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Fachbereich Polizei Abteilung Gießen Staats- und Verfassungsrecht Grundrechte: Allgemeine Lehren und Einzelgrundrechte Überblick über die Staatsorgane Verfassungsprinzipien Dr. Michael Bäuerle

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Fachbereich Polizei • Abteilung Gießen

Staats- und Verfassungsrecht

• Grundrechte: Allgemeine Lehren und Einzelgrundrechte

• Überblick über die Staatsorgane

• Verfassungsprinzipien

Dr. Michael Bäuerle

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Gliederung I. Die Staatsprinzipien 5

1. Demokratieprinzip 5 a. Von der staatlichen Herrschaft zur Volksouveränität 5

b. Wichtige Grundsätze des Demokratieprinzips 6 c. Die Wahlrechtsgrundsätze 6

2. Überblick über Sozialstaatprinzip und Staatsziel Umweltschutz 7

3. Das Rechtsstaatsprinzip 8

a. Begriffe des Rechtsstaats 8

b. Merkmale des Rechtsstaats 9

c. Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzip auf Gesetzgebung und Verwaltung 10

aa) Grundsätze der Ermessensausübung, § 40 VwVfG,

§ 114 VwGO 10

bb) Begrenzte Zulässigkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen und Beurteilungsspielräumen 10

cc) Selbstbindung der Verwaltung über den Gleichheitssatz 11

dd) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 11

II. Die Bedeutung der Grundrechte 12

1. Allgemeine Lehren 12

a. Grundrechtstheorien 12

b. Einteilung der Grundrechte 12

c. Funktionen der Grundrechte 15

2. Die Bedeutung der Grundrechte für die Polizei 15 III. Wichtige Einzelgrundrechte 16

1. Unverletzlichkeit der Menschenwürde, Art. 1 GG 16

a. Die Menschenwürde als höchster Wert der Verfassung 16 Grundrechtsqualität des Art. 1 GG

b. Schutzbereich 16

c. Eingriffe 17

2

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d. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 17

e. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 17 und anderer Gerichte

2. Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG 18

a. Schutzbereich 18

b. Eingriffe 18

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 18

d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 19

3. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person,

Art. 2 Abs. 2, Art. 104 GG 20

a. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG 20

aa) Schutzbereich 20

bb) Eingriffe 20

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 20

dd) Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 21

und anderer Gerichte

b. Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 GG 22

aa) Schutzbereich 22

bb) Eingriffe 22

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 22

dd) Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 23 und anderer Gerichte

4. Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit, Art. 5 Abs. 1 und 2 GG 24

a. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. GG 24

aa) Schutzbereich 24

bb) Eingriffe 24

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 25

b. Informationsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. GG 25

aa) Schutzbereich 25

bb) Eingriffe 25

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 25

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c. Pressefreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. GG 26

aa) Schutzbereich 26

bb) Eingriffe 26

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 27

d. Rundfunk- und Filmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG) 27

aa) Schutzbereich 27

bb) Eingriffe 28

cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 28

e. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 28

5. Versammlungsfreiheit – Art. 8 GG 30

a. Schutzbereich 30

b. Eingriffe 31

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 31

d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 31

6. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit – Art. 9 GG 32

a. Schutzbereich 32

b. Eingriffe 32

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 33

d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 33

7. Unverletzlichkeit der Wohnung – Art. 13 GG 34

a. Schutzbereich 34

b. Eingriffe 34

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 34

d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 35

8. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis – Art. 10 GG 36

a. Schutzbereich 36

b. Eingriffe 36

c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 37

d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 37

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III. Abfolge einer Grundrechtsprüfung 38 1. Schema 38 2. Erläuterungen 39 IV. Die obersten Bundesorgane im Überblick 41

1. Bundespräsident 41

2. Bundesregierung 42

3. Bundestag 43

4. Bundesrat 44

5. Bundesverfassungsgericht 45

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I. Die Staatsprinzipien Die zentralen Prinzipien des vom Grundgesetz konstituierten Staates sind in Art. 20 GG niedergelegt. Von diesen wird im Folgenden auf → das Demokratieprinzip → das Sozialstaatsprinzip (nebst Staatsziel Umweltschutz) und → das Rechtsstaatprinzip näher eingegangen

1. Das Demokratieprinzip Die Bundesrepublik ist ein demokratischer Staat. Diese Aussage wird in Art. 20 Abs. 2 GG näher erläutert. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Diese Definition entspricht dem Wortsinn von Demokratie (griechisch = Herrschaft des Volkes). a. Von der staatlichen Herrschaft zur Volksouveränität. Zwei Jahrtausende lang war die Forderung nach Demokratie nur die Forderung nach der Beteiligung aller Angehörigen der herrschenden Klasse an der Ausübung der Staatsgewalt. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Bürger war erst eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Diese war der Beginn des modernen Demokratiebegriffs: Demokratie wird seitdem verstanden als Selbstherrschaft der gesamten Bevölkerung. Damit wird Demokratie zum Synonym für die → Freiheit von Unterdrückung. Es erfolgt also die Entwicklung von der staatlichen Herrschaft zur Volksouveränität: Der Grundsatz, dass in einem demokratischen Staat das Volk sein eigener Herr ist, wird als Volkssouveränität bezeichnet. Das Volk ist also gleichzeitig Träger der Staatsgewalt und der Staatsgewalt unterworfen. Mit anderen Worten: In der modernen Demokratie gibt es - im Ideal - eine Identität zwischen Regierenden und Regierten. Die Staatsgewalt wird zwar von einzelnen Personen ausgeübt. Sie wird aber nach dem Modell des Grundgesetzes nicht auf diese einzelnen übertragen, sondern bleibt stets beim Volk. Voraussetzung für Volkssouveränität ist: → Das allgemeine (also für alle geltende) sowie gleiche (d.h. gleiches Gewicht jeder

Stimme) Wahlrecht.

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Das GG begründet durch Art. 20 Abs. 2 GG eine mittelbare oder repräsentative Demokratie, als Gegenmodell zur unmittelbaren oder plebiszitären Demokratie (Ausnahme: Art. 29 GG; anders fast alle Länderverfassungen, die plebiszitäre Elemente enthalten).

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b. Wichtige Grundsätze des Demokratieprinzips: → Demokratieprinzip verlangt eine ungebrochene Legitimationskette vom Volk hin zur

Exekutive. → Das Demokratieprinzip gilt ausschließlich für den staatlichen Sektor; im privaten

Bereich gilt es grundsätzlich nicht. → Im staatlichen Bereich gilt es dort nicht, wo die Grundrechte den einzelnen oder

Gruppen vor dem staatlichen Eingriff - auch dem des demokratisch legitimierten Gesetzgebers - schützen (siehe Funktion der Grundrechte).

c. Wahlrechtsgrundsätze Die Wahlen sind das wichtigste Element der repräsentativen Demokratie. Gem. Art. 38 Abs. 1 GG müssen die folgenden Wahlrechtsgrundsätze - unabhängig vom konkreten Wahlsystem - eingehalten werden:

(1) Allgemeine Wahl

➔ Das Wahlrecht haben alle Staatsbürger, die gewisse Mindestvoraussetzungen erfüllen.

(2) Unmittelbare Wahl

➔ Die Wähler wählen die Abgeordneten direkt und nicht durch eine Mittelsperson.

(3) Freie Wahl

➔ Es darf kein Zwang auf den Wähler ausgeübt werden.

(4) Gleiche Wahl

➔ Das Gewicht jeder Stimme muss gleich sein.

(5) Geheime Wahl

➔ Einsichtnahme durch Dritte während des Wahlverfahrens ist verboten.

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2. Überblick über Sozialstaatsprinzip und Staatsziel Umweltschutz

Das Sozialstaatsprinzip

- verpflichtet den Staat, sozialer Not abzuhelfen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen (Sozialauftrag),

- legt den Staat jedoch nicht auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem oder

bestimmte Interventionen in das Wirtschaftsgeschehen fest (wirtschaftspolitische Neutralität des GG),

- begründet keine unmittelbaren Ansprüche des Bürgers,

- hat gleichwohl normativen Charakter, kein reiner Programmsatz, - richtet sich insoweit in erster Linie an den Gesetzgeber, der bei der

Ausgestaltung der Sozialordnung – außerhalb eines Kernbereichs sozialer Sicherung – einen weiten Spielraum hat.

Das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG)

- bezieht sich auf die natürlichen Grundlagen menschlichen – aber auch anderen - Lebens, insbesondere Luft, Wasser, Boden, aber auch Tier- und Pflanzenwelt,

- gibt dem Bürger keinen Anspruch auf staatliches Tätigwerden im

Bereich des Umweltschutzes,

- bindet jedoch als objektives Recht alle staatliche Gewalt (Handlungsauftrag für den Gesetzgeber, Auslegungsleitlinie für Exekutive und Judikative)

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3. Das Rechtsstaatsprinzip Das Rechtstaatsprinzip ist das für die polizeiliche Arbeit mit Abstand wichtigste Staatsprinzip. Es dient der Begrenzung der Staatsgewalt im Interesse der Freiheit der Bürger. a. Begriffe des Rechtsstaats Die Staatsrechtlehre kennt heute zwei Begriffe des Rechtsstaats:

• den formellen: Alle staatliche Machtausübung muss anhand von Gesetzen messbar sein

Das aber genügt nicht, wenn - wie im Nationalsozialismus - Unrecht in Gesetzesform gegossen wird. Deswegen wird heute hinzugefügt

• der materielle: Ein an der Idee der Gerechtigkeit ausgerichteter Staat. Konkret hat sich das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG niedergeschlagen. Danach ist die gesetzgebende Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung und die vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Insoweit sagt die Vorschrift nicht nur, dass die Verwaltung an das Gesetz gebunden ist, sondern an Gesetz und Recht. Da muss es also einen Unterschied geben. Das führt zu dem Unterschied zwischen formellem und materiellem Rechtsstaat zurück. Man kann auch Ungerechtigkeiten in Gesetze schreiben. In einer Demokratie ist die Gefahr natürlich nicht so groß wie in einer Diktatur. Trotzdem geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass es Gerechtigkeitsgrundsätze gibt, die über dem Gesetz stehen. Zum Beispiel in den Mauerschützen-Fällen (die Mauerschützen haben sich ja an das geschriebene Recht der DDR gehalten). Das Bundesverfassungsgericht hat sich hier und auch in anderen Fällen auf die sog. Radbruch’sche Formel gestützt, die dem materiellen Rechtsstaatsprinzip in Extremfällen den Vorrang vor dem formellen Rechtsstaatsprinzip einräumt:

„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Rechtssicherheit zu weichen hat.“ Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie und SJZ 1946, S. 107.

Diese Frage kann in Extremsituationen durchaus auch in der Demokratie interessant werden und hat einen Bezug etwa zur Frage des „zivilen Ungehorsam“ in Form von „Sitzblockaden“ oder des „Kirchenasyls“.

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Das brauchen wir natürlich nicht für den „Normalfall“. In aller Regel genügt es, wenn man zwei Grundsätze kennt, die aus der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet werden: - den Vorrang des Gesetzes: Die Verwaltung muss sich an das Gesetz halten - den Vorbehalt des Gesetzes: Die Verwaltung bedarf für ihr Handeln einer

gesetzlichen Ermächtigung

Bindung der Exekutive an

das Gesetz das Recht (formelle Rechts- staatlichkeit)

(materielle Rechts-staatlichkeit)

→ Vorrang des Gesetzes → Vorbehalt des Gesetzes (Reichweite str.; Wesentlich- keitstheorie des BVerfG)

(Vgl. zur Reichweite des Gesetzesvorbehalts im einzelnen Polizei- und Verwaltungsrecht, Abschnitt G I). Für den Gesetzgeber bedeutet das: - formell muss er die Gesetzgebungskompetenz und das Gesetzgebungsverfahren

einhalten. - materiell muss er die Grundrechte wahren (Bsp. Volkszählungsgesetz, sächsisches

Polizeigesetz) und sonstiger Verfassungsgrundsätze (vor allem Verhältnismäßigkeit). Sogar für den verfassungsändernden Gesetzgeber ergeben sich Beschränkungen aus Art. 79 Abs. 3 GG b. Merkmale des Rechtsstaats Im Einzelnen lassen sich die Merkmale des Rechtsstaats wie folgt konkretisieren: (1) Bindung aller staatlichen Organe an die Verfassung, Bindung von Verwaltung

und Rechtsprechung an Recht und Gesetz, Art. 20 Abs. 3 GG (2) Grundrechte, Art. 1 - 19 GG (3) Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG (4) Richterliche Kontrolle von Akten der öffentlichen Gewalt, Art. 19 Abs. 4 GG

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(5) Justizgarantien und prozessuale Grundrechte, Art. 101 ff. GG (6) Ergänzende allgemeine Grundsätze für die Art und Weise staatlichen Handelns

- Gebote der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit - Grundsatz des Vertrauensschutzes, Einschränkung der Rückwirkung von

Gesetzen - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

c. Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzip auf Gesetzgebung und Verwaltung Über die Gesetzesbindung hinaus hat das Rechtsstaatsprinzip die folgenden Auswirkungen auf Gesetzgebung und Verwaltung (mit letzterem auch auf das präventiv-polizeiliche Handeln): aa) Grundsätze der Ermessensausübung, § 40 VwVfG, § 114 VwGO Wahrnehmung von Ermessensspielräumen gemäß der Pflicht zur

→ Ausübung entsprechend dem Zweck der

Ermächtigung → Einhaltung der gesetzlichen Grenzen

= Freiheit von Ermessensfehlern: - Ermessensnichtgebrauch - Ermessensüberschreitung, - Ermessensfehlgebrauch.

bb) Begrenzte Zulässigkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen und Beurteilungsspielräumen

→ Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Gesetz ist grundsätzlich zulässig,

wird aber begrenzt durch das Gebot der Normenbestimmtheit (Bestimmtheitsanforderungen variieren nach den Besonderheiten des zu regelnden Lebenssachverhalts)

→ Beurteilungsspielräume der Verwaltung (= begrenzte gerichtliche Überprüfbarkeit)

sind nur in besonderen Fällen anzuerkennen: - Prüfungsentscheidungen (relativiert durch BVerfG) - beamtenrechtliche Beurteilungen - Entscheidungen weisungsfreier Sachverständiger und interessenwahrnehmender Ausschüsse - Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen - verwaltungspolitische Entscheidungen (im einzelnen str.)

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cc. Selbstbindung der Verwaltung über den Gleichheitssatz → Durch gleichmäßige Verwaltungspraxis bindet sich die Verwaltung

selbst, da sie gleichgelagerte Fälle nicht ohne sachlichen Grund anders behandeln darf (Art. 3 Abs. 1 GG). - Verwaltungsvorschriften erlangen damit mittelbar rechtliche Außenwirkung - für den Bürger entsteht bei der Vergabe von Leistungen ein Teilhabeanspruch

dd. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit → Das Handeln der Verwaltung muss zur Erreichung eines

legitimen Zwecks

- geeignet (muß den Zweck zumindest fördern) - erforderlich (es darf kein milderes, gleich geeignetes Mittel geben) - angemessen (kein Missverhältnis zwischen Zweck und Mittel)

sein.

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II. Die Bedeutung der Grundrechte 1. Allgemeine Lehren a. Grundrechtstheorien

→ In der Staatsrechtslehre haben sich – zunächst unabhängig von den konkreten Grundrechten des GG – verschiedene Ansätze zum Verständnis der Grundrechte herausgebildet. Es lassen sich unterscheiden (mit Überschneidungen im Einzelnen):

(1) Subjektiv-rechtlich ausgerichtete Grundrechtstheorien

• Das liberale (abwehrrechtliche oder klassische) Grundrechts-

verständnis

• Das soziale (leistungsstaatliche) Grundrechtsverständnis (2) Objektiv-rechtlich ausgerichtete Grundrechtstheorien

• Das institutionelle Grundrechtsverständnis

• Das Verständnis der Grundrechte als Schutzpflichten Wie sich zeigen wird, greifen Bundesverfassungsgericht und herrschende Lehre in der heutigen Dogmatik der Grundrechte des GG auf Elemente alle dieser Theorien zurück. Bevor auf diese Dogmatik eingegangen wird, soll zunächst auf die Einteilung der Grundrechte des GG eingegangen werden: b. Einteilung der Grundrechte Die Grundrechte lassen sich nach verschiedenen Kriterien in (sich überschneidende) Gruppen einsortieren. Einteilung nach (1) Nach inhaltlicher Schutzrichtung 1. Gleichheitsrechte Art. 3 Abs. 1 – 3 GG 2. Freiheitsrechte alle übrigen Grundrechte

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(2) Nach Kreis der Grundrechtsberechtigten 1. Bedeutung der Staatsangehörigkeit

a. Jedermann- oder Menschenrechte z. B. Art. 2, 4, 5 GG b. Deutschen- oder Bürgerrechte z. B. Art. 8, 11, 12 GG

2. Bedeutung des Personenstatus, Art. 19 Abs. 3 GG

a. Grundrechte mit Geltung nur für natürliche Personen des Privatrechts z. B. Art. 6, 2 Abs. 2 GG

b. Grundrechte mit Geltung auch für juristische Personen des Privatrechts z. B. Art. 12, 13, 14 GG

(3) Nach Kreis der Grundrechtsverpflichteten 1. Grundrechte, die den Staat und andere Träger

von Staatsgewalt binden alle Grundrechte 2. Grundrechte, die auch Private binden Art. 9 Abs. 3 GG;

im übrigen: mittelbare Dritt-wirkung

(4) Nach Einschränkbarkeit 1. Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt z. B. Art. 4, 5 Abs. 3 GG 2. Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt

a. Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt z. B. Art. 2 Abs. 2 GG b. Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt z. B. Art. 11 GG

(5) Nach Lebens- und Gesellschaftsbereichen 1. Das politische Leben in

- Parteien und Vereinigungen Art. 9, 5 Abs. 1 GG - Versammlungen und Demonstrationen Art. 8 GG

2. Das wirtschaftliche Leben mit

- Eigentum Beruf, Art. 11, 12, 14 GG und

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Verkehr und Handel Art. 2 Abs. 1 GG 3. Das kulturelle Leben in

- Kunst, Wissenschaft, Art. 5 Abs. 3 GG und Universität und Schule Art. 7 GG

- Rundfunk und Presse Art. 5 Abs. 1 S. 2, 3 GG 4. Das religiöse Leben

- individuell und Art. 4 Abs. 1, 2 i.V.m. gemeinschaftlich Art 140 GG und

Art. 136 ff. WRV 5. Die kommunikative Existenz des Einzelnen

- individuell und Art. 2 Abs. 1, 5 Abs. 1, gemeinschaftlich Art. 8, 9, 10 GG

6. Die abgeschirmte Existenz des Einzelnen in

- Ehe und Familie Art. 6 GG - Wohnung Art. 13 GG

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c. Funktionen der Grundrechte

→ In der Demokratie ist die übergreifende Funktion der Grundrechte der Schutz von Minderheiten vor der Mehrheit.

→ Auf der Ebene der konkreten Grundrechte des GG unterscheiden BVerfG und

herrschende Lehre vier Funktionen der Grundrechte, die in Abhängigkeit vom konkreten Grundrecht mehr oder weniger stark zum Tragen kommen:

I. Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte (subjektiv-rechtlich)

II. Funktion der Grundrechte als Verfahrens-, Teilhabe- und Leistungsrechte (subjektiv-rechtlich)

III. Funktion der Grundrechte als objektive Wertordnung

1. Mittelbare Drittwirkung (ursprünglich objektiv-rechtlich, inzwischen teilweise subjektiviert) 2. Schutzpflichten (ursprünglich objektiv-rechtlich, inzwischen ebenfalls

teilweise subjektiviert)

IV. Funktion der Grundrechte als Einrichtungsgarantien oder institutionelle Garantien

1. Maßstäbe für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen (objektiv-rechtlich) 2. Maßstäbe für die Gestaltung rechtlicher Institute und Verfahren

(ursprünglich objektiv-rechtlich, inzwischen teilweise subjektiviert) 2. Die Bedeutung der Grundrechte für die Polizei Für die Polizei sind die Grundrechte • in ihrer Funktion als subjektive Rechte, • vor allem als Abwehrrechte gegen den Staat und • staatliche Schutzpflichten von Bedeutung. Die Polizei bewegt sich damit ständig zwischen Schutz und Eingriff. Einerseits soll sie die Freiheit der Bürger vor staatlichen Eingriffen so weit wie möglich wahren, auf der anderen Seite soll sie die Bürger vor Übergriffen anderer Bürger so gut wie möglich schützen. Dazu bedarf es einer ständigen Abwägung zwischen Schutz und Eingriff. Vgl. zu dieser Abwägung im Einzelnen Polizei- und Verwaltungsrecht: Die Schutzpflicht des Staates.

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III. Wichtige Einzelgrundrechte 1. Unverletzlichkeit der Menschenwürde, Art. 1 GG a. Die Menschenwürde als höchster Wert der Verfassung - Grundrechtsqualität des

Art. 1 GG Schon die Stellung des Art. 1 GG ganz zu Beginn des Grundgesetzes zeigt, dass die Menschenwürde der höchste Wert der Verfassungsordnung ist. Die Gewährleistung hat kein Vorbild in anderen westlichen Verfassungen; ihre Einfügung in das Grundgesetz ist auf die Erfahrungen der deutschen Geschichte zurückzuführen. Obwohl Art. 1 Abs. 1 GG dem Wortlaut nach nicht zu den “nachfolgenden Grundrechten” im Sinne des Art. 1 Abs. 2 GG zählt, ist er nach ganz herrschender Auffassung aus entstehungsgeschichtlichen und systematischen Gründen ein die staatliche Gewalten uneingeschränkt bindendes Grundrecht. Dass dies so gewollt ist, zeigt insbesondere die Überschrift des 1. Abschnitts des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht zieht Art. 1 Abs. 1 GG nicht selten im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht heran; in diesem Falle stellt sich die Frage nach der Grundrechtsqualität ohnehin nicht. b. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Grundrechts auf Schutz und Achtung der Menschenwürde ist schwierig zu definieren, da es an einer übergeordneten Kategorie fehlt, in die die Menschenwürde eingeordnet und hinsichtlich ihrer Besonderheiten charakterisiert werden könnte. Nach herrschender Auffassung ist unter Menschenwürde der soziale Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt zu verstehen; dieser verbietet es, den Menschen in seiner Subjektqualität prinzipiell in Frage zu stellen. Die sog. Objektformel des Bundesverfassungsgerichts präzisiert dies zu einem Verbot, den Menschen zum bloßen Objekt des staatlichen Machtanspruchs werden zu lassen (BVerfGE 9, 167 (171); 87, 209 (228) - „der Einzelne darf nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns werden“). Umstritten ist die Frage, inwieweit der soziale Achtungsanspruch zur Disposition des Einzelnen steht (Beispielsfälle: Peep-Show, „freiwillige“ Obdachlosigkeit und Verwahrlosung). Fest steht insoweit gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, dass sich der Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde nicht darauf beschränkt, den Einzelnen vor Eingriffen des Staates zu schützen (die Menschenwürde “zu achten”), sondern dass der Staat den Einzelnen auch vor Angriffen Dritter zu schützen hat, also ggf. durch positive Leistungen ein menschenwürdiges Dasein sicherzustellen hat (“schützen”).

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Träger des Grundrechts ist nach herrschender Auffassung auch das ungeborene Leben (der nasciturus); zudem entfaltet die Menschenwürde auch nach dem Tod noch Fortwirkungen, etwa hinsichtlich des Umgangs mit dem Leichnam. c. Eingriffe Eingriffe in die Menschenwürde sind etwa schwere Beeinträchtigungen der körperlichen oder geistigen Identität, grausame Strafen und - unstreitig - jede Art von Folter. In Betracht kommen auch die Missachtung elementarer Verfahrensgarantien im Strafverfahren, Frauen- und Kinderhandel, die Besteuerung des Existenzminimums sowie die Verweigerung materieller Hilfe bei unverschuldeter existentieller Not. Sehr umstritten ist die Beurteilung der durch eine Arzt - entgegen dem Behandlungsvertrag nicht verhinderten - Existenz eines Kindes als ”Schaden” im zivilrechtlichen Sinne. d. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Die Menschenwürde hat keinen Gesetzesvorbehalt; ihre Umschreibung als “unantastbar” macht darüber hinaus deutlich, dass sie überhaupt keinen Eingriffen unterliegen soll. Daher können Eingriffe auch nicht durch den Schutz anderer Verfassungsgüter (Verfassungsimmanente Schranken) gerechtfertigt werden. Verfassungsänderungen, die den Grundsatz des Art. 1 I GG berühren, sind unzulässig (Art. 79 III GG). e. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte BVerfGE 30, 1 (24 ff., 39 ff.) – Abhörurteil BVerfGE 30, 173 (193 ff.) – Mephisto BVerfGE 39, 1 (42 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I BVerfGE 45, 187 (227 ff., 238 ff.) – Lebenslange Freiheitsstrafe BVerfGE 49, 286 (298 ff.) – Transsexuelle I BVerfGE 82, 60 (85 ff.) – Steuerfreies Existenzminimum BVerfGE 88, 203 (251 ff.) – Schwangerschaftsabbruch II BVerfGE 94, 49 (102 ff.) – Sichere Drittstaaten BVerfGE 96, 375 (399 ff.) – Kind als ”Schaden” BVerwGE 64, 274 ff. und E 84, 314 (317 ff.) – Peep-Show VG Neustadt, NVwZ 1993, 98 ff. – Zwergenweitwurf BGH, NJW 1998, 2895 ff. – Telefonsex

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2. Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG a. Schutzbereich Der Schutzbereich des Art. 2 I GG wird vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Meinung zunächst sehr weit als Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit verstanden. Danach schützt die Vorschrift jedes menschliches Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt. Dementsprechend kann sich etwa auch der Reiter im Walde auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen oder derjenige, der Müll in den Wald wirft. Ist allerdings ein spezielleres Grundrecht einschlägig, tritt die allgemeine Handlungsfreiheit dahinter zurück (Subsidiarität). Daher erlangt Art. 2 Abs. 1 GG Bedeutung nur in Fällen, in denen es an einem speziellen Freiheitsgrundrecht fehlt, ist also das Auffanggrundrecht. Ausländer unterfallen dementsprechend der allgemeinen Handlungsfreiheit auch im sachlichen Anwendungsbereich der Deutschenrechte (Art. 8 GG, Art. 11 GG), hat für sie also in der Auffangfunktion eine besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat für Teilbereiche den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG besonders konkretisiert und daraus – unter gleichzeitiger Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG – das sog. allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelt (vgl. die Übersichten). Geschützt wird hier die engere persönliche Lebenssphäre und ihre Voraussetzungen, insbesondere das Recht der persönlichen Ehre, das Recht am eigenen Bild und Wort sowie - seit dem Volkszählungsurteil - das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (RiS), d.h. die Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. b. Eingriffe Infolge des weiten Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG sind Eingriffe in dieses Grundrecht besonders häufig: fast jedes Gesetz, jedes exekutive und justizielle Handeln greift irgendwie in den Schutzbereich ein (beachte aber die Subsidiarität). c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Die Eingriffe müssen sich an der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG messen lassen, von der vor allem die verfassungsmäßige Ordnung von praktischer Relevanz ist. Diese Schranke wird von Bundesverfassungsgericht und herrschender Auffassung als verfassungsmäßige Rechtsordnung verstanden, erfasst also alle Normen, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang stehen. Art. 2 Abs. 1 GG hat damit praktisch einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Die beiden anderen Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG kommen deshalb kaum noch in Betracht, weil sowohl die „Rechte anderer“ als auch das „Sittengesetz“ bereits in der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung (in dieser Auslegung) enthalten sind. Bei Eingriffen in das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist bei der Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung - immerhin, aber auch nur - eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Fall „Reiten im Walde“) vorzunehmen.

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Handelt es sich um Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, ging das Bundesverfassungsgericht früher nach der sog. „großen“ Sphärentheorie vor. Danach war zu unterscheiden zwischen einer innersten Sphäre (Intimsphäre), die der Einwirkung der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist, einer Privat- und Geheimsphäre, bei der Eingriffe nur unter strenger Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig waren, und schließlich einer äußeren Sphäre, in die unter weniger strengen Voraussetzungen eingriffen werden darf. Diese Theorie ist seit dem Volkszählungsurteil durch die „kleine“ Sphärentheorie ersetzt; die Einzelheiten sind streitig (vgl. auch die Übersichten). d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Allgemeine Handlungsfreiheit: BVerfGE 6, 32 (36 ff.) – Elfes BVerfGE 10, 89 (99 ff.) – Erftverband BVerfGE 80, 137 (152 ff.) – Reiten im Walde BVerfGE 90, 145 (171 ff.) – Cannabis Allgemeines Persönlichkeitsrecht: BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus BVerfGE 34, 238 (245 ff.) – Tonband BVerfGE 34, 269 (280 ff.) – Soraya BVerfGE 35, 202 (219 ff., 238 ff.) – Lebach BVerfGE 79, 256 (268 ff.) – Kenntnis der eigenen Abstammung BVerfGE 80, 367 (373 ff.) – Tagebuch Informationelle Selbstbestimmung: BVerfGE 65, 1 (41 ff.) – Volkszählung Objektive Wertordnung - mittelbare Drittwirkung: BVerfGE 89, 214 (229 ff.) – Bürgschaftsvertrag;

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3. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2, Art. 104 GG

a. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG aa) Schutzbereich Das Recht auf Leben (Art. 2 Abs.2 S. 1, 1. Alt. GG) gewährleistet die körperliche Existenz des Menschen (das Recht zu leben). Nicht geschützt ist nach herrschender Auffassung das Recht auf Selbstmord, das jedoch dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG unterfallen soll. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2, 2. Alt. GG) schützt die menschliche Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne, daneben auch die Gesundheit im psychischen Sinne, allerdings nur insoweit, als Beeinträchtigungen eine mit körperlichen Schmerzen vergleichbarer Wirkung haben bzw. physiologisch messbar werden. Die Gewährleistung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG beschränkt sich nicht darauf, den Einzelnen vor staatlichen Maßnahmen zu bewahren; sie kann es den Staatsorganen auch gebieten, aktiv vor Eingriffen anderer Bürger zu schützen bzw. tätig zu werden (Funktion der Grundrechte als staatliche Schutzpflichten). Bei der Erfüllung der in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankerten Schutzpflicht besteht ein weiter Ermessensspielraum des Staates (vgl. Übersichten und Fall Schleyer). Träger des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist nach herrschender Auffassung auch das ungeborene Leben ab dem Zeitpunkt der Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter). bb) Eingriffe Beispiele für Eingriffe in das Recht auf Leben sind die Todesstrafe oder der polizeiliche Todesschuss. In das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird beispielsweise durch Menschenversuche, Zwangssterilisation und -kastratation, körperliche Strafen oder strafprozessuale Eingriffe (wie Blutentnahme oder sonstige Untersuchungen) eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellen schon Gefährdungen der Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit Eingriffe dar, wenn ein Schaden ernstlich zu befürchten ist. Mit Blick auf die Schutzpflicht kann in der Verweigerung von Schutz ebenfalls ein Eingriff liegen. Ausgeschlossen ist ein Eingriff, wenn der Grundrechtsträger eine Einwilligung wirksam erteilt hat. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit stehen unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG. Gemeint ist hier nach herrschender Auffassung ein förmliches (Parlaments-)Gesetz. Neben den allgemeinen Schranken-Schranken - insbesondere dem Verhältnismäßigkeits-prinzip - existieren spezielle Schranken-Schranken in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG: Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. (Vgl. Übung „Entführungsfall“). Gemäß Art. 102 GG ist zudem die Todesstrafe abgeschafft.

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Damit steht fest, dass der deutsche Staat die Todesstrafe nicht verhängen darf. Strittig ist, ob daraus - oder aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - folgt, dass niemand an ein Land ausgeliefert werden darf, in dem er die Todesstrafe zu befürchten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat dies noch nicht abschließend entschieden; aus vergleichbaren Urteilen lässt sich jedoch die Tendenz erkennen, die Frage zu bejahen. dd) Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte Körperliche Unversehrtheit allgemein: BVerfGE 16, 194 (198 ff.) - Liquorentnahme Schutzpflichten: BVerfGE 39, 1 (36 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I BVerfGE 46, 160 (164 f.) – Schleyer BVerfGE 88, 203 (251 ff.) – Schwangerschaftsabbruch II BVerfGE 90, 145 (171 ff.) - Cannabis Gefährdungen der körperlichen Unversehrtheit: BVerfGE 49, 89 (140 ff.) – Kalkar BVerfGE 56, 54 (73 ff.) – Fluglärm BVerfGE 77, 170 (222 ff.) – Lagerung chemischer Waffen Art. 102 GG: BVerfGE 18, 112 (116 ff.); 60, 348 (354) BVerwGE 285, 294 – Auslieferung bei Todesstrafe

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b. Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 GG aa) Schutzbereich Freiheit der Person i.S.v. Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 GG meint die körperliche Bewegungsfreiheit (in Abgrenzung zu Art. 11 GG - Freizügigkeit -, der das Recht schützt, überall im Bundesgebiet Aufenthalt von gewisser Dauer und Wohnsitz zu nehmen). Nach der (umstrittenen) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts reicht die Freiheit der Person allerdings nicht so weit, dass sie das Recht umfasst, sich unbegrenzt überall aufzuhalten und überall hin bewegen zu dürfen. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vielmehr nur dann vor, wenn der Betroffene gehindert wird, einen Ort aufzusuchen, der an sich - tatsächlich oder rechtlich - zugänglich ist. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn Asylbewerbern im sog. Flughafenverfahren verboten wird, den Transitraum zu verlassen. Neben der positiven Seite des Schutzbereichs - einen Ort aufsuchen zu dürfen -, umfasst die Freiheit der Person auch das Recht, einen Ort zu meiden, also eine negative Ausprägung des Schutzbereichs. Nach herrschender Meinung schützt diese negative Freiheit jedoch nur vor Einwirkungen, die mit unmittelbarem Zwang verbunden sind (zwangsweise Vorführung, nicht aber die Vorladung). Daher berührt etwa die Verpflichtung zur Teilnahme am Verkehrsunterricht noch nicht den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG. bb) Eingriffe Beispiele für Eingriffe in die Freiheit der Person sind Vorführung, vorläufige Festnahme, Gewahrsam, Haft, Freiheitsstrafe und Unterbringungen nach § 10 HFEG. Einen Unterfall der Freiheitsbeschränkung bildet die Freiheitsentziehung, speziell geregelt in Art. 104 Abs. 1 bis 4 GG). Sie bedeutet das mehr als kurzfristige Festhalten an einem eng umgrenzten Ort, also jede Art von Arrest, Gewahrsam, Haft, Freiheitsstrafe oder Unterbringung. Es kommt jedoch nicht darauf an, ob es sich um einen Raum im klassischen Sinne handelt; auch das Fesseln etwa an einen Zaun fällt darunter. Ob nur eine Freiheitsbeschränkung oder schon eine Freiheitsentziehung vorliegt, ist im Zweifel anhand von Dauer und Intensität der Einschränkung der Bewegungsfreiheit zu entscheiden. Ab einem Festhalten von ca. 15 Min. kann eine Freiheitsentziehung - je nach Intensität - in Erwägung gezogen werden. Die Abschiebung ist nach der Rechtsprechung nur Freiheitsentziehung, wenn die Person zwischenzeitlich in eine Gewahrsamszelle gebracht wird. Keine Freiheitsentziehung ist dagegen die bloße Vorführung oder die bloße Anwendung unmittelbaren Zwangs, etwa zum Zwecke der Durchsuchung einer Person. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Art. 104 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, der den einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG überlagert. Für alle Freiheitsbeschränkungen gilt gemäß Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, dass sie nur angeordnet werden dürfen aufgrund eines förmlichen (Parlaments-)Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen. Freiheitsentziehungen sind nach Art. 104 Abs. 2 - 4 GG besonderen Voraussetzungen unterworfen. Aus Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG folgt, dass grundsätzlich vor jeder Freiheitsentziehung ein Richter zu entscheiden hat, es sei denn, der mit der

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Freiheitsentziehung verfolgte Zweck wäre bei vorheriger richterlicher Entscheidung nicht erreichbar. In diesem Fall ist aber eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, vgl. Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG. Zusätzliche zeitliche Grenzen enthalten Art. 104 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 1 GG. Eine Benachrichtigungspflicht besteht gemäß Art. 104 Abs. 4 GG. Da Eingriffe in die Freiheit der Person den Einzelnen regelmäßig in schwerwiegender Weise belasten, kommt der Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit große Bedeutung zu. dd) Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 22, 21 (26) – Vorladung zum Verkehrsunterricht BVerfGE 45, 187 (223 ff.) – Lebenslange Freiheitsstrafe BVerfGE 90, 145 (171 ff.) – Cannabis BVerfGE 94, 166 (198 f.) und 96, 10 (21) - Aufenthaltsbeschränkungen für Asylbewerber

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4. Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit, Art. 5 Abs. 1 und 2 GG

a. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. GG aa) Schutzbereich Die Meinungsfreiheit ist ein „konstituierendes Funktionselement der repräsentativen Demokratie“ (BVerfG) und hat unter diesem Gesichtspunkt einen hohen Stellenwert. Der grundrechtliche Schutze des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. GG bezieht sich auf Meinungen. Die Frage, was als Meinung zu qualifizieren ist und ob und inwieweit Meinungen von Tatsachenbehauptungen abgegrenzt werden können und müssen, ist nicht unumstritten. Nach herrschender Auffassung ist das zentrale Element der Meinung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. GG die wertende Stellungnahme. Daran zeigt sich, dass Meinungen durchaus von Tatsachenbehauptungen unterschieden werden können: Werturteile lassen sie sich nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen, bei denen die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Realität im Vordergrund steht. Tatsachenbehauptungen fallen aber deshalb nicht von vorneherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Auch wertende Stellungnahmen beziehen sich ja in der Regel auf tatsächliche Annahmen oder bewerten tatsächliche Verhältnisse. Sie sind daher durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach h.M. jedenfalls insoweit geschützt, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind. Aus dem Schutzbereich herausfallen sollen lediglich bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen; auch dies ist freilich umstritten. Sehr oft werden Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen miteinander verbunden. Dann ist eine Trennung der tatsächlichen Bestandteile von den wertenden Bestandteilen unter dem Gesichtspunkt des Schutzbereichs nur zulässig, wenn durch sie der Sinngehalt der Aussage nicht verfälscht wird. Würde er dies, ist die Aussage insgesamt vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst. Zu dem von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt GG geschützten Verhalten gehören das Äußern und Verbreiten der Meinung. Dabei kommt es nicht auf die Art des Mediums an, dessen sich der Grundrechtsträger bedient; die Aufzählung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist insoweit nicht abschließend. Geschützt ist auch die negative Meinungsfreiheit. Unter diesem Gesichtspunkt ist zunächst das Recht gewährleistet, Meinungen nicht zu äußern und nicht zu verbreiten; es ist aber auch das Recht erfasst, fremde Meinungen nicht als eigene äußern oder verbreiten zu müssen. bb) Eingriffe Eingriffe in die Meinungsfreiheit sind alle Ge- und Verbote, welche das geschützte Verhalten Ausübung einschränken. Eingriffe enthalten daher etwa die meinungsbezogenen Straftatbestände, aber auch staatliche Verpflichtungen von Herstellern, Warnhinweise auf bestimmten Produkten anzubringen.

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cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Art. 5 Abs. 2 GG sieht drei Schranken für die Meinungsfreiheit vor: Eingriffe können durch das Recht der persönlichen Ehre (etwa die Beleidigungsvorschriften des StGB, die aber ihrerseits „im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG auszulegen sind („berechtigtes Interesse“), das Recht des Jugendschutzes (etwa das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften) sowie durch die allgemeinen Gesetze gerechtfertigt werden. Die letztgenannte Schranke ist praktisch die wichtigste. Was unter allgemeinen Gesetzen zu verstehen ist, war lange umstritten: Nach der sog. Sonderrechtslehre sollten es nur solche Gesetze sein, die neutral in Bezug auf (bestimmte) Meinungen sind; nach der sog. Abwägungslehre sollte es sich dagegen um Gesetze die - im Sinne strikter Verhältnismäßigkeit - dem Schutz eines der Meinungsfreiheit zumindest gleichwertigen Guts dienen. Das BVerfG und die heute herrschende Meinung kombinieren beide Lehren. Danach sind allgemeine Gesetze solche, ”die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat”. b. Informationsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. GG aa) Schutzbereich Durch die Informationsfreiheit wird gewährleistet, sich aus allgemein zugänglichen Quellen frei zu unterrichten. Als Quellen in diesem Sinne sind alle möglichen Träger von Informationen anzusehen. Es kommt nicht darauf an, ob die Informationen sich auf Meinungen oder auf Tatsachen beziehen. Informationsquellen sind allgemein zugänglich, wenn sie technisch geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit, d.h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen, wie dies bei Presse, Rundfunk, Film, Fernsehen und heute auch dem Internet der Fall ist, nicht aber etwa bei Behörden- oder Gerichtsakten. Unerheblich ist es, ob die Quellen aus dem In- oder Ausland stammen. Zu dem von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 2. Alt GG geschützten Verhalten gehört sowohl die schlichte Entgegennahme von Informationen als auch das aktive Beschaffen. Allerdings folgt daraus grundsätzlich keine Verpflichtung staatlicher Stellen, dem Grundrechtsträger Informationen zu beschaffen oder zu präsentieren. bb) Eingriffe Eingriffe sind auch hier alle Ge- und Verbote oder sonstigen staatlichen Maßnahmen, welche die Ausübung der Informationsfreiheit beeinträchtigen. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

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Es gelten auch hier die drei Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG, insbesondere also die der allgemeinen Gesetze. Übertragen auf die Informationsfreiheit bedeutet dies, dass sich das beschränkende Gesetz nicht gegen Information oder Beschaffung einer Meinung oder Information als solche richten darf, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf die bestimmte Meinung oder Information, zu schützenden Rechtsgut dienen muss, das gegenüber der Betätigung der Informationsfreiheit den Vorrang hat (siehe auch oben 1 c)). c. Pressefreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. GG) aa) Schutzbereich In sachlicher Hinsicht werden vom Schutzbereich der Pressefreiheit zunächst alle zur Verbreitung an die Allgemeinheit bestimmten Druckerzeugnisse erfasst. Entgegen dem alltagssemantischen Verständnis gehören zum Begriff der Presse also nicht nur periodisch erscheinende Druckwerke, wie Zeitungen und Zeitschriften. Es fallen vielmehr auch alle Werke darunter, die lediglich einmalig gedruckt bzw. vervielfältigt werden, also etwa Bücher, Plakate, Broschüren, Flugblätter u.s.w. Umstritten ist, ob auch Ton- und Bildträger wie CDs, Audio- und Videokassetten, DVDs, Mini-disks u.a. in den Genuss der Pressefreiheit kommen. Angesichts der Verschränkung dieser Medien und der zunehmend schwierigen Abgrenzung wird dies von einer im Vordringen begriffenen Auffassung bejaht. Für die Frage, ob ein Druck- oder sonstiges Erzeugnis unter die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. GG fällt, ist dessen Inhalt und Niveau unstreitig ohne Bedeutung. Deshalb fallen etwa auch Anzeigenblätter, die „yellow-press“ und „Groschen-„ oder „Schmuddelhefte“ darunter. In persönlicher Hinsicht schützt Art. 5 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. GG alle im Pressewesen Tätigen (Verleger, Herausgeber, Redakteure, Journalisten, aber auch Buchhalter, Drucker und Auslieferungsfahrer). Geschützt sind aber nur die mit der Pressearbeit zusammenhängenden Tätigkeiten, das aber umfassend ”von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen” (BVerfG). Erfasst werden also auch alle pressetechnischen Hilfstätigkeiten, die notwendige Bedingungen der Pressetätigkeit sind. Da es insoweit, „um die im Pressewesen tätigen Personen in Ausübung ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis selbst, um seine institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie um die Institution einer freien Presse überhaupt geht“ (BVerfG),.wird allerdings die Frage, ob eine bestimmte Äußerung in der Presse erlaubt ist oder nicht, ungeachtet des Verbreitungsmediums „nur“ von der Meinungsfreiheit geschützt (im Einzelnen streitig). bb) Eingriffe

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Eingriffe sind wiederum alle Ge- und Verbote oder sonstigen staatlichen Maßnahmen, welche die Ausübung der Pressefreiheit beeinträchtigen. Zu den Eingriffen sind auch staatliche Subventionen zugunsten eines Presseunternehmens zu zählen, wenn diese die Wettbewerbssituation von Konkurrenten beeinträchtigen. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Es gelten auch hier die drei Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG, insbesondere also die der allgemeinen Gesetze. Übertragen auf die Pressefreiheit darf sich also das beschränkende Gesetz nicht gegen die Pressetätigkeit als solcher richten, sondern muss vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf die Pressetätigkeit zu schützenden Rechtsgut dienen, das gegenüber der Betätigung der Pressefreiheit den Vorrang hat (siehe auch oben 1 c)). Das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG stellt eine spezielle Schranken-Schranke der Pressefreiheit dar. Es erfasst aber nur die sog. Vorzensur, nicht die Nachzensur. Ob es nur den Hersteller eines Geisteswerkes, oder auch dessen Abnehmer schützt, ist umstritten. d. Rundfunk- und Filmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG) aa) Schutzbereich Rundfunk i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG ist jede an eine unbestimmte Anzahl von Personen gerichtete drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten durch physikalische Wellen. Der Rundfunkbegriff des Art. 5 Abs. 1 GG umfasst somit nicht nur den Hörfunk, sondern auch das Fernsehen. Nicht zum Rundfunk gehören dagegen private Telefonate und Telefaxe; diese sind ja nicht an eine unbestimmte Anzahl von Personen gerichtet sind. Problematisch ist vor diesem Hintergrund u.U. die Einordnung von Internet und anderen neueren Diensten. Hier ist bisher eine allgemeingültige Abgrenzungsformel noch nicht gewonnen. Ähnlich wie bei der Pressefreiheit, kommt es für die Einordnung in den Schutzbereich nicht Inhalt und Niveau der Gedankenübermittlung an. Anders als der Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG vielleicht vermuten lässt, schützt die Rundfunkfreiheit deshalb nicht eine auf Information gerichtete Berichterstattung, sondern auch Unterhaltungs- oder anderen Zwecken dienende Sendungen. Auch hier erstreckt sich der sachliche Schutzbereich auf alle mit der Rundfunkarbeit zusammenhängenden Tätigkeiten. Auch hier unterfallen einzelne Meinungsäußerungen und die Frage ihrer Erlaubtheit indessen „nur“ dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. In persönlicher Hinsicht sind sowohl private Rundfunksender als auch die zugleich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geschützt; letztere sind als juristische Personen des öffentlichen Rechts zugleich grundrechtsverpflichtet.

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Die Filmfreiheit schützt die Herstellung und Verbreitung von Filmen und die damit verbundenen Personen und Tätigkeiten. Die Vorführung von Filmen ist jedoch - in Angrenzung zur Rundfunkfreiheit - nur an dem Ort des Abspielens des Bild- oder Tonträgers geschützt.

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bb) Eingriffe Für die Eingriffe gelten die Ausführungen zur Pressefreiheit entsprechend (alle Ge- und Verbote sowie staatlichen Maßnahmen, die die Ausübung der Rundfunkfreiheit beeinträchtigen, einschließlich staatlicher Subventionen, die die Wettbewerbssituation von Konkurrenten verschlechtern). cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Auch hier greifen die drei Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG. Das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG stellt eine spezielle Schranken-Schranke auch der Rundfunk- und Filmfreiheit dar. e. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Meinungsfreiheit: BVerfGE 7, 198 (203 ff.) – Lüth BVerfGE 33, 52 (65 ff.) – Filmeinfuhrverbot BVerfGE 61, 1 (7 ff.) – Wahlkampf BVerfGE 85, 1 (11 ff.) – Bayer-Aktionäre BVerfGE 86, 1 (8 ff.) – Titanic BVerfGE 87, 209 (230 ff.) – „Tanz der Teufel“ BVerfGE 90, 241 (246 ff.) - Auschwitzlüge BVerfGE 93, 266 (289 f.) – ”Soldaten sind Mörder” BVerfGE 95, 173 (181 f.) – Warnhinweis auf Zigarettenschachtel Informationsfreiheit: BVerfGE 27, 71 (79 ff.) – Leipziger Volkszeitung BVerfGE 90, 27 (31 ff.) – Parabolantenne BVerfG, NJW 1986, 1243 - Behördenakten Pressefreiheit: BVerfGE 20, 162 (174 ff.)- Spiegel-Affäre BVerfGE 64, 108 (114 ff.) – Chiffreanzeigen BVerfGE 77, 346 (353 ff.) – Presse-Großhandel BVerfGE 80, 124 (131 ff.) – Postzeitungsdienst BVerfGE 85, 1 (11 ff.) – Bayer-Aktionäre BVerfGE 95, 28 (34 ff.) - Werkszeitung BVerfGE 97, 125 (144 ff.) - Gegendarstellung Rundfunkfreiheit: BVerfGE 12, 205 (226 ff.) – Deutschland-Fernsehen BVerfGE 31, 314 (322 ff.) – Umsatzsteuer BVerfGE 35, 202 (218 ff.) – Lebach BVerfGE 73, 118 (152 ff.) - Niedersachsen

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BVerfGE 83, 238 (295 ff.) – Nordrhein-Westfalen BVerfGE 91, 125 (133 ff.) – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal BVerfGE 95, 220 (234 ff.) – Aufzeichnungs- und Vorlagepflicht.

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5. Versammlungsfreiheit – Art. 8 GG a. Schutzbereich Wie die Meinungsfreiheit ist die Versammlungsfreiheit ein „konstituierendes Funktionselement der repräsentativen Demokratie“ (BVerfG) und hat unter diesem Gesichtspunkt einen hohen Stellenwert. Sie dient insoweit als „Frühwarnsystem“ das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftlicher Routine zu bewahren. Diese Bedeutung verlangt es, dass Versammlungen grundsätzlich staatsfrei und unreglementiert ablaufen können (vgl. im Einzelnen die Übersichten zum Brokdorf-Beschluss des BVerfG). In personeller Hinsicht handelt es sich um ein Deutschengrundrecht (Ausländer: Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht). In sachlicher Hinsicht ist unter Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG eine Zusammenkunft von mindestens zwei (drei) Personen (str.) zu einem gemeinsamen Zweck zu verstehen, der die Personen verbindet. Verfolgen alle nur den gleichen Zweck, ohne dass sie aufeinander angewiesen sind - wie etwa die Besucher eines Konzerts oder Schaulustige nach einem Verkehrsunfall - handelt es sich um eine bloße Ansammlung, die nicht in den Schutzbereich fällt. Streitig ist, ob die Verfolgung eines jeden gemeinsamen Zweckes ausreicht. Vielfach wird der Schutz der Versammlungsfreiheit auf Zusammenkünfte beschränkt, die der Meinungsbildung und –äußerung dienen, oder davon abhängig gemacht, dass öffentliche im Gegensatz zu privaten Angelegenheiten erörtert werden. Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt. Daher endet der Schutz der Versammlungsfreiheit erst dann, wenn es zu ”Handlungen von einiger Gefährlichkeit”, wie ”Gewalttätigkeiten oder aggressiven Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen” kommt, keinesfalls aber schon bei einer bloßen Sitzblockade (BVerfG). Verhalten sich einige Teilnehmer friedlich und andere unfriedlich, ist zunächst von Friedlichkeit auszugehen. Diese endet erst, wenn die Versammlung insgesamt einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder die Veranstalter Gewalttätigkeiten erkennbar billigen oder dazu auffordern. Gegen alle Teilnehmer, nicht nur die unfriedlichen Teilnehmer, kann danach grundsätzlich nur dann eingeschritten werden, wenn anders das Verhalten der unfriedlichen Minderheit nicht unterbunden werden kann. (vgl. im Einzelnen die Übersichten zum Brokdorf-Beschluss). Ohne Waffen wird eine Versammlung abgehalten, wenn die Teilnehmer keine Waffen (es kann auf den Begriff des WaffG zurückgegriffen werden) oder gefährliche Werkzeuge (Baseballschläger) mit sich führen. Zum geschützten Verhalten zählt das Sich-Versammeln selbst, aber in Vorwirkung des Grundrechts auch schon die Vorbereitung und die An- und Abreise (entstehender Grundrechtsschutz).

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Nicht geschützt ist allerdings die Anwesenheit von Personen, die die Versammlung verhindern wollen. b. Eingriffe Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind alle Ge- und Verbote sowie staatlichen Maßnahmen, die die Ausübung der Versammlungsfreiheit beeinträchtigen, also etwa Anmelde- und Erlaubnispflichten, präventive Verbote und Teilnahmebeschränkungen, schleppende Vorkontrollen und polizeiliche Überwachungsmaßnahmen, die die Staatsfreiheit der Versammlung aufheben. c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Art. 8 Abs. 2 GG differenziert nach Versammlungen unter freiem Himmel (3. Abschnitt des VersG) und Versammlungen in geschlossenen Räumen (2. Abschnitt des VersG): Versammlungen unter freiem Himmel sind solche, die an einem zu den Seiten hin nicht umschlossenen Ort stattfinden (auf ein Dach kommt es nicht an). Sie unterliegen nach Art. 8 Abs. 2 GG einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Dieser erlaubt es beispielsweise, Versammlungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einer vorherigen Anmeldepflicht zu unterwerfen. Ist aber eine Anmeldung nicht (Spontanversammlung) oder nicht innerhalb der vorgesehenen Frist (Eilversammlung) möglich, muss die Anmeldepflicht entfallen bzw. die Frist verkürzt werden. Für sich genommen kann ein Verstoß gegen die Anmeldepflicht Maßnahmen gegen Versammlungen wegen der Bedeutung des Grundrechts (oben 1.) in keinem Fall rechtfertigen. Versammlungen in geschlossenen Räumen unterliegen - mangels Gesetzesvorbehalts - nur den verfassungsimmanenten Schranken. Eingriffe müssen also hier immer mit kollidierenden, der Versammlungsfreiheit mindestens gleichrangigen Verfassungsschutzgütern gerechtfertigt werden. d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 69, 315 (342 ff.) – Brokdorf BVerfGE 73, 206 (248 ff.) – Sitzblockade BVerfGE 84, 203 (209 ff.) – Republikaner BVerfGE 85, 69 (72 ff.) – Eilversammlung BVerfGE 87, 399 (406 ff.) - Versammlungsauflösung.

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6. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit – Art. 9 GG a. Schutzbereich Art. 9 Abs. 1 GG schützt über die - nur beispielhaft genannten - Vereine und Gesellschaften hinaus alle Vereinigungen. Vereinigungen im Sinne dieses Grundrechts sind also freiwillige Zusammenschlüsse einer Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck; zudem müssen sich die Mitglieder einer - zumindest lose - organisierten Willensbildung unterwerfen. Vom Schutzbereich nicht erfasst sind somit staatlich angeordnete Zwangszusammenschlüsse (z.B. die Kammern der freien Berufe), auch dann nicht, wenn sie privatrechtlich organisiert sind. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG hat vor diesem Hintergrund - auch wenn der Wortlaut dies nicht klar zum Ausdruck bringt - unstreitig eine individuelle und eine kollektive Komponente: Die individuelle Vereinigungsfreiheit besteht in dem Recht, Vereinigungen zu bilden oder sie aufzulösen, ihnen beizutreten oder ihnen fernzubleiben. Die kollektive Vereinigungsfreiheit ist ein Grundrecht der Vereinigung selbst. Sie gewährleistet die innere Organisation der Vereinigung und schützt ihr Auftreten nach außen, soweit es einen Bezug zur vereinsmäßigen Struktur aufweist. Soweit eine Vereinigung indessen wie andere Privatrechtssubjekte im Rechtsverkehr tätig wird, kann sie sich wegen des fehlenden Bezugs somit nicht auf Art. 9 Abs. 1 GG berufen, sondern nur auf andere Grundrechte (wie die Vertrags- oder Berufsfreiheit). Mit dem Begriff der Koalitionsfreiheit wird die spezielle Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG umschrieben. Diese erfasst speziell Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen - d.h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Als ungeschriebene Voraussetzungen für diesen Schutz sieht es die herrschende Meinung an, dass die Koalitionen gegnerfrei sind (sie dürfen also jeweils nur Arbeitgeber oder Arbeitnehmer als Mitglieder haben), von der Gegenseite wirtschaftlich unabhängig sind und überbetrieblich tätig werden. Wie die allgemeine Vereinigungsfreiheit hat auch die Koalitionsfreiheit ein individuelles und eine kollektives Element. Nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG wirkt die Koalitionsfreiheit auch zwischen Privaten; Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG begründet also den ausdrücklichen Fall einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. b. Eingriff Eingriffe in die Vereins- und Koalitionsfreiheit sind alle Ge- und Verbote sowie staatlichen Maßnahmen, die die Ausübung der individuellen oder kollektiven Freiheit beschränken, insbesondere Vorschriften die das geschützte Verhalten behindern. Da die Vereinigungsfreiheit indessen - wie die Eigentumsfreiheit - auf eine staatliche Ausgestaltung angewiesen ist (Grundrecht „aus der Hand des Gesetzgebers“) müssen beschränkende Vorschriften von lediglich ausgestaltenden Regeln - z. B. große Teile des Vereins- und Genossenschaftsgesetzes - unterschieden werden.

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c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Art. 9 Abs. 2 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, der gleichermaßen auf Vereinigungen wie Koalitionen Anwendung findet (im einzelnen str.). Im übrigen unterliegt die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit nur den verfassungsimmanenten Schranken, Eingriffe können also nur mit kollidierendem Verfassungsrecht gerechtfertigt werden. Für die lediglich ausgestaltende Regelungen gilt nur, dass sie allgemein verhältnismäßig sein müssen. d. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Vereinigungsfreiheit: BVerfGE 38, 281 (297 ff.) – Arbeitnehmerkammern BVerfGE 80, 244 (252 ff.) – Vereinsverbot BVerfGE 84, 372 (377 ff.) – Selbstdarstellung BVerfG, NJW 2001, 2617, 2618 f. – Pflichtmitgliedschaft Genossenschaft BVerfG, NVwZ 2002, 335, 336 – Pflichtmitgliedschaft IHK Koalitionsfreiheit: BVerfGE 42, 133 (138 ff.) – Wahlwerbung BVerfGE 50, 290 (367 ff.) – Mitbestimmung BVerfGE 84, 212 (223 ff.) – Arbeitskampf BVerfGE 92, 365 (393 ff.) – Arbeitsförderungsgesetz

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7. Unverletzlichkeit der Wohnung – Art. 13 GG a. Schutzbereich Zielrichtung des Art. 13 GG ist die Herstellung von Privatheit. Von diesem Zweck her ist nach dem BVerfG der Begriff der Wohnung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG zu bestimmen: Unter Wohnung sind danach alle Räume zu verstehen, die aufgrund ihrer Abgeschlossenheit objektiv erkennbar nicht für die Allgemeinheit zugänglich sind und als Stätte privaten Lebens dienen. Dazu zählen also nicht nur Wohnräume im eigentlichen Sinne, sondern auch Keller, Scheunen, die im Zusammenhang mit dem Wohnraum stehen, Garagen, eingefriedete Gärten, Innenhöfe und Campingwagen. Nicht erfasst werden aber etwa Autos, Telefonzellen oder der Besuchsraum einer Haftanstalt. Da sich Privatleben und berufliche Tätigkeit regelmäßig nicht trennen lassen, zählt die ganz herrschende Auffassung auch die nicht allgemein zugänglichen Betriebs- und Geschäftsräume zum Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG. Persönlich geschützt wird - unabhängig von den Eigentumsverhältnissen - der unmittelbare Besitzer (z.B. der Mieter); streitig ist, ob er rechtmäßiger Besitzer sein muss oder ob auch der rechtswidrige Besitzer (z.B. der Hausbesetzer) in den Schutzbereich fällt. Bei Gemeinschaftsunterkünften (z.B. Asylbewerber- oder Obdachlosenwohnheime) ist immer (auch) der Bewohner (Asylbewerber oder Obdachlose) Grundrechtsträger, so dass der Leiter der Einrichtung ohne Einwilligung der Bewohner nicht wirksam über den Grundrechtsschutz verfügen kann. b. Eingriffe Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, die zur Aufhebung der Privatheit führt, vor allem also jedes Eindringen in die Wohnung (etwa Betreten, Besichtigen und Durchsuchen). Zu den Eingriffen zählt aber auch das Eindringen „unkörperlicher Art“ durch Abhören oder Videografieren. Nach umstrittener Auffassung soll das Beseitigen der Wohnung etwa durch Abriss keinen Eingriff darstellen. Bei Betriebs- und Geschäftsräumen fasst das BVerfG den Eingriffsbegriff enger (und korrigiert damit partiell deren Einbeziehung in den Schutzbereich). Wegen der geringeren Schutzbedürftigkeit sollen behördliche Betretungs- und Besichtigungsbefugnisse (z.B. in der GewO) allein den Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 GG unterfallen (str.). c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Hinsichtlich der Schranken unterscheidet Art. 13 Abs. 2 GG nach der Art des Eingriffs (Durchsuchung, Überwachung unter Einsatz technischer Mittel, sonstige Eingriffe): Durchsuchungen (“ziel- und zweckgerichtetes Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen oder herausgeben will” (BVerfG))

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unterliegen grundsätzlich dem Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG. An Ausnahmen von diesem Grundsatz („Gefahr im Verzug“) sind strenge Anforderungen zu stellen; die Auslegung der entsprechenden Befugnisse darf die Ausnahme nicht zur Regel werden lassen. Inhaltliche (Schranken-) Schranken ergeben sich zudem aus dem streng anzuwendenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Überwachungsmaßnahmen unter Einsatz technischer Mittel, Art. 13 Abs. 3, 4, 5 GG (also das Abhören von Wohnungen mittels „Wanzen“ oder Richtmikrofonen und die Videobeobachtung) sind - je nach Zweck - unter abgestuften Voraussetzungen gerechtfertigt: Die höchsten Hürden werden durch Art. 13 Abs. 3 GG für die repressive Wohnraumüberwachung aufgerichtet. Weniger strenge Voraussetzungen gelten sodann bei der Überwachung zum Zwecke der Gefahrenabwehr und bei der Überwachung zum Schutz staatlich eingesetzter Personen (Art. 13 Abs. 4 und 5 GG). Für sonstige Eingriffe enthält Art. 13 Abs. 7 GG zunächst eine - seltene - „verfassungsunmittelbare“ Eingriffsermächtigung. enthält. Für Eingriffe aufgrund Gesetzes bei ”dringender Gefahr” im Sinne des zweiten Halbsatzes muss einem bedeutenden Rechtsgut mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden drohen. c. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte BVerfGE 32, 54 (68 ff.) – Geschäftsräume BVerwGE 47, 31 (40).

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8. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis – Art. 10 GG a. Schutzbereich Das Briefgeheimnis schützt die Vertraulichkeit der brieflichen Kommunikation vor staatlicher Kenntnisnahme. Briefe sind individuelle schriftliche Mitteilungen zwischen Personen, die nicht notwendig verschlossen sein müssen. Daher fallen auch Postkarten in den Schutzbereich des Briefgeheimnisses. Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung werden auch e-mails dazugerechnet (im einzelnen streitig, zum Teil werden diese auch unter das Fernmeldegeheimnis subsumiert). Nicht darunter fallen jedoch Sendungen, bei denen es an einer individuellen Nachricht fehlt, wie Massendrucksachen und Postwurfsendungen. Gegenstand des Schutzes ist vor allem der Inhalt des Briefes; geschützt sind aber auch die Daten von Absender und Empfänger. Befindet sich ein Brief bereits im postalischen Verkehr, ist das Postgeheimnis vorrangig. Das Postgeheimnis schütz den gesamten Postverkehr, insbesondere vor Offenbarung der Umstände der Beförderung, vor Öffnung und vor Nachforschungen durch den Staat. Grundrechtsberechtigt sind auch die Postunternehmen selbst (streitig). Der Grundrechtsschutz beginnt mit der Abgabe der Sendung beim Postunternehmen und endet mit der Ablieferung beim Empfänger. Das Fernmeldegeheimnis gewährleistet die Vertraulichkeit individueller Kommunikation mit Mitteln drahtloser oder drahtgebundener elektromagnetischer Wellen. Dazu rechnet der gesamte Telefon-, Telegramm- und Telefaxverkehr, aber auch der Internetverkehr, sofern er nicht Massenkommunikation ist (im einzelnen streitig, s.o.). b. Eingriffe Eingriff sind alle staatlichen Maßnahmen, die die Vertraulichkeit des Briefverkehrs, des Postverkehrs oder der Fernkommunikation aufheben, insbesondere die Sicherstellung oder Beschlagnahme von Briefsendungen und das Abhören von Telefongesprächen oder die Anforderung von Verbindungsdaten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Auch sog. betriebsbedingte Maßnahmen wie das Öffnen unzustellbarer Sendungen oder „Fangschaltungen“ bei Telefonmissbrauch gehören zu den Eingriffen. Umstritten ist, ob auch eine polizeilich veranlasste „Hörfalle“ dazurechnet (Privatperson lässt die Polizei ein Gespräch mit einem Verdächtigen mithören - der BGH lehnt einen Eingriff ab). Umstritten ist auch, ob die privaten Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost grundrechtsverpflichtet sind - also in das Grundrecht eingreifen können. Dafür spricht zwar, dass sie in Nachfolge eines staatlichen Unternehmens getreten sind, gleichwohl ist die Post- und Fernmeldedienstleistung keine hoheitliche Maßnahme mehr. Unstreitig ist, dass der Staat insoweit zumindest verpflichtet ist, die Vertraulichkeit der Kommunikationsvorgänge auch gegenüber privaten Kommunikationsunternehmen durch

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entsprechende rechtliche Vorkehrungen sicher zu stellen, wie er es etwa durch § 39 PostG, § 85 TKG und §§ 202, 206 StGB getan hat. c. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG enthält einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ermächtigt zum Zwecke des Verfassungs- und Staatsschutzes darüber hinaus zu einem besonders weitgehenden Eingriff, indem von der Benachrichtigung des Betroffenen abgesehen werden kann. Die Vereinbarkeit dieser 1968 eingeführten Bestimmung mit Art. 79 Abs. 3 GG war umstritten, ist aber vom BVerfG im wesentlichen bejaht worden. c. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte BVerfGE 30, 1 (17 ff.) – Abhörurteil 85, 386 (39f ff.) – Betriebsbedingte Maßnahmen BGHSt 39, 335 (338 ff.) - „Hörfalle“

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III. Abfolge einer Grundrechtsprüfung (Freiheitsrechte) 1. Schema: (Vorüberlegung: Welches Grundrecht könnte einschlägig sein?) I. Schutzbereich 1. persönlich 2. sachlich II. Eingriff III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung IV. Schranken-Schranken 1. Wahrung des Wesensgehalts 2. Verbot des Einzelfallgesetzes 3. Zitiergebot 4. Verhältnismäßigkeit

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2. Erläuterungen: zu I. Fällt das betroffene Verhalten in den Schutzbereich einer Grundrechtsnorm? Der Schutzbereich legt fest, wie weit der Einzelne durch das Grundrecht gegen staatliche Eingriffe geschützt ist. Dies ist je nach Grundrecht unterschiedlich, je nachdem, wie der persönliche und sachliche Schutzbereich ausgestaltet ist. 1. Persönlicher Schutzbereich: Wer wird von dem Grundrecht geschützt? 2. Sachlicher Schutzbereich: Welches Verhalten ist gegen staatliche Eingriffe geschützt? zu II. Stellt das staatliche Handeln einen Eingriff in den Schutzbereich dar? Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt unmöglich macht oder erschwert. Bloße Belästigungen sind noch kein Eingriff. zu III. Ist der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt? Der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts ist in dem Maße gerechtfertigt, in dem das Grundrecht einen Eingriff zulässt. 1. Maßstab hierfür ist zunächst die Einschränkbarkeit des Grundrechts (Schranken). Zu unterscheiden ist nach: a) Grundrechten mit einfachem Gesetzesvorbehalt (z.B.: Art. 2 Abs. 2 GG). b) Grundrechten mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt (z.B.: Art. 5 Abs. 1; 11 Abs. 2 GG). c) Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt (z.B. Art. 4 Abs. 1, 2 GG). 2. Liegt ein der Einschränkbarkeit des Grundrechts entsprechendes Gesetz vor? Bei qualifizierten Gesetzesvorbehalten ist zu fragen, ob das Gesetz den Qualifikationsmerkmalen genügt. Bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt muss das Gesetz das Grundrecht um anderer Grundrechte oder sonstiger gleichwertiger Verfassungsgüter willen einschränken (verfassungsimmanente Schranken). zu IV. Schranken-Schranken bezüglich des grundrechtseinschränkenden Gesetzes Der Begriff "Schranken-Schranken" besagt, dass auch Gesetze, die (als Schranken) in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten eingreifen können, bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen und damit selbst gewissen Beschränkungen unterliegen. Diese für den Schutz der Grundrechte wichtigen Schranken-Schranken sind: 1. Lässt das Gesetz den Wesensgehalt des Grundrechts unangetastet (Art. 19 Abs. 2 GG)? Absolute Eingriffsgrenze: Von dem Grundrecht muss trotz aller Eingriffe "im Sozialleben noch etwas übrig bleiben"; die Ausübung der grundrechtlich garantierten Freiheit muss möglich bleiben.

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2. Gilt das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG)? Die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale müssen so abstrakt gefasst sein, dass sie nicht nur für eine Person oder für einen einmaligen Sachverhalt gelten. 3. Wurde das Zitiergebot beachtet (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG)? Das Gesetz muss das betreffende Grundrecht nennen (Warnfunktion). Dieses Gebot hat allerdings vielfältige Ausnahmen und muss nicht beachtet werden bei: Grundrechten ohne ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt; Art. 2 Abs. 1 GG; allgemeinen Gesetzen i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 12 und 14 GG; vorkonstitutionellen Gesetzen. 4. Entsprechen das Gesetz und/oder die eingreifende Einzelmaßnahme dem Verhältnismäßigkeitsprinzip? a) Der vom Staat verfolgte Zweck des Eingriffs muss legitim sein. b) Das Gesetz/der Einsatz des Mittels muss zum Erreichen des Zwecks geeignet sein. c) Das Gesetz/der Einsatz des Mittels muss zum Erreichen des Zwecks notwendig (erforderlich) sein, d.h. es darf kein milderes, gleich geeignetes Mittel geben. d) Stehen der verfolgte Zweck und der Grundrechtseingriff in einer angemessenen Relation (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne oder Proportionalität oder Angemessenheit)?

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III. Die obersten Bundesorgane im Überblick 1. Der Bundespräsident

(1) Wahl

- auf fünf Jahre durch die Bundesversammlung,

- die nur zu diesem Zweck gebildet wird und aus den Mitgliedern des Bundestages und der gleichen Anzahl von Vertretern der Länder (zu wählen von den Landesparlamenten) besteht

(2) Aufgaben

- Ausfertigung von Gesetzen (materielles Prüfungsrecht nur in Bezug auf offenkundige Verfassungsverstöße, str.)

- Vertretung der Bundesrepublik nach außen

- ggf. Auflösung des Bundestages

- Ernennung von Bundesministern, obersten Bundesrichtern, -beamten und -

offizieren

(3) Stellung im Verfassungsgefüge

- Schwache Stellung mit geringen politischen Befugnissen (siehe Gegenzeichnungspflicht)

- Repräsentative und integrative Funktion als Staatsoberhaupt

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2. Die Bundesregierung

(1) Bildung

- Wahl des Bundeskanzler durch den Bundestag mit „Kanzlermehrheit“; Ernennung des Kanzlers durch den Bundespräsidenten

- Ernennung der Bundesminister durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag

des Bundeskanzlers (kein Ermessensspielraum des Bundespräsidenten)

(2) Aufgaben

- Teilhabe an der politischen Staatsleitung (gemeinsam mit dem Bundestag)

- Umsetzung der politischen Leitentscheidungen des Bundeskanzlers innerhalb der Ressortverantwortung

- Leitung der Exekutive

(3) Organisation

- Kanzlerprinzip, Ressortprinzip, Kollegialprinzip

- die Einzelheiten des Verfahrens sind durch die Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) geregelt .

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3. Der Bundesrat

(1) Zusammensetzung

- Mitglieder der Landesregierungen, die von diesen entsandt werden.

- Die Mitglieder sind gegenüber den Landesregierungen weisungsgebunden.

- Zahl der Mitglieder der einzelnen Länder richtet sich nach der Anzahl der einheitlich abzugebenden Stimmen der Länder, die nach Größe der Länder differiert.

(2) Aufgaben

- Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes, wobei zu unterscheiden ist nach Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen

- Mitwirkung bei der Verwaltung des Bundes (z.B. beim Erlass allgemeiner

Verwaltungsvorschriften und bei Anordnungen der Bundesregierung gegenüber den Ländern)

- Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union

(3) Organisation

- die Einzelheiten des Verfahrens sind durch die Geschäftsordnung des Bundesrates (GOBR) geregelt .

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4. Der Bundestag

(1) Zusammensetzung

- 598 Abgeordnete, von denen die eine Hälfte nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen, die andere Hälfte nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt wird.

- Stellung der Abgeordneten: Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG (freies Mandat)

Art. 46 GG (Indemnität, Immunität)

- Der Bundestag hat kein Selbstauflösungsrecht; vorzeitige Neuwahlen nur in den Fällen der Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG und Art. 68 Abs. 1 GG

(2) Aufgaben

- Gesetzgebungsfunktion

- Wahlfunktion

- Kontrollfunktion

- Repräsentationsfunktion

(3) Organisation

- die Einzelheiten des parlamentarischen Verfahrens sind durch die Geschäftsordnung des Bundestages (GOGBT) geregelt (autonome Satzung).

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5. Der Bundesverfassungsgericht

(1) Zusammensetzung

- Zwei Senate zu je acht Richtern,

- die gem. Art. 94 Abs. 1 GG, §§ 3 – 6 BVerfGG je zur Hälfte von Bundestag (durch einen nach Parteiproporz gewählten Wahlausschuss) und Bundesrat (mit Zweidrittelmehrheit) gewählt werden.

(2) Stellung im Verfassungsgefüge

- Gerichtshof des Bundes, der allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständig und unabhängig ist, § 1 BVerfGG,

- Doppelstellung als Staatsorgan und Gericht außerhalb des Instanzenzugs,

- Monopol bezüglich der Verwirkung von Grundrechten, des Verbots und

Parteien und der Verwerfung von Bundesgesetzen.

(3) Die fünf wichtigsten Verfahrensarten

- das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG), - die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a GG,

§ 13 Nr. 6 BVerfGG), - der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4 GG, § 13 Nr. 7 und 8 BVerfGG), - die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG), - die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG).