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Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Spuren – Следы Deutsche und Russen in der Geschichte Немцы и русские в истории Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 3. Dezember 2003 bis 12. April 2004

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Stiftung Haus der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland

Spuren – СледыDeutsche und Russen

in der Geschichte

Немцы и русские в истории

Begleitbuch zur Ausstellungim Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

3. Dezember 2003 bis 12. April 2004

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Eine Stadt imDisko-Fieber:Seit Ende 2000betreiben WladimirKaminer undJurij Gurskij die„Russendisko“ imCafé Burger, Berlin.

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Niemand weiß genau, wie viele Russen heute in Berlin leben. Die Schätzungen

reichen von 40.000 bis 200.000. Niemand kann genau bestimmen, wer heute

zum russischen Berlin zu rechnen ist: Gehören alle Bürger der ehemaligen

Sowjetunion dazu oder nur die Bürger der heutigen Russischen Föderation?

Sind die sowjetischen Juden, die in die Stadt gekommen sind und die jüdische

Gemeinde zu der am schnellsten wachsenden in Europa gemacht haben, dazu-

zurechnen – und vielleicht auch die Russlanddeutschen? Wer hat hier seinen

ständigen Wohnsitz, wer ist nur auf Geschäfts- oder Durchreise, auf Verwandten-

besuch? Wer möchte hier nur ein zweites Standbein haben, ansonsten aber in

der Heimat in Moskau, Sankt Petersburg oder Odessa bleiben? Hierauf mag es

viele unterschiedliche Antworten geben, während es an der augenscheinlichen

und hörbaren Tatsache einer massiven Präsenz des Russischen in der deut-

schen Hauptstadt keinen Zweifel geben kann.

Russische Töne

Das Russische ist überall in der Stadt präsent, anbestimmten Punkten ganz besonders: am KaDeWe(Kaufhaus des Westens), im Bayerischen Viertel, inder Kantstraße in Charlottenburg, in bestimmtenLokalitäten in Berlin-Mitte und am PrenzlauerBerg. Russisch ist die Sprache, die man hört, rus-sisch ist die Musik, die Ziehharmonika-Spieler,Geiger, auch Blasorchester höchst professionell inU-Bahn-Übergängen, in S-Bahn-Zügen oder amPotsdamer Platz produzieren. In der U-Bahn trifftman junge Russinnen und Russen – nicht nur ausMoskau, sondern auch aus der russischen Provinz –zu Besuch in Berlin. Beim Karneval der Kulturenoder in den Tagen der Love Parade ist das jungerussische Publikum besonders zahlreich und vonanderen Jugendlichen nur durch seine Sprache zu

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Karl Schlögel

Russen in Berlin Русские в Берлине

„Ost-Erweiterung: Deutschland ist vorbereitet“ – Karikaturvon Achim Greser und Heribert Lenz aus dem Jahr 2002.

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unterscheiden. Es sind keineswegs nur jene „neuenRussen“, deren sagenhafter Reichtum die Einge-sessenen schockiert. Es ist – daran besteht keinZweifel – eine massenhafte Präsenz.

Netzwerke

Wo viele Menschen einer Sprache, Kultur und Her-kunft leben, bilden sich auch rasch die entspre-chenden Strukturen: Geschäfte, in denen es Bliny,Kaviar und Herkules-Babykost gibt; Videoshops, in

denen aktuelle russische Produktionen bestelltwerden können; Kioske, die mehr als ein Dutzendrussischsprachiger Zeitungen und Zeitschriftenführen: „Evropacentr“, „Russkij Berlin“, „RusskajaGermanija“, die deutschen Ausgaben von „Kom-mersant“ und „Argumenty i Fakty“. Das neue rus-sische Berlin hat seine Schulen, Theatergruppen,Ballettschulen, Diskutierclubs und Galerien. Esgibt Buchläden, Lebensmittelgeschäfte, chemischeReinigungen, Schneidereien, Catering-Dienste.Man kann sich ein ganzes Jahr von Termin zu Ter-min, Abend für Abend durch das russische Berlinbewegen, ohne die Sprache zu wechseln: vomFrühjahrsball der Emigranten über die Empfängein der Botschaft Unter den Linden, von den Lesun-gen des Berliner „Heimatdichters“ Wladimir Kami-ner über die Ausstellungen in der Galerie Popov,über die Auftritte der Moskauer Estradenstars im„Russischen Haus“ in der Friedrichstraße bis zumVorspiel der russischen Wunderkinder in derHans-Eisler-Musikhochschule.

Migration statt Emigration

Das russische Berlin ist eine Stadt in der Stadt, viel-leicht auffälliger als das türkische Berlin, das langedie Vorzeigestadt für Berliner Multikulturalismuswar. Eine Vorstellung davon geben das Berlinerrussische Telefonbuch und der Führer durch dasneue russische Berlin, das seine Stars und seineMythen pflegt. Es ist schon ein Werbegag für eineStadt, die immer wieder versucht, an die Mythender „Goldenen Zwanziger“ anzuknüpfen.

Aber mit dem russischen Berlin der 1920er und1930er Jahre hat das heutige nichts zu tun. Es gibtnicht einmal eine personelle Kontinuität. Die weni-gen Russen, die trotz NS-Zeit und Spaltung im Kal-ten Krieg in Berlin geblieben waren, zum Beispieldie junge Petersburger Dichterin Vera Lourie oderder Arzt und Schriftsteller Wladimir Lindenberghaben keinen Kontakt mit dem neuen russischenBerlin gehabt. Dieses entstand anfänglich aus derEmigration, nach 1989 nur noch aus der Migration.Berlin ist nicht mehr der Zufluchtsort vor Verfol-

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Kiosk in Berlin.

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gung und Diskriminierung, sondern der Ort, wosich Geschäfte machen lassen, wo sich halbwegspreiswert und angenehm leben lässt.

Berlin bekommt wieder, was es vor dem Krieghatte, und was heute ein Grundzug jeder Metropolevon Rang ist: internationale Gemeinschaften.Heute sammeln sich dort nicht mehr die Opfer poli-tischer Verfolgung oder ökonomischer Diskrimi-nierung, ganz anders als in den frühen 1920er Jah-ren, in denen sich das legendäre „russische Berlin“gebildet hatte. In den Jahren 1920 bis 1924 warBerlin zur Hauptstadt der russischen Emigrationgeworden, zum Zentrum von Russland jenseits derGrenzen. Berlin war, wie Ilja Ehrenburg formu-liert hatte, die „Stiefmutter unter den russischenStädten“ geworden. In der Hochzeit 1922bis 1924 lebten auf dem Territorium des Deut-schen Reichs rund 560.000 Staatsbürger desrussischen Kaiserreichs, davon rund300.000 in Berlin. Sie alle kamen, um„nach dem Zusammenbruch des Bol-schewismus“ in ihre Heimat zurück-zukehren. Das russische Berlin wareine Hauptstadt im Wartestand.Hier hatten sich die Reste derpolitischen Elite Russlands ein-gefunden – prominente Vertre-ter des russischen Liberalis-mus vor allem, zum BeispielVladimir Nabokov, der Vaterdes berühmten Dichters,der ebenfalls von 1920 bis1937 in Berlin gelebt undgearbeitet hatte. In Berlinreorganisierte sich die anti-sowjetische und gegenrevo-lutionäre liberale Öffent-lichkeit mit einem reichenSpektrum von Journalen undZeitungen. Die in Berlin he-rausgegebene Tageszeitung„Rul“ war für gut ein Jahrzehntdie weltweit führende Zeitungder russischen Diaspora. Überhundert Buchverlage sorgten für

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Alice von Haartman mit Kokoschnik. Sie emigrierte mit ihremGatten, einem ehemaligen Offizier der kaiserlich-russischenLeibgarde, nach der Russischen Revolution 1922 nach Berlin.

Der Kokoschnik ist eintraditioneller russischerKopfschmuck, der amZarenhof zu Karneval

getragen wurde.

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ein reiches literarisches und kulturelles Leben. Füreine kurze Periode war Berlin zum Ankerplatz vie-ler bedeutender russischer Schriftsteller und Jour-nalisten geworden: Vladimir Nabokov, JulijAjchenwald, Roman Gul, Alexej Remisow, JosephHessen. Für einige Jahre waren die russischenBuchhandlungen in der Kantstraße, in der Nürn-berger und Passauer Straße die mit dem reichstenrussischen Sortiment. In Berlin hatten die ausRussland verbannten und vertriebenen Denker, dieim Herbst 1922 auf dem so genannten Philoso-phendampfer das Land verlassen mussten, einevorübergehende Bleibe gefunden. Bedeutende rus-

sische Denker und Gelehrte wie Nikolaij Berdjajew,Fjodor Stepun, Boris Wyscheslawzew, Lew Sche-stow, Pitirim Sorokin waren vorübergehend in dieStadt gekommen, bevor sie eine dauerhafte Bleibein Prag, Paris oder den Universitäten der amerika-nischen Ostküste finden sollten.

Durch eines zeichnete sich das russische Berlinvor allen anderen Zentren aus: Berlin war der Ort,

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Der Künstler Ernst Stern stellte 1929 inseinem Bühnenbildentwurf für das Kabarett„Der blaue Vogel“ die Verschmelzung derrussischen mit der Berliner Lebenswelt dar.

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an dem das sowjetische Russland mit dem nicht-sowjetischen noch einmal zusammentraf, wo dasrevolutionäre Russland mit dem verbannten vor-und gegenrevolutionären noch in Verbindungstand. Es gab Institutionen, wo sowohl „die Rei-nen“ als auch „die Unreinen“, also die Anhängerder Sowjetmacht und der Weißen Bewegung, ver-kehrten: das Haus der Künste am Nollendorfplatzoder die Botschaft der UdSSR Unter den Linden, woes passieren konnte, das Joseph Gessen, der Chef-redakteur von „Rul“ auf den später von Stalin hin-gerichteten Botschafter Nikolaij Krestinskij traf,wo der Maler Leonid Pasternak auf den Komponis-ten und Pianisten Sergej Prokofjew treffen konnte.Im Haus der Künste trafen die Dichter des Exils aufdie Agitatoren und Propagandisten der Sowjet-macht. In den Instituten der Universität begegne-ten die an Russland und an der Sowjetunion inter-essierten deutschen Gelehrten wie Otto Hoetzschden marxistischen Historikern, sodass der ange-hende US-Diplomat George Kennan Berlin als denOrt seines „Training for Russia“ auserkor. Berlinbot den Exilanten einen schützenden Hafen,zugleich war es für das revolutionäre Russland dasTor nach Europa und zur Welt – die Hauptstadt derWeltrevolution in spe.

Etappen nach 1933

Von all dem ist nichts geblieben. Das russische Ber-lin der 1920er Jahre löste sich weit gehend auf, zogweiter nach Paris und New York. Wer nach 1933nach Berlin kam, kam wider Willen oder hatteanderes im Sinn: Nach 1941 waren es Hunderttau-sende von sowjetischen Kriegsgefangenen undZwangsarbeitern, die in Lagern rund um die Stadtuntergebracht gewesen waren, oder unglücklicheKollaborateure wie die Angehörigen der Wlassow-Armee. Das russische Berlin nach 1945 warzunächst das der sowjetischen Besatzungsmacht –draußen in Karlshorst und in den Kasernen – unddann das des „Großen Bruders“, von dem man Sie-gen lernen sollte, mit viel guten Absichten, vielBelehrung, sprachlichem und kulturellem Aus-

tausch. 1994 sind die letzten Angehörigen der eins-tigen Besatzungsarmee gegangen – nicht ohneHeimweh auf russischer und nicht ohne Wehmutauf deutscher Seite, als auf den Bahnhöfenzum Abschied „Abschied von Slawjanka“ erklang.Danach begann ein neues Kapitel deutsch-russi-scher Beziehungen. Wir sind noch mitten drin. ■

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Plakat zur deutschen Erstaufführung des Films„Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisensteinim Jahr 1926.

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