.
2
Wahrnehmung gesprochener vs. geschriebener Sprache
Hören Lesen
Sprachinput = sequentiell / in Zeit
erstreckt
Sprachinput = simultane räumliche
Anordnung von Zeichen
Grenzen zwischen Worten sind oft nicht
eindeutig
Worte sind klar voneinander
abgegrenzt
Sprachsignal ist oft ambig und variiert
je nach Kontext
Worte sehen unabhängig vom Kontext
gleich aus
Gedächtnisbelastung: ausgesprochene
Worte nicht mehr als Reiz verfügbar
Gelesene Worte bleiben verfügbar
Prosodische Information Keine prosodische Information
Interpunktionsinformation
Evolutionär älter Historisch sehr viel jünger (ca. 5000 –
4000 v. Chr.)
Schriftsysteme
Input = visuelle Zeichenfolgen
• Logographisches System: Symbole repräsentieren Worte o. Morpheme (z.T. im Chinesischen)
• Syllabisches System: Symbole repräsentieren Silben (Japan: Kana)
• Alphabetisches System: Symbole repräsentieren Phoneme
Arbiträre Symbole: keine Ähnlichkeit von Symbol und Symbolisiertem
Visuelle Wortverarbeitung – einige Fakten
Leserate:
• ca. 300 Wörter pro Minute ca. 200 ms pro Wort
Buchstabenzahl
• hat geringen Einfluss auf die Zeit für die Erkennung einzelner Worte (Cattell, 1886) Parallelverarbeitung
Wortüberlegenheitseffekt (Reicher, 1969):
• Buchstaben (R) werden schneller in Wörtern (ARBEIT) oder aussprechbaren Nichtwörtern (ERGUB) als in zufälligen Buchstabenketten (CRTPAE) erkannt Top-Down-Verarbeitung
Wie werden aufgrund der Analyse elementarer visueller Merkmale Wörter erkannt (auf die korrekten Einheiten im mentalen Lexikon zugegriffen)?
Das interaktive Aktivationsmodell Ein Beispiel für ein konnektionistisches Netzwerk
McClelland & Rumelhart (1981)
Drei Verarbeitungsebenen: Merkmale – Buchstaben - Wörter
Merkmale, Buchstaben und Wörter werden durch Knoten repräsentiert
Jeder Knoten kann mehr oder weniger aktiviert sein
Knoten sind über aktivierende und hemmende Konnektionen verbunden
Aktivierungsausbreitung erfolgt von unten nach oben (bottom-up) und von oben nach unten (top-down)
Massive Parallelverarbeitung
McClelland, J.L., and Rumelhart, D.E. (1981). Psychological Review, 88, 375-407.
Das interaktive Aktivationsmodell Ein Beispiel für ein konnektionistisches Netzwerk
McClelland & Rumelhart (1981)
Aktivierende und inhibitorische Bottom-up-Konnektionen
Inhibitorische Konnektionen zwischen Buchstaben für die gleiche Wortposition
Inhibitorische Konnektionen zwischen Wörtern
Aktivierende u. inhibitorische Top-Down-Konnektionen von der Wort- zu Buchstaben-ebene
• Kleiner (!) Ausschnitt des Modells
• Computersimulation:1179 vierbuchstabige Wörter
• Mathematische Spezifikation aller Prozessparameter (Aktivationsaus-breitung; Konnektionsstärken etc.)
Das interaktive Aktivationsmodell
Abb. aus Gazzaniga et al., 2010. W. W. Norton
Buchstabenaktivierung in aussprechbaren Nichtworten: Top-down-Effekte von partiell aktivierten Wortkandidaten
Vorteile des interaktiven Aktivationsmodells
Erklärt Wortüberlegenheitseffekt und andere Kontext- und Top-down-Effekte
Übereinstimmung mit experimentellen Daten zur Phonem- und Worterkennung
Musterergänzung bei unvollständigem Input
Fehlertoleranz bei verrauschtem Input
Kontinuierliche Weiterentwicklung und Erweiterung
Evidenz für ein visuelles Wortform-Areal
Eine Region im linken mittleren okzipito-temporalen Gyrus wird durch visuelle Worte stärker aktiviert als durch Konsonantenketten
Region, die vermutlich spezifisch an der Verarbeitung und Repräsentation visueller Wortformen beteilgt ist
© 2010. Psychology Press.
© 2011 Cengage Learning
Kritik an der Annahme eines visuellen Wortform-Areals
Es ist umtritten, ob es ein visuelle Wortform-Areal gibt oder ob diese Region der Sitz eines visuellen Inputlexikons ist
• Region wird auch durch Nicht-Worte aktiviert
• Einige Forscher argumentieren, dass diese Region nicht spezifisch an der Verarbeitung visueller Worte beteiligt ist, da sie auch durch andere visuelle Objekte oder beim Lesen von Blindenschrift aktiviert wird
• Price and Devlin (2003): Region sei generell für die Verbindung von Wahrnehmung und Sprachrepräsentationen zuständig, nicht spezifisch für das Lesen
Die Kontroverse dauert an…
Aus: Gazzaniga, Ivry & Mangun (2009)
Schematisches Modell der Strukturen und Prozesse beim Verstehen gesprochener und geschriebener Sprache
Wichtige Begriffe
Repräsentation • Die Darstellung der Außenwelt in unserem Gehirn.
• Z.B. meine Vorstellung von einem Hund.
Kategorie • Klasse, die viele Einzelfälle zusammenfasst.
• Z.B. die Kategorie "Hund".
Konzept (Begriff) • Die Repräsentation einer Kategorie; ist nicht immer mit einem einzelnen
Wort verknüpft
• Z.B. das Konzept "Der Geruch des ersten Regens auf Asphalt im heißen Sommer".
Wort • Eine Folge von Lauten, die für ein bestimmtes Konzept steht.
• Z.B. das Wort "Hund".
Das mentale Lexikon
Langzeitgedächtnis für das Wissen über Worte enthält
• Phonologische Information (Klang)
• Orthographische Information (Visuelle Wortform)
• Syntaktische Information (Wortklasse; Abfolge; Kombination zu Sätzen)
• Semantische Information (Bedeutung) (Wird von einigen Forschern als separates System angenommen!)
Standardsprache: ca. 75.000 Wörter (Gesamtwortschatz: mehrere 100.000 Wörter)
Echtzeitverarbeitung: Wir können ca. 3 Worte pro Sekunde verstehen o. produzieren
Das mentale Lexikon
Einige Funktionsmerkmale
• Mentales Lexikon ist nicht alphabetisch organisiert
• Auf häufiger benutzte Worte kann schneller zugegriffen werden
• Wörter mit mehr Nachbarn werden langsamer erkannt (MAUS, RAUS, MAUT) Kompetition
• Zugriff kann über mehrere Wege erfolgen (Klang; visuelle Wortform; Kontext)
Forschungsfragen:
• Zugriff?
• Struktur?
• Neuronale Korrelate?
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Empirische Untersuchung des mentalen Lexikons: Lexikalische Entscheidungsaufgabe
Lexikalische Entscheidung erfordert Suche im mentalen Lexikon
APFEL SIDUL TISCH RAKIL
Wort oder Nichtwort?
Klassische Untersuchung des Lexikons: Semantisches Priming (Meyer & Schvanefeldt, 1971)
Wörter, die im mentalen Lexikon assoziiert sind, sollten schneller erkannt werden, wenn sie kurz nacheinander dargeboten werden
Semantisches Priming ermöglicht Einblick in Struktur des Lexikons
Prime Target
APFEL BIRNE
APFEL ZEBRA
APFEL SIDUL
Semantisch assoziiert
Nicht assoziiert
Nichtwort-Target
Semantisches Priming Ergebnisse von Meyer & Schvaneveldt 1971
Prime bread bread bread bread Castle Castle
Target Butter Cheese Mouse Castle Gate Path
Reaction
Time (ms)
855 867 970 1030 871 950
bread
butter
cheese Mouse
Castle
Gate
Spreading Activation in Semantic Networks Collins & Loftus (1975)
Knoten = Konzepte
Kanten = Assoziationen zwischen Konzepten
Aktivierungsausbreitung = Aktivation eines Knotens breitet sich entlang der Kanten zu assoziierten Knoten aus
Priming = voraktivierte Konzepte werden schneller abgerufen
Zwei Arten der Aktivierungsausbreitung
Automatische Aktivierungsausbreitung
• nicht unter bewusster Kontrolle
• wird automatisch ausgelöst, wenn ein Konzept aktiviert wird
• schnell
Kontrollierte Aktivierung und Hemmung
• durch bewusste Erwartungen ausgelöst
• Hemmung nicht erwarteter Konzepte
• langsam
Automatische Bahnung versus kontrollierte Erwartung Neely (1977)
Faktor 1: Bewusste Erwartung Wenn der PRIME eine TIERKATEGORIE bezeichnet, dann ist das TARGET meist ein TEIL EINES HAUSES Faktor 2: Semantische Assoziation 2 x 2 Design
Erwartet Unerwartet
Assoziiert VOGEL – DACH VOGEL - TAUBE
Unassoziiert VOGEL - TÜR VOGEL - MANTEL
Zeitverlauf bahnender und hemmender Priming-Effekte für Target-Worte,
• die semantisch assoziiert vs. nicht
assoziiert mit dem Prime-Wort waren
• die aus einer erwarteten vs. unerwarteten Kategorie stammten
Automatische Bahnung und kontrollierte Erwartungseffekte (Neely, 1977)
Automatische Bahnung und kontrollierte Erwartungseffekte (Neely, 1977)
-60
-50
-40
-30
-20
-10
0
10
20
30
40
250 700
Prime-Target-Intervall (ms)
Erwartet, assoziiert
Erwartet,unassoziiert
Unerwartet,assoziiert
Unerwartet,unassoziiert
Bah
nu
ng
(ms)
H
em
mu
ng
(ms)
Kontrollierte Hemmung unerwarteter Worte
Automatische Bahnung assoziierter Worte
Ereigniskorrelierte Hirnpotentiale in der Sprachpsychologie
Aus Gazzaniga et al. (2002). W.W. Norton.
Semantische Verarbeitung: N400
Aus Gazzaniga et al. (2009). W.W. Norton.
ERPs für kongruente, semantisch anomale und visuell anomale Wörter am Ende von Sätzen • Semantisch anomale Wörter N400 • Semantisch kongruente aber visuell abweichende Wörter (große Schrift) P560 / keine N400 • N400 wird nicht allein durch Überraschung ausgelöst, sondern spezifisch durch semantische
Inkongruenz
Semantische Verarbeitung: N400
Modulation der N400 durch
a) den Kontext
b) die Stärke semantischen Relationen zwischen Worten
c) Wortwiederholung
d) Worthäufigkeit
e) Position des Wortes im Satz
f) Die Effekte sind modalitätsunabhängig
Kutas, M., and Federmeier, K.D. (2000). Trends Cogn. Sci. 4:463-470.
Aktivierung im linken inferioren frontalen Gyrus (BA45/47) bei Verletzungen der Semantik und des Weltwissens
N400 bei Verletzungen der Semantik und des Weltwissens
N400 für Verletzungen der Semantik und des Weltwissen (Hagoort et al., 2004)
Verzögerte N400 bei Aphasikern mit stark beeinträchtigtem Sprachverständnis Hinweis auf verlangsamte semantische Integration
Gazzaniga et al. (2010). © W. W. Norton
N400 bei aphasischen Patienten (Swaab, Brown & Hagoort, 1997)
Syntactic positive shift
Hagoort, P., Brown, C., & Groothusen, J. (1993). Language and Cognitive Processes 8, 439–483.
ERPs an frontalen (Fz), zentralen (Cz), und parietalen (Pz) Elektroden auf Worte in syntaktisch korrekten und syntaktisch anomalen Sätzen Syntaktische Verletzungen lösen eine P600 aus
ERPs related to semantic and syntactic processing: N400 and Left anterior negativity (LAN)
Münte et al. (1993). Journal of Cognitive Neuroscience.
Friederici et al. (1993). Cognitive Brain Research.
Wortkategorie-Verletzungen: „Die grüne isst“ Morpho-syntaktische Verletzungen: „Die Zuschauer applaudiert“
© 2010 W. W.Norton
Kategorienspezifische Defizite nach Hirnverletzungen
Neuropsychologische Studien von Elizabeth Warrington
• Pt. mit Schwierigkeiten, Worten die passenden Bilder von Lebensmitteln oder Lebewesen zuzuordnen
• Pt. Zeigten sehr viel bessere Leistung bei Werkzeugen
• Analog beim Benennen von Bildern
• Andere Pt. zeigten umgekehrtes Muster
Lebewesen
• Inferiorer Temporalkortex: Objektrepräsentation / Zielregion des ventralen „Was-Pfads“ im visuellen System
• Medialer Temporalkortex: deklaratives Gedächtnis
Werkzeuge / Artefakte
• Linker Frontalkortex u. Parietalkortex
• Benachbart zu / überlappt mit Regionen für sensomotorische Funktionen Handlungsrepräsentationen
Untersuchungen zur neuronalen Organisation des Lexikons
Studie von Hannah Damasio
Hirngeschädigte Patienten sollten
• berühmte Gesichter benennen
• Tiere benennen
• Werkzeuge benennen
Läsionen in separaten Regionen des Temporalkortex waren mit kategorienspezifischen Benennungsdefiziten korreliert
Aus Gazzaniga et al. (2002). W.W. Norton.
Studie von Hannah Damasio
Gesichter: Temporaler Pol (TP)
Tiere: Inferiorer Temporalkortex (IT)
Werkzeuge: Posteriorer inferiorer Temporalkortex & temporo-occipito-parietale Grenzregion (IT+)
Da die Patienten noch über konzeptuelles Wissen verfügten, sind diese Regionen vermutlich am Wortabruf beteiligt
Aus Gazzaniga et al. (2009). W.W. Norton.
Prozentsatz korrekt benannter Items
Konvergierende Evidenz aus funktionellen Bildgebungsstudien (PET)
Aktivierung bei hirngesunden Probanden in separaten Regionen im lateralen Temporalkortex während des Benennens von Personen, Tieren und Werkzeugen
Aus Gazzaniga et al. (2009). W.W. Norton.
Semantische Kategorien aktivieren überlappende aber unterscheidbare kortikale Regionen
1 medialer Gyrus fusiformis 2 lateraler Gyrus fusiformis 3 mittlerer und inferiorer Temporalkortex 4 superiorer temporaler Sulcus
fMRT-Aktivierung in drei Probanden beim Ansehen, Vergleichen und Benennen von Objekten aus unterschiedlichen Kategorien