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Universität Zürich, Deutsches Seminar Seminar „Norm und Variation“ Herbstsemester 2007 Prof. Dr. Christa Dürscheid lic. phil. Martin Businger Sprachwandelmodelle und ihr Erklärungspotential für sprachliche Variation Labovs soziolinguistischer Ansatz und Kellers Theorie der unsichtbaren Hand: ein Vergleich anhand zweier Beispiele aus der deutschen Syntax eingereicht am 31. März 2008 Hanna Ruch, Zürich [email protected]

Sprachwandelmodelle und ihr Erklärungspotential für ... · ein Vergleich anhand zweier Beispiele aus der deutschen Syntax eingereicht am 31. ... Sprachwandel annehmen: zum einen

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Universität Zürich, Deutsches Seminar Seminar „Norm und Variation“ Herbstsemester 2007 Prof. Dr. Christa Dürscheid lic. phil. Martin Businger

Sprachwandelmodelle und ihr Erklärungspotential für sprachliche Variation

Labovs soziolinguistischer Ansatz und Kellers Theorie der unsichtbaren Hand:

ein Vergleich anhand zweier Beispiele aus der deutschen Syntax

eingereicht am 31. März 2008

Hanna Ruch, Zürich [email protected]

1

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung.............................................................................................................. 2

2 Vorgehen............................................................................................................... 3

3 Der soziolinguistische Ansatz Labovs .................................................................. 5

3.1 Ausgangslage und Vorgehen ........................................................................ 5

3.2 Sprachwandel................................................................................................ 6

3.3 Beispiele........................................................................................................ 9

3.4 Kritik ........................................................................................................... 10

3.5 Bedeutung der Variation ............................................................................. 11

4 Kellers Theorie der unsichtbaren Hand .............................................................. 11

4.1 Ausgangslage und Vorgehen ...................................................................... 11

4.2 Sprachwandel.............................................................................................. 12

4.3 Beispiele...................................................................................................... 13

4.4 Kritik ........................................................................................................... 14

4.5 Bedeutung der Variation ............................................................................. 15

5 Grenzen und Potentiale der Sprachwandelmodelle ............................................ 16

5.1 Verbendstellung in Nebensätzen................................................................. 16

5.1.1 Soziolinguistischer Ansatz.................................................................. 18

5.1.2 Theorie der unsichtbaren Hand........................................................... 19

5.2 Verbzweitstellung in Nebensatzkonstruktionen mit weil ........................... 21

5.2.1 Soziolinguistischer Ansatz.................................................................. 23

5.2.2 Theorie der unsichtbaren Hand........................................................... 24

6 Fazit..................................................................................................................... 27

7 Bibliographie....................................................................................................... 30

2

1 Einleitung

„Ich habe dir doch gesagt gehabt, dass du aufpassen sollst!“

In dieser Aussage wird statt dem Perfekt oder dem Plusquamperfekt das doppelte

Perfekt verwendet. Dies ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie in der deutschen

Sprache etwas auf verschiedene Arten ausgedrückt werden kann. Das Phänomen der

Variation tritt sowohl in der gesprochenen wie auch in der geschriebenen Sprache

auf. Neben dem Bedürfnis, die verschiedenen Varianten und deren Gebrauch

aufzuzeigen, stellt sich auch immer wieder die Frage nach dem Wie und dem Warum.

Welche Erklärungsmodelle für sprachliche Variation gibt es, und wo liegen deren

Potentiale und Grenzen?

Wer der Frage des Wies und des Warums sprachlicher Variation nachgeht, stösst bald

auf Sprachwandeltheorien, eher denn auf Erklärungsmodelle für sprachliche

Variation. In meiner Arbeit möchte ich mich zweier Erklärungsansätze für

Sprachwandel annehmen: zum einen der Theorie der unsichtbaren Hand von Rudi

Keller, zum anderen dem Ansatz aus der Sozio- oder Varietätenlinguistik, wie ihn

William Labov vertritt. Ich möchte dabei nicht nur auf die einschlägigen

Unterschiede der beiden Erklärungsmodelle eingehen, sondern auch deren

Gemeinsamkeiten aufzeigen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Variation:

Welche Bedeutung messen ihr die Autoren bei? Finden sich in den

Sprachwandeltheorien mögliche Erklärungsansätze für Variation? Wie gehen die

beiden Autoren darauf ein?

In Kapitel 2 wird das Vorgehen erläutert und die Wahl der Ausgangstexte für diese

Arbeit begründet. Kapitel 3 stellt William Labovs Sprachwandelmodell vor, wobei

ich auf verschiedene Aspekte eingehen möchte: Aus welchem Bereich der

Sprachwissenschaft kommt der Autor? Welches ist sein Ausgangsmaterial und wie

geht er beim Formulieren seiner Theorie vor? Wie erklärt der Autor Sprachwandel

und an welchen Beispielen prüft bzw. veranschaulicht er sein Modell? Wie definiert

Labov das Phänomen der Variation, wie erklärt er es und welche Bedeutung räumt er

ihm in seinem Sprachwandelmodell ein?

Im nächsten Kapitel wende ich mich Kellers Theorie der unsichtbaren Hand zu, um

diese nach denselben Gesichtspunkten zu analysieren.

3

Im fünften Kapitel möchte ich Potentiale und Grenzen der beiden

Sprachwandelmodelle an zwei konkreten Beispielen des Deutschen aufzeigen. Dazu

dient mir ein Phänomen der historischen Syntax, die Durchsetzung der

Verbendstellung in Nebensätzen, und eines der deutschen Gegenwartssprache, die

Verbzweitstellung in Nebensätzen mit weil. Im letzten Kapitel werde ich die

Erkenntnisse vorbringen, die ich aus der Bearbeitung der Beispiele ziehen konnte,

und ausgehend davon auf die grundlegenden Probleme zurückkommen, die sich bei

der Beschäftigung mit Variation und Sprachwandel stellen.

2 Vorgehen

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, sind die Theorien und Erklärungsansätze für

sprachliche Variation eher spärlich gesät. Dies kann verschiedene Gründe haben. Oft

sind sprachliche Varianten flüchtig und daher nur schwierig zu analysieren, sofern sie

nicht Eingang in die schriftliche Sprache gefunden haben. Wenn Letzteres eintritt,

haben wird es nicht mehr bloss mit Variation, sondern möglicherweise bereits mit

Sprachwandel zu tun. Allerdings sei hier daran erinnert, dass sich bei Weitem nicht

jede sprachliche Variante im Sprachgebrauch etabliert, also Sprachwandel verursacht.

Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass jeder Wandel einer Sprache seinen

Ursprung in der synchronen Variation hat (Mattheier 1998: 826, Elsen 2001). Rein

theoretisch wäre ja auch denkbar, dass alle Sprecher einer Sprachgemeinschaft

gleichzeitig und parallel eine bestimmte Variante durch eine neue Variante ersetzen.

Dann käme es nie zu einer Koexistenz verschiedener Varianten, oder, den Gedanken

konsequent weitergesponnen, existierten gar keine Varianten, da ja ein sprachliches

Phänomen direkt durch das „nächste“ ersetzt würde. Verschiedenste variationistische

Studien aus Gegenwart und Vergangenheit sowie ein Blick in ältere und aktuelle

Texte verschiedenster Art legen uns aber nahe, diese Annahme als völlig unrealistisch

zu verwerfen. Wer also Sprachwandel erklären will, muss sich gleichzeitig dem

Phänomen der Variation annehmen. In meiner Arbeit möchte ich deshalb zwei

unterschiedliche Erklärungsmodelle für Sprachwandel analysieren und vergleichen, in

der Hoffnung, mich so dem Prozess, wie sprachliche Variation zustande kommt, und

möglichen Gründen für deren Existenz zu nähern.

4

Zahlreiche Linguisten1 haben sich darüber den Kopf zerbrochen, wie sich Sprachen

wandeln und welche die Gründe dafür sein könnten. Je nach Forschungsgebiet, aus

dem die Wissenschaftler stammen, variieren auch deren Theorien. So gibt es

pragmatische, soziolinguistische und strukturalistische Erklärungsansätze, aber auch

solche, die das Problem aus Sicht der Spracherwerbsforschung, der Evolutionstheorie

oder der Psycholinguistik beleuchten. Anstatt einen Überblick über die verschiedenen

Sprachwandelmodelle zu geben, möchte ich an dieser Stelle auf K. Mattheier

verweisen, der in einem kompakten Aufsatz verschiedene Forschungsansätze zum

Sprachwandel vorstellt und kritisch betrachtet (Mattheier 1998).

Als Grundlage für meinen Vergleich dient mir einerseits Rudi Keller (2003),

Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, erstmals publiziert 1990

und nun bereits in der dritten Auflage erschienen. Als Gegenstück habe ich den

soziolinguistischen Ansatz gewählt, den William Labov in den Siebziger Jahren unter

anderem in den zwei folgenden Aufsätzen formuliert hat: „Hyperkorrektheit der

unteren Mittelschicht als Faktor im Sprachwandel“, und „Die soziale Bedingtheit des

Sprachwandels“, beide übersetzt und publiziert in Sprache im sozialen Kontext, einer

Sammlung verschiedener Aufsätze des amerikanischen Soziolinguisten in deutscher

Übersetzung, herausgegeben von Dittmar/Rieck 1980 (vgl. Literaturverzeichnis).

Kellers Theorie der unsichtbaren Hand gilt innerhalb der Germanistik als bedeutender

Beitrag zur Sprachwandelforschung, dem nicht nur im deutschen Sprachraum grosse

Beachtung geschenkt wurde. Der Linguist hat ausgehend von zahlreichen

empirischen Studien im Bereich der Varietätenlinguistik die Bedeutung der sozialen

Faktoren für den Sprachwandel hervorgehoben.

Obwohl wir es hier mit zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Theorien zu

tun haben, bin ich der Meinung, dass deren Vergleich möglich und sinnvoll ist. Ich

möchte dies hier kurz begründen, indem ich auf verschiedene Aspekte eingehe.

William Labovs Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozio- oder

1 In dieser Arbeit wird darauf verzichtet, stets die weibliche und die männliche Form aufzuführen. Es

sei an dieser Stelle festgehalten, dass das nicht erwähnte Geschlecht jeweils mitgemeint ist, auch wenn

es nicht explizit erwähnt wird. Eine Ausnahme bilden selbstverständlich Fälle, wo konkret von Frauen

bzw. Männern (als soziale Variable) die Rede ist.

5

Varietätenlinguistik und der Dialektologie, wobei er sich vor allem auf phonetisch-

phonologische Aspekte konzentriert hat.2 Rudi Kellers Interessensgebiete sind

Sprachwandel, Zeichentheorie und Unternehmenskommunikation3. Die Autoren

kommen also aus zwar unterschiedlichen, aber dennoch verwandten

Forschungsgebieten der Sprachwissenschaft, womit meiner Ansicht nach eine

wichtige Voraussetzung für einen fruchtbaren Vergleich gegeben ist.4 Ein weiteres

Kriterium für die Auswahl der Texte war, dass sich der jüngere Text nicht auf den

älteren bezieht oder gar dessen Theorie überarbeitet und weiterführt. In diesem Fall

hätte nämlich der Autor des aktuelleren Textes selbst schon einen Vergleich

vorgenommen, wobei sich meine Mühe quasi erübrigen würde.

3 Der soziolinguistische Ansatz Labovs

3.1 Ausgangslage und Vorgehen

Der zentrale Schwachpunkt an vielen Sprachwandeltheorien besteht laut William

Labov darin, dass deren Autoren soziale Faktoren weitgehend ausser Acht gelassen

haben. Dies verhindere ein Weiterkommen in der Frage nach dem Prozess und der

Kausalität des sprachlichen Wandels, da lediglich bisherige Erkenntnisse wiederholt

werden könnten. Labov analysiert und kritisiert die Ansätze verschiedener anderer

Linguisten und versucht zu erklären, wie es Linguistik und Gesellschaft gelang,

einander solange „aus dem Weg zu gehen“ (Labov 1980: 95). Die Art und Weise, wie

ein Linguist Sprache definiert, lasse prognostizieren, wie stark er den sozialen Faktor

gewichten wird, wenn er über Sprachwandel schreibt (Labov 1980: 96). Er kritisiert,

dass Sprache von vielen Sprachwandelforschern als homogenes, separates und

2 Vgl. Labovs Publikationen auf http://www.ling.upenn.edu/~wlabov/WL.BIB.html und

http://en.wikipedia.org/wiki/William_Labov (Zugriff 7.3.2008)

3 Vgl. http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/rudi.keller/index.php?home.php&1, Lebenslauf und

Publikationen. (Zugriff 7.3.2008)

4 Eine Gegenüberstellung von zwei grundverschiedenen Ansätzen wie beispielsweise dem

evolutionsbasierten von William Croft (Croft 2000) mit dem der Generativen Grammatik wäre meines

Ermessens nicht sinnvoll.

6

isoliertes System betrachtet wurde, also gesellschaftlichen, aussersprachlichen

Faktoren keinerlei Beachtung geschenkt wurde.

Der Amerikaner ist überzeugt, dass Sprachwandelforschung mit einer soliden

Grundlage betrieben werden kann, wenn man die soziale Einbettung des

Sprachwandels akzeptiert und sich zu Nutze macht (Labov 1980: 104). Er nimmt für

seine Theorie, die eines sozial bedingten Sprachwandels, Daten zahlreicher

soziolinguistischer Studien zur Grundlage, um so zu zeigen, „wie sprachliche

Veränderungen in einen sozialen Kontext eingebettet sein können, wie sie bewertet

werden und wie Wandel zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort

ausgelöst werden kann“ (Labov 1980: 95). Es handelt sich hier primär um seine

eigenen, in den USA durchgeführten Untersuchungen; er zieht jedoch auch Studien

anderer Soziolinguisten herbei.

3.2 Sprachwandel

Wer sich mit Sprachwandel beschäftigt, sieht sich bald einmal mit dem Problem der

unzureichenden Dokumentation und Information sowohl über die Sprache, aber im

Speziellen auch über die Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt konfrontiert.

Für seinen Erklärungsansatz bedient sich Labov daher einem Modell aus der

Geologie, dem Prinzip der Gleichförmigkeit. Er postuliert, dass Sprachwandel immer

den gleichen Mustern folgt.5 Für die Sprachwandelforschung bedeutet dies, dass sie,

um allgemeingültige Aussagen zu machen, auch den gegenwärtig ablaufenden

Wandel beobachten kann. (Labov 1980: 108). Nun, wie kann der Wandel einer

Sprache, wie er sich vollzieht, beobachtet werden? Labov löst das Problem, indem er

den Sprachgebrauch verschiedener Generationen untersucht und miteinander

vergleicht.

William Labov nennt fünf mit dem Sprachwandel verknüpfte Erklärungsprobleme

(Labov 1980: 115): die Beschränkungen des Systems, die auf den Sprachwandel

einwirken, den Prozess des Übergangs von einem „Stadium“ zum anderen, das

5 „Wenn es relativ gleich bleibende, alltäglich auftretende Effekte der gesellschaftlichen Interaktion

auf Grammatik und Phonologie gibt, behauptet das Prinzip der Gleichförmigkeit, dass diese Einflüsse

heute auf die gleiche Weise wie in der Vergangenheit weiterwirken.“ (Labov 1980: 108).

7

Einbettungsproblem (die Einbettung des Wandels innerhalb des Sprachsystems und

innerhalb der Gesellschaft), das Bewertungsproblem (wie reagieren die Mitglieder

einer Sprachgemeinschaft auf den fortschreitenden Wandel, und welche Bedeutung

spielen die Reaktionen für die Durchsetzung einer Variante?) und schliesslich das

Auslösungsproblem (warum wird der Wandel zu einer bestimmten Zeit an einem

bestimmten Ort ausgelöst?) (Labov 1980: 115f) Labov betont an dieser Stelle die

Bedeutung der sozialen Faktoren. Wichtig sei hier, dass man soziale Faktoren

bestimmt, die zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt ebenso messbar sind, also nicht

die sozialen Beziehungen zwischen einzelnen Individuen, sondern den

zugeschriebenen und den erworbenen Status eines Sprechers. Dieser beantworte, so

Labov, folgende zwei fiktive, vom Hörer gestellte Fragen: „Was hältst du von mir?“

und „Wer bist du?“ (Labov 1980: 166f). Erstere hat damit zu tun, wie sich der

Sprecher in einer bestimmten gesellschaftlichen Umgebung präsentiert, die zweite,

„Wer bist du?“, spielt auf ethnische und religiöse Zugehörigkeit, Geschlecht, Kaste,

Familie sowie Schulbildung, Einkommen und eventuelle Zugehörigkeit zu einer

Subgruppe6 an.

Der soziale Status eines Individuums wird durch die subjektiven Reaktionen anderer

Mitglieder derselben Gesellschaft bestimmt. Aussenstehende (und dies sind die

Soziolinguisten und anderen Forschenden normalerweise) müssen andere, objektive

Kriterien bestimmen, an denen sie den sozialen Status eines Informanten befestigen

können. Es sind dies Beruf, Schulbildung, Einkommen und Wohngebiet (Labov

1980: 117).

Anhand verschiedener variationistischer Studien erklärt und illustriert Labov, wie

sich eine sprachliche Neuerung von Generation zu Generation und über Gruppen mit

unterschiedlichem sozialem Status hinaus ausbreiten kann (Labov 1980: 121ff). Es

kann dies beispielsweise so vor sich gehen, dass die Gruppe mit dem höchsten Status

eine Innovation einführt durch bewusste oder unbewusste Entlehnung aus einer

äusseren Quelle (Labov 1980: 121). Hier hätten wir es also mit einem „Wandel von

6 Ich habe hier Labovs Begriffe übernommen.

8

oben“7 zu tun: die unteren Schichten übernehmen die Prestigevariante von den

oberen. Der sogenannte Wandel von oben ist deutlicher in formalen

Sprechsituationen wie zum Beispiel beim Lesen von Texten oder Wörterlisten8 zu

beobachten als in einer spontanen, ungezwungenen Kommunikationssituation. Labov

kann mit verschiedenen Studien zeigen, dass die untere Mittelschicht9 in formelleren

Situationen eine hyperkorrekte Aussprache aufweist. In einer spontansprachlichen

Situation dagegen ist vielmehr Wandel von unten festzustellen, das heisst, ein

Gebrauch von normalerweise unbewusst entstandenen Neuerungen. Hier wäre also

das Prestige, das die obere Mittelschicht in der Gesellschaft geniesst, ein Antriebs-

und Steuerungsfaktor in der Ausbreitung von Varianten, letztendlich also ein

Sprachwandelfaktor.

Labov fügt einige weitere externe Faktoren an, die einen Einfluss auf den

Sprachwandel haben können: es sind dies die lokale Identität, Migration und die

Rolle der Frauen (Labov 1980: 129-134). Die lokale Identität kann zum Erhalt von

lokalen Varietäten beitragen: die Identifikation mit einer Gruppe (sei dies eine

Gruppe Jugendlicher oder eine Dorfgemeinschaft) kann dazu führen, dass man eine

Varietät bewusst beibehält, oder aber sich der neuen Gemeinschaft anpasst (Labov

1980: 137). Entscheidend ist hier also entweder die Gruppenidentität nach aussen,

oder aber das Sich-anpassen (Labov 1980: 143). Die Migration dagegen führt Labov

als mögliche Erklärung für den Ursprung neuer Varianten (Labov 1980: 130) an, oder

als Ursprung von schichtenspezifischen Dialekten in Grossstädten. Was die Rolle der

Frauen anbelangt, ist Labov überzeugt, dass das häufigere Benützen von neuen

7 Oben und unten werden hier in keiner Weise wertend gebraucht, sondern beziehen sich auf den

sozialen Status, genauso, wie sie bei Labov verwendet werden.

8 Wörterlisten sind oft Bestandteil von variationistischen Untersuchungen. Es handelt sich dabei um

eine Aufstellung von einzelnen Wörtern, die für den Forschenden von besonderem Interesse sind, weil

sie beispielsweise einen bestimmten Vokal enthalten. Die Wörter werden so ausgewählt, dass sie gut

untereinander vergleichbar sind.

9 William Labov hat folgende Einteilung in sozioökonomische Schichten vorgenommen: Obere

Mittelschicht, untere Mittelschicht, Arbeiterschicht, und normalerweise drei Altersklassen (die vier

Generationen repräsentieren sollen): 21-39, 40-59 und >60 Jahre. Allerdings variiert diese Einteilung

von Studie zu Studie: manchmal sind es vier, teilweise sogar fünf Altersklassen.

9

Varianten nicht nur in der „Sensibilität für Prestigeformen“ begründet liegt, sondern

eher eine expressive Haltung, die gesellschaftlich dem einen oder dem anderen

Geschlecht mehr angemessen ist (Labov 1980: 133f). Diese Aussage ist allerdings

sehr vage und als Erklärung nicht zufriedenstellend.

Sprachwandel wird von einer Sprachgemeinschaft oft gar nicht wahrgenommen oder

bewertet, geschieht also unbewusst (Labov 1980: 138). Als Grundlage für diese

Aussage dient Labov eine Serie von Untersuchungen zu subjektiven Reaktionen auf

Varianten. Die Informanten wurden aufgefordert, verschiedene Dialekte, die jeweils

vom gleichen Sprecher aufgenommen wurden, zu bewerten, indem sie den jeweiligen

Sprechern verschiedene Persönlichkeitsmerkmale zuordnen mussten. Obwohl es sich

um immer dieselbe Person handelte, wurden die Aufnahmen signifikant anders

bewertet. Daraus schliesst Labov, dass es prestigeträchtigere und stigmatisierte

Varianten gibt.

Wenn von Sprachwandel die Rede ist, interessiert nicht nur die Innovation, also das

Entstehen neuer Varianten. Auch das Verschwinden von Varianten ist Teil des

Sprachwandels. Meist geht nämlich die Ausbreitung neuer mit dem Verschwinden

alter Varianten einher. Labov sucht die Erklärung für das Verschwinden von

Varianten ebenfalls in den gesellschaftlichen Faktoren: Wenn eine soziale Gruppe an

Prestige verliert, dann wird ihre Art zu sprechen oder eine bestimmte Variante, die sie

benützt, stigmatisiert. Gleichzeitig unterliegen die Sprachgewohnheiten einer Gruppe

von hohem Prestige der öffentlichen Aufmerksamkeit (Labov 1980: 124), können so

also eher Vorbildcharakter erlangen, als die Varianten, die von einer weniger

prestigeträchtigen Schicht benützt werden.

3.3 Beispiele

Sämtliche Beispiele, die Labov heranzieht, sind empirische Studien und stammen

ausschliesslich aus dem Bereich der Phonologie; es handelt sich hierbei hauptsächlich

um Studien des amerikanischen Englisch. Allerdings zieht Labov für seinen Aufsatz

auch einige Untersuchungen anderer Soziolinguisten herbei, so zum Beispiel zum

Französischen. Der Autor erwähnt auch eine Untersuchung im Bereich der Lexik,

jedoch ohne weiter darauf einzugehen.

10

3.4 Kritik

Wenn man Labovs Ansatz zum Sprachwandel kritisch beleuchten möchte, muss man

vor allem bedenken, dass seine Studien bereits über 40 Jahre alt sind und sich seit

dieser Zeit sowohl die Linguistik als auch die Soziologie weiterentwickelt haben.10

An verschiedenen Stellen sehen wir uns mit Aussagen oder Annahmen konfrontiert,

die meines Erachtens zu wenig fundiert begründet und erläutert werden. Ein Beispiel

dafür liefert die bereits in Kapitel 3.2 erwähnte Rolle der Frauen.

Labov erklärt, dass die untere Mittelschicht jene Gruppe sei, die am meisten

Neuerungen hervorbringe (Labov 1980: S.126), ohne den Versuch einer Erklärung.

Wenn eine sprachliche Neuerung sich ausbreitet und „von denen bemerkt wird, die

gesellschaftliche Normen setzen“, wird diese oft stigmatisiert und erfährt dadurch

wieder einen Rückgang im Gebrauch. Hier wären meines Erachtens nicht nur die

gesellschaftlichen, sondern auch die sprachlichen Normen zu erwähnen. Eine längere

Schulbildung geht meist mit einer grösseren Vertrautheit mit den sprachlichen

Normen einher; Personen, die eine längere Ausbildung genossen haben, waren

gezwungen, mehr zu lesen, und tun dies meist auch nach Abschluss der Ausbildung

noch häufiger freiwillig. Neue Varianten finden in aller Regel erst spät Eingang in die

geschriebene Sprache.

Ein weiterer Punkt, wo der soziolinguistische Ansatz kritisiert werden kann, liegt im

Charakter der Studien, von denen Labov ausgeht. Es handelt sich hier ausschliesslich

um Untersuchungen aus dem Bereich der akustischen Phonetik und der Phonologie –

Studien also, die den Lautwandel betreffen. Labov formuliert aber auch allgemeine

Aussagen über Sprachwandel. Haben diese auch Gültigkeit im Bereich der Syntax,

der Morphologie und der Lexik? Können Varianten anderer Bereiche auf die gleiche

Weise Prestigeträger sein oder stigmatisiert werden?

10 Daher möchte ich mich auf Punkte, die den Sprachwandel und die Variation betreffen konzentrieren,

und nicht auf die Terminologie oder Grundsätzliches im Vorgehen der Soziolinguisten. Was die

Klassifizierung der sozialen Variablen angeht, möchte ich allerdings anmerken, dass dies heute im

Allgemeinen nicht mehr auf die gleiche Art und Weise vorgenommen wird: Man spricht nicht mehr

von „sozialen Schichten“, sondern zieht vermehrt das Bildungsniveau als Referenz heran.

11

3.5 Bedeutung der Variation

Sprachliche Variation ist bei Labov der mögliche Ausgangspunkt für einen Wandel in

der Sprache, schliesslich formuliert der Autor seine Ansichten über Sprachwandel

aufgrund variationistischer Studien. Labov ist aber der Meinung, dass erst die

Ausbreitung einer bestimmten Variante der Ursprung von Sprachwandel ist, womit er

die Bedeutung der relativiert.

Wie kann die Entstehung von Variation in der Sprache erklärt werden? Labov gibt

mögliche Quellen für sprachliche Innovation an, so zum Beispiel andere, meist

prestigeträchtige Dialekte, wobei die Massenmedien oft eine wichtige Rolle in der

Verbreitung dieser Varianten spielen (Labov 1980: 130f).

Sprachliche Innovation kann bei jeder beliebigen Gruppe ihren Anfang nehmen und

sich von dorther ausbreiten (Labov 1980: 118), das heisst die Entstehung neuer

sprachlicher Formen muss nicht an eine bestimmte soziale Gruppe gekoppelt sein.

4 Kellers Theorie der unsichtbaren Hand

Im Gegensatz zu William Labovs Erklärungsansatz zum Sprachwandel, der in

verschiedenen Aufsätzen und umfangreichen Bänden formuliert wird, haben wir Rudi

Kellers Sprachwandel - Theorie der unsichtbaren Hand als kompaktes Buch vor uns

liegen. Keller widmet sich darin explizit dem Thema des Sprachwandels, wie schon

der Titel des Werks andeutet.

4.1 Ausgangslage und Vorgehen

Kellers Buch gliedert sich in zwei Teile. Im Ersten widmet sich der Autor

allgemeinen Fragen und Überlegungen zum Sprachwandel, zeichnet eine mögliche

Entstehungsgeschichte der Sprache auf, um sich schliesslich verschiedenen

wissenschaftlichen Definitionen von Sprache zu widmen. Keller ist überzeugt, dass

das abendländische dichotomische Denken (Keller 2003: 63) die Sprachwissenschaft

daran gehindert hat, dem Geheimnis des Sprachwandels auf die Spur zu kommen. Die

Linguisten haben Sprache stets als ein natürliches oder ein künstliches Phänomen

betrachtet, sich also von den gängigen Dichotomien Natur vs. Kunst, Verstand vs.

Gefühl, etc. leiten lassen (Keller 2003: 63). Keller plädiert für einen dritten Bereich

12

jenseits der genannten Dichotomien: Hierhin gehören Dinge, die „Ergebnis

menschlichen Handelns“, aber „nicht Ziel menschlicher Intentionen“ (Keller 2003:

85) sind. Die Phänomene der dritten Art, wie Keller sie nennt, sind mehrheitlich

kollektive Phänomene (Keller 2003: 89) und widersprechen den Natur- und

Kunstphänomenen nicht, sondern haben mit beiden etwas gemeinsam.

4.2 Sprachwandel

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Keller dem Sprachwandel. Für sein

Sprachwandelmodell geht Keller von einem Sprachbegriff aus, wie er im obigen

Kapitel behandelt wurde: die Sprache als sogenanntes „Phänomen der dritten Art“.

Keller ist überzeugt, dass dieser Sprachbegriff „dem ewigen Wandel der Sprache

gerecht wird“ (Keller 2003: 85). Eine angemessene Definition von Sprache ist also

die Voraussetzung für ein Erklärungsmodell für Sprachwandel.

Phänomene der dritten Art entstehen „durch die Handlungen vieler, und zwar

dadurch, dass die das Phänomen erzeugenden Handlungen gewisse

Gleichförmigkeiten aufweisen, die für sich genommen irrelevant sein mögen, in ihrer

Vielfalt jedoch bestimmte Konsequenzen zeitigen“ (Keller 2003: 91). Keller

unterscheidet so zwischen einem Mikro- und einem Makrobreich: in den ersten

gehören die Handlungen der Individuen, während die Konsequenz, die aus der

Gleichförmigkeit dieser Handlungen hervorgeht, dem Makrobereich angehört. Der

Mikrobereich ist intentionaler Natur, zu ihm gehören die beabsichtigten Resultate der

vollzogenen Handlungen. Der Makrobereich hingegen ist kausaler Art: hierhin

gehören die kausalen, aber nicht intendierten Resultate der Handlungen des

Mikrobereichs (Keller 2003: 92). Illustriert am Beispiel des Trampelpfades (Keller

2003: 100) sieht dies folgendermassen aus: Die meisten Individuen möchten so

schnell als möglich von A nach B kommen. Dafür suchen und gehen sie den

kürzesten Weg, nämlich quer über den Rasen. Der Rasen pflegt da, wo er am

häufigsten betreten wird, zu verkümmern, weshalb mit der Zeit ein Trampelpfad

entsteht (kausale Konsequenz). Durch die oft wiederholte Handlung verschiedener

Individuen, von denen viele dasselbe Ziel verfolgen, ist es also zu einem ursprünglich

nicht beabsichtigen Resultat gekommen: dem Trampelpfad.

Für Keller bedeutet Sprechen Handeln, wobei verschiedene Maximen beachtet

werden (Keller 2003), je nach beabsichtigter Wirkung der Handlung. Da die Mehrheit

13

der Sprecher mit ihren Handlungen mindestens teilweise ähnliche Ziele verfolgt und

somit ähnlich handelt, kann es bei vielfacher Wiederholung dieser Handlungen

allmählich, „wie von unsichtbarer Hand geleitet“, zu einem Resultat kommen, das mit

den Intentionen der einzelnen Sprecher nichts mehr gemeinsam hat, analog zum

Beispiel des Trampelpfades. Übertragen auf den Sprachwandel heisst das Folgendes:

Die Sprache verändert sich bedingt durch die mehrfach wiederholten, ähnlichen

Handlungen der einzelnen Sprecher, aber ohne dass dies von ihnen beabsichtigt wäre.

Welches sind nun die Ziele, die beim Sprechen verfolgt werden; nach welchen

Maximen handeln die Sprachbenützer? Keller führt als wichtigste Handlungsmaxime

(Hypermaxime) die des sozialen Erfolgs auf: „Rede so, dass Du sozial erfolgreich

bist“ (Keller 2003: 142). Unter sozialem Erfolg versteht der Autor all das, „wonach

wir in unserem sozialen Zusammenleben streben“ (Keller 2003: 122), also

Zuneigung, Einfluss, Nahrungsmittel, Aufmerksamkeit, Macht und vieles mehr. Die

Hypermaxime, kann unterteilt werden in verschiedene Untermaximen (Keller 2003:

131-143). Der Autor unterscheidet dabei zwischen statischen, d.h. stabilisierend

wirkenden und dynamischen, Veränderungen erzeugenden Maximen. Eine statische

Maxime ist zum Beispiel „Rede so, dass du nicht auffällst“, oder „Rede so wie die

anderen“, im Grunde genommen handelt es sich hier also um Anpassungsmaximen

(Keller 2003: 137f.). Auf der Gegenseite stehen die dynamischen Maximen: „Rede

so, dass Du beachtet wirst“, „Rede amüsant, witzig“ etc. Keller zählt zu dieser

Kategorie auch das „altbekannte Ökonomieprinzip“ (Keller 2003: 139f.). Wenn nun

viele Individuen unter bestimmten Bedingungen nach den oben genannten Maximen

handeln, dann können sie sprachliche Variation erzeugen,11 die letztendlich, durch

den Prozess der unsichtbaren Hand, Sprachwandel verursachen kann.

4.3 Beispiele

Keller veranschaulicht seine Theorie anhand zwei Beispielen aus der Lexik: dem

Verschwinden von „englisch“ (in der Bedeutung von engelhaft) (Keller 2003: 129-

131) im 19. Jahrhundert, und den verschiedenen Bezeichnungen für Frau, die im

Laufe der deutschen Sprachgeschichte immer wieder pejorisiert und dann durch neue

11 Dies möchte ich hier so stehen lassen, ich werde in Kapitel 4.5 genauer darauf eingehen.

14

Bezeichnungen ersetzt wurden (Keller 2003: 107-109). Die geringe Zahl und Varietät

seiner Beispiele wird meines Erachtens zu Recht auch von verschiedenen Linguisten

als einer der Hauptkritikpunkte an Kellers Sprachwandeltheorie aufgeführt (Ladstätter

2004: 81).

Andere Autoren haben diesen viel kritisierten Mangel entschärft, indem sie Kellers

Ansatz auf andere Sprachwandelphänomene angewendet haben. So versucht Christa

Dürscheid, neuere Verschriftungstendenzen – die ‚BinnenGrossschreibung’ und die

‚Komposita Getrenntschreibung’ – mit der unsichtbaren bzw. der „sichtbaren Hand“

(Dürscheid 2000: 237) zu erklären: Schriftliche Phänomene haben den Vorteil, dass

sie viel leichter dingfest gemacht werden können; gleichzeitig führt die gesetzte

Norm dazu, „dass sich neue Verschriftungstendenzen nur schwer ausbreiten“

(Dürscheid 2000: 238). Mit den zwei Beispielen veranschaulicht Dürscheid, dass sich

Kellers Ansatz auch auf Phänomene der geschriebenen Sprache anwenden lässt. Ein

besonders wichtiger Aspekt scheint mir auch der Miteinbezug der Norm: Die Autorin

zeigt auf, wie Verschriftungstendenzen einerseits durch die Norm beeinflusst werden,

und erstere wiederum Einfluss auf die Kodifizierung der deutschen Rechtschreibung

nehmen, da diese dem Schreibusus gerecht werden will (Dürscheid 2000: 246).

4.4 Kritik

An dieser Stelle wird von einem exhaustiven Studium verschiedener Rezensionen zu

Kellers „Sprachwandel“ abgesehen. Stattdessen sei hier auf den wertvollen Artikel

von Francina Ladstätter hingewiesen (Ladstätter 2004: 79-83), aus dem ich einige

Punkte aufgreifen möchte, die mir im Hinblick auf die Variation besonders wichtig

erscheinen.

Im Gegensatz zu Labov unterscheidet Keller nicht zwischen Entstehung und

Verbreitung eines sprachlichen Phänomens, sondern richtet sein Augenmerk auf die

Definition von Sprache. Dies ist in meinen Augen ein schwerwiegender Mangel, nicht

nur, weil Kellers Ansatz so an Erklärungskraft für Variation verliert. Keller geht zwar

knapp auf die Probleme Innovation und Variation ein (vgl. nächstes Kapitel), ohne

jedoch explizit auf deren Rolle im Prozess des Sprachwandels Bezug zu nehmen.

Ein weiterer Kritikpunkt, der von verschiedenen Autoren formuliert wird, ist der, dass

„Sprachbenutzer wesentlich kreativer, bewusster und outputorientierter handeln, als

15

Keller annehme“ (Ladstätter 2004: 82). In denselben Bereich der Kritik gehört meiner

Meinung nach die Tatsache, dass Keller in seiner Sprachwandeltheorie den Begriff

der Norm weitgehend ausklammert. Auch Letztere beeinflusst die Individuen in ihren

Sprachhandlungen, in ihrer Wahl einer bestimmten Variante. Allerdings kann man

sich vorstellen, die statuierten und subsistenten Normen unter den „ökologischen

Bedingungen“ (vgl. dazu Kapitel 4.5) zu subsumieren. Die sprachlichen Normen

setzen Grenzen und sind aber auch Richtlinien für den Sprachgebrauch. Auf diese

Weise könnte die Norm, die ein für den Sprachwandel wichtiger Faktor darstellt, in

Kellers Modell integriert werden.

4.5 Bedeutung der Variation

Auch in Kellers Ansatz ist Innovation und Variation die Voraussetzung für

sprachlichen Wandel. Zwar formuliert er dies nicht ausdrücklich, widmet den

Phänomenen aber dennoch einige Seiten, in denen er nach Erklärungen für Innovation

und Variation sucht (Keller 2003: 140-143; 196).

In jeder Kommunikationssituation gibt es handlungsermöglichende und

handlungsbeschränkende Bedingungen („ökologische Bedingungen“), die sich

gegenüberstehen, was bedeutet, dass wir uns beim Kommunizieren arrangieren

müssen (Keller 2003: 128). Keller unterscheidet zwischen inner- und

aussersprachlichen Faktoren, die unser Handeln beeinflussen (Keller 2003: 128). Zu

den ersteren gehört „die Individualkompetenz des Sprechers samt dessen Antizipation

der Individualkompetenz des jeweiligen Kommunikationspartners“ (Keller 2003:

128). Zu den aussersprachlichen Faktoren zählt Keller soziale, materiale und

möglicherweise biologische Gegebenheiten (Keller 2003: 128).

Zu den ökologischen Bedingungen einer Kommunikationssituation gehören

Knappheiten verschiedenster Art: Knappheit an aufmerksamen Zuhörern oder Lesern,

an Zeit und Energie, an Zuwendung, an sozialem Prestige etc. All diese Knappheiten

zwingen uns zu einer Selektion und erhöhen auch die Variationsrate (Keller 2003:

141). Variation ist die Tatsache, dass es Alternativen gibt, „die im Hinblick auf einen

gegebenen Zweck und im Hinblick auf eine gegebene Umgebung unterschiedlich

geeignet sind“ (Keller 2003: 196). Je nach Zweck bzw. Aufgabe oder Umgebung

bzw. ökologischen Bedingungen wird die eine oder andere sprachliche Variante

selegiert.

16

Dies ist zwar einleuchtend, doch bleibt Keller auf einer abstrakten Ebene und

verzichtet auf veranschaulichende Beispiele.

5 Grenzen und Potentiale der Sprachwandelmodelle

Im Folgenden möchte ich die zwei vorgestellten Sprachwandelmodelle an zwei

ausgewählten Beispielen des Deutschen, der Herausbildung der Verbendstellung in

Nebensätzen und der Verbzweitstellung nach weil, anwenden. Mit dem ersten liegt

uns also ein Phänomen des Wandels bzw. der deutschen Sprachgeschichte, mit dem

zweiten ein Phänomen der gegenwartssprachlichen Variation vor, das möglicherweise

zu Sprachwandel führen kann. Entscheidend bei der Wahl der Beispiele war, dass es

sich um Phänomene der Morphologie oder der Syntax handelt – solche nämlich, die

weder von Labov noch von Keller behandelt worden sind. Das aktuelle Beispiel ist in

gewissem Sinne die Fortsetzung des ersten, was möglicherweise eine komplettere

Sichtweise erlaubt. Es handelt sich hierbei um sogenannte Gedankenexperimente, die

keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben, sondern lediglich dazu dienen

sollen, Möglichkeiten und Grenzen der Modelle aufzuzeigen. Zuerst werde ich

jeweils kurz das sprachliche Phänomen beschreiben, um es dann anschliessend durch

die Sprachwandelmodelle „durchlaufen zu lassen“.

5.1 Verbendstellung in Nebensätzen

Im heutigen Deutsch steht das finite Verb am Ende des Nebensatzes. Man nennt

diesen topologischen Grundtyp Satzrahmen oder Satzklammer, gleich wie bei der

Endstellung des infiniten Verbs im Hauptsatz (Ebert 1986: 105). Stehen andere

Satzglieder vor dem finiten Verb, spricht man von Ausklammerung oder

unvollständigem Rahmen (Ebert 1986: 105). Dass die Verbendstellung in Gliedsätzen

nicht immer die Norm war, sondern sich erst im Laufe der Zeit herausgebildet hat,

zeigt ein kurzer Blick zurück in die Geschichte der deutschen Sprache.

Vereinzelt tritt die Verbendstellung in Glied- oder Nebensätzen schon im

Mittelhochdeutschen auf, allerdings vorwiegend in kurzen Sätzen (swaz si weinens

getuot). Bei zusammengesetzten Verbformen nimmt die infinite Form, beispielsweise

das Partizip Perfekt, die Position am Satzende ein (als er het’ getrunken).

17

Grundsätzlich ist in eingeleiteten Nebensätzen auch die Verbzweitstellung, in

uneingeleiteten die Spitzenstellung des finiten Verbs möglich (Schmidt 2004: 293).

Im Mittelhochdeutschen gab es also, was die Stellung des finiten Verbs angeht,

verschiedene Varianten, und eine Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz

war aufgrund dieses Kriteriums nicht möglich.

Im Frühneuhochdeutschen kann das finite Verb weiterhin am Ende des Gliedsatzes

oder vor der infiniten Form stehen, wobei diese und das finite Verb auch durch ein

oder mehrere Satzglieder getrennt werden können (so bald er wahr nahch hause

kommen). Verschiedene Belege zeigen, dass im Frühneuhochdeutschen auch

Satzglieder hinter das finite Verb gestellt werden konnten (wenn man hat auff sie

drungen mit weltlicher gewalt). Die Verbendstellung nimmt ab dem 14. Jahrhundert

zu, und ist ungefähr im 17. Jahrhundert generalisiert (Schmidt 2004: 374), d.h. zum

„grammatikalisierten Nebensatz-Kennzeichen“ (Polenz 2000: 190) geworden.

Parallel wurde ein „System von Subjunktionen für die Nebensatz-Einleitung“

ausgebildet und die Verbzweitstellung im Hauptsatz gefestigt (Polenz 2000: 190).

Aufgrund schriftlicher Zeugnisse geht man davon aus, dass sich die Verbendstellung

im Nebensatz von Osten her ausgebreitet hat. Die These, dass die Verbendstellung

durch die lateinische Syntax beeinflusst wurde, konnte durch das Studium lateinischer

Grammatiken aus dem Mittelalter und der Humanistenzeit widerlegt werden (Polenz

2000: 191). Interessanterweise weisen Texte aus akademischen oder amtlichen, also

schreibroutinierten Kreisen häufiger Verbendstellung auf als „sprechsprachliche

Texte“ (Polenz 2000: 190).

Die Verbendstellung hat sich also im Deutschen bis auf wenige Ausnahmen der

spontanen Umgangssprache (Polenz 2000: 191f) durchgesetzt, und dies, obwohl die

Satzklammerkonstruktion das Kurzgedächtnis stärker beansprucht, insbesondere

wenn der Satz mit immer mehr zusätzlichen Satzgliedern aufgefüllt wird: Schliesslich

muss das am Anfang Gesagte vom Sprecher und vom Hörer bis am Ende des Satzes

präsent gehalten werden (Polenz 2000: 191; Braun 1993: 125). Eine derartige

Konstruktion war für die Schriftsprache geeigneter, denn hier verfügt man über die

nötige Zeit und Überblick.

18

5.1.1 Soziolinguistischer Ansatz

Für den Erklärungsversuch des Beispiels nach Labov können wir uns der Ergebnisse

einer wertvollen Studie bedienen, die Robert Peter Ebert in den Achtziger Jahren

durchgeführt hat. Ebert hat ca. 12500 rahmenfähige Nebensätze in verschiedenen

Nürnberger Quellen aus dem 14.-16. Jahrhundert untersucht und mit quantitativen

Methoden ausgewertet. Er hat dabei sowohl die Stilgattung, d.h. die Textsorte, als

auch die soziale Gruppe, der der Autor der Quelle angehört, berücksichtigt. Die

Nebensätze stammen von 41 verschiedenen Individuen.12 Für die Modellierung der

sozialen Schichtung wurden Bildung und Beruf berücksichtigt. (Ebert 1986: 107f).

Die Auswertung der Daten ergab, dass private Textsorten wie Erzählungen,

Tagebücher und Chroniken den vollständigen Rahmensatz weniger häufig aufweisen

als private Briefe oder Geschäftsbriefe. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch, wenn

man den Autor des Textes zum Kriterium nahm:

Die Gruppe der Männer, welche die Universität besuchten und bedeutende städtische

Ämter innehatten, gebraucht die Verbendstellung häufiger als alle anderen Gruppen. An

zweiter Stelle in der Hierarchie sind Männer, die nach dem Besuch der Lateinschule oder

der Schule eines Schreib- und Rechenmeisters nicht auf eine Universität gingen. (…) Sie

gebrauchten die Verbendstellung wesentlich häufiger als die Studenten und die

Handwerker. (…) Die unterste Stelle in der Hierarchie nehmen die weltlichen Frauen

ein. (Ebert 1986: 108).

Ebert hat diese Quellen mit amtlichen Schriften aus der Stadtkanzlei verglichen. Hier

wird die Verbendstellung wesentlich häufiger verwendet. Der Autor der Studie erklärt

sich die Verteilung damit, dass die in der Hierarchie höher stehenden Gruppen

häufigeren Umgang mit der Amtssprache hatten (Ebert 1986: 108).

Ungeklärt bleibt die Frage nach den normativen Einflüssen von Seiten der

Grammatiker. Diese scheinen erst später eine Rolle gespielt zu haben: Ende des 17.

Jahrhunderts werden in einer Grammatik erstmals Konjunktionen aufgeführt, die die

Endstellung des finiten Verbs verlangen. Erst Steinbach empfiehlt 1724 die absolute

Endstellung: „Die Schulgrammatik hat also zur Norm erhoben, was längst als nahezu

12 Vgl. hierzu Ebert 1986: 105-112.

19

absolute schreibsprachliche Regel gegolten hat“ (Ebert 1986: 111). Was tatsächlich in

den Schulen gelehrt wurde, bleibt, genau wie die Sprechereinstellungen, im Dunkeln.

Labov hat in seinen Studien auch die Bewertung der sprachlichen Varianten von

Seiten der Sprecher untersucht. Darüber liegen für dieses konkrete Beispiel aber keine

Angaben vor, es ist aber anzunehmen, dass der Usus in der Amtsprache als

Prestigemodell imitiert wurde (Ebert 1986: 109). Dafür spricht auch, dass in Texten

mit höherem „Öffentlichkeitsgrad“ die hier interessierende Variante öfters auftritt als

in Texten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Wir haben hier also Daten vorliegen, die durchaus für den Einfluss sozialer Faktoren

in der Verbreitung dieser Variante sprechen und Labovs Sprachwandelmodell

bestätigen. Allerdings kann das vorgestellte Beispiel nicht Eins-zu-Eins mit Labovs

Studien verglichen werden. Bei Ersterem handelt es sich nämlich um schriftliche

Zeugnisse, bei Letzterem wurde die gesprochene Sprache untersucht. Auch sind die

Zeitdimensionen nicht vergleichbar. Bei Eberts Studie sind dies drei Jahrhunderte, bei

Labov handelt es sich um drei Generationen. Ein sehr wichtiger Faktor ist auch das

Prestige und die „Bewusstheit“ der Variante, die nicht gemessen, sondern nur

vermutet werden können. Hier stellt sich die Frage, ob ein Phänomen der

syntaktischen Ebene gleichermassen geeignet ist, Prestigeträger zu werden, wie eines

der lautlichen Ebene. Darüber wage ich hier aber keine Aussage zu machen, sondern

möchte die Frage im Raum stehen lassen. Ebert zieht für seinen Erklärungsversuch

auch die Norm heran, während Labov diesen Faktor übergeht. Allerdings muss auch

hier wieder festgehalten werden, dass wir es mit zwei verschiedenen Bereichen der

Sprache zu tun haben: In der geschriebenen Sprache ist die Norm weitaus

„mächtiger“ als in der Sprechsprache.

5.1.2 Theorie der unsichtbaren Hand

Kann die Entwicklung der Verbendstellung in Nebensätzen anhand Kellers

Sprachwandelmodell erklärt werden? Dazu müssen man schrittweise drei Fragen

beantworten, wie dies Kellers Ansatz vorsieht:

1. Welches sind die Handlungsmotive der Individuen?

2. Welcher Prozess lässt aus den Handlungen die neue Struktur entstehen?

3. Wie kann man die neu entstandene Struktur beschreiben?

20

Genauso wenig wie wir über die Bewertungen der Sprecher Bescheid wissen, kennen

wir deren Handlungsmotive, die sie dazu verleitet haben mögen, das finite Verb ans

Ende der Nebensätze zu stellen. Die erste Frage kann also, wenn überhaupt, nur

hypothetisch beantwortet werden. Die Hypermaxime, nach der die Individuen beim

Sprechen handeln, heisst „Rede so, dass Du sozial erfolgreich bist“. Welche Motive

sprechen für diese Nebensatzkonstruktion, wenn diese doch das Kurzzeitgedächtnis

stärker beansprucht und so dem Ökonomieprinzip widerspricht? Die Unterscheidung

zwischen Haupt- und Nebensatz (Ebert 1986: 111) dürfte für die erfolgreiche

Sprechhandlung kaum relevant sein; hier handelt es sich vielmehr um einen

funktionellen, systeminternen Erklärungsversuch. Möglicherweise wählen die

Sprecher bzw. die Schreiber13 die prestigeträchtige Variante, um nicht (als

ungebildet) aufzufallen, oder aber um als gut gebildet zu gelten. Man kann sich

vorstellen, dass dies einem Individuum bei seinem Gegenüber Respekt und Gehör,

möglicherweise auch Ansehen und Einfluss, verschafft.

Wenn die Mehrheit der Sprecher des Frühneuhochdeutschen nach dem Prinzip, nicht

(als ungebildet) aufzufallen, handelt, setzt sich die prestigeträchtige Variante immer

mehr durch. Sie wird den Sprechern vertraut; die anderen Varianten werden immer

seltener gebraucht und fallen darum immer mehr (negativ) auf, was schliesslich

wiederum dazu führt, dass sie praktisch vollends gemieden werden. Auf diese Weise

hat sich die Struktur der Nebensätze vereinheitlicht, ohne dass dies von den einzelnen

Individuen beabsichtigt gewesen wäre.

Wie in diesem Kapitel offensichtlich wurde, sieht man sich mit vielen

Unsicherheitsfaktoren konfrontiert, wenn man die Vereinheitlichung der

Verbendstellung in Nebensätzen mit der Invisible-Hand-Theorie zu erklären versucht.

Eine überzeugende Erklärung scheitert meines Erachtens nicht nur an den

mangelnden Informationen über die Intentionen der Individuen, sondern auch an der

Beschaffenheit des gewählten Materials. Die Intentionen der Sprecher sind bei einem

lexikalischen Phänomen viel eher zu „erraten“ als bei einem Phänomen aus dem

Bereich der Syntax, der Morphologie oder der Phonologie.

13 Die Quellen, die hier zur Verfügung stehen, sind ja nur schriftlich.

21

Die Erklärung mit Hilfe der Anpassungsstrategie ist zwar plausibel, überzeugt aber

dennoch nicht vollends. Damit sich die Individuen anpassen können, muss die

entsprechende Variante schon von einer bestimmen Gruppe verwendet werden. Hier

wären wir wieder bei der Erklärungsnot für neue Varianten angelangt.

5.2 Verbzweitstellung in Nebensatzkonstruktionen mit weil

Wie im vorangehenden Kapitel beschrieben wurde, hat sich die Verbendstellung im

Nebensatz gegen Ende des 17. Jahrhunderts generell durchgesetzt. Allerdings blieb

die Verbzweitstellung bis heute eine Variante, zumindest in spontaner

Umgangssprache (Polenz 2000: 191). Hinter bestimmten Konjunktionen wurde in der

gesprochenen Gegenwartssprache sogar eine Zunahme solcher Konstruktionen

beobachtet. Die Verbzweitstellung tritt vor allem hinter den Subjunktoren weil,

während, obwohl und wobei auf (Gaumann 1983; Günthner 2000). Für das zweite

Gedankenexperiment werde ich mich auf die Nebensätze mit weil konzentrieren: Wie

können uns heute nicht sehen, weil – ich habe keine Zeit. Zunächst nahm man an, dass

es sich dabei vor allem um eine lokale, d.h. süddeutsche und österreichische, auf die

Umgangssprache beschränkte Variante handelte. Dann wurde aber festgestellt, dass

das Phänomen auch in anderen Regionen, ja sogar in der geschriebenen Sprache,

auftaucht (Wegener 1993: 289f). Die Grammatiken haben diese Variante lange

ignoriert (Duden 4. Auflage, 1984), um sie dann schliesslich negativ zu bewerten

(Duden-Sprachtipps, 1989) (Haller-Wolf 1999: 90f). In der 6. Ausgabe des

Wörterbuchs der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2007: 996) heisst es:

In der gesprochenen Sprache kommt weil jedoch auch in Sätzen mit dem finiten Verb

nach dem ersten Satzglied wie im Aussagehauptsatz vor. Weil nimmt hierbei die Position

der nebenordnenden Konjunktion denn ein. Bei weil jedoch gilt dieser Gebrauch in der

geschriebenen Standardsprache als „nicht korrekt“. Die Konjunktion weil wird also in

der geschriebenen Sprache als unterordnende Konjunktion verwendet, in der

gesprochenen als unterordnende und nebenordnende. Nach dem nebenordnenden weil

wird eine deutliche Pause gemacht.

Heide Wegener (Wegener 1993: 292-297) untersucht die Konstruktionen nach

syntaktisch-semantischen Gesichtspunkten und kommt zu interessanten Resultaten.

Ich möchte hier illustrierend auf zwei der untersuchten Aspekte eingehen:

Ich konnte gestern nicht kommen, weil ich keine Zeit hatte.

22

Verschiebeprobe: der Nebensatz a. mit Verbendstellung ist beliebig positionierbar:

a. Weil ich keine Zeit hatte, konnte ich gestern nicht kommen.

b. *Weil ich hatte keine Zeit, konnte ich gestern nicht kommen. Dies ist ein starkes

Indiz dafür, dass es sich bei der Verbzweitstellung (b.) um eine parataktische

Konstruktion handelt (Wegener 1993: 292). Des Weiteren spricht auch die Intonation

für diese Tatsache: der Teilsatz mit Verbzweitstellung stellt eine eigene

intonatorische Einheit dar, wobei nach der Konjunktion eine Pause eingelegt wird

(Wegener 1993: 294). Dies ist auch der Grund dafür, weshalb das Phänomen

praktisch ausschliesslich in der gesprochenen Sprache auftaucht. Nur diese verfügt

über die Mittel (Pause und Intonation), die Konstruktion zum Hauptsatz

„aufzuwerten“ und so zu markieren, dass es sich nicht um einen „falsch

konstruierten“ kausalen Nebensatz handelt (Wegener 1993: 299).

Frage: In a. wird gefragt, ob sein Versprechen der Grund für sein Kommen ist, in b.

wird die Frage begründet.

a. Kommt er, weil ers versprochen hat?

b. Kommt er? Weil – er hats versprochen.

Der Duden der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2007: 996) geht auch auf den

Bedeutungsunterschied der Konjunktion in den beiden verschiedenen Verwendungen

ein. Besonders deutlich wird der semantische Unterschied der beiden Konstruktionen

im folgenden Beispiel:

a. Er ist nicht nach Hause gegangen, weil er Kopfweh hatte.

b. Er ist nicht nach Hause gegangen, weil – er hatte Kopfweh.

In Aussage a. ist nicht klar, ob der Haupt- oder der Nebensatz verneint wird.

Möglicherweise war sein Kopfweh der Grund dafür, dass er nicht nach Hause

gegangen ist (Verneinung des Hauptsatzes). Oder er ist nach Hause gegangen, aber

nicht, weil er Kopfweh hatte (Verneinung des Nebensatzes). In b.dagegen wird

eindeutig der Hauptsatz verneint.

Rudi Keller (Keller 1993) hat sich ebenfalls mit weil und der Wortstellung im

Nebensatz befasst. Er nennt die Konjunktion im Beispiel a. das „faktische weil“, um

sie vom „epistemischen weil“ des Satzes b. zu unterscheiden (Keller 1993: 231). Er

23

beschreibt den Bedeutungsunterschied zwischen den beiden weil so: „Das faktische

weil gibt den Grund an für einen Zustand der Welt, das epistemische weil begründet

einen epistemischen Zustand.“ (Keller 1993: 231) Somit wird in Aussage b.

argumentiert, in Aussage a. dagegen ein Sachverhalt genannt (Keller 1993: 231).

Keller (1993: 219) ist überzeugt, dass nicht bloss das Streben nach mehr Ökonomie,

sondern „durchaus respektable Sprecherstrategien“ dahinterstecken. Er vertritt die

Position, dass die Konjunktion weil im Begriff ist, einen Bedeutungswandel zu

vollziehen, verbunden mit einem syntaktischen Wandel: weil entwickle sich von einer

subordinierenden zu einer parataktischen Konjunktion (Keller 1993: 220f). Keller

und Wegener sind sich darin einig, dass es sich bei dieser Entwicklung nicht um

Sprachverfall, sondern um eine „Bereicherung unserer kommunikativen

Möglichkeiten“ handelt14 (Keller 1993: 221; Wegener 1993: 299). Gleichzeitig

behauptet Keller, dem epistemischem weil werde der Vorzug gegeben, „auch da, wo

das faktische weil durchaus sinnvoll und möglich wäre“ (Keller 1993: 243), dies

allerdings, ohne sich auf konkrete Daten stützen zu können.

5.2.1 Soziolinguistischer Ansatz

Beim vorliegenden Beispiel handelt es sich (noch) nicht um Sprachwandel, sondern

um sprachliche Variation. Um eine Aussage darüber zu machen, wie weit das

Phänomen bereits verbreitet ist, müssten Daten erhoben und interpretiert werden, was

den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen würde. Wie im einleitenden Teil dieses

Kapitels angetönt, liegen uns keinerlei Daten vor, die darauf schliessen lassen, dass

die Verwendung des epistemischen weil von sozialen Faktoren wie soziale Schicht

oder Bildungsstand bedingt ist. Allerdings konnte eine Studie in den 80er Jahren noch

eine gewisse regionale und dialektale Abhängigkeit nachweisen (Gaumann 1983 in

Keller 1993: 222). Mit dieser Ausgangslage gestaltet es sich natürlich schwierig, das

14 Gleichzeitig wagt Keller die Prognose (vgl. 5.2.2 bzw. Keller 1993: 222), dass sich die

Verbzweitstellung in von weil eingeleitete Nebensätzen durchsetzen könnte: Dies widerspricht in

meinen Augen der vorherigen Aussage, dass die Konstruktion „eine Bereicherung unseres

intellektuellen Wortschatzes“ (Keller 1993: 245) darstellt. Denn in dem Moment, wo sich die neue

Variante durchsetzt, geht die alte verloren und somit auch die Möglichkeiten des faktischen weil. Die

„Bereicherung“ existiert also nur so lange wie die Variantenvielfalt.

24

Phänomen mit dem soziolinguistischen Ansatz zu erklären. Wir müssen uns hier also

darauf beschränken, gedanklich zu experimentieren, ob die Ausbreitung der

Verbzweitstellung in Nebensätzen mit weil sozial bedingt sein könnte. Kann diese

Variante Prestigeträger sein? Welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?

Die Tatsache, dass es sich um eine Variante handelt, die noch als standardsprachlich

nicht korrekt gilt, scheint dies nicht gerade zu begünstigen. Es ist vorstellbar, dass

Individuen, die eine längere Bildung genossen haben und somit mit der geschriebenen

Sprache und der gültigen Norm besser vertraut sind, die Verbendstellung häufiger

verwenden. Dies ist für die Nebensätze mit Verbzweitstellung keine günstige

Voraussetzung, Prestigeträger zu werden. Umgekehrt ist es durchaus denkbar, dass

sich die Konstruktion, wenn sie einmal auch von Sprechern verwendet wird, die

soziales Prestige geniessen, schneller ausbreiten kann.

William Labov führt einige mögliche Quellen für sprachliche Variation an, so zum

Beispiel die Übernahme aus einer anderen Varietät. Dies ist hier vorstellbar: Es wäre

möglich, dass die Konstruktion zuerst im süddeutschen Raum vermehrt verwendet

wurde. Damit ist die Frage nach der Ursache für Variation allerdings noch nicht

beantwortet. Hier muss auch daran erinnert werden, dass im oberen Beispiel genau

umgekehrt argumentiert wurde: Da genoss möglicherweise die Verbendstellung

Prestige und konnte sich deshalb weiter ausbreiten. An diesem Beispiel wird deutlich,

dass Labovs Ansatz kaum anwendbar ist, wenn die notwendigen soziolinguistischen

Daten nicht vorhanden sind.

5.2.2 Theorie der unsichtbaren Hand

Um Rudi Kellers Erklärungsmodell anzuwenden, muss an dieser Stelle wiederum

nach den Handlungsmotiven der Sprecher gefragt werden: Aus welchen Gründen

verwendet ein Sprecher des Deutschen die Verbzweit- statt die Verbendstellung?

Zunächst einmal sind systeminterne Gründe denkbar, genau genommen das

Ökonomieprinzip (Keller 1003: 243). Die Verbzweitstellung entspricht der

Konstruktion im Hauptsatz und belastet das Kurzzeitgedächtnis weniger, da

Personalpronomen und finites Verb direkt aufeinander folgen. Eine einheitliche

„Bauweise“ von Haupt- und Nebensätzen würde also das System vereinfachen.

25

Allerdings entspricht ein solches Argument nicht dem Keller’schen Ansatz, da ja die

Individuen beim Sprechen das System nicht bewusst verändern oder vereinfachen.

Ein anderer, plausiblerer Grund scheint mir in den Grundzügen der gesprochenen

Sprache zu suchen sein. Hier werden die Sätze, im Unterschied zur geschriebenen

Sprache, online generiert (Auer 2000); der Faktor Zeit spielt also eine andere Rolle

als im geschriebenen Medium. Wichtige Informationen werden noch „nachgeliefert“,

auch wenn der Satz schon lange begonnen worden ist. Diese „Planungsprobleme“

sind in der Schriftlichkeit gelöst (Auer 2000: 45f), im elektronischen Zeitalter, wo

alles lösch- und verschiebbar ist, ganz besonders. Ein wichtiges Indiz dafür scheint

mir die Pause, die nach der Konjunktion gelassen wird: weil ist bereits ausgesprochen

worden, aber möglicherweise fehlt es noch an der Begründung oder Rechtfertigung

für den bereits ausgesprochenen Hauptsatz. Nach diesem Unterbruch klingt die

normgerechte Nebensatzkonstruktion unpassend, wenn nicht sogar normverletzend,

da sie praktisch isoliert dasteht: „Ich liebe diesen Song, weil – er erinnert mich an

letzten Sommer.“ Des Weiteren erhält der Nebensatz mit Hauptsatzstellung auch

inhaltlich mehr Gewicht, was unter anderem auch an der Intonation erkennbar ist:

„Das epistemische weil ist Teil unseres gegenwärtigen Imponierrepertoires.“ (Keller

1993: 244). Deutlich sichtbar wird dies auch an diesem Beispiel: „Ich kann diese

Woche nicht putzen, weil – ich habe am Samstag eine wichtige Prüfung.“

Als weiteren möglichen Grund nennt Keller (1993: 245) die Beziehung zwischen der

Aussage im Hauptsatz und der Begründung. „Eine gute Begründung einer Erkenntnis

muss nicht immer in der Angabe eines faktischen Grundes für das Erkannte

bestehen.“ So kann eine Prüfung für mich persönlich Grund genug sein, nicht zu

putzen – ohne dass es eine allgemeingültige Aussage ist, dass man nicht putzen kann,

wenn eine Prüfung bevorsteht. Der Sprecher formuliert also so die persönliche,

subjektive Begründung oder Rechtfertigung seiner Aussage und ist somit „auf der

sicheren Seite“ (Keller 1993: 245).

Versuchen wir nun, aus diesen Erklärungsversuchen das plausibelste Handlungsmotiv

der Sprecher herauszukristallisieren. Dies erweist sich als nicht ganz triviale Aufgabe:

Es bieten sich nämlich verschiedene Handlungsmotive für die Sprecher an: 1. Zeit zu

gewinnen, 2. einer Begründung für eine Aussage oder Behauptung mehr Gewicht zu

verleihen bzw. diese zur Aussage „aufzuwerten“ oder 3. eine Aussage oder

26

Behauptung zu rechtfertigen. Können verschiedene Handlungsmotive dieselbe

Struktur entstehen lassen? Darauf geht Keller in seinem Erklärungsmodell nicht ein,

aber meines Erachtens ist dies nicht unmöglich, wie unser Beispiel zeigen wird. Die

Individuen handeln demnach nach verschiedenen Maximen, die jedoch alle unter der

Hypermaxime „sozial erfolgreich sein“ stehen. In jedem Fall zwingen die

„ökologischen Bedingungen“ den Sprecher dazu, nach einer bestimmten Maxime zu

handeln. Die folgende Aufstellung gibt einen Überblick über mögliche ökologische

Bedingungen und Handlungsintentionen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu

erheben.

Ökologische Bedingungen Handlungsintentionen

1. Gesprochene Sprache: Zeitknappheit Zeit gewinnen

2. Mangel an Aufmerksamkeit;

an Zuhörern etc.

Eigene Interessen vertreten; verstanden

werde etc.

3. Skeptische Zuhörer;

lügen ist gesellschaftlich nicht akzeptiert

Glaubwürdig sein; Aussage rechtfertigen

Alle drei aufgeführten Handlungsintentionen können einen Grund darstellen, in

Nebensätzen mit weil das finite Verb an zweiter Stelle anstatt am Ende des Satzes zu

positionieren. Wenn nun viele Individuen unter denselben ökologischen Bedingungen

kommunizieren und ihre Handlungsintentionen relevante Ähnlichkeiten aufweisen

(Keller 2003: 126), entsteht ein Invisible-Hand-Prozess: Die Verbzweitstellung in mit

weil eingeleiteten Nebensätzen wird immer häufiger verwendet, bis sie allmählich

nicht mehr als Norm verletzend wahrgenommen wird, und sich schliesslich vollends

durchsetzen kann: Möglicherweise hält die Verbzweitstellung sogar Einzug in die

schriftliche Sprache (Keller 1993: 222) und breitet sich dann aus Analogie sogar auf

andere Nebensätze aus… Dies zu prognostizieren ist allerdings weder die Intention

von Kellers Erklärungsmodell15 noch Gegenstand dieser Arbeit. Meines Erachtens

konnte mit dem zweiten Beispiel aber gezeigt werden, dass der Ansatz der

unsichtbaren Hand auch für Variation ausserhalb der Lexik wie hier der Syntax

angewendet werden kann.

15 Keller beschränkt sich darauf, zu erklären, wie es zu einem Phänomen gekommen ist, und nicht,

Prognosen zu erstellen (Keller 2003: 104).

27

6 Fazit

In den obigen Beispielen der deutschen Sprache hat sich jeweils ein

Sprachwandelmodell zumindest auf hypothetischer Ebene bewährt. Es konnte so

gezeigt werden, dass die behandelten Erklärungsansätze auch Potential ausserhalb der

von ihren Verfassern erprobten Ebene der Sprache haben. So hat sich Labovs

soziolinguistische Theorie an einem Beispiel aus der historischen Syntax, Kellers

Theorie der unsichtbaren Hand an einem syntaktischen Phänomen der deutschen

Gegenwartssprachen bewährt. Welche Schlüsse lassen sich daraus für die

Möglichkeiten und Grenzen der beiden Erklärungsansätze ziehen?

Obwohl es sich um zwei Phänomene der Syntax handelt, von denen das zweite quasi

die Fortsetzung des ersten darstellt, unterscheiden sie sich doch in wesentlichen

Punkten voneinander. Dies ist für die Beurteilung der Sprachwandeltheorien nicht

unbedeutend. Ich möchte hier kurz auf die wichtigsten Unterschiede eingehen.

Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine Variante der geschriebenen Sprache, die

Eingang in die gesprochene Sprache gefunden hat (um vollzogenen Sprachwandel

also), beim zweiten um eine Variante, die sich bis heute noch vorwiegend auf die

gesprochene Umgangssprache beschränkt. Die Durchsetzung der Satzklammer kann

dem Bereich der Syntax zugeordnet werden, die Verbzweitstellung hingegen hat auch

Auswirkungen auf die Semantik eines Satzes, wie in 5.2 beschrieben. Rudi Keller

spricht in seinem Artikel über das „epistemische weil“ sogar von lexikalischem

Wandel (Keller 1993). Nicht nur die Art der Beispiele, sondern auch die zur

Verfügung stehenden Daten tragen wesentlich zum Gelingen oder Scheitern des

Gedankenexperiments bei. So standen für das Beispiel der historischen Syntax Daten

einer soziolinguistischen Studie zur Verfügung, ähnlich denen, die Labov in seinen

variationistischen Umfragen erhoben hat. Es leuchtet ein, dass sich ein Modell, das

aufgrund soziolinguistischer Daten erarbeitet wurde leichter auf dieses Beispiel

anwenden lässt als eines, das von den Intentionen einzelner Sprecher ausgeht.

Analoges gilt für das gegenwartssprachliche Beispiel. Dazu existiert kein

soziolinguistisches Material, was das Gedankenexperiment mit Labovs Modell noch

mehr erschwert. Gleichzeitig habe ich mich für das Formulieren der

Handlungsintentionen nach Keller unter anderem auf einen Artikel desselben Autors

gestützt, der nur wenige Jahre nach der Publikation seiner Sprachwandeltheorie

28

erschienen ist (vgl. Bibliographie). Es ist vorstellbar, dass der Linguist beim

Verfassen dieses Artikels ähnliche Denkmuster wie für sein Sprachwandelmodell

angewendet hat, was durchaus zum Gelingen des zweiten Gedankenexperiments

beigetragen haben kann. Das Ausgangsmaterial trägt also wesentlich zum

Erklärungserfolg oder -misserfolg von Sprachwandel bei, wie dies auch Hilke Elsen

(Elsen 2001: 20) festhält: „Inwiefern ist also die Theorie datenabhängig,

datenmanipuliert?“ Das Scheitern und das Gelingen der Gedankenexperimente ist

also mit Vorsicht zu interpretieren. Die Verschiedenheit der Beispiele führt uns aber

auch die Verschiedenheit der Sprachwandelmodelle besser vor Augen.

Dass ein Phänomen quasi die Fortsetzung des anderen ist, birgt ebenfalls Vor- und

Nachteile. Meines Erachtens sind diese zwei Phänomene ein Beweis dafür, dass

systeminterne Argumente nicht genügen, um Sprachwandel zu erklären. Diese

widersprechen sich nämlich. Wenn im Mittelhochdeutschen die Unterscheidung von

Haupt- und Nebensatz Grund für die Verbendstellung war, weshalb sollte diese dann

im gegenwärtigen Deutsch wieder aufgehoben werden? Dies ist meines Erachtens ein

klares Indiz dafür, dass auch aussersprachliche Faktoren miteinbezogen werden

müssen. Andere hingegen sehen darin den Beweis für die „sich in Spiralen

vollziehenden Prozesse des Sprachwandels (...), und damit für die ewige Wiederkehr

des Gleichen“ (Wegener 1993: 304).

Was das Ausgangsthema dieser Arbeit, die Frage nach der Variation, anbelangt,

haben die Beispiele gezeigt, dass sich nicht beide Theorien in gleichem Masse für die

Erklärung dieses sprachlichen Phänomens eignen. Kellers Ansatz liefert einige

Ansatzpunkte für die Entstehung von Variation, Labov konzentriert sich eher auf die

Ausbreitung einer Variante. Das liegt aber auch in der Natur der Modelle: Labov geht

von konkreten Beispielen der Verbreitung einer Variante aus, Keller formuliert eher

allgemeingültige Aussagen.

Die Tatsache, dass weitaus mehr zum Thema das Sprachwandels als zur Variation

geschrieben worden ist, ist meines Erachtens ein Hinweis darauf, dass die

Ausbreitung einer bestimmten Variante weitaus einfacher zu erklären ist als die

Entstehung einer Variante. Ich schliesse mich hier Mattheier an, der vorschlägt, das

Problem der Variation aus Wandeltheorien auszugliedern. Letztere würden sich dann

auf die Selektion und die Neuerungsausbreitung bzw. Generalisierung beschränken

29

(Mattheier 1998: 827). Weiterführende Studien könnten sich aktueller Beispiele von

Variation in der deutschen Gegenwartssprache annehmen. Einerseits könnte mit

aktuellen soziolinguistischen Daten von syntaktischen, morphologischen oder

lexikalischen Phänomenen Labovs Ansatz „überprüft“ und eventuell weiterentwickelt

werden (seine eigenen Studien stammen hauptsächlich aus den Sechziger Jahren).

Andererseits verlangt Kellers Modell meines Erachtens nach weiteren Beispielen

besonders der Ebene der Syntax, der Morphologie und der Phonologie. Ich könnte

mir hier vorstellen, dass uns Sprecherbefragungen über die Präferenzen im Gebrauch

bestimmter Varianten den Handlungsintentionen näher bringen könnten.

Weder Sprachwandel noch Variation kann als einheitliches, einschichtiges Phänomen

behandelt und erklärt werden. Die verschiedenen Ebenen der Sprache (Syntax, Lexik,

Morphologie, Phonologie) sind nicht unabhängig voneinander, so dass Variation auf

einer Ebene auch die anderen beeinflussen kann (Mattheier 1998: 827). Zudem ist

gibt es mündliche und schriftliche Sprache, die ebenfalls in wechselseitiger

Beziehung zueinander stehen. Die Sprache wird gesprochen von Menschen, die sie

nützen, um zu beeinflussen (Keller 2003: 118), und gleichzeitig selber von ihren

Möglichkeiten beeinflusst werden. Dazu kommen aussersprachliche Faktoren wie

beispielsweise die Erfindung des Buchdrucks oder die neuen elektronischen Medien,

die die Sprache ebenfalls verändern können. Die Sprachbenützer migrieren,

interagieren, imponieren. Sie leben in Beziehungen, Gemeinschaften und

Gesellschaften, in denen sie sich der Mittel der Sprache bedienen, um „sozial

erfolgreich“ zu sein, womit auch die sozialen Faktoren in ihren vielen Facetten

angesprochen wären.

Vielleicht müssen wir uns damit begnügnen, dass für verschiedene Phänomene und

Bedürfnisse jeweils verschiedene Erklärungsansätze herangezogen werden müssen

und dass das Geheimnis der sprachlichen Variation und des ewigen Wandels der

Sprache nie vollends erklärt werden kann.

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