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Starke Familie – Solidarität, Subsidiarität und kleine Lebenskreise Bericht der Kommission »Familie und demographischer Wandel« Kurt Biedenkopf, Hans Bertram, Elisabeth Niejahr Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung Mit Gastbeiträgen von Heinz Buschkowsky, Volker Hassemer, Hartmut Häussermann, Claus Offe, Barbara Riedmüller, Bert Rürup/Anja Ranscht, Tine Stein und Klaus Peter Strohmeier sowie einer Recherche der Prognos AG

Starke Familie – Solidarität, · nen und der Fitnesskeller mit Sauna und großem Flachbildschirm wird geteilt. Doro-theas Familie und ihre Freunde haben genug Geld für diverse

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Subsidiarität und kleine LebenskreiseBericht der Kommission »Familie und demographischer Wandel«

Kurt Biedenkopf, Hans Bertram, Elisabeth Niejahr

Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung

Mit Gastbeiträgen von Heinz Buschkowsky, Volker Hassemer,

Hartmut Häussermann, Claus Offe, Barbara Riedmüller,

Bert Rürup/Anja Ranscht, Tine Stein und Klaus Peter Strohmeier

sowie einer Recherche der Prognos AG

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Starke Familie – Solidarität,Subsidiarität und kleine LebenskreiseBericht der Kommission »Familieund demographischer Wandel«

Kurt Biedenkopf, Hans Bertram, Elisabeth Niejahr

Im Auftrag der Robert Bosch Stiftung

Mit Gastbeiträgen von Heinz Buschkowsky, Volker Hassemer,

Hartmut Häussermann, Claus Offe, Barbara Riedmüller,

Bert Rürup/Anja Ranscht, Tine Stein und Klaus Peter Strohmeier

sowie einer Recherche der Prognos AG

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4 5 Inhalt

Vorwort 6

I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise 81 Neue Wirklichkeiten 81.1 Subsidiarität als Gesellschaftsprinzip 81.2 Die Besonderheiten der kleinen Lebenskreise 102 Grundsätze der Subsidiarität 132.1 Subsidiarität als Verfassung verantworteter Freiheit 132.2 Gründungsentscheidungen der Bundesrepublik 163 Sozialstaat und kleine Lebenskreise 193.1 Bereitschaft zur Verantwortung 193.2 Wiederbelebung der Subsidiarität in der Sozialpolitik 213.3 Die kleinen Lebenskreise als Ort der Subsidiarität 24

II. Subsidiarität in der modernen Gesellschaft 281 Sozialstaatliche Rahmenbedingungen 282 Rahmenbedingungen für den Privathaushalt 313 Kommunale Rahmenbedingungen 334 Wenn Subsidiarität versagt 36

III. Für eine neue Familienpolitik 411 Wandel der Gesellschaft 411.1 Migration und Heterogenität 421.2 Heterogenität und Teilhabe 461.3 Migration und Alterung 492 Wandel von Stadt und ländlichem Raum 512.1 Stadtgesellschaft: Zuwanderung, Abwanderung und Selektionstendenzen 512.2 Veränderungen der ländlichen Räume 522.3 Die doppelte Polarisierung der Städte 533 Ökonomie und Familie 544 Geburtenentwicklung, Rush Hour des Lebens und Lebensperspektiven 61

IV. Kindeswohl und Wohl der Älteren 661 Subsidiarität und globale Welt 662 Neue Formen der Fürsorge 693 Das Kindeswohl als Maßstab kommunaler Familienpolitik 714 Das Wohl der Älteren 734.1 Der Auftrag einer neuen Familienpolitik 734.2 Die Zeit der Großeltern, Verwandten und Freunde 754.3 Ist Wirtschaftswachstum die Lösung? 784.4 Erneuerung der Gesellschaft durch die kleinen Lebenskreise 82

V. Feststellungen und Empfehlungen 85

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Gastbeiträge 94

Tine Stein: Subsidiarität – eine Idee mit Geschichte 96

Bert Rürup/Anja Ranscht: Familienpolitik und soziale Sicherung 106

Barbara Riedmüller: Ein neues Geschlechterverhältnis?Familienpolitik muss sich veränderten Realitäten anpassen 120

Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit –das bedingungslose Grundeinkommen 129

Hartmut Häussermann: Die soziale Dimension unserer Städte –von der »Integrationsmaschine« zu neuen Ungleichheiten 147

Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wandel –Wiedergewinnung von Solidarpotential 156

Volker Hassemer: Für eine familienorientierte Stadtpolitik 173

Heinz Buschkowsky im Interview mit Elisabeth Niejahr: Intervention für Familie 182

Herzenswärme für starke Familien. Beispiele subsidiärer Unterstützungsformenaus einer Recherche der Prognos AG im Auftrag der Robert Bosch Stiftung 199

Autorenverzeichnis 231

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6 7 Vorwort

»Wir erleben eine ständige Veränderungunserer Lebensverhältnisse und Zukunfts-perspektiven, für deren Bewältigung ge-eignete und erprobte Strukturen noch nichtzur Verfügung stehen. Das führt zu einerwachsenden Verunsicherung, die durch dieWirtschaftskrise weiter verstärkt wird«,konstatieren die Mitglieder der Kommission»Familie und demographischer Wandel« imvorliegenden zweiten Bericht und sindüberzeugt, dass vor allem die Familien vondiesen Entwicklungen betroffen sind. »Wennin Familien wesentlich über Lebensqualitätund Zukunft entschieden wird«, tragen sienach Überzeugung der Kommission eineVerantwortung, deren Lasten der Staat zwarerleichtern, aber nicht abnehmen kann.Gefordert seien letztlich die kleinen Lebens-kreise. Die Experten dringen deshalb aufeine Vielfalt von Ideen, damit in einer sol-chen Situation des Wandels alle Innovati-onspotentiale genutzt werden.

Entwicklungen in der Erwerbstätigkeit, neueLebensformen und der demographischeWandel verändern Familien und schaffenvielfältige Anforderungen, die sich in derWirtschaftskrise verschärfen. Das heißt, dieFamilie muss sich neu erfinden, so derBefund der Kommissionsmitglieder. Dabeikönnen die staatlichen SicherungssystemeBasis und Rahmen bilden. Für die passge-naue individuelle Unterstützung bedarf esaber zivilgesellschaftlichen Engagements,personaler Solidarität und gelebter Subsi-diarität. Es sind vor allem zwei Ziele, deneneine Familienpolitik neuen Zuschnitts folgensollte: dem Kindeswohl und der Teilhabeder Älteren am Leben von Familien undfamilienähnlichen Gemeinschaften. Die not-wendige Unterstützung ist umso wirkungs-voller, je näher sie den Familien und denkleinen Lebenskreisen kommt. Deshalb:

:: muss das unmittelbare Umfeld gestärktwerden;

:: sollte sich Familienpolitik zuallererst aufder kommunalen Ebene entfalten;

:: muss das zivilgesellschaftliche Engage-ment für Familien auf proaktive staatlicheAnreize treffen;

:: sollten neue Lebensgemeinschaften –gerade auch unter Älteren und im Mehr-generationenverbund – rechtlich abgesi-chert werden;

:: sollte die Leistung für und in den kleinenLebenskreisen durch steuerliche Erleich-terung oder auch ein Grundeinkommenhonoriert werden;

:: sollte sich Stadtentwicklung an familien-politischen Belangen orientieren;

:: sollte der vergleichende Austausch unddas Lernen von anderen gesucht underleichtert werden.

Kurt Biedenkopf, Hans Bertram und Elisa-beth Niejahr haben in ihren Analysen aufdie Anhörung vieler Experten gebaut. Diesegaben Auskunft zur Wechselbeziehung vonstaatlichen Sicherungssystemen, Gestaltungvon Transfereinkommen und Subsidiarität,erbrachten viele Erkenntnisse zu zentralenInstrumenten kommunaler Familienpolitik,wie der Stadtplanung und dem Wohnungs-bau, zu neuen Entwicklungen der gesell-schaftlichen Teilhabe, der personalen Soli-darität und der nachbarschaftlichen Hilfen.

Die Prognos AG hat in unserem Auftragrecherchiert, welche Initiativen, Wohnmo-delle, Patenschaften und Betreuungsange-bote die gesuchte Herzenswärme und prak-tische Hilfe für Familien und kleine Lebens-räume bereitstellen. Der vorliegende zweiteBericht der Kommission baut auf denBericht »Starke Familie« auf, den die RobertBosch Stiftung 2005 präsentierte.

Kurt Biedenkopf, der bereits Anfang der1980er Jahre auf die Herausforderung desdemographischen Wandels aufmerksamgemacht hatte, führte den Vorsitz damalswie heute. Seinerzeit hatte er neben HansBertram und Elisabeth Niejahr auch MargotKäßmann, Paul Kirchhof, Hans-Werner Sinnund Franz Willekens an seine Seite gerufen.

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Ihr Bericht »Starke Familie« kulminierte ineiner Reihe von Erkenntnissen und Empfeh-lungen, die in die öffentliche DiskussionEingang und in der Folge zum Teil in derPolitik Niederschlag fanden, so etwa dieForderung nach einkommensabhängigemElterngeld und Steuervergünstigungen fürhaushaltsnahe Dienstleistungen.

Heute danken wir den Kommissionsmitglie-dern Hans Bertram, führender Familien-experte und gefragter familienpolitischerBerater, der ZEIT-Journalistin Elisabeth Nie-jahr, die das Demographiethema seit Jahrenviel beachtet in Theorie und Praxis analy-siert und die Entwicklungen eindringlichbeschreibt, sowie Kurt Biedenkopf, leiden-schaftlicher Verfechter der Subsidiarität, fürden zweiten Kommissionsbericht. Ebensodanken wir den Gastautoren und der Prog-nos AG für ihre wertvollen Beiträge, ver-bunden mit der Hoffnung, dass die kleinenLebenskreise in Gesellschaft und Politik dieihnen gebührende erhöhte Aufmerksamkeitfinden.

Dr. Ingrid Hamm

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8 9 I. Die Bedeutung der kleinenLebenskreise

1 Neue Wirklichkeiten

1.1 Subsidiarität als GesellschaftsprinzipDas Subsidiaritätsprinzip ist eine machtvolleIdee mit weitreichenden praktischen Fol-gen. Sie kann Auswirkungen haben auf denWohnungsbau oder die Verkehrspolitikeiner Kommune – und auf die Frage, werkleinen Kindern das Schwimmen beibringt,alten Menschen mit Sehschwäche aus derZeitung vorliest oder verhaltensauffälligenJugendlichen bei der Vorbereitung auf denHauptschulabschluss hilft. Richtig verstan-den ist das Subsidiaritätsprinzip Leitideefür eine Familienpolitik, die Menschenermutigt, Bindungen einzugehen und Ver-antwortung füreinander zu übernehmen –gleichgültig, ob es dabei nur um ein Engage-ment für ein paar Nachmittage oder um Ver-sprechen für ein gemeinsames Leben geht,und unabhängig davon, ob diese Bindungenmit Ehe und Verwandtschaft einhergehenoder nicht. Verschreibt sich eine Gesell-schaft dieser Idee, ermöglicht sie Gemein-schaft statt Einsamkeit, Autonomie stattBevormundung, Vielfalt statt Standardisie-rung. Staat und Politik geben dabei keineLebensformen vor, sondern sie ermutigenund verstärken das, was Familien, Nachbar-schaften, Kommunen, Vereine und Stiftun-gen ohnehin tun.

Ein Blick auf eine Großstadt wie Berlinzeigt, wie sehr die Realität sich von denLeitbildern der klassischen Familienpolitikunterscheidet. Berlin hat mehr Ein-Perso-nen-Haushalte, mehr Alleinerziehende,mehr Kinder in Hartz-IV-Familien als fastjede andere Stadt in Deutschland – unddamit auch mehr Einsamkeit, mehr Ver-wahrlosung, mehr Not. Aber gerade hier,das zeigen drei Beispiele, entstehen auchneue, gemeinschaftliche Lebensformen fürFamilien, und das nicht nur in (post-)stu-dentischen Milieus.

Da wäre etwa Henriette, 35-jährige Juristinund alleinerziehende Mutter des fünfjähri-

gen Jonas. Sie lebt gemeinsam mit ihremSohn und zwei weiteren Familien in zweiübereinanderliegenden Wohnungen in Ber-lin-Neukölln. Insgesamt wohnen dort fünfErwachsene, die sich mit der Betreuung vonfünf Kindern abwechseln. Zwei werden mor-gens in den Kindergarten gebracht, zweigehen zur Schule, eins ist noch nicht malein Jahr alt und bleibt momentan bei derMutter zu Hause. Wenn einer der Erwachse-nen spontan eine Dienstreise oder einenKinobesuch plant, ist das nie ein organisato-risches Problem. Dafür erfordert das Wohn-modell viel Toleranz: Man muss die Unord-nung fremder Kinder aushalten, nicht nurdie der eigenen. Man muss damit leben,dass ein fremdes Kind unbedingt die Toi-lette benutzen will, während man unter derDusche steht. Das, sagt Henriette, sei derPreis für viele Freiheiten, viel Familie – fürwenig Geld.

Dorothea, Volkswirtin und Mutter dersechsjährigen Luise, ist verheiratet undzehn Jahre älter als Henriette. Auch siewohnt unter einem Dach mit Freunden,allerdings in einer Villa in Berlin mit gro-ßem Garten und viel Platz. Es gibt drei Klin-gelschilder, drei Küchen, drei Briefkästen,nur der Raum mit den drei Waschmaschi-nen und der Fitnesskeller mit Sauna undgroßem Flachbildschirm wird geteilt. Doro-theas Familie und ihre Freunde habengenug Geld für diverse Babysitter und Kin-derfrauen, trotzdem helfen sie sich bei derBetreuung gegenseitig aus. Alle im Haushaben lange Arbeitstage mit Verpflichtun-gen am Wochenende und Abendterminen.Da hilft es, wenn der Sohn oder die Tochtervon einer Freundin zum Schwimmkurs oderins Bett gebracht werden kann.

Karen, Mutter einer dreijährigen Tochter, istManagerin bei einer Kulturstiftung imBerliner Umland. Mann und Kind sind inDresden, wo er einen Waldorf-Kindergartenleitet. Die Mutter pendelt zwei- oder drei-mal pro Woche. Möglich ist das, weil die

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kleine Familie in ihrer großzügigen Altbau-wohnung gemeinsam mit zwei befreundetenFrauen lebt. Sie holen das kleine Mädchenmanchmal von der Kita ab und kümmernsich, wenn der Vater abends arbeiten muss.Alle gemeinsam sind keine klassische Fami-lie, aber mehr als eine Wohngemeinschaft –es ist beispielsweise selbstverständlich, dassman am Heiligabend gemeinsam vor demTannenbaum sitzt.

Henriette, Dorothea und Karen sind sounterschiedlich wie das edle Potsdam unddas arme Berlin-Neukölln, aber alle dreileben in mehr oder weniger engen Wahlfa-milien. Und alle haben die gleichen Gründedafür: Berufstätigkeit plus Kind, berufstätigePartner und anspruchsvolle Arbeitgeber –sowie die Einsicht, dass befreundeteErwachsene (und deren Kinder) dem Nach-wuchs mehr geben können als professio-nelle (und teure) Babysitter. Keine der dreiFrauen hat selbst den Eindruck, ein beson-ders exotisches Lebensmodell gewählt zuhaben. Sie leben schließlich auch in einerMischung aus Großfamilie und intensiverNachbarschaft, die für viele Generationenselbstverständlich war und nun angesichtssteigender Erwerbstätigkeit der Eltern undberuflicher Mobilität neu zu entdecken ist.

Henriette, Dorothea und Karen stehen füreine ständig zunehmende Zahl unterschied-lichster Formen des Zusammenwirkens vonEltern und Großeltern, Freunden und Nach-barn, ehrenamtlich Mitwirkenden, nachbar-schaftlichen Netzwerken und den unter-schiedlichsten Kombinationen familiärer,freiwilliger und professioneller Zusammen-arbeit. Sie dienen dem Wohl der Kinder,ihrer Eltern, der Großeltern oder engagier-ter älterer Menschen und den Alten undPflegebedürftigen. Sie schaffen Möglichkei-ten sinnstiftender Tätigkeit, Mitwirkung undMitverantwortung für Nachbarn und Frauenund Männer, die selbst keine Familie haben.Und sie schaffen Angebote personaler Soli-darität für all jene, die im fortgeschrittenen

Alter Geborgenheit und Unterstützung inder Familie oder familienähnlichen Lebens-kreisen suchen.

Die Vielfalt und der Ideenreichtum dieserkleinen Lebenskreise werden durch dieRecherche der Prognos AG dokumentiert,die diesem Bericht beigefügt ist. Sie reichenvon der einfachen Kinderbetreuung überElternnetzwerke, Großelterndienste undpraktische Hilfe für Familien bis zur Organi-sation von Nachbarschaftshilfen und haus-haltsnahen Dienstleistungen. Sie finden Aus-druck in einer wachsenden Anzahl vonMehrgenerationenhäusern. Sie entwickelnSysteme für den Tausch von Dienstleistun-gen, mit oder ohne Einbeziehung von Leis-tungen, die im Arbeitsmarkt für Dienstleis-tungen nachgefragt werden.

Strukturen zur Förderung aktiver Nachbar-schaften, Transport- und Mobilitätsdienstesind ebenso anzutreffen wie Seniorengenos-senschaften, Elternbildung oder die Einrich-tung von Kommunikationsräumen. Vielfäl-tige Formen von Patenschaften für Kinderund Jugendliche mit und ohne Migrations-hintergrund und für Familien werdenbegründet. Junge Mentoren engagieren sichfür Kinder im Grundschulalter. Ehrenamtli-che Familienpaten bieten ergänzende Unter-stützungsleistungen für Familien an. InBrandenburg entstehen »Netzwerke gesun-der Kinder«, die zur Förderung der gesund-heitlichen und sozialen Entwicklung vonKindern in den ersten Lebensjahren beitra-gen. Nicht zu vergessen die zahlreichenEigeninitiativen von Eltern und anderenInteressenten, wenn es um verbesserte Frei-zeit- und Sportangebote für Kinder geht.

Von besonderer Bedeutung sind schließlichdie Hilfen, die von Familien und kleinenLebenskreisen für Pflegebedürftige außer-halb der Heimversorgung erbracht werden.Derartige Initiativen gehören zu den wich-tigsten Gestaltungsfragen im Zusammen-hang mit der Unterstützung der Familie

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10 11 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

durch kleine Lebenskreise und bürgerlichesEngagement. Auch hier haben sich in denvergangenen Jahren verschiedene innova-tive und zum Teil wechselseitige Unterstüt-zungsformen entwickelt. Zu ihnen zählensogenannte Pflegebegleiter, die pflegendeAngehörige unterstützen, oder die Wohn-gruppen in geteilter Verantwortung, wie sieim gleichnamigen Freiburger Memorandumentwickelt wurden. Dieses dient als Grund-lage für Netzwerke, die mehrere Wohngrup-pen verbinden (Freiburger Memorandum2006).

1.2 Die Besonderheiten der kleinenLebenskreiseZweierlei haben diese kleinen Lebenskreiseungeachtet ihrer Vielfalt gemeinsam:

1. Sie sprengen den Rahmen, in dem dieFamilie, bestehend aus Eltern oder einemElternteil und Kindern als Kernfamilie,angesiedelt ist. Die Kernfamilie ist in ersterLinie Gegenstand der Familienpolitik undihrer Anliegen: Chancengleichheit beiderEltern, Vereinbarkeit von Beruf und Familie,familiengerechte Angebote auf dem Arbeits-markt, finanzielle Förderung der Familieund Berücksichtigung ihrer besonderenLeistungen im Steuer- und Sozialrecht,angemessener Ausgleich der Familienlasten,eine angemessene Infrastruktur zur Kinder-betreuung, Sozialisierung und Ausbildungsowie unterschiedlichste Angebote der pro-fessionellen Beratung und Begleitung derFamilie, um nur einige Beispiele zu nennen.Sie alle sind auf die Kernfamilie ausge-richtet.

Zwar haben sich in jüngerer Vergangenheitauch in diesem Rahmen Erweiterungen aufanaloge Sachverhalte vollzogen, wie dieLebens- oder die Eingetragenen Partner-schaften. Sie beziehen sich auf die Kern-familie jedoch vor allem mit dem Ziel, diefür diese geltenden besonderen rechtlichenNormen analog auf vergleichbare Lebens-sachverhalte zu erstrecken. Eine prinzi-

pielle Neuorientierung der Familienpolitikist damit noch nicht verbunden.

Die Sachverhalte, um die es hier geht,reichen regelmäßig über die Kernfamiliehinaus. Sie beziehen, in welcher Form auchimmer, Großeltern, Verwandte, naheste-hende Dritte, Nachbarn oder Freunde undsonstige Beteiligte, die sich mit ihrem Enga-gement nachhaltig einbringen, in einensozialen Verband mit ein, der auf längereZeit angelegt ist. Sie mutieren damit zuGebilden, die wir als kleine Lebenskreisebezeichnen. Diese bilden sich um Familienoder familienähnliche Strukturen und über-nehmen Verantwortung für Aufgaben, diedem Wohl der Kinder, der Eltern, der Groß-eltern und Menschen dienen, die sich denLebenskreisen zugehörig fühlen oder aufihre Hilfe angewiesen sind.

2. Ehe und Familie als Kernfamilie stehenunter dem besonderen Schutz des Staates(Art. 6 GG). Im Rahmen dieses Schutzessind sie grundsätzlich frei, ihre Angelegen-heiten nach eigenem Ermessen zu gestalten.Art und Umfang dieses Schutzes näher zubestimmen, ist Aufgabe des Gesetzgebersund der Gerichte. In der Praxis geht esdabei vor allem um Fragen, die sich aus derFörderung durch den Staat ergeben, um dieAusbildung und Bildung der Kinder und umdie Grenzen, die den staatlichen und gesell-schaftlichen Einwirkungen auf und Eingrif-fen in den autonomen Bereich der Familiegesetzt sind.

Mit dieser Untersuchung wollen wir auchzur Beantwortung der Frage beitragen, obund in welchem Umfang der staatlicheSchutz der Familie nach Art. 6 GG auch diekleinen Lebenskreise erfasst, die sich umFamilien bilden, welche tatsächliche undrechtliche Stellung ihnen in der Zivilgesell-schaft und im staatlichen Raum zukommt,wie ihre primäre Verbundenheit zur Kom-mune generell zu bewerten ist.

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Als kleinster »Sozialverband« verdanken sieihre Freiheit dem Grundsatz der Subsidiari-tät, fühlen sich personaler Solidarität ver-pflichtet, bauen auf Netzwerken auf undsind mit der kommunalen Ebene verbunden,an deren verfassungsrechtlich geschützterSelbständigkeit sie teilhaben. Alle vier Kri-terien – Subsidiarität, personale Solidarität,Netzwerke und kommunale Ebene – definie-ren nicht nur den Gestaltungs- und Wir-kungsrahmen der kleinen Lebenskreise undder in ihnen wirkenden Familien. Sie schüt-zen sie zugleich vor den Ansprüchen zen-traler sozialpolitischer Strukturen, ihreZuständigkeiten auch auf die Lebensberei-che auszudehnen, die nach dem Prinzip derSubsidiarität und der Gemeindeautonomieden kleinen Lebenskreisen vorbehalten seinsollten.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich diese Ent-wicklungen in einer Zeit vollziehen, in derdie Auswirkungen des demographischenWandels der Bevölkerung zunehmendbewusst werden. Die sozialstaatlichen Ein-richtungen stoßen an die Grenzen ihrerLeistungsfähigkeit. Maßnahmen staatlicherSozialpolitik können ihrer notwendigenStandardisierung wegen der Vielfalt derLebenssachverhalte immer weniger gerechtwerden. Zudem wächst die Einsicht, dassstaatliche Institutionen nur im begrenztenUmfang in der Lage sind, den Wünschenund Erwartungen der Menschen nachGemeinsamkeit, familiärer Geborgenheitund Freiheit vor Bevormundung zu entspre-chen. Zwar wünscht sich die Mehrheit derBevölkerung in Deutschland den umfassen-den Sozialstaat. Aber zugleich wächst ihrWiderstand gegen die bürokratischenErscheinungsformen, in denen er handeltund schon aus Gründen der Gleichbehand-lung genormter Sachverhalte auch nurhandeln kann.

Eine wohlhabende Gesellschaft zeichnetsich in der Regel durch eine hochentwi-ckelte Vielfalt der Lebensverhältnisse, der

Bedürfnisse und Ziele ihrer Bürger und einehohe Pluralität der Lebensentwürfe aus.Mit der Vielfalt der Lebenssachverhalte ver-mehrt sich auch die Vielfalt sozialer Bedürf-nisse, die nach Befriedigung verlangen,denen die staatlichen Sozialsysteme jedochohne Verletzung ihrer Bindung an Rechtund Gesetz nicht adäquat entsprechen kön-nen. Der Sozialstaat und seine Institutionenkönnen als Folge der notwendigen Standar-disierung ihrer Leistungen derartige Bedürf-nisse nur unter Verweigerung ihrer Indivi-dualisierung wirklich erfüllen. Ein ein-drucksvolles Beispiel liefert die Grundsiche-rung für Arbeitsuchende (Hartz IV), die ein-heitliche, für ganz Deutschland gültige För-derleistungen auf höchst unterschiedlicheLebenslagen und Bedürftigkeiten anwendetund damit eine Welle von Gerichtsverfahrenauslöst, mit denen die Betroffenen sachge-rechtere Entscheidungen anstreben.

Schon deshalb kann eine wohlhabendeGesellschaft die Ausgestaltung ihrer indivi-duellen und gesellschaftlichen Vielfalt,soweit es um ihre sozial- und familienpoliti-schen Aufgaben geht, nicht allein zentralis-tischen Strukturen und einer zentralenGesetzgebung und Verwaltung anvertrauen.Ihre Zentralregierung muss sich vielmehrauf die Regelung derjenigen Sachverhaltebeschränken, die ohne Beschädigung dergelebten Vielfalt einheitlich geregelt werdenkönnen. Eine Grundsicherung im Alter undder Gedanke eines Grundeinkommens fürjedermann gehören in diesen Zusammen-hang.

Je vielfältiger sich die Lebensführung derBürger auf einer derartigen Grundlagen-sicherheit gestaltet, umso wichtiger ist esfür die gedeihliche Entwicklung desGemeinwesens, notwendige Regelungendort anzusiedeln, wo sie den geregeltenSachverhalten am nächsten sind: in unse-rem Zusammenhang also auf der kommuna-len Ebene.

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12 13 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

Dies gilt insbesondere dann, wenn es sichum Entwicklungen handelt, die neu sindoder sich schnell verändern. Für ihre recht-liche und politische Ordnung gibt es nochkeine oder nur sehr geringe Erfahrungen,auf die sich nachhaltige Ordnungsbemühun-gen stützen können. Nimmt man die Kriegs-und unmittelbare Nachkriegszeit aus, dannlässt sich kaum eine Periode in der jünge-ren europäischen Geschichte ausmachen, inder sich Veränderungen individueller undgesellschaftlicher Wertvorstellungen,Gewohnheiten und Verhaltensmusterschneller vollzogen haben als seit der Mitteder 1970er Jahre, also praktisch innerhalbeiner Generation. In dieser Zeit vollziehensich Umbrüche, die insgesamt gesehen revo-lutionäre Ausmaße erreichen, deren Endenicht abzusehen ist und die durch diegegenwärtige globale Finanz- und Wirt-schaftskrise weiter verstärkt werden.

Zwar erhöht sich der Lebensstandard derBevölkerung in bisher unbekanntemUmfang. Die staatlichen Sozialsystemegarantieren umfassende soziale Sicherheit.Aber auch die Risiken nehmen zu. DieArbeitsmärkte verändern sich tiefgreifend.Die Angebote auf den Märkten für Güterund Dienstleistungen vermehren sich expo-nentiell und mit ihnen der Umfang derangebotenen Optionen. Ihre Begrenzungendurch die drohende Ausbeutung der Erdewerden sichtbar und zunehmend wirksam.Die noch immer fortdauernde Revolutionder Kommunikationstechnologie führt zuneuen Formen der Information und Wis-sensvermittlung und einer praktischen Ent-grenzung ihrer Verfügbarkeiten. UnsereBevölkerung altert und verändert ihredemographische Struktur, nicht zuletzt alsFolge einer lange als Wirklichkeit verdräng-ten Einwanderung. Die Globalisierung stelltunsere westliche Sicht der Dinge in Frageund führt zu bisher nicht akzeptiertenBegrenzungen unserer »berechtigten«Ansprüche. Nicht zuletzt verändern sichdamit auch die konkreten Wahrnehmungen

und Ausprägungen unserer allgemeinenWertvorstellungen.

Wir erleben eine ständige Veränderungunserer Lebensverhältnisse und Zukunfts-perspektiven, für deren Bewältigung geeig-nete und erprobte Strukturen noch nichtzur Verfügung stehen. Das führt zu wach-sender Verunsicherung, die durch die Wirt-schaftskrise weiter verstärkt wird. Betroffensind vor allem die Familien. In ihnen wirdwesentlich über unser aller Lebensqualitätund Zukunft entschieden. Sie tragen damiteine Verantwortung, deren Last ihnen derStaat und die Zivilgesellschaft zwar erleich-tern, aber nicht abnehmen können. Entspro-chen wird der Verantwortung letztlich inder Freiheit der kleinen Lebenskreise.

Was bedeutet das für die staatlichen Institu-tionen, für Bund und Länder, für unserGemeinwesen und die Zivilgesellschaft? Siekönnen den Veränderungen nur dann intel-ligent entsprechen, wenn sie bereit sind,ihre Wirklichkeit zu akzeptieren, ihreBedeutung zu erkennen, zu ihren Folgen dierichtigen Fragen zu stellen, nach Antwortenzu suchen und sie auch zu erproben, ohnesich von bestehenden Denk- und Struktur-besitzständen daran hindern zu lassen.Unter solchen Bedingungen sind zentraleEntscheidungen nur in sehr begrenztemUmfang geeignet, nachhaltig gültige Ant-worten zu geben. Fehlende Erfahrungen mitneuen Wirklichkeiten verlangen nach vor-läufigen Antworten. Antworten, die sich imLaufe ihrer Erprobung korrigieren lassen,ohne die Instabilität des Ganzen zu riskie-ren. Endgültige Antworten haben die Ten-denz, auf ihrer Gültigkeit zu bestehen, auchwenn sie sich als falsch erweisen. ZentraleAntworten, die fast immer durch Gesetzegegeben werden, sind ihrem Anspruch nachendgültige Antworten. Sie verhindern dieErprobung von Alternativen. Sie lassen sichdeshalb auch nur schwer und in der Regelerst dann korrigieren, wenn die Beweisegegen ihre Tauglichkeit erdrückend gewor-

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den sind. Bis dahin sind die Kosten einerKorrektur mit dem Quadrat der verlorenenZeit gestiegen.

Es ist deshalb, jedenfalls im Bereich derFamilienpolitik und der mit ihr verbunde-nen sozialpolitischen Strukturen, sinnvoll,bei der Suche nach neuen Antworten aufneue Fragen, die uns die veränderte Wirk-lichkeit stellt, dem Grundsatz der Subsidia-rität zu folgen. Das heißt: die Erprobungneuer Wege so weit wie möglich auf diekommunale Ebene zu verlagern. Hier wie-derum sind es die Familien und die kleinenLebenskreise selbst, bei denen in ersterLinie die Folgen der Veränderungen wahr-genommen werden.

Sie sind es deshalb auch, die gemeinsam mitnachbarschaftlichem Engagement, bürgerli-chen Initiativen und Einrichtungen derZivilgesellschaft nach Antworten suchenwerden. Die Vielfalt der Versuche und ihreErprobung, die sich auf diese Weise entwi-ckelt, bieten die beste Gewähr dafür, dassdie Innovationspotentiale der Gesellschaftvoll erfasst und ausgeschöpft werden, ehedie vorhandenen organisierten Besitzständegegen unbequeme Alternativen mobilma-chen. Sie könnten vom Bundesgesetzgebereine einheitliche Antwort verlangen, dieihren organisierten Interessen entsprichtund dem bunten Treiben vor Ort ein Endebereitet.

So zeigt sich, dass Gesichtspunkte einerintelligenten Organisation innovativer Such-prozesse durchaus kompatibel sind mit demGrundsatz der Subsidiarität als Ausdruckeiner freiheitlichen Ordnung. Mehr noch:Die Rationalität des Subsidiaritätsprinzipsals Verfassung der Freiheit legt es nahe,dass gesellschaftliche Prozesse, die sichnach seinen Grundsätzen organisieren, inder Regel solchen überlegen sind, die sievernachlässigen oder ihnen widersprechen.Denn Prozesse, die Innovationen hervor-bringen, beruhen in der gleichen Weise auf

der Überlegenheit freier Entfaltung wie dasFreiheit schützende Prinzip der Subsidiari-tät.

2 Grundsätze der SubsidiaritätDass sich der Grundsatz der Subsidiaritätheute im Zusammenhang mit der Familien-politik und den kleinen Lebenskreisen inErinnerung bringt, geschieht nicht vonungefähr. Denn zu keiner Zeit waren Fami-lien und kleine Lebenskreise auf den Schutzder Subsidiarität mehr angewiesen als inunserer Gegenwart.

2.1 Subsidiarität als Verfassungverantworteter FreiheitZusammengefasst beinhaltet das Subsidiari-tätsprinzip zweierlei: zum einen ein Frei-heitsversprechen, das die Freiheit zur Erle-digung der eigenen Angelegenheiten sichertund zugleich mit der Pflicht zur Verantwor-tung verbindet, die mit Freiheit untrennbarverknüpft ist. Die Bürger eines demokrati-schen Gemeinwesens sind frei, ihre Angele-genheiten in eigener Verantwortung undmöglichst ohne staatliche Bevormundung zuerledigen. Das gilt für ihre private Lebens-führung und ihre familiären Beziehungen:als Paar, als Eltern gegenüber ihren Kindernund als Kinder gegenüber ihren Eltern. Esgilt für die Gemeinschaft mit ihren Nächstenund für ihre kleinen Lebenskreise ebensowie für die Regelung ihrer rechtlichenAngelegenheiten unter ihren Nächstbeteilig-ten im Rahmen des Privatrechts. Der Inhaltihrer Verantwortung leitet sich nicht zuletztaus dem Gebot der personalen Solidaritätfüreinander ab. Subsidiarität und Solidaritätin den kleinen Lebenskreisen sind zwei Sei-ten der Münze Bürgerfreiheit.

Zum anderen handelt es sich beim Subsidia-ritätsprinzip um einen Verfassungsgrund-satz. Er sichert dem Einzelnen, den Familienund kleinen Lebenskreisen die Freiheit vorEingriffen des Staates und seiner Institutio-nen in die Erledigung der Angelegenheiten,die ihnen nach dem Grundsatz der Subsi-

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14 15 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

diarität zur eigenen Erledigung vorbehaltensind. Insoweit regelt das Prinzip Fragen derZuständigkeit. Zuständigkeitsfragen wie-derum sind Machtfragen. In diesem Sinneist die Durchsetzung des Prinzips der Subsi-diarität im Verhältnis von Familie und klei-nen Lebenskreisen gegenüber dem Staatund seinen Institutionen eine Machtfrage.Dies gilt für die Sozialpolitik im Allgemei-nen und für die Familienpolitik im Besonde-ren. Auch insofern ist die Feststellungzutreffend, dass Sozialpolitik und Familien-politik eng miteinander verwoben – mankönnte auch sagen: vernetzt sind.

Subsidiarität bezieht sich aber nicht nur aufdie Familie und die private Lebensführung.Sie gilt auch für die Beziehungen zwischenNachbarschaft, Freiwilligenorganisationenund Kommunen. Auch hier können, wieunsere Beispiele zeigen, viele Dinge des all-täglichen Lebens in der Nachbarschaft undder Kommune nur dann sinnvoll geregeltwerden, wenn die Beteiligten zusammen mitden Betroffenen diese Angelegenheitennicht nur zu den ihren machen, sondernauch für sich selbst organisieren.

Schließlich ordnet der Grundsatz der Subsi-diarität im modernen Verfassungsrecht dieZuständigkeiten unterschiedlicher staatli-cher Ebenen im Verhältnis zueinander undformuliert die Freiheit der Bürger, ihrejeweiligen Zwecke im Rahmen der Gesetzemit Hilfe von Vereinen oder Organisationenzu verfolgen. Der Schutz der Gemeindeauto-nomie, die Grundlagen des föderalen Sys-tems der Bundesrepublik oder das Verhält-nis der Mitgliedstaaten zur EuropäischenUnion im Entwurf der europäischen Verfas-sung gehören ebenso dazu wie der Schutzder Vereinigungsfreiheit nach Art. 8 derVerfassung. Unter ihnen sind der Schutz derGemeindeautonomie durch Art. 28 Abs. 2GG und die Vereinigungsfreiheit für unserenGegenstand besonders bedeutsam.

Alexis de Tocqueville sieht in der wechsel-seitigen Unterstützung und Zusammenar-beit in Familie, Nachbarschaft undGemeinde eine zentrale Voraussetzung fürjede demokratische Gesellschaft. SeinerAuffassung nach zeichnen sich demokrati-sche Gesellschaften gerade dadurch aus,dass die Bürger allein oder mit Unterstüt-zung durch ihre Familienmitglieder, Nach-barn und Gemeindemitglieder ihre eigenenAngelegenheiten und die Angelegenheitender Nachbarschaft und Gemeinde in eige-ner Verantwortung regeln. So verstandensetzt Subsidiarität voraus, dass die Bürgereiner Gesellschaft auch bereit sind, Verant-wortung zu übernehmen und sich für ihreFamilie und ihre Kinder, ihre Eltern wieauch die Nachbarn und die Gemeinde zuengagieren.

Andererseits legitimieren sich im Konzeptder Subsidiarität staatliche Interessen undRegulierungen, die in das private Leben derBürger, der kleinen Lebenskreise und derGemeinden eingreifen. Dies geschiehtimmer dann, wenn bestimmte Aufgaben,Chancen und Risiken der Lebensführungdes Einzelnen, der Familie und derGemeinde deren Fähigkeiten zur eigenver-antwortlichen Erledigung übersteigen undes deshalb der gemeinsamen Anstrengungaller Mitglieder der Gesamtgesellschaftbedarf, diese Risiken zu bewältigen.

Die Notwendigkeit derartiger Solidarhand-lungen der ganzen Gesellschaft und desStaates wird in Krisenzeiten besondersdeutlich. Das gilt nicht nur für die aktuelleFinanzkrise, in der der Staat in vieleLebensbereiche eingreift, um Risiken abzu-wehren, die von den kleineren Einheitennicht bewältigt werden können. Sie galtauch nach dem Zweiten Weltkrieg, als etwaein Lastenausgleichsgesetz verabschiedetwurde, um es den Flüchtlingen aus den ehe-maligen deutschen Ostgebieten zu ermögli-chen, ein neues Leben aufzubauen. Auch beiden Aufwendungen als Folge der deutschen

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Wiedervereinigung handelt es sich um not-wendige subsidiäre gesamtstaatliche Leis-tungen. Ohne sie hätte die Wiedervereini-gung nicht gelingen und ohne die Solidaritätder Gesamtgesellschaft hätte sie nichterbracht werden können.

Dass Alexis de Tocqueville in seinen Über-legungen zur Demokratie das Element derbürgerschaftlichen Gestaltung der Gesell-schaft und die Bedeutung von Nachbar-schaften und Gemeinde so stark betonte,entsprach seiner Erfahrung eines Wohl-fahrtsstaates mit obrigkeitsstaatlicher Prä-gung im Frankreich des ersten Drittels des19. Jahrhunderts. Auch Preußen war seitden Zeiten Friedrichs des Großen ein diffe-renzierter, obrigkeitsstaatlich organisierterWohlfahrtsstaat, der unter Bismarck zudemden Anspruch entwickelte, aus obrigkeits-staatlicher Perspektive die Lebensverhält-nisse möglichst aller Menschen in Deutsch-land nach einheitlichen Maßstäben zuregulieren. Die heutigen sozialen Siche-rungssysteme, wie Renten, Pensionen oderArbeitslosenversicherung, entstammen die-ser Vorstellung ebenso wie eine möglichsteinheitliche Krankenversicherung. Allendiesen Regelungen liegt der Gedankezugrunde, vor allem der Staat in Gestalt desZentralstaates sei in der Lage, gesamtgesell-schaftliche Risiken abzusichern und damitauch die individuellen Lebensrisiken inangemessener Weise abzuwenden.

Soweit der Grundsatz der Subsidiaritätbeansprucht, den Bereich des Einzelnen,der Familien und der kleinen Lebenskreisezu ordnen, ist er wesentlich von der katholi-schen Soziallehre geprägt. Noch nicht alsBegriff, aber von der Sache her wird dasVerhältnis von Verantwortung des Staatesfür soziale Fragen und der Eigenverantwor-tung der Einzelnen in dem päpstlichenRundschreiben »Rerum Novarum« von 1891behandelt. Dass dabei die Familien gestärktwerden müssen, ist aus Sichtweise PapstLeos XIII. von zentraler Bedeutung. Denn

der eigenverantwortlichen Lebensgestaltungin den Familien gebühre gewissermaßen einKompetenzvorrang. Sie sind älter als derStaat und die bürgerliche Gesellschaft. DieFamilien, nicht der Staat seien verantwort-lich dafür, Kinder aufzuziehen und auszu-bilden, damit sie in den Wechselfällen desLebens bestehen können.

Das Rundschreiben Papst Pius’ XI. »Quadra-gesimo Anno« von 1931 benennt 40 Jahrespäter das Subsidiaritätsprinzip ausdrück-lich als oberstes Prinzip der Sozialphiloso-phie (Näheres im Gastbeitrag von TineStein). Danach müssen die sozialen Körper-schaften höherer Ordnung den kleinenGemeinschaften Unterstützung und Förde-rung (subsiduum) zukommen lassen. Jedochmüsse allzeit unverrückbar an jenem höchstgewichtigen Grundsatz festgehalten werden,dass »dasjenige, was der Einzelmensch auseigener Initiative und mit seinen eigenenKräften leisten kann, ihm nicht entzogenund der Gesellschaft zugewiesen werdendarf«. Gegen die Gerechtigkeit verstoße, werdas, was die kleineren und untergeordnetenGemeinwesen leisten und zum guten Endeführen können, für die weitere und überge-ordnete Gemeinschaft in Anspruch nehme.Jedwede Gesellschaftstätigkeit »soll die Glie-der des Sozialkörpers unterstützen, darf sieaber niemals zerschlagen oder aufsaugen«.Die Kritik an einem überbordenden Staats-wesen ist bereits erkennbar.

Die Sozialenzyklika »Centesimus Annus«Papst Johannes Pauls II. (1991) führt denGedanken der Subsidiarität fort. Aber derPapst spricht auch von Funktionsstörungenund Mängeln im Wohlfahrtsstaat, die voneinem unzutreffenden Verständnis der Auf-gaben des Staates herrühren. Auch auf die-sem Gebiet müsse das Subsidiaritätsprinzipgelten. Der Wohlfahrtsstaat, der direkt ein-greift und die untergeordnete Gesellschaftihrer Verantwortung beraubt, »löst den Ver-lust an menschlicher Energie und das Auf-blähen der Staatsapparate aus, die mehr

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von bürokratischer Logik als von demBemühen beherrscht werden, den Empfän-gern zu dienen«. Entsprechend werden dieRückgabe von Kompetenzen an unteresoziale Einheiten und Hilfe zur Selbsthilfeempfohlen.

2.2 Gründungsentscheidungender BundesrepublikDie politische Entscheidung über dieAnwendung des Subsidiaritätsprinzips beider Gestaltung der sozialen Ordnung fiel inder Bundesrepublik Mitte der 1950er Jahre.In den politischen Auseinandersetzungen,die der Entscheidung vorausgingen – unddie sich vor allem innerhalb der Union voll-zogen – standen sich zwei Konzepte gegen-über: eine von der CDU angestrebte »umfas-sende Sozialpolitik« und die Orientierungder Inhalte des sozialstaatlichen Auftragesam Grundsatz der Subsidiarität.

Bereits im Jahre 1949 formulierte die CDUihre politischen Ordnungsvorstellungen inden Düsseldorfer Leitsätzen als Teil ihresersten Wahlprogramms zur Bundestags-wahl. Soweit es um die Gestaltung dersozialen Marktwirtschaft ging, entschiedman sich nach heftigen Auseinandersetzun-gen mit den Anhängern eines durch Kartelle»geordneten Wettbewerbs« für eine Ord-nung, die der Freiheit und persönlichenVerantwortung dient. Dem Wettbewerbsollte sie durch die Wertordnung der Ver-fassung Grenzen setzen und die Entstehungwirtschaftlicher Macht verhindern oder zumWohle der Freiheit beschränken. Man warüberzeugt, dass eine solche, der Freiheitund Verantwortung verpflichtete Wirt-schaftsordnung zugleich am ehesten derdemokratischen und wertgebundenen Ver-fassungsordnung entspreche.

Über die Gestaltung der sozialen Ordnungwurde ebenfalls intensiv gestritten. Auchhier trafen traditionelle, durch die Zeit derIndustrialisierung im 19. Jahrhundertgeprägte Vorstellungen vom vormundschaft-

lichen Verhältnis des obrigkeitlichen Staatesund den ihm anvertrauten »kleinen Leuten«und ihren Familien auf den Versuch, eineOrdnung zu entwickeln, die die Freiheit undSelbstverantwortung des Einzelnen und derkleinen Lebenskreise mit der Gestaltung dessozialen Auftrags des Staates verbindensollte.

Mit ihren sozialpolitischen Vorstellungenbekennt sich die CDU in den DüsseldorferLeitsätzen von 1949 zu einer gesellschaftli-chen Neubesinnung auf der Grundlage»sozialer Gerechtigkeit, gemeinschaftsver-pflichteter Freiheit und echter Menschen-würde«. Konkret erstrebt sie »eine umfas-sende Sozialpolitik für alle wirtschaftlichund sozial abhängigen Volksschichten«. Siesoll »der inneren Befriedung unseres Volkesdienen, das Vertrauen der breiten Schichtenin die neue demokratische Ordnung stärkenund den Willen zur Mitarbeit am Wieder-aufbau unseres Staats- und Volkslebens för-dern«. Mit Nachdruck wird jedoch zugleichdarauf hingewiesen, die Grundlage einergesunden Ordnung sei eine erfolgreicheWirtschaftspolitik. »Die beste Sozialpolitiknützt nichts, wenn sich nicht Wirtschafts-und Sozialordnung wechselseitig ergänzenund fördern.«

Die Entscheidung seiner Partei für eineumfassende Sozialpolitik hinderte KonradAdenauer jedoch nicht daran, vier Wissen-schaftler – Hans Aichinger, Hans Muthesius,Ludwig Neundörfer und den späteren Köl-ner Kardinal Josef Höffner – mit der Klärungder Frage zu beauftragen, welche sozial-staatlichen Verpflichtungen sich aus derneuen Verfassung ergäben. Das Ergebniswar die Rothenfelser Denkschrift von 1955.Sie ging aus von den Prinzipien der Solidari-tät und Subsidiarität. Im Prinzip der Solida-rität sah sie die wechselseitige Verbunden-heit und Verantwortlichkeit der Menschen,ausgedrückt in ihrer Bereitschaft, füreinan-der einzustehen. Diese im gesellschaftlichenLeben bestimmende Verbundenheit und

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Verantwortlichkeit wiederum werde geord-net durch das Verhältnis der kleinenLebenskreise zur nächsthöheren Gemein-schaft. Der Grundsatz der Subsidiaritätregelt diese Beziehungen. Grundsätzlichsollte gelten: Was der Einzelne aus eigenerKraft und Verantwortung zu leisten vermag,sollte die nächsthöhere Gemeinschaft nichtan sich ziehen. Sie soll vor allem keine Auf-gaben übernehmen, die von den kleinerenLebenskreisen gemeistert werden können.

Abgeleitet werden die Grundsätze zumeinen aus der Freiheit und Würde des Men-schen. Er darf von der Gesellschaft nichtentmündigt werden. Zum anderen leitensich die Grundsätze aus der Struktur undWesensart der kleineren Lebenskreise ab –allen voran der Familie. Ihnen stündeneigene Rechte und Aufgaben zu, die in sinn-voller Weise von den größeren Sozialgebil-den nicht erfüllt werden könnten.So bedeute Subsidiarität zum einen Aus-schließung und Abgrenzung: Selbständigkeitund Eigenleben der kleineren Lebenskreiseund des Einzelnen werden vor Totalitäts-ansprüchen der umfassenderen Sozialge-bilde geschützt. Wo immer die Kräfte desEinzelnen oder der kleineren Gemeinschaftausreichen, dürfen die umfassenderenSozialgebilde, vor allem der Staat, dieseEigenständigkeit weder aufheben noch ein-schränken.

Andererseits bedeute Subsidiarität auchHilfe von oben nach unten. Das Eingreifender größeren Sozialgebilde zugunsten desEinzelnen und seiner kleinen Lebenskreisekönne geboten sein: sei es, dass es sich umGemeinschaftsaufgaben handelt, die nur inder größeren Gemeinschaft gemeistert wer-den können, sei es, dass das umfassendereSozialgebilde ergänzend und möglichst nurvorübergehend Hilfe leisten muss.

Deshalb diene der Staat der sozialen Siche-rung am meisten, wenn er die persönlicheVerantwortung seiner Bürger, das Sorgen

und Vorsorgen der Familie und der kleinenLebenskreise sowie der genossenschaftli-chen Selbsthilfe anerkenne und sich entfal-ten lasse. Könnten Notstände durch die ver-schiedenen Formen der Selbsthilfe nichtbehoben werden, müsse die staatliche Sozi-alhilfe ihre vordringliche Aufgabe in derHilfe zur Selbsthilfe sehen. Denn Hilfe zurSelbsthilfe bedeute soziale Investition, nichtsoziale Redistribution.

Soweit die Eigensicherung nicht ausreicheund durch die »soziale Sicherung« ergänztoder ersetzt werden müsse, entspreche esden Prinzipien der Solidarität und Subsidia-rität, »daß der Staat nach Mitteln undWegen sucht, jene Bevölkerungsschichtengegen die Risiken der ›basic needs‹ zusichern«. Gerade bei den Maßnahmen derstaatlichen Sozialpolitik sei »freilich daraufzu achten, daß Freiheit und Würde desMenschen nicht gefährdet werden«. Aller-dings dürfe man nicht verkennen, dass»auch in der westlichen Welt die Bereit-schaft festzustellen ist, die soziale Siche-rung – unter Ausschluss der Selbsthilfe undder Leistungskraft der kleineren Lebens-kreise – unmittelbar dem Staat« zu über-tragen, der damit zum Versorgungsstaatwerde.

Mehrere Ursachen begünstigten nach Ein-schätzung der Denkschrift-Verfasser einederartige Entwicklung. Zum einen die Vor-stellung, nur der Staat vermöge auf verläss-liche und krisensichere Weise die sozialeSicherheit zu gewähren. Zum anderen hät-ten sich die mit der sozialen Sicherungbetrauten Organisationen vielfach »kraft derBeharrungstendenz des Institutionellen zugesellschaftlichen Machtgebilden verfestigt,und damit das Streben nach sozialer Sicher-heit begünstigt, das unter breiten Schichtender westlichen Welt um sich greife. Derdamit verbundenen Lähmung der Eigenver-antwortung entspreche auf staatlicher Seitedie Überbetonung des Versorgungsprinzips,kraft dessen der Staat aus Steuermitteln

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allen seinen Bürgern die soziale Sicherheitgewähren müsse.«

Derartigen Bestrebungen treten die Autorender Denkschrift mit der Feststellung entge-gen, »der Plan, alle Menschen ohne Aus-nahme, auch jene, die sich selbst helfenkönnen, zwangsweise in eine staatlich ange-ordnete soziale Sicherheit einzubeziehen«,sei mit dem Subsidiaritätsprinzip unverein-bar. Er gefährde auch den Staat, denn esverleite die Menschen dazu, dem Staatlediglich mit Forderungen gegenüberzutre-ten. Die im Solidaritätsprinzip verankertewechselseitige Bindung und Rückbindungzwischen dem Einzelnen und dem Staatwerde dadurch gestört. Die Verschiebungder Verfügungsgewalt und der Verantwor-tung zugunsten des Staates dürfe folglichnicht so weit getrieben werden, dass derBereich der persönlichen Freiheit und derRaum der Verantwortung von Individuenund Familien unerträglich eingeschränktwerde.

Die Entscheidung zwischen den beidenKonzepten fällte letztlich der Bundestag imJahre 1957 mit seinen Beschlüssen zurErneuerung der sozialen Systeme nachGründung der Bundesrepublik. Zwar ent-sprach das Konzept, die neue soziale Ord-nung nach den Grundsätzen der Subsidiari-tät zu gestalten und institutionelle Macht-konzentrationen zu vermeiden, durchausdem Gedankengut der Union und fand auchin der SPD Befürworter. Gleichwohl wurdees im Zuge der Neuordnung nicht weiterverfolgt. Der Gedanke, mit Hilfe einerumfassenden Sozialpolitik der Befriedungdes Volkes zu dienen und sein Vertrauen indie neue, noch nicht gefestigte demokrati-sche Ordnung zu stärken, war zu verlo-ckend. Er erschien erfolgversprechender alseine Sozialpolitik, die primär auf die Fähig-keit der Bürger vertraute, in erster LinieVerantwortung für sich selbst zu überneh-men, und dem Staat und seinen Sozialsyste-men eine subsidiäre Rolle zuwies. Zudem

erschienen die Erfahrungen aus der Kata-strophe des Zweiten Weltkrieges noch zulebendig und die Belastbarkeit der jungendemokratischen Ordnung noch zu wenigerprobt, als dass man die soziale Sicherheitvorrangig der Verantwortung der Bürgerselbst anvertrauen wollte.

Hinzu kam, dass sich die Institutionen derSozialpolitik Mitte der 1950er Jahre bereitszu Machtgebilden verfestigt hatten. Sie stan-den bereit, eine umfassende Sozialpolitikfür alle wirtschaftlich und sozial Abhängi-gen zu verwirklichen: praktisch für diegroße Mehrheit der Bevölkerung.

Damit scheiterte der Versuch, die Ordnungder Wirtschaft und die Ordnung des Sozia-len nach kompatiblen ordnungspolitischenGrundsätzen zu gestalten. WertgebundenerWettbewerb in offenen Märkten und eineumfassende staatliche Sozialpolitik warenund sind ordnungspolitisch nur begrenztkompatibel. Denn sie orientieren sich letzt-lich an zwei unterschiedlichen Einschätzun-gen bürgerschaftlicher Fähigkeiten und derBereitschaft zur Eigenverantwortung. Seit-dem beherrscht der Dualismus von Wirt-schafts- und Sozialpolitik die Entwicklungder Wirtschafts- und Sozialordnung undprägt die politische Entwicklung in Deutsch-land.

Sein Anspruch, eine umfassende Sozialpoli-tik zu verwirklichen, hindert den Sozialstaatdaran, seine Sozialpolitik allein aus Grün-den der Gerechtigkeit und Solidarität zubegrenzen. Denn sein Auftrag beinhaltet bisheute nach wohl herrschender Meinungstets auch, das Vertrauen der großen Mehr-heit der Bevölkerung in die demokratischeOrdnung zu stärken und so dem sozialenFrieden zu dienen. Ob dies gelingt, lässtsich jedoch nicht nur nach Kriterien dersozialen Gerechtigkeit beurteilen, zumal essich bei ihnen um relative Maßstäbe han-delt. Auch eine wohlhabende Gesellschaftkann durch Argumente der Verteilungsun-

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gerechtigkeit dazu verführt werden, eineweitere Expansion des Sozialstaates zu for-dern und ihre politische Zustimmung zurDemokratie von der Erfüllung dieser Forde-rung abhängig zu machen.

Das damit verbundene Problem brachte1979 der damalige Wirtschaftsminister GrafLambsdorff anlässlich einer wirtschafts-politischen Debatte im Bundestag auf denPunkt. Die Frage nach der Notwendigkeithoher Wachstumsraten beantwortete er mitder Feststellung, er könne nicht erkennen,wie der soziale Frieden ohne das ange-strebte Wirtschaftswachstum gesichert wer-den könne. Folgt man ihm, so wird dersozialpolitische Auftrag des Staates prak-tisch nur durch die Belastbarkeit der Wirt-schaft und die Finanzkraft des Staates unddessen Bereitschaft begrenzt, diese Begren-zung durch Staatsverschuldung zu erwei-tern.

3 Sozialstaat und kleine Lebenskreise

3.1 Bereitschaft zur VerantwortungUnsere Überlegungen und Empfehlungenzur Erneuerung der Familienpolitik undihrer Erweiterung auf die kleinen Lebens-kreise, nachbarschaftliche Netzwerke unddie kommunale Basis beruhen auf unsererÜberzeugung, dass eine derartige Erneue-rung nur erfolgreich sein wird, wenn esgelingt, bürgerlicher Freiheit und Verant-wortung für sich und den Nächsten nichtnur in der Familienpolitik, sondern auch inder Sozialpolitik mehr Raum zu sichern.Zwar zählt die Familienpolitik nicht unmit-telbar zum Bereich der Sozialpolitik. Sie istjedoch auf so vielfältige Weise mit jenerverbunden und vernetzt, dass es kaummöglich erscheint, in der FamilienpolitikEinstellungen der Menschen zur Freiheitund Übernahme von mehr eigener Verant-wortung zum Durchbruch zu verhelfen, diein der Sozialpolitik selbst auf entschiedeneAblehnung stoßen. Umso wichtigererscheint es uns deshalb, mit der familien-

politischen Erneuerung zugleich deutlich zumachen, dass es ohne sie kaum gelingenkann, Freiheit und Eigenverantwortung inder allgemeinen Sozialpolitik mehr Aner-kennung und Entfaltungsmöglichkeiten zusichern.

Der wichtigste Grund für diesen Zusammen-hang erscheint uns offensichtlich. Nicht –wie im wilhelminischen Deutschland des19. Jahrhunderts – die Armee, sondern dieFamilie, die kleinen Lebenskreise und diekommunale Ebene sind heute die eigentli-che Schule der Demokratie. Nur dort kön-nen die ersten Grundlagen für eine verant-wortungsvolle Handhabung persönlicherFreiheit, für die Bedeutung von Eigenver-antwortung und Verantwortung für dieNächsten durch Vorbild und eigenes Erle-ben erworben werden.

Ohne diese Fähigkeiten und Tugendenhaben die Demokratie und ihre Zivilgesell-schaft keine Zukunft, die diesen Namen ver-dient. Denn aus diesen Fähigkeiten undTugenden erwachsen Voraussetzungen fürden Erfolg eines demokratischen Staates,auf die er für seinen Bestand angewiesenist, die er aber nicht selbst zu erzeugen ver-mag. Ohne sie fehlt den Bürgern aber auchdie Kraft, sich der Versuchung zu erwehren,Freiheit und Eigenverantwortung einzutau-schen gegen scheinbare Selbstverwirkli-chung und staatliche Sicherheit – und damitbeides zu riskieren.

Dass diese besonderen Voraussetzungensich in einer freien Bürgergesellschaft ent-wickeln und ständig vorhanden sind, istnicht selbstverständlich. Es ist das Ergebnisständiger Bemühungen eines jeden Einzel-nen, seiner Familien, seines Lebensumfeldesund der Gesamtgesellschaft um denBestand, die Entwicklung und Erneuerungder tragenden politischen und kulturellenGrundlagen ihrer freiheitlichen Ordnung. InLändern, in denen unsere Erfahrungen mitdem verbrecherischen Missbrauch staats-

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bürgerlicher Loyalität nicht wie in Deutsch-land Teil der Geschichte geworden sind,könnte man von der Seele der Nationsprechen.

Die gegenwärtige Bereitschaft der Bevölke-rung, für ihre Freiheit einzustehen und Ver-antwortung für sich und die Gemeinschaftzu übernehmen, ist nicht besonders hochentwickelt. Später wird noch von demUmstand die Rede sein, dass in der Fami-lien- und Sozialpolitik unserer Gegenwartnach wie vor das Echo der Denkstrukturenzu hören ist, die vor 150 Jahren das Verhält-nis vom Obrigkeitsstaat und seinem Unter-tan prägten. Aber auch wer sich an derDirektheit dieser Beobachtung stößt, musszur Kenntnis nehmen, dass sich der umfas-sende Wohlfahrtsstaat bei der großen Mehr-heit unserer Bevölkerung großer Zustim-mung erfreut. Unter dem Eindruck derschweren Wirtschafts- und Finanzkrise undder Leistungen, die der Staat zu ihrer Über-windung erbringt, wird sie weiter zuneh-men. In der Tat muss das Ausmaß derzusätzlichen Leistungen beeindrucken, mitdenen der Sozialstaat die Auswirkung derKrise auf die Bevölkerung zu dämpfensucht. Selbst von einer nachhaltigen Famili-enpolitik wird derzeit eine Stärkung desWirtschaftswachstums und die Steigerungder einzelwirtschaftlich dringend notwendi-gen Renditen erhofft.

Fasst man die Tendenz zusammen, die sichaus einschlägigen Umfragen ablesen lässt,dann ergibt sich folgendes Bild: Die Mehr-heit der Bevölkerung hält den Staat, dersich intensiv um seine Bürger kümmert, sieumfassend absichert und eingreift, wenn esin der Wirtschaft Schwierigkeiten gibt, kurz:den interventionistischen und vormund-schaftlichen Wohlfahrtsstaat für gerechter,wohlstandsfördernder und menschlicher. Ergenießt ein weit höheres Ansehen als derStaat, der sich auf die notwendigen Absi-cherungen der Bürger gegen Krisenfälle undlangfristige Risiken konzentriert, im Bereich

der Wirtschaft durch wirksame Rahmenbe-dingungen wirtschaftliche Macht verhindertoder an besondere Begrenzung bindet unddie für eine soziale Marktwirtschaft gebote-nen Spielregeln durchsetzt. Nur wenn es ummehr Freiheit geht, findet der liberale Staatmehr Zuspruch.

So überrascht es auch nicht, mit welchenAuswirkungen die Befragten in einerUmfrage aus dem Jahre 2005 für den Fallrechneten, der Staat würde in Zukunft weni-ger Aufgaben übernehmen und den Bürgernwieder mehr Raum für Freiheit in Verant-wortung lassen (Biedenkopf 2006). Ermuti-gend ist, dass rund die Hälfte der Befragtenmeint, der Zusammenhalt der Familie werdedann wichtiger. Aber 61 Prozent erwartenauch, dass die Reichen dann immer reicher,die Armen immer ärmer würden. Nur 14Prozent glauben, es würde mehr Solidarität,mehr Zusammenhalt zwischen den Men-schen geben. Dagegen sind 62 Prozentdavon überzeugt, die Gesellschaft werdekälter und egoistischer. 42 Prozent sagenvoraus, dass es mehr Arbeitslose gebenwerde. 53 Prozent sind überzeugt, nur nochdie Starken würden sich durchsetzen. Dassdas Selbstbewusstsein der Bevölkerungwachsen und die Menschen sich mehrzutrauen könnten, erwarten gerade einmal13 Prozent. 71 Prozent sind überzeugt, dieAbsicherung für Krankheit und Alter werdeschlechter. An mehr Wohlstand glaubt prak-tisch niemand. Aber 33 Prozent sehenvoraus, dass das Anspruchsdenken zurück-gehe und man genügsamer werde. Und rund38 Prozent fürchten soziale Unruhen. Wieandere jüngere Umfragen zeigen, hat sich andieser Haltung wenig verändert. Der umfas-sende Sozialstaat ist in Deutschland fest ver-wurzelt.

Jeder Versuch, das bestehende Verhältnisvon selbstverantworteter Freiheit und wohl-fahrtsstaatlichem Anspruch in der Familien-politik zugunsten von mehr Freiheit undVerantwortung zu verändern, wird deshalb

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nicht nur bei den familienpolitischen Besitz-ständen, sondern im gesamten Sozialsystemauf Widerstand stoßen. Denn die derzeitpolitisch wirksamen Mehrheiten sehen indem Versuch, den Sozialstaat durch eineErweiterung von Subsidiarität und persona-ler Solidarität zu begrenzen, eine Bedro-hung der sozialen Ordnung und des sozia-len Friedens in der Bundesrepublik. Siewerden fordern, die soziale Sicherheit, diedurch den Sozialstaat gewährt werde, nichtdurch derartige Experimente zu gefährden.Mit der Ermöglichung von mehr Freiheitund Verantwortung für den Einzelnen undseine kleinen Lebenskreise würden auf diebetroffenen Bürger Risiken abgewälzt,deren Bewältigung sie nicht gewachsenseien. Sie dürften ihnen deshalb auch nichtzugemutet werden. Andernfalls würden dieder Sozial- und Familienpolitik zugrundelie-genden Grundsatzentscheidungen im Sinneeines Rückbaus des Sozialstaates revidiert.Der umfassende Sozialstaat dürfe jedoch,schon angesichts seiner offensichtlichenBewährung in der gegenwärtigen schwerenKrise, nicht in Frage gestellt werden.

So sehen es in der politischen Praxis nichtnur die beiden großen Parteien. Sie werdenunterstützt von den großen Sozialverbän-den und den Organisationen des Sozialstaa-tes. Sie haben sich – wie die Rothenfelser esvoraussahen – längst zu eigenständigen poli-tischen Kräften des Sozialstaates entwickelt.Die Notwendigkeit von Veränderungen –diesmal im Bereich der Familienpolitik –wird von ihnen so lange geleugnet werden,bis die Beweise für die zunehmende Wider-sprüchlichkeit ihrer Strukturen mit dererlebten Wirklichkeit und den voraussehba-ren Entwicklungen trotz ihrer Eindeutigkeitnicht politisch wirksam werden.

3.2 Wiederbelebung der Subsidiarität inder SozialpolitikUngeachtet der Widerstände, die sich ihmentgegenstellen werden, halten wir gleich-wohl den Versuch, Subsidiarität und perso-

nale Solidarität in der Familienpolitik und inden mit ihr verbundenen sozialen Systemenwieder zu beleben, nicht nur für geboten,sondern unter den obwaltenden Bedingun-gen und Entwicklungsperspektiven desGesamtstaates auch für aussichtsreich. Dennin der Bevölkerung verdichtet sich nicht nurder Verdacht, der Sozialstaat könne seineZusagen nicht mehr verlässlich einhaltenangesichts der Folgen der demographischenEntwicklungen in Deutschland und derWelt, des nachlassenden Wirtschaftswachs-tums, der schnell anwachsenden Staats-verschuldung mit ihrer zunehmenden Zins-belastung, der Zunahme der Arbeitslosigkeitund der Folgen der Globalisierung derMärkte.

Es verstärken sich, vor allem in der jünge-ren Generation, auch die Zweifel an derZukunftsfähigkeit der derzeit dominieren-den wirtschaftlichen Sinngebung desLebens. Die bisherigen Zukunftsentwürfeerscheinen ihnen verbraucht. Neue Ent-würfe, die ihnen Orientierung und den Mutvermitteln könnten, sich zu engagieren undihr Leben zu bejahen, haben sich noch nichtentwickelt. Beides sind die für einenUmbruch, genauer einen Paradigmenwech-sel kennzeichnenden Erfahrungen. Vorihrem Hintergrund erscheint vielen daspolitische Versprechen sozialer Sicherheitdurch den Zentralstaat nicht länger vertrau-enswürdig. Ohne Übertreibung können wirfeststellen, dass sich nicht nur unsere äuße-ren Lebensverhältnisse im Umbruch befin-den. Erschüttert sind auch die Lebens-gewissheiten, die uns in den vergangenenJahrzehnten Orientierung und Halt gebotenhaben.

Die damit verbundenen Unsicherheiten undÄngste lassen sich nicht allein durch politi-sche Maßnahmen überwinden, die durchdie Ereignisse der Stunde geboten seinmögen. Sie verlangen eine Rückbesinnungauf die Grundlagen menschlicher Gesell-schaft und auf die Bedingungen staatlicher

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22 23 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

Existenz, die unser Staat in unserer Kulturund unseren Wertvorstellungen vorfindet,aber nicht aus eigener Kraft erneuern kann.Zu diesen Grundlagen gehört zuvorderst dieFamilie. In Zeiten des Umbruchs und verlo-rener Gewissheiten ist sie der Ort, an demMenschen Zuflucht und jene Zuwendung,Empathie und personale Solidarität erfah-ren, ohne die ihnen das Leben kalt undletztlich ohne Sinn erscheint. Wer, wie wirÄlteren, die Zeit des Umbruchs unmittelbarnach der Katastrophe des Zweiten Welt-kriegs erfahren hat, weiß um die Bedeutungder Familie als einzig verbliebenem Ort derZuflucht – und um die Stabilität ihrer vor-staatlichen Fundamente, auf denen siegründet.

Für unsere Empfehlung, eine Familienpoli-tik zu entwickeln, die die Familie im Koordi-natensystem von Subsidiarität und persona-ler Solidarität ansiedelt und mit den kleinenLebenskreisen und der Kommune verbin-det, ist dieser Befund von durchaus prakti-scher Bedeutung. Denn die Familienpolitikzielt auf die politische Gestaltung des Rau-mes, der durch Familie und kleine Lebens-kreise definiert wird und in dem Freiheit,Verantwortung und personale Solidarität imGeben und Nehmen am unmittelbarstenerfahren werden können. In dem eszugleich möglich ist, die sozialen Einrich-tungen des Zentralstaates als das zu erfah-ren, was sie sein sollten: der Sicherung vonFreiheit dienende Einrichtungen, die subsi-diär dort Verantwortung übernehmen, wodie Kraft der Familie und ihrer kleinenLebenskreise versagt.

Darüber hinaus gefragt: Vielleicht könntesich in der Verwirklichung eines solchenKonzepts von Familie und kleinen Lebens-kreisen eine sinnstiftende Alternativeandeuten zu einer Welt der ständigen mate-riellen Wohlstandssteigerung, deren zuneh-mende Leistungsanforderung durch ihreabnehmende Plausibilität widerlegt wird?Eine Alternative, die ihre Legitimation aus

der Vielfalt und wachsenden Bedeutung dergeschützten Räume der Subsidiarität erhält,aus ihrer Fähigkeit zur Aktivierung perso-naler Solidarität und ihrer schützenden undmediatisierenden Rolle, wenn es um dieKonfrontation des Einzelnen mit dem Staatund seinen hoheitlich organisierten Sozial-strukturen geht.

Eine Alternative nicht nur im Sinne neuerFormen der Organisation menschlichenZusammenlebens, sondern auch einesneuen Verhältnisses von materiellen undimmateriellen Bedürfnissen der Menschen.Mit einer neuen Lebenskultur, die aufmenschheitsgeschichtlich erworbene Erfah-rungen zurückgreift und diese auf frucht-bare Weise mit den Vorstellungen, Erfah-rungen und Bedingungen unserer Gegen-wart und Zukunft zusammenführt. Die soNeues schafft. Neues, das der ErkenntnisRechnung trägt, dass ein Volk nur dann eineZukunft hat, wenn es in seiner Gegenwartdie Fähigkeit besitzt, auf die Stimmen derAhnen zu hören und die Lebensinteressender Nachkommen zu respektieren.

Sieht man unsere Überlegungen in diesemgrößeren Kontext und wägt sie gegen diegegenwärtigen Unsicherheiten, dannerscheint es uns zumindest aussichtsreichund zugleich wichtig, sie in diesen Zusam-menhängen und angesichts der Risiken zudiskutieren, die mit einer Fortsetzung dergegenwärtigen Sozialpolitik verbunden sind.

Zwischen der Leistungsfähigkeit der heuti-gen Sozialpolitik – einschließlich der mate-riellen Dimensionen der Familienpolitik –und Wirtschaftswachstum besteht seit ihrerBegründung ein unmittelbarer Zusammen-hang. Mit der Expansion des BIP expandier-ten auch die sozialpolitischen Ansprüche andie gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung.Wirtschaftswachstum als verlässliches Zielder Wirtschaftspolitik und als Basis füreinen weiteren Ausbau des Sozialen verliertjedoch an Überzeugungskraft. Insbesondere

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die jüngere Generation, deren Zukunft dieneue Familienpolitik dienen soll, zweifeltzunehmend an der sinnstiftenden Wirkungvon Wirtschaftswachstum. In der Gesamtbe-völkerung nimmt die Bereitschaft ab, sichfür das Wachstumsziel durch persönlicheLeistung zu engagieren (Miegel/Petersen2008). Die Anforderungen, die die Wachs-tumspolitik an die Bevölkerung stellt, sto-ßen zunehmend an Grenzen. Sie werdenvon der großen Mehrheit der Bevölkerungimmer weniger getragen. Damit erscheintauch die wirtschaftliche Grundlage derbestehenden Sozialsysteme gefährdet.

In den geburtenstarken Jahrgängen wächstangesichts der schnell steigenden Staatsver-schuldung und einer absehbar drohendenInflationsgefahr die Sorge um die Verläss-lichkeit der gesetzlichen Alterssicherung.Unter dem Eindruck der Krise wird deut-lich, dass diese Verlässlichkeit bereits seitJahren erodiert und keine Wege erkennbarsind, diesen Zustand im bestehenden Sys-tem zu überwinden. Die Suche nach alterna-tiven Sicherheiten wird deshalb vor allembei jenen dringender, die keine eigeneFamilie haben. Zugleich wächst die Einsichtin die Kosten, die mit einem Singlelebenverbunden sind und in Zukunft verbundensein werden: materielle wie immaterielleKosten.

Den geburtenstarken Jahrgängen wirdzunehmend bewusst, dass es ihnen trotzihrer zahlenmäßigen politischen Stärke bis-her nicht gelungen ist, die sozialen Systemean die Herausforderungen einer globalenWelt, wachsender Bevölkerungszahlen undzunehmender Konkurrenz im Weltmarktanzupassen. Ebenso erkennen sie, dass dieGeneration ihrer Kinder kaum bereit seinwird, diesen Mangel an politischem Gestal-tungswillen als Begründung für die Belas-tungen zu akzeptieren, die ihnen darauserwachsen werden.

Positiv gewendet, zeigen Umfragen, wie-derum speziell unter den Jüngeren, dass dieBevölkerung im Begriff ist, die Geborgenheitder Familie und der kleinen Lebenskreiseneu zu entdecken. Zu Recht sieht derjüngste familienpolitische Bericht der Bun-desregierung darin ein Zeichen der Ermuti-gung. Mit der Neubewertung der Familie alsLebensmittelpunkt und Raum personalerSolidarität wächst auch das Interesse daran,diesen Raum ohne ständig drohende für-und vorsorgestaatliche Interventionengestalten zu können. Die Bedeutung derabstrakten Grundsätze Subsidiarität undSolidarität wird erlebbar und damit auchpolitisch wirksam.

Die Chancen, die Kommunen für das neuefamilienpolitische Konzept zu gewinnen,sind groß. Die Kommunen in Deutschlandleiden schon lange unter der Aushöhlungihrer Kompetenzen durch zunehmende Zen-tralisation, sei es durch das Finanzsystemoder direkte Eingriffe und Kompetenzbe-schränkungen. Das vielfach in diesemZusammenhang vorgetragene Argument, dieKommune sei schon mangels ausreichenderProfessionalität nicht in der Lage, mit einerErweiterung ihrer Zuständigkeiten sinnvollumzugehen, ist nicht frei von Zynismus.Denn die abnehmende Bereitschaft qualifi-zierter Personen, sich auf der kommunalenEbene politisch oder administrativ zu enga-gieren, ist zu einem wesentlichen Teil aufeben die Kompetenzentleerung zurückzu-führen, der nach unseren Vorstellungen Ein-halt geboten werden muss. Wenn aus kei-nem anderen Grund, dann wegen der famili-enpolitischen Bedeutung, die der Kommunezukommt und ohne die eine Erneuerung derFamilienpolitik im hier vorgetragenen Sinnekaum möglich sein wird.

Generell wächst – auch mit der Krise, abernicht nur ihretwegen – das Gefühl der Bür-ger, Kräften ausgeliefert zu sein, die sieweder kennen noch verstehen. Sie wollenmehr Mitgestaltung ihrer Lebensverhält-

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24 25 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

nisse. Das gelingt vor allem vor Ort.Zugleich beginnen sie sich gegen dieAbhängigkeiten zur Wehr zu setzen, diefür sie aus den zentralen Institutionen desSozialstaates herrühren. Es sind vor allemAbhängigkeiten, die aus der Intransparenzbürokratischer Prozesse erwachsen. Dieallerdings aus Gründen, die in der Naturdieses Prozesses liegen, auch nicht über-wunden werden können. Wo immer in derVergangenheit der Versuch unternommenwurde, die Bürger über derartige Prozessezu »informieren«, hat die Information eherzu weiterer Verwirrung beigetragen. Büro-kratische Verfahren lassen sich nicht durchInformation verstehbar gestalten, sondernnur durch Verlagerung auf die Ebene, aufder sie auch ihre Wirkung entfalten.Vor allem die kommunale Ebene ist dafürgeeignet.

Diese und andere Bedingungen drängendazu, die Autonomie der Kommunen zustärken und auf dieser Ebene mehr verant-wortete Freiheit zu sichern: in dem Ord-nungsverhältnis von personaler Solidarität,Subsidiarität, den Netzwerken und demkommunalen Raum.

3.3 Die kleinen Lebenskreise als Ortder SubsidiaritätDie wohl bedeutsamste Voraussetzung füreine neue Familienpolitik ist es, die Subsi-diaritätsfähigkeit der Familie wiederzuge-winnen. Darunter verstehen wir die Mög-lichkeit der Institution Familie, ihre recht-lich gesicherten und praktisch mobilisierba-ren Fähigkeiten selbstbestimmt zu entfalten,den durch Subsidiarität geschützten Raumder Freiheit und Eigenverantwortung wirk-sam auszufüllen, sich staatlichen Interven-tionen in den Kernbereich der Familie zuerwehren und ihre Mitglieder vor den Fol-gen derartiger Interventionen zu schützen.Diese Fähigkeiten hat die Familie im Zugeder fortschreitenden interventionistischenstaatlichen Förderungen zunehmend einge-büßt. Nicht nur der einzelne Bürger, auch

die Familie wurde durch die umfassendeSozialpolitik konditioniert, gewissermaßendazu erzogen, weniger in der Ausübungihrer Eigenverantwortung als in der staatli-chen Förderung ihrer Sicherheit zu sehen.

Das Familienideal des 19. Jahrhunderts hatdie Realitäten nicht überlebt – den Gebur-tenrückgang, die technisch-naturwissen-schaftliche Revolution der Wirtschaft unddes Lebens, die durch Wohlstandssteige-rung getriebene Vermehrung der für jedenBürger verfügbaren Optionen und Verfüh-rungen und die relativierte, praktisch zurDisposition gestellte Idee der lebenslangenBindung durch die Ehe. Mit ihr wurdenauch die Wertvorstellungen der damaligenZeit durch einen neuen Wertekanon abge-löst.

In diesem neuen Wertekanon verschob sichdas Verhältnis von Freiheit und personalerVerantwortung ebenso wie das Verhältnisvon personaler, in der Verantwortung fürden Nächsten begründeten Solidarität undder staatlichen, durch Gesetz angeordnetenkollektiven Solidarität des umfassendenSozialstaates. Der personalen Verantwor-tung ging die Evidenz ihrer Unverzichtbar-keit zunehmend verloren. Zugleich wuchsdie Versuchung, Freiheit als Selbstverwirk-lichung zu begreifen und die mit Freiheitverbundene personale Verantwortung imTausch gegen persönliche Unabhängigkeitan den Staat abzutreten. Der umfassendeSozialstaat hat sich den Anforderungen die-ser Entwicklung nicht verweigert. Er hatihnen entsprochen und sie politisch beför-dert. Dass eine große Mehrheit unsererBevölkerung im Sozialstaat heute deneigentlichen Garanten umfassender Sicher-heit sieht, ist auch auf diese Veränderungenzurückzuführen.

Diese Entwicklungen haben während derletzten Jahrzehnte zu einem Prozess derfaktischen Relativierung von Ehe und Fami-lie als eigenständigen Institutionen geführt.

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Was vielfach übrig geblieben ist, reicht füreine subsidiaritätsfähige Struktur nicht aus.So konnte sich eine Vielzahl von Teilstruk-turen entwickeln: nicht zuletzt die Bedarfs-gemeinschaft, die bereits zur Regel gewor-dene Ein-Eltern-Familie, Kinder mit undohne Trauschein der Eltern, Unterhaltsan-sprüche unabhängig von eherechtlichenBeziehungen zwischen den Eltern, Anwen-dung des Eherechts auf eingeschlechtlichePaare – bis hin zum Adoptionsrecht undneuerdings kirchlicher Trauung als ausrei-chender Legitimation. All dies – und jedesfür sich – lässt sich als Modernisierung derInstitute Ehe und Familie durchaus erklä-ren. In der Realität können viele der neuenGestaltungsformen die wichtigsten Aufga-ben nicht mehr erfüllen, die der Familie undden kleinen Lebenskreisen in einer durchSubsidiarität geprägten Gesellschaft vorbe-halten sind. Sie können die Mitglieder nichtlänger gegen staatliche Interventionenschützen. Der Freiraum für eigenständige,selbstverantwortete Lebensgestaltung inGemeinschaft mit anderen ist weitgehendaufgehoben.

Im Selbstverständnis der heutigen Kern-familie spiegeln sich diese Veränderungenebenso wider wie in ihrer Eingebundenheitin die Systeme und Strukturen umfassenderstaatlicher Betreuung. In dem Maße, in demstaatliche Vorsorge und Fürsorge an dieStelle traditioneller Verantwortlichkeitender Familie traten, konnte man auf die inder Familiensolidarität angelegte Verant-wortung verzichten. Aus ergänzenden, sub-sidiären staatlichen Zuständigkeiten undLeistungen wurden ergänzende, subsidiäreFamilienzuständigkeiten. Von der überge-ordneten Gemeinschaft – letztlich vom Staat– werden diese Familienzuständigkeitenheute vor allem dann in Anspruch genom-men, wenn die Grenzen staatlicher Leis-tungsfähigkeit erreicht sind.

Nicht die Hilfe zur Selbsthilfe bestimmt dasVerhältnis des Staates zu den kleinen

Lebenskreisen. Erwartet wird Selbsthilfe,wo der Sozialstaat versagt oder sich alsunzureichend leistungsfähig erweist. DasSubsidiaritätsprinzip wurde so im Laufe derZeit gewissermaßen auf den Kopf gestellt.Forderungen nach mehr Chancen zur Eigen-verantwortung für alle, die dazu in der Lagesind, werden nicht länger als Ausdruckgelebter verantworteter Freiheit gesehen.Sie werden verstanden als Gefährdung desSozialstaates und seines umfassendenZuständigkeitsanspruches.

Die Kernfamilie, die auf diese Weise subsi-diär in Anspruch genommen wird, wenn esum die Ergänzung unzureichender staatli-cher Leistungen geht, verliert mit dieserReduktion jedoch auf Dauer auch die Fähig-keit, ihre durch die staatliche Sozial- undFamilienpolitik besetzte originäre Verant-wortung wieder zu beleben und auszuüben.Darunter leidet nicht nur ihre Subsidiari-tätsfähigkeit. Auch ihr innerer Zusammen-halt wird geschwächt. Denn die Evidenz sei-ner Notwendigkeit nimmt als Folge staatli-cher Verantwortungsübernahme ab. So kannsich auch deshalb eine Vielzahl von Teil-strukturen entwickeln, die familienähnlicheFunktionen übernehmen, ohne dassdadurch der soziale Schutz ihrer Mitgliederdurch den Sozialstaat zurückgedrängtwürde.

Mit dieser Entwicklung verliert die Kernfa-milie und der um sie gebildete kleineLebenskreis schließlich auch die Kraft zuLeistungen, die der Staat nicht oder nurunzureichend übernehmen kann. Zu ihnenzählen vor allem ihre Aufgaben bei derFrüherziehung und -sozialisierung der Kin-der. Eine wichtige Rolle wird in Zukunftauch die Übernahme von Mitverantwortungfür ältere, vor allem für pflegebedürftigeund kranke Angehörige, aber auch für Men-schen spielen, die keine direkten Angehöri-gen haben. Ihre Bedeutung wird mit demAltern der Bevölkerung schnell zunehmen.Sollten die staatlichen Solidarsysteme bei

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26 27 I. Die Bedeutung der kleinen Lebenskreise

der Wahrnehmung dieser Verantwortung anihre Grenzen stoßen und die Kernfamilienden Belastungen durch subsidiäre Leistun-gen nicht gewachsen sein, könnten sichneuartige Probleme in Gestalt eines kollekti-ven und personalen Solidaritätsversagensentwickeln.

Dass die finanziellen Gestaltungsspielräumeder aktiven Bevölkerung in den kommendenJahrzehnten kleiner werden, ist bereitsheute absehbar. Die Wachstumsraten sindnicht zu erwarten, die notwendig wären, umdie Belastungen auszugleichen, die durcheine hohe Staatsverschuldung, steigendePreise für wesentliche Grundbedürfnisse,wachsende Kosten der Sozialsysteme,immer höhere Investitionen in Ausbildungund Bildung, in Wissen und in politischeund ökologische Sicherheit ausgelöst wer-den. Selbst wenn dieses Wachstum möglichwäre, würde es an der Bereitschaft der gro-ßen Mehrheit der Bevölkerung fehlen, dienotwendigen Mehrleistungen zu erbringen,sei es durch eigene Arbeit, durch Kapitalbil-dung zu Lasten ihres Konsums oder durchhöhere staatliche Belastungen.

So könnte sich eines Tages ein wirksamersozialer Druck aufbauen, dem sich Men-schen ohne Familie, in Einsamkeit, inAltersheimen oder als Pflegefälle umsoweniger entziehen können, je geringer derSchutz ist, den ihnen Familien und kleineLebenskreise gewähren. Denn je unverhält-nismäßiger die Belastungen der aktivenGenerationen durch die nicht mehr Aktivenwerden, weil keine Strukturen entwickeltwurden, die eine neuartige Lastenverteilungerlauben, umso offener wird sich die Versu-chung melden, die Alten zu ermutigen,diese Last aus Gründen der Solidarität mitden Jüngeren durch die freiwillige Beendi-gung ihres Lebens zu verringern. »Freiwil-lige« Frühverrentung, um Jüngeren Platz zumachen; »freiwillige« Lebensverkürzung, umJüngere zu entlasten. In der seit einiger Zeitgeführten Debatte über die Zulässigkeit von

Sterbehilfe und das »selbstbestimmte«Lebensende könnte sich diese Versuchungbereits ankündigen. Dafür spricht, dass sichin einer Allensbach-Umfrage vom Sommer2008 58 Prozent der Befragten unterbestimmten Bedingungen für eine aktiveSterbehilfe und 72 Prozent für eine passiveSterbehilfe ausgesprochen haben.

Umso wichtiger ist es deshalb, nicht nur aufdie in der Vergangenheit entwickelte Sozial-ordnung zu bauen, sondern vor allem aufdie Regenerationskraft der Familien, derkleinen Lebenskreise und der Kommunen.Diese bieten jenen ihr staatliches Gehäuseals Wirkungsraum und ihre – im Kernbe-reich – verfassungsrechtlich geschützteAutonomie als Schutz gegen Interventionendes Gesamtstaates, wenn dieser sichanschickt, die Machtfrage der Subsidiaritätzu seinen Gunsten zu entscheiden.

Aus all dem folgt: Der »subsidiaritätsfähigeLebenskreis«, im Idealfalle um die Kernfa-milie gebildet, mit anderen Lebenskreisenvernetzt und durch die kommunale Ebenegetragen und ermutigt, ist eine unverzicht-bare Voraussetzung für personale Selbstän-digkeit und Selbstbestimmung in derGemeinschaft mit anderen und für einegemeinsame Bewältigung von Lebenschan-cen und Lebensrisiken. Für einen Auftrag,der über die Reproduktion der Gesellschaftin ausreichendem Umfang hinausweist – aufdie Gestaltung eines familienfreundlichenUmfeldes, das nicht nur den Eltern die Ver-wirklichung ihrer Lebensentwürfe gestattet,sondern im Zusammenwirken mit kleinenLebenskreisen, Nachbarschaft und Kom-mune das Wohl aller drei Generationen imBlick hat.

Mit den gegenwärtigen Krisen und denabsehbaren Folgebelastungen, die der staat-lichen Ebene bereits heute erwachsen,eröffnet sich zugleich die Chance, Subsidia-rität und personaler Solidarität wieder zuihrem Recht zu verhelfen und Familien und

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kleinen Lebenskreisen ein Tor für mehrFreiheit »an der Basis« zu öffnen. Gelingt es,dieses Tor zu nutzen, dann werden sichauch die großen Systeme nicht der Notwen-digkeit verweigern können, dezentraleStrukturen zu entwickeln, sich zunehmen-der Vielfalt zu öffnen und – da ihnen diesnur begrenzt gelingen kann – sich aufsoziale Garantien durch Grundsicherungund Grundversorgung zu begrenzen. Dassdies angesichts der Größe und desGewichts, des politischen Einflusses und desWiderstandes der sozialpolitischen Besitz-stände zu einer Machtfrage werden muss,ist offensichtlich. Mit Unterstützung derneuen Wirklichkeiten und ihrer Prioritätenfür den Einzelnen und seine Lebensweltkann sie gleichwohl für mehr Subsidiaritätund personale Solidarität und damit fürmehr Freiheit entschieden werden.

Alles das heißt: Die Familie muss sich prak-tisch neu erfinden. Sie wird sich wiederfin-den in Gestaltungsformen, die ihre Krafterneuern, sie für die neuen Herausforde-rungen wappnen, zur Empathie und Gebor-genheit befähigen und Raum für alle bieten,die eine Aufgabe und Selbstvergewisserungin einer Gemeinschaft suchen, die solida-risch ist und gleichwohl ihre Individualitätrespektiert. Vielleicht wird es eine Genera-tion dauern. Aber die neue Generation, diederzeit heranwächst, wird – schon ausGründen ihres eigenen Wohls und einesneuen Verständnisses von Gerechtigkeitzwischen Jungen und Alten – mehr Raumfür Freiheit und Eigenverantwortung for-dern. Sie wird in den Zielen der ökonomi-sierten Gegenwart wieder Zwecke, abernicht Sinngebung sehen, in Zusammenhän-gen denken und unter Kultur mehr verste-hen als wirtschaftlich bedeutsame Standort-vorteile. Wenn nicht schon früher: Mit derneuen Generation wird es möglich sein,Subsidiarität und personale Solidarität wie-der vom Kopf auf die Füße zu stellen. Undes wird Freude machen.

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28 29 II. Subsidiarität in der modernenGesellschaft

Die Idee der Subsidiarität hat wenig sicht-bare Gegner. Im Gegenteil: Das Prinzip, klei-nen Lebenskreisen bei der Lösung individu-eller, familiärer und auch sozialer undgesellschaftlicher Probleme den Vorrang zugeben, ist populär. Wenn das Engagementvon Nachbarschaften, Kommunen, Kirchenoder neu entstandenen Wahlfamilien gelobtoder auch gefordert wird, ist selten Wider-spruch zu hören. Warum auch? Dennoch istdie Subsidiaritätsidee weit von einer wirkli-chen Entfaltung entfernt. Denn für ihreUmsetzung ist mehr nötig als vage Sympa-thie.

Viele Strukturen in Deutschland sind aufandere Lösungswege für soziale und gesell-schaftliche Aufgaben ausgerichtet: Entwederder Staat erbringt soziale Dienstleistungenselbst oder er stützt Familienangehörige,meistens Mütter, die durch Instrumente wiedie Witwenrente, das Ehegattensplittingoder die beitragsfreie Mitversicherung inder gesetzlichen Krankenkasse dafürbelohnt werden, dass sie beispielsweise dieErziehung der Kinder oder andere häusli-che Aufgaben übernehmen. Staat oderKleinfamilie – diese beiden Institutionenwerden von deutschen Steuer- und Beitrags-zahlern finanziert, damit sie Fürsorgeleis-tungen erbringen. Die pflegende Schwieger-tochter oder der professionelle Altenpflegerim Heim sind beispielsweise bei der Betreu-ung der Älteren die Norm. Und währendsich die Demenz-Wohngemeinschaft geradenoch in das bestehende Sozialversiche-rungskonzept integrieren lässt, wird esschon schwieriger mit dem pflegendenNachbarn oder fünf befreundeten Alten, diesich eine Pflegekraft teilen.

Staat einerseits, Familie andererseits: Dassind die Institutionen, die für die Entfaltungder Subsidiaritätsidee entscheidend sind.Wer die einseitige Zuständigkeitszuweisungin Frage stellt, muss daher eine Mengewagen. Er nimmt es mit den organisiertenInteressenvertretern des bestehenden Sozi-

alstaates auf – und er muss am Glauben andie Belastbarkeit und Allzuständigkeit derKleinfamilie rütteln. Beides ist nicht einfach.Bei der ersten Debatte geht es um viel Geld,bei der zweiten um viel Ideologie.

1 Sozialstaatliche RahmenbedingungenEs gibt nur wenige Lebensbereiche der Bür-ger, auf die der bestehende Sozialstaat kei-nen Einfluss nimmt. Ob wir eine Wohnungmieten oder kaufen, ob wir studieren,unsere Eltern pflegen, einen Lebenspartnerheiraten, als Pendler mit dem Auto oder mitder Bahn zur Arbeit fahren oder als Vatereines neugeborenen Kindes viel oder wenigZeit mit dem Säugling verbringen – auf allediese und noch viel mehr Entscheidungenunserer privaten Lebensführung wirkt derSozialstaat mit seinem umfangreichenInstrumentarium ein.

Zuletzt hat vor allem Stephan Lessenichgezeigt, wie allgegenwärtig unser Sozialsys-tem mit seinen Anreizen vom Elterngeld biszur Praxisgebühr geworden ist. Durch dieReformen der rot-grünen Regierung sei derSozialstaat eher noch interventionistischerund präsenter im Leben seiner Bürgergeworden, argumentiert Lessenich – etwadurch die mit Hartz IV eingeführten Pflich-ten für Arbeitslose. Daher seien geradediese Reformen nicht »neoliberal«, denn dieSelbstbestimmungsfähigkeit der Bürger seikleiner als zuvor (Lessenich 2008).

Es liegt auf der Hand, dass dieser staatlicheLenkungswille dem Subsidiaritätsprinzipentgegensteht. Wenn ein Staat seinen Bür-gern zugesteht, dass sie selbst die idealeForm des Zusammenlebens in ihren kleinenLebenskreisen, ihrer Nachbarschaft, ihrerKommune finden, gibt es für ihn selbstweniger, nicht mehr Gestaltungsaufgaben.

Doch selbst wenn dem Staat eine wichtigeRolle in der Familienpolitik zugestandenwird, wie es diese Kommission mit ihremBericht »Starke Familie« getan hat, bleibt die

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Aufgabe, die bestehende Förder- und Sank-tionspolitik daraufhin zu untersuchen, obund wann sie dem Freiheitsideal zu starkentgegensteht – und ob bestehende Instru-mentarien so verändert werden können undmüssen, dass sie den Gestaltungswillen derBürger nicht schwächen, sondern stützen.

Im Gespräch mit der Kommission haben vorallem Bert Rürup und Barbara Riedmüllerdeutlich gemacht, wie sehr der bestehendeSozialstaat die klassische Familie stärkt undstützt, dies geht auch aus deren Gastbeiträ-gen zu diesem Bericht hervor. WährendRiedmüller den Veränderungsbedarfbeschreibt, der sich mit der steigendenErwerbstätigkeit der Frauen ergibt, und alsmöglichen Ausweg eine Professionalisierungund stärkere staatliche Förderung von fami-lienbezogenen Dienstleistungen aufzeigt,betont Rürup vor allem die Wechselwirkun-gen zwischen Familien- und Sozialpolitik.

Wie viele Kinder in einem Land geborenwerden, hat weitreichende Folgen für dasSozialsystem. Wären die Geburtenratenhöher, wären Renten-, Pflege- und Kranken-versicherung weniger reformbedürftig –schließlich funktionieren die gesetzlichenSozialversicherungen nach dem Umlage-prinzip, bei dem die jeweils Erwerbstätigeneines Landes für die Generation vor ihnensorgen.

Andererseits hat der Sozialstaat Auswirkun-gen darauf, wie Paare und Familien zusam-menleben und wie kinderreich ein Land ist.Dies tut er nicht nur durch familienpoliti-sche Fördermaßnahmen wie das Elterngeld,die Familienkomponente bei der steuerli-chen Förderung der Riester-Rente oder denZuschlag, der Eltern bei der Auszahlung desArbeitslosengeldes I gewährt wird. DerSozialstaat wirkt auch mit vielen nicht fami-lienpolitisch motivierten Gesetzen auf dasZusammenleben von Paaren und ihrenNachwuchs ein. So führte die Einführungder Hartz-Reformen einerseits zu Hochzei-

ten von Paaren, die zuvor ohne Trauscheinliiert waren – und andererseits zu räumli-chen Trennungen von Paaren. Die einenheirateten wegen der Krankenversicherung– Ehepartner sind schließlich kostenlos mit-versichert bei Mitgliedern der gesetzlichenKrankenkassen, was vor allem für arbeits-lose Hartz-IV-Empfänger wichtig war. Vielevon ihnen hätten sonst ihren Versicherungs-schutz verloren. Andere Arbeitslose verlie-ßen nach dem Inkrafttreten der Reform diegemeinsam mit dem Partner angemieteteWohnung. Zu den Hartz-Reformen gehörtdas Prinzip, dass nur derjenige das Arbeits-losengeld II erhält, der »bedürftig« ist. Undbedürftig im Sinne des Gesetzes ist nie-mand, dessen Lebensunterhalt auch vomPartner finanziert werden könnte. Als Paargelten für die Arbeitsverwaltung in derRegel zusammenlebende Erwachsene, dieBett und Kühlschrank teilen.

Die Bedürftigkeitsprüfung für Paare, dieGrundsicherung beziehen, wurde als konse-quente Anwendung der Subsidiaritätsideebezeichnet: Der Staat zahlt nur, wenn Ange-hörige nicht füreinander einstehen können.Die Tatsache, dass infolge dieser Gesetzge-bung viele Paare auseinanderzogen, Für-sorge-Strukturen also geschwächt und nichtgestärkt wurden, zeigt, wie verheerend dieWirkung ist, wenn die Politik den Subsidia-ritätsgedanken nur entdeckt, wenn sie aufder Suche nach Sparmöglichkeiten undRechtfertigungen für staatliche Sanktionenist.

Der Sozialstaat nimmt also an vielerlei Stel-len Einfluss auf die Art und Weise, wiePaare und Familien zusammenleben, erfolgt dabei aber keiner expliziten Idee(wonach als Paar beispielsweise nur Ehe-leute gelten, was in der Steuer-, aber nichtin der Arbeitsmarktpolitik der Fall ist). Dasliegt auch daran, dass die Familie lange alsprivate, staatsferne Sphäre definiert wurde,wie auch Barbara Riedmüller in ihrem Bei-trag schreibt: Die Politik habe ihre Aufgabe

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30 31 II. Subsidiarität in der modernen Gesellschaft

darin gesehen, die Familien insgesamt zuunterstützen oder bei »Nicht-Funktionieren«einzuschreiten, etwa bei Kindesmisshand-lungen. Das Innenleben der Familien habeman aber lange als etwas betrachtet, wassich staatlicher Einflussnahme entziehensolle.

Dadurch habe der Staat jedoch »die vorge-fundene geschlechtsspezifische Arbeitstei-lung, die die Frau dem Haus und den Mannder öffentlichen Sphäre zuweist, institutio-nalisiert«. Das Ehegattensplitting im Steuer-recht, die abgeleiteten Ansprüche vonFrauen im System der sozialen Sicherungund die Zurückhaltung der Parteien bei derIntegration der Frauen in den Arbeitsmarkthätten das sogenannte Hausfrauenmodellmanifestiert. »Die für Deutschland typischestrikte Bindung sozialer Leistungen an denStatus der Erwerbsarbeit benachteiligtFrauen im System sozialer Sicherung, weildiese auf vom Mann abgeleitete Ansprücheverwiesen werden und die in der Familiegeleistete Arbeit nicht anerkannt wird«,heißt es in Riedmüllers Beitrag.

Ein Gegenmodell dazu hat Claus Offe in sei-nem Gespräch mit der Kommission entwi-ckelt, das er auch in seinem Beitrag vor-stellt. Im Gegensatz zum allgegenwärtigen,interventionsfreudigen Sozialstaat stellt sichdas von Offe skizzierte Grundeinkommens-modell vor allem als ein Freiheitsverspre-chen dar. Die sogenannten »Eingliederungs-maßnahmen« der Arbeitsverwaltung mit derLeitidee, dass fast jede Stelle zumutbar sei,bedeute nach Ansicht vieler Grundeinkom-mens-Befürworter eine Verletzung der Men-schenwürde, schreibt Offe. Die heimlicheÜberschrift für das Grundeinkommen seidaher das Motto »Freiheit statt Vollbeschäf-tigung«. Unter einem Grundeinkommenwird eine steuerfinanzierte, regelmäßig aus-gezahlte Transferleistung verstanden, dienicht an Bedingungen dauerhaften Einwoh-nerstatus gebunden wird und ein existenzsi-cherndes, armutvermeidendes Niveau

erreicht. Für die Debatte über kleineLebenskreise und subsidiäre Hilfsstrukturenist die Grundeinkommens-Idee wegen ihrerdoppelten Wirkung interessant: Je wenigerder Staat seine Bürger durch materielleAnreize unterschiedlichster Art zubestimmten Verhaltensweisen verleitet,desto größer ist der Freiraum für bürger-schaftliches Engagement – aber auch derBedarf danach steigt, da mit dem Wegfallvon Transfers vermutlich bestimmte Fürsor-geleistungen nicht mehr erbracht würden.

Wie aussichtsreich ist das von Offe gefor-derte Grundeinkommen? Die politischeDebatte läuft momentan eher in die entge-gengesetzte Richtung. Die Finanzmarktkrisehat das Vertrauen der Politiker und wohlauch der Bürger in den Staat gestärkt. Per-spektivisch allerdings könnte die Debatteaufgrund der demographischen Entwick-lung an Bedeutung gewinnen. Je mehr alteMenschen wegen langer Arbeitslosigkeitoder selbständiger Arbeit nur geringe Ren-tenansprüche erwerben, desto größer wirdmittelfristig der Kreis von Empfängern derbestehenden staatlichen Grundsicherungsein. Schon heute beziehen in Deutschlandknapp sechs Millionen Menschen dieseLeistung. Die damit verbundene Bedürftig-keitsprüfung bedeutet großen administrati-ven Aufwand und eine Gängelung derBetroffenen. Es ist schwer vorstellbar, dassdieser Prozess mittelfristig auch für zehn,elf oder zwölf Millionen Bürger durchge-führt wird und einer von acht Einwohnerndes Landes davon betroffen ist.

Offe macht Vorschläge, wie das Grundein-kommen schrittweise eingeführt werdenkönnte – etwa dadurch, dass die Zahlungzunächst ergänzend und auf sehr niedrigemNiveau erfolgt. Eine andere Möglichkeit sei,dass die Leistung erst auf bestimmte Bevöl-kerungsgruppen beschränkt und später uni-versalistisch ausgerichtet wird. Denkbarsind neben dem von Offe skizzierten Modellauch andere Reformkonzepte, die in eine

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ähnliche Richtung wirken, aber zumindestetwas leichter einführbar sind – etwa diesogenannte Negative Einkommensteuer, mitder das umfangreiche Transfersystem durcheinen einfachen steuerlichen Umvertei-lungsmechanismus ersetzt wird.

2 Rahmenbedingungen für denPrivathaushaltWas die zukünftige Rolle der Familie undder kleinen Lebenskreise, kurz: die neueEinheit Privathaushalt angeht, wird dieseMachtfrage teilweise durch die Entwicklungselbst entschieden werden. Denn der Privat-haushalt wird zunehmend aus seiner Leis-tungsempfänger-Identität herauswachsenund eigenständige, eigenverantwortlicheAufgaben übernehmen. Sie werden überjene weit hinausreichen, die den Privathaus-halt heute noch als Wohn- und Konsumge-meinschaft prägen und darin seine wich-tigste wirtschaftliche Funktion sehen.

Der Privathaushalt – und sein Kern, dieFamilie – wird in wachsendem UmfangArbeitgeberfunktionen übernehmen. Schonheute ist er der wichtigste Arbeitgeber inder Schattenwirtschaft, Hunderttausendevon Handwerkern, Babysittern und vorallem Pflegekräften erbringen für ihn Leis-tungen in illegalen oder halblegalen Arbeits-verhältnissen. Wenn es gelingt, das Arbeits-und Sozialverhältnis zu trennen, wird derPrivathaushalt leichter als Arbeitgeber ausdem Schatten in die Legalität treten können.Selbst unter heutigen Bedingungen gäbe esschlagartig Hunderttausende von Teilzeitar-beitsplätzen mehr, wäre der Privathaushaltnoch stärker als bisher auch steuerlich alsArbeitgeber anerkannt. Die Vorstellung,bezahlte häusliche Dienste gehörten zumpersönlichen Lebensaufwand und seien des-halb steuerlich nicht abzugsfähig, ist gewis-sermaßen ein Standbein der Schattenwirt-schaft. Politisch wurzelt sie in einer Zeit, inder es weniger erwerbstätige Frauen alsheute gab und es zudem das Privileg weni-

ger war, andere im Haushalt beschäftigen zukönnen.

Von der Praxis der Privathaushalte undderer, die in ihnen arbeiten, wird dieseüberholte Auffassung schlicht ignoriert. Mitder weiteren Dezentralisation der Arbeitund ihrer zunehmenden zeitlichen undorganisatorischen Verselbständigung wirddie Arbeitgeberfunktion des Privathaushal-tes auch in die legale Wirtschaft wachsen.Vor allem im Dienstleistungsbereich und imBereich von »Wissensarbeit« werden sichum Privathaushalte Satelliten arbeitsteiligorganisierter Produktion bilden. Besitzt derHaushalt beispielsweise Immobilienvermö-gen, muss es verwaltet werden. Einnahmenaus solchen und ähnlichen Tätigkeiten wer-den zunehmen. Damit werden in immermehr Haushalten die Grenzen fließend zwi-schen Entgeltarbeit im ersten Arbeitsmarkt,entgeltlich gegen Bezahlung oder im Aus-tausch geleisteter Arbeit, Nachbarschafts-hilfe, Leistungen in Erwartung entsprechen-der, wenn auch zeitlich versetzter Gegen-leistungen und personaler Solidaritätsleis-tungen. Bisher über Märkte arbeitsteiligorganisierte Tätigkeiten werden zum Teil indie Privathaushalte zurückwandern – unddamit auch nicht mehr im BIP erscheinen.

Wir haben in der Bundesrepublik gegenwär-tig die höchste Zahl von Ein- und Zweiper-sonenhaushalten unserer Geschichte. ImZuge der Individualisierung unserer Gesell-schaft hat sich die Bevölkerung förmlichatomisiert. Man ist auseinandergerückt undhat auf diese Weise seine Selbständigkeitbegründet. Um diese Erfahrung einerGesellschaft im Wohlstand sind wir inzwi-schen reicher geworden, aber auch um dieErkenntnis, dass es keine aufwendigereForm des Lebens gibt als die in kleinen undKleinsthaushalten. Nirgends sind die Fix-kosten einer angemessenen Lebensführunghöher als im Einpersonenhaushalt.

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Vieles spricht deshalb dafür, dass nacheiner gewissen Erschöpfung des Strebensnach Selbständigkeit und Vereinzelung dieHaushaltsgrößen wieder zunehmen werden.Zum einen ist es auf die Dauer schöner, inGemeinschaft zu leben, vor allem, wennman älter wird. Zum anderen enthält diejetzige Haushaltsstruktur eine erheblicheRationalisierungsreserve. Wenn die Bevöl-kerung sie entdeckt und beginnt, sie sich zuerschließen, wird die frei verfügbare Kauf-kraft zunehmen, selbst wenn sie insgesamtnicht ansteigt. Die Menschen werden wirt-schaftlicher leben, nicht sparsamer. DieserEntwicklung kommt entgegen, dass sich inden letzten Jahrzehnten ein neues Verständ-nis der Toleranz entwickelt hat. Die Bürgerunseres Landes gehen heute toleranter mit-einander und mit den Lebensgewohnheitender anderen um als früher. Dies wird dieVergrößerung der Haushalte als wirtschaft-liche Einheiten erleichtern. »Kostendegres-sion« als wirtschaftliches Motiv einerseitsund der Wunsch nach Gemeinsamkeit ingegenseitiger Toleranz bei ausreichenderSelbständigkeit andererseits werden dieEntwicklung zu größeren Einheiten beför-dern. Der Wohnungsbau und der gesamteWirtschaftsbereich, der zur Innenausrüs-tung der Haushalte beiträgt, werden sichdarauf einstellen.

Die Privathaushalte der Zukunft müssennicht identisch sein mit der Familie im enge-ren Sinne, wenn sie es auch regelmäßig seinwerden. Sie können als wirtschaftliche Ein-heiten über die Grenzen der Familie hinaus-greifen, sei es, dass sich drei Generationenwieder wirtschaftlich zusammentun, sei es,dass sich Haushalte auf die Verwandtschaftausdehnen. Ein vom Arbeitsverhältnis losge-löstes Sozialsystem mit wachsenden Mög-lichkeiten individueller Risikogestaltungwird diese Entwicklung begünstigen.

Gelingt es, die soziale Ordnung so zu erneu-ern, dass sie den neuen Formen des Zusam-menlebens subsidiäre Unterstützung

gewährt, werden beide gewinnen: der Pri-vathaushalt und die größere Gemeinschaft.Familie und die kleinen Lebenskreise – derPrivathaushalt – werden sich aus der sozial-politischen Vormundschaft befreien können,in die sie unser Sozialsystem vermehrt ein-bezogen hat. Ihre Selbständigkeit wirdzunehmen und damit auch ihre soziale Ver-antwortung. Aber es wird eine personaleVerantwortung sein, nicht die kollektiveanonymer Systeme.

Die Reduktion des politisch relevanten Bil-des der Familie, des Privathaushaltes undder kleinen Lebenskreise auf ihre demogra-phische und ökonomische Dimension gehörtzu den schwerwiegenden Folgen unseresgegenwärtigen Denkens. Es ist diese funk-tionale Reduktion, welche die Familie undden Privathaushalt von den Aufgabentrennt, die ihren Kern ausmachen undderentwegen Menschen schon immer inZeiten der Not ihren Schutz gesucht haben.Familie und Haushalt sind der letzte unver-letzbare Schutzraum, in dem der Menschseiner Funktionalität in den Teilrationalitä-ten des Marktes, der Arbeit und der sozia-len Systeme entkommen und zu seinerIdentität als »ungeteilter« Mensch findenkann – wenn er es will. Ob er es will – dasist eine Option der Freiheit, um die es hiergeht. Sie ist weder politisch verfügbar nochsteht sie zur Disposition gesellschaftlicherKräfte oder der Mächte des Marktes. Aberdie politische Ordnung sollte dazu beitra-gen, dass jedem, der es will, die Entschei-dung leichter gemacht wird.

Das Interesse daran steigt und wird in denkommenden Jahren noch größer werden.Die Frau oder der Mann, die eine neue Artder Familie, der Hauswirtschaft oder derkleinen Lebenskreise führen und gestalten,werden dann keinen Begründungszwang fürihr Verhalten mehr empfinden. Im Gegen-teil: Familie und Privathaushalt werden einegesellschaftliche Aufgabe übernehmen, dievon immer mehr Menschen als unverzicht-

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bar empfunden wird. Sie werden sie als einein ihrer Stärke und Bedeutung ständigzunehmende Alternative zur bürokratischenAnonymität staatlicher oder staatlich orga-nisierter und sanktionierter Vormundschafterleben. Wir werden lernen – der Not gehor-chend, wenn nicht der eigenen Einsicht –,dass wir die kommenden Herausforderun-gen ohne die Hilfe der begrenzenden Kraftder Familie und der kleinen Lebenskreisenicht überwinden können.

3 Kommunale RahmenbedingungenBei der Anwendung des Subsidiaritätsge-dankens hat die Kommune eine besondereRolle: Einerseits ist die Kommunalverwal-tung staatliches Organ, andererseits gehörtsie im Gegensatz zur Bundes- oder Landes-ebene selbst schon zu jenen kleinerenLebenskreisen, deren Selbstorganisationnach Ansicht der Kommission gestärkt wer-den soll. Deshalb ist die Ausweitung kom-munaler Kompetenzen ebenso zu unterstüt-zen wie eine Verbesserung der finanziellenAusstattung von Städten und Gemeindenetwa durch einen eigenen Hebesatz bei derEinkommensteuer.

Die Kommunen wiederum haben viele Mög-lichkeiten, die Entfaltung kleiner Lebens-kreise zu stützen – verschiedene Beispielenennt die Sammlung der Prognos AG. ObMehrgenerationenhäuser entstehen könnenund ob Nachbarschaften Raum für gemein-same Aktivitäten haben, ob Freizeiteinrich-tungen für Kinder ohne Verkehrsgefahrenerreichbar und Informationsbörsen fürFamilien gut zugänglich sind, hängt vomWillen und der Gestaltungskraft der Kom-munalpolitik ab. Zentrale Instrumente fürsolch eine Hilfsstruktur sind Stadtplanungund Wohnungsbau – allerdings sind fast alleBereiche der Kommunalpolitik bei derUnterstützung von Familien gefordert.Einige Kommunen, etwa die Stadt Bielefeld,haben sogenannte Demographiebeauftragteernannt, damit der Querschnittscharakterder Aufgaben deutlich wird.

Im Gespräch mit der Kommission haben vorallem Volker Hassemer, Peter Strohmeier,Hartmut Häussermann und Heinz Busch-kowsky deutlich gemacht, welche Rolle diekommunale Ebene bei der Stützung nach-barschaftlicher Hilfsangebote haben kann –und wie kommunale Politik für Familienaussehen kann. Häussermann, Strohmeierund Buschkowsky behandeln in ihren Bei-trägen dabei insbesondere die Frage, wiedie Chancen der nachwachsenden Genera-tion in Problemvierteln verbessert werdenkönnen.

Diese Frage ist auch für die Kommission vonzentraler Bedeutung – und auch für alleDebatten über die Stärkung kleiner Lebens-kreise. Denn gemeinhin gilt die Stärkungder Zivilgesellschaft als Konzept, das vorallem von bürgerlichen Schichten getragenwird. Eine Luxusidee, lebbar in Hamburg-Blankenese, München-Bogenhausen oderBerlin-Wilmersdorf, heißt es gelegentlich.Dort also, wo auch der Kirchenchor nichtum seine Mitglieder bangt und der normaleAnwohner seinen Abfall nicht einfach aufden Bürgersteig wirft.

Das aber sind nicht die Stadtviertel, indenen besonders viele Kinder geboren wer-den – und sind auch nicht die Stadtteile,deren Kinder besonders dringend Hilfebrauchen. Hilft also, wenn es hart auf hartkommt, doch nur der starke Staat?

Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeistervon Berlin-Neukölln, beantwortet dieseFrage im Gespräch mit der Kommission mit»Nein« – nachzulesen im beigefügten Inter-view. Ohne einen starken, selbstbewusstenStaat gehe es nicht in einem Stadtteil wieNeukölln, argumentiert Buschkowsky. Rund40 Prozent von Neuköllns Einwohnernhaben einen Migrationshintergrund, derAnteil von Transferempfängern an derBevölkerung ist groß, die Probleme von Ver-wahrlosung und Kriminalität allgegenwärtig.Buschkowsky selbst spricht von »Parallelge-

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34 35 II. Subsidiarität in der modernen Gesellschaft

sellschaften«. Der Staat und seine Vertretersollen sich nach Buschkowskys Vorstellungeher stärker als bisher in das Leben seinerBürger einmischen und beispielsweise dieEinhaltung der Schulpflicht für Kinder not-falls mit Bußgeldern und anderen Zwangs-maßnahmen durchsetzen. Auch eine allge-meine Kindergartenpflicht sei sinnvoll – undim Interesse der Kinder, deren Eltern zueiner neu entstehenden großen bildungsfer-nen Schicht gehören.

Gleichwohl ist auch Buschkowsky einAnhänger des Subsidiaritätsgedankens. Einstarker Staat ist nicht ein allzuständigerStaat, argumentiert er. Und gerade in Neu-kölln mit seinen 160 Ethnien sei der Staatauf die Unterstützung unterschiedlichsterBürger angewiesen, um problematischeGruppen mit seinen Angeboten zu errei-chen. Ein Beispiel dafür seien die sogenann-ten Stadtteilmütter – Frauen, die vom Bezirkgeschult werden und zugezogene Familienaufsuchen, die sich allein nur schwerorientieren können. Für diese Frauen öffnesich manche Tür, die sich für den staatlichfinanzierten Sozialarbeiter nicht öffne,so Buschkowsky – und gerade in der Woh-nung dahinter gebe es Kinder, die Hilfebrauchen.

Das Interview unterstreicht daher einenAnsatz der Kommission, wonach es ihr mitdem vorliegenden Bericht um eine verbes-serte Lebensqualität und mehr Entwick-lungschancen für Familien in allen Teilender Gesellschaft geht – und vielfach um eineErgänzung, nicht den Ersatz staatlicherStrukturen. Richtig verstanden bedeutetSubsidiarität, dass kleine Lebenskreise undnachbarschaftliche Hilfssysteme ihre Wir-kung entfalten, wo sie dem Staat ebenbürtigoder überlegen sind. Gerade diese Defini-tion schließt jedoch die Annahme ein, dassdies nicht für alle Bereiche der Gesellschaftund auch nicht für alle Bereiche der Famili-enpolitik geht. Nötig ist vielmehr eine guteVerknüpfung professionellen und bürger-

schaftlichen Engagements. In der öffentli-chen Debatte wird beides häufig als Gegen-satz gesehen. Entweder der Staat kümmertsich – oder die Kirche, die Nachbarn, derVerein, so die gängige Logik. Gerade in Zei-ten des Sparens liegt in dieser Denkweiseeine große Gefahr: Wenn bürgerschaftlichesEngagement deswegen misstrauisch beob-achtet wird, weil es dem Staat einen Vor-wand liefert, seinerseits Leistungen zu kür-zen oder Hilfsangebote zu verringern, wirdes nicht die gesellschaftliche Unterstützungbekommen, die nötig und angemessen wäre.Außerdem geht in der Diskussion überSparzwänge und Finanzierbarkeit von Für-sorgeleistungen leicht verloren, dass diematerielle Unterstützung bei der Förderungkleiner Lebenskreise nur eine von mehre-ren Voraussetzungen ist. Rechtliche Rah-menbedingungen sind ähnlich wichtig, vorallem aber auch eine Kultur der Anerken-nung. Schließlich engagieren sich diewenigsten Bürger aus materiellen Gründen,schon gar nicht die meisten älteren Men-schen, deren Potential für die Bewältigungzivilgesellschaftlicher Aufgaben noch längstnicht hinreichend erkannt und genutztwird.

Wie sich staatliches und bürgerschaftlichesEngagement verbinden lassen, erläutertPeter Strohmeier am Beispiel des Ruhrge-biets. Strohmeier macht deutlich, wie sicheine Kultur der Abkapselung und des Miss-trauens in sozial benachteiligten Stadtvier-teln ausbreitet. Noch in den 1950er Jahrenseien die überwiegend von deutschenArbeitern bewohnten Ruhrgebietssiedlun-gen von einem starken Zusammenhalt vonFamilien und Nachbarschaften geprägtgewesen. Zwei Drittel der Bewohner dieserViertel hätten Verwandte im gleichen Stadt-teil gehabt, die häufig auch Kollegen waren.Dass es sich um kleine Lebenskreise mitgroßem Zusammenhalt gehandelt habe,könne man daran ablesen, dass wenig staat-liche Sozialhilfe in Anspruch genommenwurde, dafür aber kirchliche, gewerkschaft-

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liche und private Hilfsangebote. Typisch seieine »Kultur des Borgens« gewesen.

Diese Strukturen verschwanden mit einerallmählichen Abwertung klassischer Indus-triearbeit sowie steigender Arbeitslosigkeit.Die Arbeiterviertel der industriellen Groß-stadt sind die Arbeitslosenviertel zu Beginndes 21. Jahrhunderts. Dort lebe, so Stroh-meier, eine »Unterklasse der Dienstleis-tungsgesellschaft«. Während die Bewohnerder proletarischen Viertel einst von beson-derer Disziplin geprägt gewesen seien, fehlediese heute – und während viele Elternihren Kindern früher großen Bildungsehr-geiz weitergegeben hätten, sei dies inzwi-schen nicht mehr selbstverständlich. Hinzukommt vielfach materielle Not, in den inner-städtischen Vierteln der Ruhrgebietsstädtebezieht etwa jedes dritte Kind unter sechsJahren Sozialhilfe.

Strohmeier schildert unterschiedliche Politik-ansätze für die Integration der nachwach-senden Generation, er beruft sich dabei vorallem auf Untersuchungen des Zentrums fürinterdisziplinäre Regionalforschung an derRuhr-Universität Bochum (ZEFIR). Stadtteil-konferenzen, Straßenfeste oder auch andereProjekte setzten häufig auf eine Bereitschaftzur Beteiligung, die in den sozial schwieri-gen Milieus nicht gegeben sei. Doch Partizi-pation setze Integration voraus, und Enga-gement für die Gemeinschaft sei in der Denk-weise, die in der »Unterstadt« verbreitet sei,nur wenig rational.

Nötig seien deshalb zunächst Programme,die Vertrauen stiften. Entscheidend ist, dassBürger die Erfahrung machen, dass Engage-ment sich lohnt. Dafür sollte die Hemm-schwelle zum Mitmachen möglichst kleinund der Nutzen offensichtlich und schnellerlebbar sein. Wenn solche Projekte erfolg-reich laufen, das Engagement also »erlernt«wurde, sind weitere Schritte sinnvoll. EineEntwicklung der Stadtteile sei kaum möglichohne Vertrauen der Bürger in eigenes und

fremdes Handeln. Dies sei aber nur mit lan-gem Atem erreichbar. Diese Einschätzungteilt Strohmeier mit Heinz Buschkowsky, derebenfalls betont, mit Projektpolitik – einStraßenfest hier, eine Stadtteilzeitung dort –könne für die Integration benachteiligterStadtteile wenig erreicht werden.

In wohlhabenden Gegenden ist das etwasanders. Volker Hassemer zeigte am Beispieldes kinderreichen Berliner Stadtteils Prenz-lauer Berg, dass eine kinderfreundlicheUmgebung nicht unbedingt gleichzusetzenist mit umfassenden staatlichen Angeboten.Gerade in Stadtteilen mit überdurchschnitt-lich gebildeten und engagierten Eltern seies wichtig, Eigeninitiative bei Kinderbetreu-ung und Schulen zu unterstützen. DieseKlientel erwarte und brauche nicht unbe-dingt »den fürsorglichen Staat«, so Hasse-mer. Tatsächlich gibt es vermutlich in ganzEuropa nur wenig Stadtquartiere, in denenso viele Bewohner selbst Angebote für Kin-der und Familien schaffen. Neben kommer-ziellen Angeboten wie einem »Kinderwagen-Kino« mit Vorführungen für Eltern mit Kin-dern im Stillalter oder »Spielecafés« mitintegrierten Klettergerüsten organisierenVereine und Bürger Aktionen wie das regel-mäßig stattfindende »Papapicknick«, zu demsich Väter mit kleinen Kindern im soge-nannten Mauerpark nahe der frühereninnerdeutschen Grenze treffen.

Insgesamt muss Familienpolitik für dieKommunen also vor allem vielfältiger wer-den – Hartmut Häussermann nennt es »post-fordistisch« in Anlehnung an die Fertigungs-prinzipien der industriellen Massenproduk-tion. Es reicht also offensichtlich nicht, diekommunale Ebene zu stärken – die Kommu-nen brauchen auch die Möglichkeit, inner-halb ihres Einflussbereiches zwischen ver-schiedenen Bevölkerungsgruppen stärkerals bisher zu differenzieren.

Hartmut Häussermann beschreibt in seinemBeitrag den Prozess, der sich in den meisten

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36 37 II. Subsidiarität in der modernen Gesellschaft

europäischen Metropolen in ähnlicher Formvollzieht und dem verschiedene Großstadt-regierungen unterschiedlich begegnen:Die sozialen Unterschiede innerhalb derBallungszentren werden größer. Auf eineHomogenisierung der Lebensstile im20. Jahrhundert folgt eine Phase, in der eineVielzahl ausdifferenzierter Lebensformennebeneinander vorhanden ist und die Ein-kommensungleichheit der Bewohner sicht-barer wird. Und während früher die Stadt-politik bewusst Voraussetzungen für dasWachstum von Arbeitsplätzen und Bevölke-rung schaffen und mit dem Ausbau derstädtischen Infrastruktur eine höhereLebensqualität und mehr Chancengleichheitbewirken wollte, hat Stadtpolitik heutemeist eine eher moderierende Funktion.Private Investoren und zivilgesellschaftlicheAkteure prägen die Städte weit stärker.

Der städtische Wandel habe zwei Gesichter,schreibt Häussermann: Einerseits gebe esdie »Gentrifikation«, also die soziale undbauliche Aufwertung von Quartieren, ande-rerseits die Residualisierung mit einer Kon-zentration einkommensschwacher Haus-halte in benachteiligten Quartieren. BeideProzesse gehörten zusammen, weil Gutver-dienende – darunter zunehmend auch Paaremit Kindern – die Haushalte mit niedrigerKaufkraft aus den innerstädtischen Lagenverdrängten, die sich wiederum dort kon-zentrierten, wo der Zugang noch möglichsei. Auf diese Prozesse reagieren die Stadt-politiker verschiedener Länder sehr unter-schiedlich. In Frankreich geht die Regierungam weitesten: Durch den Abriss von Wohn-blöcken in den Großsiedlungen und durchden Neubau von Sozialwohnungen an ande-rer Stelle soll eine Desegregation herbeige-führt werden. Alle Städte mit einer Einwoh-nerzahl über 20.000 sind gesetzlich ver-pflichtet, etwa 20 Prozent ihres Wohnungs-bestandes als sozialen Wohnungsbau auszu-weisen, um die hohe Konzentration vonBewohnern, die auf solche Wohnungenangewiesen sind, abzubauen. In den Nieder-

landen dürfen Kommunen eine Zuzugs-sperre für Haushalte mit sehr niedrigen Ein-kommen in bestimmten Gebieten erlassen.Dort dürfen Bewohner, die in den letztenvier Jahren nach Holland zugezogen sindund die weniger als das 1,5fache des Sozial-hilfeniveaus als Einkommen haben, nichtmehr zuziehen. Von so rigiden Maßnahmensind die Regierungen in deutschen Groß-städten noch weit entfernt.

4 Wenn Subsidiarität versagtAnfang des Jahres 2007 sendete das ZDFeine dreiteilige Serie mit dem Titel »Auf-stand der Alten«. Ein gruseliges Doku-Drama war das, mit einer erfundenen Hand-lung, die allerdings bewusst wie eine Doku-mentation gestaltet war. Der Film spielte imJahr 2030 – und zeigte ein zerrissenes Land,eine Rentnerrepublik, in der es stärkerdenn je eine Frage des Geldes geworden ist,ob ein Mensch in Würde altern und sterbenkann. Häusliche Pflege gibt es in diesemLand nur noch für Wohlhabende. AndereAlte schickt der Staat in Zeltlager nachAfrika, in denen sie auf Pritschen dahinve-getieren. Für alle, die sich das ersparen wol-len, steht »freiwilliges Frühableben« imLeistungskatalog der Krankenkassen. Aberes gibt auch wohlhabende Alte, die dankguter Ernährung und Betreuung jünger aus-sehen, als sie sind. Im Film flanieren sieentspannt durch die Kurstadt Baden-Baden– bis sie vom »Kommando Zornige Alte« mitFettbeuteln und Silikonkissen beworfenwerden.

30 Prozent der älteren Menschen sind indiesem Doku-Drama verarmt. Einige betteln.Andere, nicht nur die Allerärmsten, sondernauch diejenigen mit kleinen, aber geradeeben ausreichenden Renten, haben neueWohnformen für sich entdeckt. Sie leben inLandkommunen, großen Alten-Wohnge-meinschaften. Wenn mehrere unter einemDach wohnen, ist das Leben billiger – diesesPrinzip, das seit Jahrzehnten Studenten-WGs entstehen lässt und Familien unter-

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schiedlichster Zusammensetzung jahrelangzusammenhält, bringt neue Wohnmodellehervor, sogar Zusammenschlüsse in Rent-ner-Dörfern, in denen man selbst angebau-tes Gemüse, Fahrzeuge, Gärten und Betreu-ungs-Dienstleistungen teilt.

So sieht es aus, wenn die Institutionen ver-sagen, die heute verantwortlich für sozialeDienstleistungen sind: der Sozialstaat unddie Familien. Im Vorangegangenen wurdegezeigt, welche Strukturen die Entfaltungdes Subsidiaritätsprinzips auf gesamtstaatli-cher und kommunaler Ebene stärken oderbehindern. Abschließend soll hier noch aufRahmenbedingungen hingewiesen werden,die in die andere Richtung wirken: Alterungund Schrumpfung, Frauenerwerbsquote undeine Arbeitswelt, die Flexibilität und Mobili-tät fordert.

Unsere Vorstellungen davon, wie alte Men-schen ihre letzten Wochen und Monate ver-bringen sollten, stammen aus der Zeit vonGroßfamilien mit vielen Geschwistern undEnkeln, die am gleichen Ort leben. Nochwerden mehr als 80 Prozent aller Pflegebe-dürftigen zu Hause betreut. Bei älterenMännern kümmert sich meist die Ehefrau,bei alten Frauen die nicht berufstätige Toch-ter oder Schwiegertochter. In den neuenBundesländern pflegen mehr Männer als inWestdeutschland, was vermutlich mit derhöheren Arbeitslosigkeit dort zusammen-hängt. Die Pflegeversicherung bringt drin-gend benötigte Zusatzeinkünfte.

Die nächste Generation von Pflegebedürfti-gen braucht andere Modelle. Immer mehrerwachsene Kinder leben nicht am gleichenOrt wie ihre Eltern. Nicht nur die Söhne,sondern auch die Töchter und Schwieger-töchter haben fast immer Jobs. Viele habenArbeitgeber, die Flexibilität und Mobilitäterwarten. Gerade auf die Frauen der gebur-tenstarken Jahrgänge kommen deshalbschwierige Entscheidungen zu. Sie wissen,was von ihnen erwartet wird, wenn die

Eltern Hilfe brauchen. Aber wie sollen siediesen Erwartungen gerecht werden? Undwollen sie es überhaupt?

Viele Menschen, die Angehörige pflegen,werden selber krank. Manchmal quälen siedie hilfsbedürftigen Alten und tragen mitVerspätung alte Konflikte aus der Kindheitaus. Oft ertragen sie die psychischen Belas-tungen nicht. Sie kommen nicht damitzurecht, dass die an Demenz erkrankteMutter ihre Kinder nicht mehr erkennt odersich plötzlich Zahnpasta in die Haareschmiert.

Die offizielle Alternative zur häuslichenPflege ist das Heim – für die meisten Men-schen ist es allerdings eine unangenehmePerspektive, im Pflegeheim leben zu müs-sen. Den Vater oder Opa in einer gepflegtenSeniorenresidenz unterzubringen, ist für diemeisten Familien nicht finanzierbar, schließ-lich ist die Pflegeversicherung nur eine Teil-kasko-Versicherung. Was bezahlbar ist, isthäufig nicht gut – und das wird in Zukunft,mit einer steigenden Zahl von Pflegefällen,nicht besser sein. Schon heute werden alteMenschen in Heimen oft schlecht versorgt.Alte, die noch eine Toilette benutzen könn-ten, werden stattdessen gewickelt. UnruhigePatienten werden mit Tabletten ruhigge-stellt. Statt Bettlägerige zu füttern, werdenMagensonden eingeführt. Die medizinischenDienste der Krankenkassen und auch dieverschiedenen Altenberichte der Bundesre-gierung haben solche Missstände in Pflege-heimen regelmäßig protokolliert.

Die Versorgung alter Menschen dürfteschwieriger werden, dabei ist sie schonheute nicht gut – Angehörige sind überfor-dert, die Vorstellung, ins Heim wechseln zumüssen, ist für die meisten Menschen einGraus, und so arrangieren sich Hunderttau-sende in der Illegalität und heuern schwarz-arbeitende, meist aus Osteuropa stammendePflegekräfte an.

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Das Doku-Drama »Aufstand der Alten« zeigtauch Strukturen, die sich in der Not beiüberforderten Institutionen herausbildenkönnten. Im Film sind es die Alten-WGs, dieohne jede Verklärung als Zweckgemein-schaften dargestellt werden, die entstehen,weil das Wohnen in Gemeinschaft billigerist. Wenn man so will, kann man sie als Bei-spiele für kleine Lebenskreise, für familien-ähnliche Zusammenschlüsse, für die prakti-sche Umsetzung des Subsidiaritätsprinzipsverstehen – neben vielen anderen Struktu-ren, die sich heute schon und erst recht ineiner alternden Gesellschaft als Alternativenzu staatlichen und rein privaten Angebotenherausbilden und noch herausbilden wer-den.

Heute schon gibt es viele unterschiedlicheWohnmodelle für ältere Menschen, dieweder allein noch im Heim leben wollen. Ineinigen wohnen alte und junge Menschenzusammen, in anderen leben nur Rentner.Manchmal werden wie in einer Studenten-WG Bad und Küche gemeinsam genutzt,manchmal beziehen befreundete Rentnerzwar das gleiche Mietshaus, behalten aberjeweils einen eigenen Vertrag. Mittlerweilegibt es nicht nur reine Frauen- und Männer-WGs für Rentner, sondern auch Alten-Wohnprojekte eigens für Schwule und Les-ben oder für Migranten. Und es gibt fürPflegebedürftige sogenannte Demenz-Wohn-gemeinschaften, deren Bewohner gemein-sam in großen Wohnungen rund um die Uhrbetreut werden und sich dafür ambulantePflegekräfte teilen.

Gerade für solche Modelle wird der Bedarfin einer alternden Gesellschaft weiter stei-gen, denn diese WGs sind zwar nicht vielbilliger als die ambulante Einzelbetreuung,sie sichern aber bei gleichen Kosten eineumfangreichere Versorgung und oft aucheine bessere Lebensqualität. Schon heuteleidet jeder fünfte über 80-Jährige an einerForm der Demenz, bei den über 90-Jährigensogar jeder dritte. Früher waren solche

Altersleiden selten, weil die Menschenjünger starben. Nun drohen sie zum Mas-senphänomen zu werden – wenn neueTherapien und Medikamente dies nicht ver-hindern. 1,5 Millionen Demenzkranke gibtes momentan in Deutschland. Bis zum Jahr2020 werden es etwa doppelt so viele sein.Nach einer Schätzung des Instituts fürGesundheitssystemforschung in Kiel werdendie volkswirtschaftlichen Kosten derDemenz in zehn Jahren 100 Milliarden Markübersteigen.

Am bekanntesten dürfte das Wohnmodelldes 70-jährigen früheren Bremer Bürger-meisters Henning Scherf sein, der seit mehrals 20 Jahren mit seiner Ehefrau und sechsFreunden in Bremen zusammenlebt. Die vierPaare haben zwar jeweils eigene Wohnun-gen gemietet, lassen ihre Türen aber nachtsoffenstehen und haben Schlüssel für dieWohnungen der anderen. Jeder hatbestimmte Aufgaben übernommen – Hen-ning Scherf ist für den Garten zuständig.Am Samstag laden die Freunde sich reihumzum Frühstück ein. Es gibt die Verabredung,sich einander auch im Fall von Krankheitund Pflegebedürftigkeit so lange wie mög-lich zu unterstützen.

Das Beispiel zeigt, dass nicht nur die Be-troffenen selbst, sondern auch der Staat vonsolchen Arrangements profitiert. Wenn sichdurch solche Wohnformen der Umzug in einPflegeheim um ein oder zwei Jahre hinaus-zögern lässt oder wenn der ambulantePflegedienst seltener kommen muss, sinkendie Ausgaben für die gesetzliche Pflegever-sicherung. Hinzu kommt noch die Steige-rung der Lebensqualität. Die Gesellschaftmuss also ein Interesse daran haben, dieEntstehung und Entfaltung kleiner Lebens-kreise nicht nur zuzulassen, sondern zuermutigen und zu unterstützen.

Bisher ist aber vor allem der bestehendeSozialstaat auf die Alternativen Pflege durchAngehörige, professionelle ambulante Pflege

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oder Heime ausgerichtet. Und viele seinerGesetze sind auf die Kleinfamilie zuge-schnitten. Ein Mann, der seinen an Demenzerkrankten Nachbarn pflegt, bekommt bei-spielsweise kein Geld aus der Pflegeversi-cherung – es sei denn, er ist offiziell als Pfle-gekraft ausgewiesen. Ansonsten werden nurAngehörige unterstützt. Hier besteht Ände-rungsbedarf.

Der zweite große Bereich der Fürsorge, dieErziehung und Betreuung kleiner Kinder,liegt in Deutschland ebenfalls weitgehend inder Hand des Staates, der Schulen, Kinder-gärten, Jugendhilfeeinrichtungen und vielesmehr betreibt. Den Rest übernehmen dieFamilien. Würden die privat erbrachtenFamilienleistungen in Geld bezahlt, müsstedafür, so der fünfte Familienbericht derBundesregierung, ein Betrag in Höhe desBruttosozialproduktes aufgewendet werden.Auch bei der Betreuung der Kinder passenBedarf und Angebote des Staates sowie dieMöglichkeiten der Familien vielfach nichtzusammen. Die Arbeitszeiten junger Elternharmonieren nicht mit Öffnungszeiten derKitas und den Stundenplänen der Schulen,Ganztagseinrichtungen und Hortplätze gibtes nicht für alle, die Interesse haben. Undfür Kinder in Problembezirken mit hohemMigranten- und Arbeitslosenanteil ist gene-rell mehr Fürsorge nötig, als Staat undFamilien leisten können.

Bei der Betreuung kleiner Kinder ist derBedarf an subsidiären Hilfsstrukturen des-halb ähnlich groß, wenn auch aus anderenGründen. Hier führt nicht in erster Linie derdemographische Wandel, also der Doppel-trend aus Alterung und Geburtenrückgang,zu Problemen. Entscheidender sind andereFaktoren: erstens die steigende Erwerbs-neigung von Frauen. Sie führt zu einer stei-genden Nachfrage nach öffentlichen Betreu-ungsangeboten, die bisher trotz allerAnstrengungen der Familienpolitik vorallem in Westdeutschland nicht ausreichen.Häufig führen die flexibleren Arbeitszeiten

zu einem Bedarf an Betreuung jenseits derUhrzeiten, zu denen öffentliche Kinderbe-treuungseinrichtungen normalerweise geöff-net haben. Egal ob die Eltern Karrierejobsmit Dienstreisen rund um die Welt oderAushilfsstellen im Call-Center oder in einembis 22 Uhr geöffneten Supermarkt haben –in immer mehr Arbeitsplätzen wird Einsatzauch zu Uhrzeiten gefordert, an denenstaatliche Erzieherinnen längst Feierabendhaben. Das sind Situationen, in denen sichdas Mehrgenerationenhaus bewährt, in demdie Leih-Oma frühmorgens oder spätabendsbabysittet – oder in denen sich die Hausauf-gabenhilfe der Kirchengemeinde bewährt,bei der ein Schulkind den Nachmittag ver-bringt.

Besonders abhängig von solchen Angebotensind Alleinerziehende. Dass die Zahl derScheidungen, anderer Trennungen und auchder pendelnden, nicht ständig zusammen-lebenden Elternpaare zugenommen hat, istder dritte Grund für die steigende Bedeu-tung subsidiärer Angebote für Familien. Sohat sich seit dem Ende der 1970er Jahre inDeutschland der Anteil der Alleinerziehen-denhaushalte an allen Familien von unter10 Prozent auf mittlerweile 18,3 Prozentnahezu verdoppelt. Die meisten familien-politischen Maßnahmen sind jedoch aufPaare mit Kindern ausgerichtet. Dabei zeigtbeispielsweise die Quote der Arbeitslosen-geld-II-Empfängerinnen bei Alleinerziehen-den, dass in diesem Bereich Hilfe nötig ist:Sie ist mit 41 Prozent fast sieben Mal sohoch wie bei Müttern in Paarhaushalten.Das Bundesfamilienministerium will deshalbdie Wirkung der bereits eingeführten famili-enpolitischen Instrumente in Hinblick aufAlleinerziehende untersuchen. Allerdingsspricht viel dafür, dass auch für diese Ziel-gruppe Transfers nicht das wichtigste Hilfs-angebot sind.

Insbesondere in der Gruppe der allein-erziehenden Mütter, deren jüngstes Kindunter drei Jahre alt ist, und bei den unter

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40 41 II. Subsidiarität in der modernen Gesellschaft

35-jährigen alleinerziehenden Müttern gibtes viele Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen.600.000 nicht erwerbstätige alleinerzie-hende Frauen bezogen Anfang 2009 Grund-sicherung, hinzu kamen rund 60.000 so-genannte Aufstockerinnen, die ihre Grund-sicherung durch kleine Zusatzeinkünfteergänzen. Frank Weise, Vorstandsvorsitzen-der der Bundesagentur für Arbeit, schätzt,dass durch eine bessere Betreuung vonKindern bis zu 500.000 Hartz-IV-Empfänge-rinnen eine Arbeit aufnehmen könnten(Dietz/Müller/Trappmann 2009). So schnellund passgerecht werden sich allerdingsstaatliche Angebote nicht ausweiten lassen.

Auch in diesem Bereich ist deshalb dieStärkung kleiner Lebenskreise für dieGesellschaft aus vielfältigen Gründen sinn-voll: Sie nützt dem Kindeswohl, eröffnet denEltern Möglichkeiten und entlastet dieSteuer- und Beitragszahler. Das Entlastungs-argument sollte nicht der wichtigste Grundfür die Stützung kleiner Lebenskreise sein,denn dadurch würde die Subsidiaritätsideediskreditiert. Zivilgesellschaftliches Engage-ment steht in Deutschland ohnehin oft unterdem Verdacht, nur Lückenbüßer zu sein,wenn der Staat bestimmte Aufgaben nichtübernehmen kann oder will. Aber dass derStaat, der Steuer- und Beitragszahler fürnachbarschaftliche Hilfesysteme möglicher-weise weniger geben müssen und trotzdemmehr bekommen, dass die überstrapazier-ten Etats geschont werden können und denHilfebedürftigen häufiger Zuwendung undAufmerksamkeit gegeben wird, die von Ver-tretern des Staates nicht immer erwartetwerden können – dieses Argument sollte vorallem denen entgegengehalten werden, dieangesichts der Wirtschaftskrise den Staatwiederentdecken. Die Wirtschaftskrise führtnicht nur dazu, dass viele Bürger Familie,Nachbarschaft und menschliche Bindungenneu entdecken oder besonders schätzen.Sie ist auch ein Grund, den Staat das er-

ledigen zu lassen, was nur er erledigenkann. Er wird gerade dringend für anderesgebraucht.

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III. Für eine neue Familienpolitik

1 Wandel der GesellschaftDie neue Familienpolitik der Bundesregie-rung, zu deren theoretischer Begründungder Bericht der Robert Bosch Stiftung»Starke Familie« (2005) wesentlich beigetra-gen hat, versteht sich als eine Politik, in derfinanzielle Unterstützungsleistungen fürFamilien, eine bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf durch eine moderne Zeit-politik und der Ausbau der Infrastruktur fürKinder und Familien so miteinander kombi-niert werden, dass junge Paare die Möglich-keit erhalten, sich für Kinder zu entschei-den, wenn sie dies persönlich für richtighalten. Eltern sollen die Chance haben, ihreunterschiedlichen Lebensziele so miteinan-der zu vereinbaren, dass für sie selbst undihre Kinder eine subjektiv zufriedenstel-lende Zukunftsplanung möglich ist. Die Rah-menbedingungen sollen geschaffen werden,um auch der älteren Generation jene Solida-rität im privaten Lebenskreis entgegenzu-bringen, die alt gewordene Eltern underwachsene Kinder voneinander erwarten.Gleichzeitig will man es der älteren Genera-tion ermöglichen, die Entwicklung der Enkelund der nachwachsenden Generation aktivzu begleiten und auch im familiären undnachbarschaftlichen Kontext einen aktivenBeitrag zur Zukunftsgestaltung unsererGesellschaft zu leisten.

Darüber hinaus will diese neue Familienpo-litik die Instrumente der finanziellen Trans-ferpolitik, der Zeitpolitik und der Entwick-lung der Infrastruktur so miteinander kom-binieren, dass diejenigen, für die diese Rah-menbedingungen geschaffen werden, auchdas Gefühl haben, subjektiv und persönlichin ihren individuellen Lebensperspektivenernstgenommen zu werden. Eine solchePolitik kann nur erfolgreich sein, wenn siesorgfältig darauf achtet, dass sie vom Kon-sens der beteiligten Gruppen getragen wird.Darin ist begründet, dass durch die »Bünd-nisse für Familien«, die auf kommunalerEbene viele Aktivitäten zur Unterstützungund zur Entwicklung von Familien bündeln,

auch die kommunale Beteiligung der Bürgersichergestellt wird. Ebenso werden durchdie »Allianzen für Familien« wichtige gesell-schaftliche Gruppen, wie Arbeitgeber,Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände undKirchen, so eingebunden und vernetzt, dasssich auch diese Gruppen entsprechendihrer Möglichkeiten bemühen, die Rahmen-und Lebensbedingungen für Familien mitKindern und Familien mit Enkeln und Groß-eltern auch außerhalb des konkreten Regie-rungshandelns ebenso zu verbessern wiedie Möglichkeit für junge Erwachsene, sichfür Kinder zu entscheiden.

Diese einfachen Botschaften, die sich ineiner Reihe anderer Konzepte neben demsiebten Familienbericht (2006) finden, sindinzwischen, wenn auch mit unterschiedli-cher Akzentsetzung, von beiden Regie-rungsparteien in das aktuelle Regierungs-programm bzw. ihre jeweiligen Parteipro-gramme aufgenommen worden. In derÖffentlichkeit, vor allem in den Medien,werden sie jedoch eher weniger zur Kennt-nis genommen. Die Diskussion um die neueFamilienpolitik wird vielmehr wesentlichvon der Frage überlagert, ob diese Politikdazu beigetragen habe oder zukünftig bei-tragen könne, unmittelbar die Geburtenra-ten in Deutschland zu steigern. Abgesehenvon dem in dieser Diskussion aufscheinen-den mechanistischen Bild menschlichenHandelns verdeckt dieser Diskurs, dass dieHerausforderungen an die Familienpolitikwie auch an die Gestaltung des familiärenLebens durch den Einzelnen, die Paare unddie Eltern nur teilweise von den Geburten-raten in einer Gesellschaft abhängen. Diesesind eher davon bestimmt, dass in unsererGesellschaft mit ihren veränderten ökono-mischen Bedingungen, mit einer zuneh-mend heterogenen Bevölkerung infolge derZuwanderung, mit einer Fülle neuerLebensformen und mit den gewonnenenLebensjahren der älteren Generation neueHerausforderungen politischer wie privaterund ökonomischer Art vor uns liegen, die

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42 43 III. Für eine neue Familienpolitik

mindestens so groß sind wie die Konse-quenzen der Veränderung der Geburten-raten in den letzten Jahrzehnten.

Möglicherweise hängt die Konzentration derDiskussion über den Erfolg der neuen Fami-lienpolitik auf den Anstieg oder den Rück-gang der Geburtenraten auch damit zusam-men, dass sowohl die öffentliche Debattewie auch die demographische Forschungdie Zusammenhänge nicht angemessen undüberzeugend dargestellt haben. Diese beste-hen zwischen dem demographischen Struk-turwandel, den ökonomischen Wandlungs-prozessen und der Neugestaltung von Sub-sidiarität und Solidarität in der Gesellschaftund der Rolle der Familie, die ihrerseits ausunterschiedlichen Gründen nicht mehr demklassischen Bild der in Gemeinde und Nach-barschaft eingebetteten Familie mit kleinenKindern entspricht. Manchmal will es soscheinen, als ob allein durch die Steigerungvon Geburtenraten die Antworten auf diesich aus diesem Wandel ergebendenHerausforderungen gefunden werden könn-ten. Dabei ist diese Verengung der Debattenicht allein den Medien geschuldet. Viel-mehr vermitteln gerade manche wissen-schaftlichen Publikationen den Eindruck,vor allem die positive oder negative Ent-wicklung der Geburtenrate löse die zentra-len Zukunftsprobleme unserer Gesellschaft,soweit sie von der Familienpolitik zu beein-flussen ist.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diedemographische Entwicklung in Kombina-tion mit bestimmten ökonomischen Ent-wicklungen auch unabhängig von der Zahlder geborenen Kinder neue Antworten fürdie Solidarität und Subsidiarität in unsererGesellschaft erwartet, soweit dies von derFamilie und den kleinen Lebenskreisengeleistet werden kann, welche Familie zumMittelpunkt haben oder ihre zu geringeLeistungsfähigkeit ausgleichen. Dabei wer-den zunächst die spezifischen demographi-schen Wandlungstendenzen in Deutschland

hinsichtlich der Frage von Subsidiarität undSolidarität im Einzelnen dargestellt, undzwar im internationalen Vergleich, um danndie Konsequenzen zu skizzieren, die sichaus der Veränderung der familiären Lebens-formen für die Subsidiarität und Solidaritätin unserer Gesellschaft ergeben. Diesen Ver-änderungen gerecht zu werden, ist eine dergroßen politischen Herausforderungen dernächsten Jahrzehnte. Vor allem der Bund alswichtigster Akteur der Familienpolitik kanndie politischen Rahmenbedingungen nurdann zukunftsfähig formulieren, wenn esgelingt, Familienpolitik zentral auch als einePolitik zu begreifen, die konkret auf kom-munaler und Landesebene gestaltet werdenmuss.

1.1 Migration und HeterogenitätDie meisten internationalen Vergleiche zurBevölkerungsentwicklung in Europa kon-zentrieren sich bei diesem Entwicklungs-prozess auf die Diskussion der Geburten-raten der Frauen zwischen 15 und 45 Jah-ren und verweisen auf der Basis diesesMaßstabes immer wieder zu Recht darauf,dass die nordeuropäischen Länder Norwe-gen, Schweden, Finnland und Dänemark,ebenso wie die westeuropäischen LänderBelgien, die Niederlande, Großbritannien,Frankreich und Irland, über relativ hoheGeburtenraten verfügen, die sich mit 1,8Kindern pro Frau im Durchschnitt fast beider für die Reproduktion einer Bevölkerungnotwendigen Zahl von 2,1 pro Frau bewe-gen. Deutschland liegt bei den meisten die-ser Vergleiche im Mittelfeld mit etwa 1,37Kindern, während sich ein Großteil der süd-europäischen Länder sowie die meisten ost-europäischen Länder noch unterhalb dieserRaten bewegen. Die beiden deutschsprachi-gen Länder Schweiz und Österreich liegenmit einer Geburtenrate von etwa 1,4 in derNähe von Deutschland, ähnlich wie Portu-gal, wohingegen einige Balkanländer Gebur-tenraten wie Frankreich aufweisen.

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Es sind die regionalen und nationalenFertilitätsraten, die die öffentliche Debattein Deutschland bestimmen, obwohl dieBevölkerungsentwicklung in Westeuropa inden letzten 15 bis 20 Jahren im Wesentli-chen durch die Migrationsprozesse inner-halb Europas beeinflusst wurde. Von diesenMigrationsprozessen hat Deutschland, vor

allem Westdeutschland, gemeinsam mit derSchweiz und Österreich erheblich profitiert,so dass das ökonomische Wachstum ineinigen Regionen Westdeutschlands trotzgeringerer Geburtenraten viel höher war alsbeispielsweise in Frankreich oder in Nord-europa.

Abbildung 1: Europäische FertilitätsratenTotale (Perioden-)Fertilität (rote Ziffern kennzeichnen einen Anstieg im Vergleich zur vorangegangenen Periode)

* Vorläufige oder jüngste Daten** Gemäß Europop 2004, Daten für Frankreich beziehen sich nur auf Metropolitan-Frankreich*** UN-DatenQuellen: European Commission 2007, Eurostat

1960/1964 1970/1974 1980/1984 1990/1994 2000/2003 2004/2005* 2050**

EU-25 2.64 2.23 1.79 1.56 1.47 1.50 1.60

EU-15 2.67 2.23 1.72 1.50 1.50 1.55 1.61

NMS-10 2.47 2.21 2.19 1.87 1.30 1.25 1.58

BE 2.64 2.07 1.61 1.62 1.63 1.64 1.70

CZ 2.22 2.14 2.01 1.72 1.16 1.23 1.50

DK 2.58 1.97 1.44 1.73 1.75 1.78 1.80

DE 2.46 1.77 1.48 1.32 1.35 1.37 1.45

EE : 2.13 2.12 1.67 1.35 1.40 1.60

EL 2.25 2.33 2.02 1.37 1.27 1.29 1.50

ES 2.86 2.87 1.94 1.30 1.26 1.32 1.40

FR 2.83 2.36 1.88 1.72 1.89 1.90 1.85

IE 3.91 3.84 2.92 1.99 1.95 1.99 1.80

IT 2.50 2.37 1.55 1.28 1.26 1.33 1.40

CY 3.47 2.38 2.46 2.35 1.54 1.49 1.50

LV : 2.01 2.01 1.70 1.24 1.24 1.60

LT 2.57 2.28 2.04 1.86 1.30 1.26 1.60

LU 2.33 1.77 0.48 1.65 1.67 1.70 1.80

HU 1.88 2.01 0.82 1.77 1.31 1.28 1.60

MT 3.16 2.21 0.98 2.02 1.58 1.37 1.60

NL 3.17 2.15 0.52 1.59 1.72 1.73 1.75

AT 2.78 2.08 0.61 1.49 1.37 1.42 1.45

PL 2.76 2.24 2.33 1.93 1.28 1.23 1.60

PT 3.16 2.71 2.05 1.53 1.48 1.42 1.60

SI 2.25 2.14 1.91 1.38 1.23 1.22 1.50

SK 2.93 2.50 2.29 1.94 1.22 1.25 1.60

Fl 2.68 1.64 1.68 1.82 1.74 1.80 1.80

SE 2.30 1.90 1.64 2.04 1.62 1.75 1.85

UK 2.86 2.20 1.81 1.78 1.66 1.74 1.75

BG 2.23 2.16 2.01 1.57 1.25 1.29 1.50

RO 2.10 2.65 2.16 1.55 1.28 1.29 1.50

HR 2.12 1.93 1.90 1.55 1.34 1.35 1.85***

TR 6.18 5.68 4.36 2.99 2.42 2.20 1.85***

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44 45 III. Für eine neue Familienpolitik

Die Karte in Abbildung 2 macht diese Pro-zesse noch einmal sichtbar. So zeigen vorallem die nordeuropäischen Staaten in ihrenländlichen Regionen erhebliche Bevölke-rungsverluste, ebenso wie ein Teil derRegionen Frankreichs mit einer starkenAbwanderung. Auch der Vergleich vonSpanien und Portugal zeigt, dass es trotzPortugals höherer Geburtenrate in Spanienmehr Regionen gibt, die aufgrund derZuwanderung Bevölkerungsgewinne erle-ben, wohingegen in Portugal ein Großteilder Regionen Bevölkerungsverluste ver-zeichnet. Leicht überspitzt ließe sich formu-lieren, dass vor allem die Mitte Europas,nämlich Deutschland, Belgien, die Nieder-lande, die Schweiz und Teile von Österreich,wie aber auch Teile von Südengland, in dendramatischen Umbruchzeiten der Geburten-

zahlen zwischen 1990 und 2000 erheblicheBevölkerungsgewinne erlebten, währendjene Regionen eher an den Rändern Euro-pas erhebliche Verluste hinnehmen muss-ten.

Die zentrale Ausnahme bildet Ostdeutsch-land. Es verzeichnet ähnlich gravierendeVerluste bei der Bevölkerung wie TeileNordeuropas und ein Teil der osteuropäi-schen Ostseestaaten. Diese erheblichen Ver-schiebungen in den Bevölkerungen inner-halb nur eines Jahrzehnts zwischen Regio-nen, die einen Bevölkerungsgewinn aufwei-sen, und anderen mit erheblichen Verlustensind nur teilweise und zwar nur in kleine-ren Regionen wie etwa Irland durch dieBevölkerungsentwicklung auf der Basis vonGeburtenraten zu erklären. Diese Prozesse

Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung 1990 bis 2000

Quelle: Schuler/Dessemontet/Jemlin 2007

2,50 bis 4,27141,50 bis 2,49391,00 bis 1,49800,75 bis 0,99720,50 bis 0,741330,25 bis 0,491720,00 bis 0,24189–0,25 bis –0,01 170–0,50 bis –0,26117–0,75 bis –0,5183–1,00 bis –0,7663–1,50 bis –1,0149–2,50 bis –1,5129–5,00 bis –2,519–8,62 bis –5,014

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weisen aber auf zwei strukturelle Verände-rungen der Bevölkerung hin, die für dieFamilienentwicklung in Europa, vor allemauch in Deutschland, von erheblicherBedeutung sind, ohne dass dies etwas mitder Geburtenentwicklung in den jeweiligenRegionen zu tun hätte.

Wanderungsprozesse führen notwendiger-weise zu einer höheren Heterogenität derBevölkerung in einer Region. Denn inGebieten, in denen sich zur alteingesesse-nen Bevölkerung neue Bewohner hinzuge-sellen, gelten neben den alttradierten undkulturell als unverrückbar angesehenenWerten und Normen zunehmend auchandere Formen des sozialen Verhaltens alsakzeptabel, was meist zu Spannungen zwi-schen Zuwanderern und alteingesessenerBevölkerung führt. Das fängt bei den unter-schiedlichen Dialekten an, die Zuwanderermöglicherweise nicht verstehen, gilt weiter-hin für eine bestehende Vereinskultur undFormen der Religiosität wie aber auch denpersönlichen Umgang miteinander. West-deutschland ist seit 1945 in diesem Sinn einZuwanderungsland, weil die Bevölkerungs-entwicklung zwischen 1945 und 1960wesentlich auch dadurch geprägt war, dasszuerst aus den früheren Teilen des Deut-schen Reiches in Osteuropa und später ausder DDR Menschen zuwanderten, die zurpositiven ökonomischen Entwicklung West-deutschlands wesentlich beigetragen unddie Gesellschaft mit verändert haben.Bekanntlich ist trotz aller politischen Maß-nahmen der Prozess der Integration unddes Zusammenwachsens zwischen den alt-eingesessenen und den zugewandertenMenschen nicht immer problemlos verlau-fen, vielmehr hat es fast eine Generationgedauert, bis man sich trotz gleicher Spra-che einigermaßen aneinander gewöhnthatte.

Welche große Bedeutung diese Zuwande-rungsprozesse für Westdeutschland hatten,lässt sich am Vergleich von Baden-Württem-

berg und Sachsen verdeutlichen. DieBezirke, die nach 1952 zum gemeinsamenBundesland Baden-Württemberg zusam-mengefasst wurden, zählten 1939 fastebenso viele Einwohner wie das damaligeSachsen. Schon um 1950 gab es aber zwi-schen beiden Regionen erhebliche Unter-schiede in der Bevölkerungsentwicklung.Verluste in Sachsen stehen Zuwanderungenim späteren Baden-Württemberg gegenübermit der Konsequenz, dass sich Baden-Würt-temberg mit heute etwa 11 Millionen Ein-wohnern und der Freistaat Sachsen mitetwa 3,9 Millionen Einwohnern bevölke-rungsmäßig vollständig voneinander ent-fernt haben. Ohne diesen Zustrom von qua-lifizierten und hoch motivierten Menschenwäre die positive ökonomische EntwicklungBaden-Württembergs nicht zu erklären.Nicht nur in Baden-Württemberg, sondernauch in anderen Teilen Westdeutschlandsist das Bevölkerungswachstum der 1960erund frühen 1970er Jahre auch auf dieZuwanderung von »Gastarbeitern« und spä-ter auf die Familienzusammenführungzurückzuführen. Der Untergang der Sowjet-union und der Fall der Mauer haben nocheinmal dazu geführt, dass ein großer Stromvon Menschen aus unterschiedlichen Län-dern Osteuropas und aus Ostdeutschlandnach Westdeutschland gewandert ist.

Wanderungsprozesse dieser Art führen not-wendigerweise innerhalb einer traditionellvorgeformten Gemeinschaft, Gemeinde oderNachbarschaft zu Heterogenität und Vielfalt,weil die individuellen Lebensformen, die dieMenschen in ihrer Heimat entwickelt haben,in der neuen Heimat nicht einfach abgelegtwerden. So ist es auch nicht verwunderlich,dass in Westdeutschland, mehr noch als inOstdeutschland, unterschiedliche familiäreLebensformen nebeneinander existieren,deren Koexistenz vor 30 oder 50 Jahrenkaum denkbar erschien: TraditionelleLebensformen mit patriarchalen Familien-strukturen waren in Westeuropa nie hei-misch, denn hier hat sich über Jahrhunderte

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46 47 III. Für eine neue Familienpolitik

die Familienform der neolokalen Gattenfa-milie entwickelt (Mitterauer 2004), in dersich das junge Paar aus dem Elternhaus vonVater und Mutter löst und einen eigenenHausstand begründet, wohingegen in Süd-europa und Südosteuropa Lebensformenbestanden und teilweise noch bestehen, indenen das junge Paar zu den Eltern desMannes zieht oder zumindest in die Näheder Eltern. Diese traditionelle Lebensform,in der sich die Rolle des Vaters und Mannesaufgrund kultureller Traditionen deutlichvon der westeuropäischen Tradition unter-scheidet, auch mit der Konsequenz, dass dieTeilnahme der Frauen am öffentlichenLeben in diesen familiären Lebensformeneher abgelehnt wird, existiert heute inDeutschland neben familiären Lebensfor-men, die wir als traditionell bezeichnen,weil sie dem Modell der neolokalen Gatten-familie entsprechen. Neben diesen Familien-formen, teilweise bedingt durch die moder-nen Mobilitätsprozesse, haben sich zudemLebensformen entwickelt, in der die Partnerkeinen gemeinsamen Haushalt gründen,aber durchaus eine eheähnliche Beziehungführen, das sogenannte Living-Apart-Together (Pinnelli/Hoffmann-Nowotny/Fux2001), das einige Autoren als eine wichtigezukünftige Lebensform moderner mobilerMenschen interpretieren.

1.2 Heterogenität und TeilhabeDie Herausforderung für eine moderneFamilienpolitik angesichts der hier nurknapp skizzierten Veränderungen der fami-liären Lebensformen mit ihrer zunehmen-den Heterogenität liegt darin, Rahmenbe-dingungen zu entwickeln, die die Stärkender jeweiligen Lebensformen akzeptierenhelfen. Gleichzeitig sollten sie jedochsicherstellen, dass ganze Gruppen vonZuwanderern nicht aufgrund ihrer familiä-ren Lebensformen von der aktiven Teilhabean Nachbarschaft, Gemeinde und der gesell-schaftlichen Entwicklung ausgeschlossenwerden.

Eine zweite Herausforderung für diemoderne Familienpolitik liegt darin, denMenschen, die aufgrund von gesellschaftli-chen Wandlungsprozessen aus ihrem kon-kreten Kontext von Nachbarschaft, Familieund Gemeinde herausgelöst sind, die Mög-lichkeit zu geben, sich wiederum auch alsTeil ihrer neuen Nachbarschaft undGemeinde zu erleben. Das gilt nicht nur fürZuwanderer aus den weniger entwickeltenRegionen Europas nach Deutschland, son-dern besonders auch für jene, die wegenihrer beruflichen Mobilität mit der Situationkonfrontiert sind, in ihrem jeweiligen neuenKontext neue Beziehungen aufbauen zumüssen.

Lange Zeit hat die deutsche Gesellschaftgeglaubt, diese Prozesse der Integration lie-ßen sich dadurch lösen, dass sich dieZuwanderer, was auch immer die Gründefür ihre Migration waren, an die Rituale,kulturellen Werte und Normen der Nach-barschaften und Gemeinden anpassen, indie sie zuwandern. Darin liegt vermutlicheine der größten Illusionen der deutschenZuwanderungspolitik über Jahrzehnte hin-weg, obwohl sich Deutschland in diesemZeitraum auch durch die Zuwanderer inunglaublicher Weise verändert hat.

Auch ohne folkloristische Konnotation istMünchen heute eine Stadt mit oberitalieni-schem Flair, mit vermutlich ebenso gutenitalienischen Restaurants wie in manchenRegionen Norditaliens. Hier sind eher politi-sche Strategien zu nennen, etwa der FreienHansestadt Hamburg, die ausdrücklich einKonzept der wachsenden Stadt zur Entwick-lung der ökonomischen Struktur Hamburgsverfolgt und Weltoffenheit als Akzeptanzanderer Lebensformen und anderer kultu-reller Muster zur Grundlage des eigenenpolitischen Handelns entwickelt hat. DasGleiche gilt für andere Städte Deutschlands,wie etwa Berlin, die viel Geld und Energiedarauf verwenden, das Bild einer weltoffe-nen Metropole mit einer Fülle und Akzep-

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tanz unterschiedlicher Lebensformen welt-weit zu vermarkten. Allerdings fehlt bisherin den meisten dieser städtischen Konzepteeine Vorstellung davon, wie diese Weltoffen-heit und Akzeptanz anderer Lebensstileauch dann praktiziert werden kann, wenndie Lebensformen und Lebensstile derZuwanderer selbst einer solchen Akzeptanzeher kritisch gegenüberstehen.

Dies ist kein deutsches Problem. AndereLänder, etwa Israel, mit einer Bevölkerungaus Mitgliedern ganz unterschiedlicherNationen mit unterschiedlichen Sprachenund unterschiedlichen kulturellen Musternhaben viel früher begonnen zu begreifen,dass sich Integration und Weltoffenheit ineiner heterogenen Bevölkerung nur dannrealisieren lassen, wenn gleichzeitig politi-sche Strategien den Zuwanderern, und zwarallen, nicht nur den am ArbeitsprozessBeteiligten, die Möglichkeit geben, sich alsTeil der neuen Gesellschaft zu fühlen. Wirwerden in der Folge einige Projekte undKonzepte skizzieren, die möglicherweise alseine wichtige Voraussetzung für solche inte-grativen Ansätze in der kommunalen Famili-enpolitik zu verstehen sind.

Die folgende Tabelle 1 zeigt, dass sich dieLeistungsdifferenzen zwischen den Bundes-ländern im Wesentlichen auf die unter-schiedlichen Ausländeranteile bei denJugendlichen, vor allem der zweiten Gene-ration, zurückführen lassen. Während beider Gesamtbetrachtung aller untersuchtenJugendlichen Sachsen und Thüringengemeinsam mit Bayern und Baden-Württem-berg das Spitzenfeld bilden, demgegenüberdie anderen Bundesländer abfallen, bewegtsich Rheinland-Pfalz, wenn Kinder mitMigrationshintergrund nicht berücksichtigtwerden, ähnlich wie Berlin und Hamburgauf dem Niveau von Sachsen oder sogarleicht darüber. Besonders dramatisch sinddie Differenzen zwischen den Ergebnissenin den Bundesländern, wenn die Kinder undJugendlichen der zweiten Generation

betrachtet werden, in der beide Eltern imAusland geboren wurden.

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dassdie westdeutsche Einwanderungspolitiklange Zeit vor allem darauf abgezielt hat,bildungsferne Zuwanderer nach Deutsch-land zu holen, weil sie nur einfachste Tätig-keiten durchführen sollten, und daher nichtzu erwarten ist, dass die Kinder aus bil-dungsfernen Familien das Niveau der relativgut gebildeten deutschen Bevölkerungschnell erreichen, so macht gerade dasAbschneiden der zweiten Generation deut-lich, dass die Integration und Teilhabe dernachwachsenden Generation keinesfalls einquasi von selbst verlaufender Prozess ist.Auch wenn wir aus den PISA-Studien wis-sen, dass türkische Eltern im Durchschnittfünf Bildungsjahre weniger aufweisen alsdeutsche Eltern (Baumert/Stanat/Water-mann 2006) und Deutschland damit vonallen Vergleichsländern der PISA-Studiendie größten Bildungsunterschiede in derElterngeneration aufweist, ist eine solcheVerschlechterung der Integration, gemessenam schulischen Leistungsniveau, inDeutschland ungewöhnlich. Denn wennauch die westdeutsche Bildungsreform inden 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhun-derts nicht die damals erhoffte Chancen-gleichheit gebracht hat (Dahrendorf 1965;Peisert 1967), so ist doch festzuhalten, dassKinder aus bildungsfernen Schichten, dieihren Bildungsstatus im Laufe ihres Lebensverbessert haben, ihren Kindern meist eineweitere Verbesserung der Bildungsmöglich-keiten eröffnet haben (Müller/Schmid 2003).

Daher ist es sicher richtig und begrüßens-wert, dass viele Bundesländer angesichtsder PISA-Ergebnisse begonnen haben, ihreSchulsysteme so umzustrukturieren, dassnicht bestimmte Kinder schon durch denSchulabschluss diskriminiert werden, unddie Kinderbetreuung auszubauen, um soeine bessere Teilhabe der Kinder und dieEntwicklung ihrer Sprache zu ermöglichen.

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48 49 III. Für eine neue Familienpolitik

Jedoch zeigt die internationale Forschungnachdrücklich (Waldfogel 2006; Brooks-Gunn/Fuligni/Berlin 2003), dass sich dieTeilhabechancen der Kinder ohne Einbezie-hung der Eltern in diesen Prozess und ohnedie aktive Förderung auch der Teilhabe derEltern an der Gesellschaft nur sehr langsamverbessern lassen. Das wird im Übrigenauch am Beispiel Frankreichs deutlich, wodie meisten Kinder der Zuwanderer ausNordafrika französisch sprechen und ineinem gut ausgebauten Kinderbetreuungs-system und einem flächendeckenden Vor-schulsystem frühzeitig mit Bildungsinhalten

vertraut gemacht werden. Trotz dieser sehrfrühen Förderung zeigt sich bei den Jugend-lichen mit Migrationshintergrund in Frank-reich ein ausgeprägtes Gefühl der Nichtinte-gration in die französische Gesellschaft(Dubet/Lapeyronnie 1994); möglicherweisehat das weniger mit der Schule zu tun alsmit dem Wohnumfeld und den Teilhabe-chancen der eigenen Eltern in der französi-schen Gesellschaft.

Brooks-Gunn hat in einem Längsschnittüber zehn Jahre zeigen können, welchenimmensen Einfluss Eltern auf die Entwick-

Tabelle 1: Mittlere naturwissenschaftliche Kompetenz von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund und Jugend-lichen der drei Migrationsgruppen in den alten Bundesländern und soziale Gradienten der naturwissenschaftlichenKompetenz in den neuen Bundesländern

Prädiktorvariable ist der höchste sozioökonomische Status der Familie (Highest ISEI).Grundgesamtheit: Fünfzehnjährige Jugendliche im Bildungssystem; ohne Sonder- und Förderschulen.Fehlende Werte im HISEI, bei den Kulturgütern und im Bildungsniveau imputiert.adj. M Diff: Adjustierung nach Sprachgebrauch, HISEI, Kulturgütern und Bildungsniveau der Eltern.* Die Befunde stehen aufgrund eines erheblichen Anteils fehlender Daten unter Vorbehalt.Aufgrund geringer Stichprobengröße wird die Zweite Generation in den östlichen Ländern nicht ausgewiesen.

Quelle: Prenzel et al. 2008

Land ohneMigrations-hintergrund

mit Migrationshintergrund

ein Elternteil imAusland geboren

beide Elternteile im Ausland geboren

Zweite Generation Erste Generation

M (SE) M Diff (SE) adj.M Diff M Diff (SE) adj.M Diff M Diff (SE) adj.M Diff R 2

Bayern 555 (2.6) -38 (10.1) -30 -106 (9.4) -50 -96 (12.1) -49 0.266

Baden-Württemberg 548 (3.9) -33 (9.6) -17 -90 (8.6) -42 -79 (10.1) -40 0.268

Rheinland-Pfalz 545 (4.0) -32 (11.8) -17 -95 (11.9) -36 -86 (10.6) -38 0.273

Berlin 543 (3.7) -44 (10.6) -32 -119 (11.6) -68 -92 (14.5) -57 0.349

Hessen 537 (2.9) -22 (7.4) -10 -91 (9.4) -41 -94 (7.9) -51 0.298

Nordrhein-Westfalen 531 (4.9) -15 (11.7) -12 -85 (8.6) -41 -56 (11.0) -22 0.279

Saarland 530 (3.4) -36 (9.2) -25 -85 (16.9) -32 -57 (16.9) -19 0.232

Schleswig-Holstein 529 (3.0) -2 (11.9) -1 -86 (15.7) -49 -74 (12.4) -33 0.241

Niedersachsen 524 (2.6) -32 (10.7) -31 -70 (8.6) -31 -64 (10.6) -37 0.228

Hamburg* 548 (3.8) -43 (14.7) -31 -110 (12.2) -60 -95 (11.6) -63 0.340

Bremen* 523 (4.1) -41 (12.2) -19 -83 (8.6) -37 -85 (10.4) -45 0.283

Naturwissenschaftliche Kompetenz (alle) Steigerung des sozialen Gradienten

Achsenabschnitt (SE) b (SE)

Berlin 505 (2.9) 45 (2.6)

Sachsen-Anhalt 521 (3.0) 35 (2.8)

Thüringen 531 (3.3) 36 (2.8)

Mecklenburg-Vorpommern 516 (3.4) 35 (2.7)

Sachsen 543 (2.3) 32 (2.1)

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lung ihrer Kinder nehmen können undinwieweit dieser Einfluss auch gezielt geför-dert werden kann. In einem besondersbenachteiligten Stadtteil New Yorks hat siemit Unterstützung einer Gruppe aus Profes-sionellen und Freiwilligen die Eltern moti-vieren können, ihren Kindern regelmäßigvorzulesen. So etwas erreicht man nichtdurch Appelle an die Eltern, sondern nurdurch persönlichen Kontakt: Man muss siebesuchen, anleiten und ermuntern. Auchmüssen die Freiwilligen in diesem Prozessfachlich begleitet werden, um die spezifi-schen Probleme, die auftreten können, mitProfessionellen zu besprechen, damit derProzess kontinuierlich fortgeführt wird. ImAlter von zehn Jahren zeigten diese Kinderbeim Wechsel in die High School keineLeistungsunterschiede zu Kindern ausprivilegierten Nachbarschaften in New York.Solche Maßnahmen hören sich einfach an,bedürfen aber gut vernetzter kontinuierli-cher Strategien und sind dann in ihrenErgebnissen offensichtlich ungemein effek-tiv.

Die Teilhabechancen von Kindern an derGesellschaft und ihre Entwicklungsmöglich-keiten in der Gesellschaft hängen eben nichtallein davon ab, dass Staat und Kommunenvorzügliche Betreuungsangebote bereit-stellen, sondern auch davon, dass die Elternin ihrer Eigenständigkeit aktiv einbezogenund gegebenenfalls unterstützt werden.Die durch die demographische Entwicklung,aber vor allem auch die durch Migrationhervorgerufenen Prozesse der Pluralisie-rung von Lebensformen, Lebensmusternund Wertvorstellungen in unserer Gesell-schaft führen unter einer auch längerfristi-gen Perspektive nicht notwendigerweise zueiner stärkeren Teilhabe der Zugewander-ten, wenn wir nicht darüber nachdenkenund Strategien entwickeln, die die Teilhabeauch dieser Gruppen aktiv ermöglichen.

1.3 Migration und AlterungFür ein im Jahre 2007 geborenes Mädchenwird eine Lebenserwartung von etwa 82Jahren prognostiziert, einem Jungen etwa78 Jahre. Dabei haben die Mädchen inBaden-Württemberg mit 83 Jahren einedeutlich höhere Lebenserwartung als dieMädchen im Saarland, Sachsen-Anhalt oderMecklenburg-Vorpommern mit einer durch-schnittlich um zwei Jahre geringerenLebenserwartung. Noch deutlicher ist dieDifferenz bei den Jungen. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt liegt dieLebenserwartung von Jungen bei 74,9 Jah-ren und damit um mehr als drei Jahre unterder Lebenserwartung in Baden-Württem-berg. Dabei treten diese Differenzen in derLebenserwartung keinesfalls zwischen Ostund West auf, weil die Mädchen in Sachsenmit einer Lebenserwartung von 82,5 Jahrennur knapp hinter den Mädchen in Baden-Württemberg liegen; die geringere Lebens-erwartung der Jungen im Saarland machtedeutlich, dass hier noch andere Faktoreneine Rolle spielen müssen.

Auf der Basis der Zahlen von Baden-Würt-temberg hat sich die Lebenserwartung seit1950 bei den Frauen um etwa 15 Jahre undbei den Männern um etwa 14 Jahre erhöht.Auch bestehen die Differenzen nicht mehr,die es vor der Wende zwischen Ost- undWestdeutschland gab, weil die Lebenserwar-tung in den neuen Bundesländern damalsgeringer war als in den alten Bundesländern(Statistisches Landesamt Baden-Württem-berg 2008). Auf den ersten Blick ließe sichaus dieser Entwicklung ableiten, Baden-Württemberg sei damit das Bundesland, dasam schnellsten altere und den höchstenAnteil Älterer in Relation zu jüngeren Men-schen habe. Jedoch haben die innerdeut-schen Migrationsprozesse, vor allem dasAbwandern junger Menschen und dabeibesonders der jungen Frauen aus denneuen Bundesländern zwischen 1990 und2000, dazu geführt, dass die Altersrelationin den alten Bundesländern nicht von der

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50 51 III. Für eine neue Familienpolitik

jeweiligen Lebenserwartung in den Bundes-ländern und auch nur partiell von derGeburtenrate abhängt, sondern vor allemvon Wanderungsprozessen. Mit einigerWahrscheinlichkeit wird diese Entwicklungdazu führen, dass im Jahr 2050 die Bundes-länder mit relativ hohen Wanderungsgewin-nen noch über eine Bevölkerung verfügenwerden, die mehrheitlich der Altersgruppeder 20- bis 64-Jährigen angehört, im Gegen-satz zu den Bundesländern mit den größtenWanderungsverlusten, die weniger als 50Prozent der Bevölkerung in dieser Alters-gruppe haben werden.

Brandenburg wird mit einem 45 Prozent-Anteil der 20- bis 64-Jährigen die geringsteQuote der Bevölkerung im erwerbsfähigenAlter aufweisen, und mit 41 Prozent derüber 65-Jährigen werden hier 12 Prozentmehr ältere Menschen in den ländlichstrukturierten Räumen leben als in denstädtischen Regionen Hamburg und Bre-men. Die fünf neuen Bundesländer werdeninsgesamt eine eher ältere Bevölkerunghaben, im Gegensatz zu den StadtstaatenHamburg und Bremen mit einer jüngerenBevölkerung, aber auch Nordrhein-West-falen oder Bayern werden sich deutlich vonden neuen Bundesländern unterscheiden.Die ökonomischen Konsequenzen und vieleder Ursachen dafür, vor allem die Abwande-rung junger Frauen zwischen 1990 und2000, sind hinreichend differenziertbeschrieben worden, so dass hier nur aufzwei familienpolitische Konsequenzen hin-zuweisen ist (Kröhnert 2007; SächsischerLandtag 2008).

Den gegenwärtigen Strategien in Familien-politik, Sozialpolitik und Gesundheitspolitikin Bezug auf Pflege liegt die Annahmezugrunde, dass die Pflegeleistungen, diejenseits des 80. Lebensjahres doch ver-mehrt auftreten, durch die familiären Bin-dungen aufgefangen und in diesem familiä-ren Netz auch getragen werden können.Diese Annahme lässt sich vermutlich aber

für die Regionen mit einer hohen Abwande-rung ebenso wenig aufrechterhalten wie fürjene Regionen, in die viele junge Menschenzugewandert sind, etwa in die großenStädte. Auch die Annahme, die sich aus die-sen unterschiedlichen demographischenEntwicklungen ergebenden Konsequenzenfür familiäre Unterstützungsleistungen lie-ßen sich allein durch den Ausbau staatli-cher Sicherungssysteme aufrechterhalten,ist vermutlich nicht nur aus Kostengründenillusorisch, sondern eben gerade auchwegen der unterschiedlichen Struktur derdemographischen Entwicklungen. Denn so,wie es schwierig wird, alt gewordenenEltern Unterstützungsleistungen zukommenzu lassen, wenn diese im Erzgebirge leben,man selbst aber in Stuttgart, gilt ebenso,dass man darauf angewiesen ist, dass fürdie notwendigen Dienstleistungen, die auchaußerhalb der Familie erbracht werden

Abbildung 3: Altersstrukturen 2050 inden Bundesländern

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg2007

unter 20-Jährige65-Jährige und Ältere

20 bis 64-Jährige

Bevölkerungsanteil (%)

Brandenburg

Thüringen

Sachsen-Anhalt

Sachsen

Mecklenburg-Vorpommern

Schleswig-Holstein

Berlin

Hessen

Deutschland

Rheinland-Pfalz

Niedersachsen

Baden-Württemberg

Bayern

Saarland

Nordrhein-Westfalen

Hamburg

Bremen

14

14

14

15

15

15

13

15

15

15

16

15

15

14

15

14

15

45 41

48 38

48 38

48 37

49 36

51 34

53 34

51 34

52 33

52 33

52 33

52 33

52 32

54 32

53 32

55 32

57 29

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könnten, Menschen im erwerbsfähigen Altervorhanden sind, die bereit sind, in dieseRegionen mit einer besonders hohen Nach-frage nach Pflegeleistungen zu wandern, umdiese dort zu erbringen. Diese Entwicklungist nicht nur in Deutschland zu beobachten,sondern in ganz Europa. Bestimmte Regio-nen etwa im Zentralmassiv Frankreichs, inSüditalien, im Norden Englands oder inmanchen ländlichen Regionen Spaniens lei-den unter ähnlichen Wanderungsverlustenund einer ungünstigen Entwicklung in dermittleren Altersgruppe der Bevölkerung.Daher wird auf diese Entwicklung nur ange-messen zu reagieren sein, wenn neben denallgemeinen Rahmenbedingungen, die dieFamilienpolitik, Sozialpolitik und Gesund-heitspolitik auf Bundesebene schaffen kön-nen, auch kommunale und landesspezifischeStrategien entwickelt werden, um mit diesenEntwicklungstendenzen angemessen umzu-gehen.

2 Wandel von Stadt und ländlichem Raum

2.1 Stadtgesellschaft: Zuwanderung,Abwanderung und SelektionstendenzenDie Statistischen Landesämter liefern heuteauf der Basis der ihnen verfügbaren Datenein ungewöhnlich differenziertes Bild nichtnur von der jeweiligen demographischenEntwicklung des Bundeslandes, sie arbeitenauch mit großer Genauigkeit die Regional-entwicklung innerhalb der einzelnen Bun-desländer mit entsprechenden Prognosenauf (Kröhnert 2007). Manche Städte wieetwa Berlin haben eine sehr kleinräumigeBeschreibung ihrer Bezirke hinsichtlich dersozialen Lage und der Lebensbedingungenvon Kindern und Familien erarbeitet.

Diese dokumentierten Ausdifferenzierungender Lebensbedingungen aufgrund derdemographischen Entwicklungen in dieserkleinräumigen Struktur werden jedoch nurselten zur Kenntnis genommen, obwohl diePluralisierung von Lebensverhältnissen vonKindern und Familien erheblich von diesen

Entwicklungen abhängt. Das gilt nicht nurfür die Fahrzeiten zur Schule in das nächsteOberzentrum, die Kinder auf sich nehmenmüssen, sondern auch für die örtliche Infra-struktur. Wenn in Brandenburg die durch-schnittliche Fahrzeit zum nächsten Ober-zentrum 50 Minuten beträgt, in Hessen nur27 Minuten, jedoch die Kinder im Elbe-Els-ter-Kreis oder in der Prignitz dafür zwi-schen 70 und 80 Minuten Fahrzeit auf sichnehmen müssen, sind die Lebensbedingun-gen für die Familien in diesen Regionen imVergleich zu denen in einer Großstadt, inder alle wichtigen Infrastruktureinrichtun-gen in der Regel innerhalb von 15 Minutenzu erreichen sind, nicht nur unterschied-lich, sondern bedeuten auch, dass die Chan-cen für diese Kinder im Wettbewerb mitanderen Kindern, ihr Potential in gleicherWeise entwickeln zu können, deutlich ein-geschränkt sind.

Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu, son-dern war eins der zentralen Argumente derDiskussion um die Bildungsreform in den1960er Jahren, in der die Distanz zu denBildungseinrichtungen nicht nur wie heutemetaphorisch verstanden wurde – die »bil-dungsfernen« Schichten –, sondern ganz realals physische Entfernung zwischen den Bil-dungsangeboten und den Kindern (Habich/Spellerberg 2008). Annette Spellerberg, diediese Zahlen anführt (2008), zeigt in ihrerAnalyse aber auch, dass die Bevölkerungs-entwicklung in Deutschland sich nicht nurzwischen den einzelnen Bundesländern alseine Ost-West-Migration mit unterschiedli-chen Alterungseffekten auswirken wird. Aufder Basis ihrer Bevölkerungsprognose istmit großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten,dass die ländlichen Kreise mit geringerBevölkerungsdichte sowohl in West- wie inOstdeutschland Bevölkerungsverluste zwi-schen 3 und 19 Prozent erleben werden,während großstadtnahe Kreise in denAgglomerationszentren, die in den letztenzehn Jahren in Ost- wie in WestdeutschlandBevölkerungsgewinne zwischen 7 und 15

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52 53 III. Für eine neue Familienpolitik

Prozent erreichten, bis 2025 aller Wahr-scheinlichkeit zwischen 1 (Ost) und 6 Pro-zent (West) weiter wachsen werden. Nebenden ländlichen Regionen mit geringerBevölkerungsdichte sind dagegen auch diemittleren Städte in ländlichen Räumensowohl im Westen wie im Osten eher vonBevölkerungsverlusten geprägt.

2.2 Veränderungen der ländlichen RäumeDiese Entwicklung skizziert nur die globa-len Entwicklungstendenzen und ist nochnach Altersgruppen und Lebensformen zudifferenzieren (Bucher 2008). Aus dieserAusdifferenzierung wird deutlich, dass dieGewinne und Verluste auch viel mit denLebensformen und dem Lebensalter mobilerMenschen zu tun haben. Es verwundertnicht, dass junge Erwachsene, wie seit Jahr-hunderten, der Faszination der Metropolenund Agglomerationsräume erliegen. Schonim 18. Jahrhundert (Shorter 1985) sorgtensich französische Präfekten um die Abwan-derung junger Frauen aus den Dörfern indie Städte, weil sie dort viel gefährdeterseien als in ihren Heimatgemeinden unterder Kontrolle der Familie und der Pfarrer.Auch heute wandern junge Erwachsene ausden ländlichen Regionen Sachsens nachBerlin oder aus Niederbayern nach Mün-chen, um dort Ausbildung, Arbeit und auchTeilhabe an den neuen gesellschaftlichenEntwicklungen zu finden.

Auch die Entwicklung, dass junge Familienmit ihren Kindern, häufig kurz bevor sie indie Schule kommen, in die ländlichen Kreisenahe den Agglomerationsräumen wandern,ist in Westdeutschland seit Jahrzehntenbekannt (Bucher 2008). Sie hat auch dazugeführt, dass viele ländliche Regionen, diezuvor als wirtschaftlich wenig bedeutungs-voll eingeschätzt wurden, einen erheblichenwirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben,etwa die Kreise im Umland von Essen undDüsseldorf oder auch von Stuttgart, Mün-chen und Köln. Auch das Umland von Berlinhat nach der Wiedervereinigung solche Ent-

wicklungen erlebt und wird aller Wahr-scheinlichkeit nach, vor allem im Süden vonBerlin, weiterhin von diesen Wanderungenprofitieren. Denn in der Regel gehören dieAbwandernden den wirtschaftlich aktivenGruppen an und sind auch im entsprechendproduktiven Lebensalter mit der Konse-

Abbildung 4: Bevölkerungsentwicklung undPrognose in Prozent

Quelle: Habich/Spellerberg 2008

Bevölkerungsentwicklung 1990–2005Prognose 2006–2025

Hochverdichtete Kreise in Agglomerationsräumen

Kernstädte in Agglomerationsräumen

Kernstädte in verstädterten Räumen

Verdichtete Kreise in Agglomerationsräumen

Verdichtete Kreise in verstädterten Räumen

Ländliche Kreise in Agglomerationsräumen

Ländliche Kreise in verstädterten Räumen

Ländliche Kreise höherer Dichte in ländlichen Räumen

Ländliche Kreise geringerer Dichte in ländlichen Räumen

–20 200–5 5–10 10–15 15

7,72,0

–8,7–13,4

–8,9–12,9

–12,5–18,3

–1,0–9,1

–16,9

–12,3–17,4

–2,7–12,7–18,8

0,4–1,5–3,7–2,0

11,42,9

9,50,8

9,7

9,21,4

6,2

14,55,96,80,7

2,0–2,2

–18,3–16,7

Ost West

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quenz der ökonomisch positiven Entwick-lung dieser jeweiligen Landkreise.

Solche Entwicklungen haben zur Folge, dasssich ein Bundesland wie Brandenburgintern vermutlich auseinanderentwickelnwird, weil sich die Kreise im Umland vonBerlin bevölkerungsmäßig positiv verändernwerden, während für die Berlin weit abge-wandten Kreise weitere Abwanderungspro-zesse zu erwarten sind. Diese Entwicklun-gen haben dort allerdings für die Familienund ihre Kinder nicht nur zur Konsequenz,dass die Fahrzeiten zur Schule immer län-ger werden, weil die entsprechende Infra-struktur für die Schule oder für die Kinder-betreuung nicht mehr in Wohnortnähe auf-rechterhalten werden kann, sondern dassauch die Infrastruktur, etwa die Versorgungmit Kinderärzten, Sportmöglichkeiten undanderen wichtigen Unterstützungsformen,fehlt, so dass sich der Abwanderungsdrucknoch verstärkt.

Angesichts dieser Tendenzen verwundert esnicht, dass etwa Brandenburg in seiner Bil-dungs-, Sozial- und Familienpolitik den Ver-such unternimmt, durch die Organisationvon Netzwerken, Bündnissen und Paten-schaften neue Formen von sozialen Unter-stützungsdienstleistungen für Familien zukonzipieren, die sich nicht mehr nur aufprofessionell ausgebildete Dienstleister stüt-zen, die es in vielen Regionen einfach nichtmehr oder nicht mehr in ausreichenderZahl gibt; vielmehr wird darauf gesetzt,durch neue Formen privaten Engagementsmit professioneller Basis einen Teil dieserEntwicklungen zumindest zu mildern.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass dieUnterstützung von Familien in diesen Kon-texten kaum noch durch eine Familienpoli-tik auf Bundesebene zu beeinflussen ist,denn zu unterschiedlich sind die regionalenEntwicklungslinien wie auch die Formendes lokalen Engagements, als dass sich ineinem solchen Kontext einheitliche, zentral

geregelte Lösungen durchsetzen ließen. Dieländlichen Kreise in den Agglomerations-räumen, die noch auf Dauer mit Zuwachsder Bevölkerung rechnen und zugleich auchvon einem Wirtschaftswachstum ausgehenkönnen, verfügen finanziell und personellüber solidere Ressourcen als die ländlichenGebiete weitab von den Metropolregionen,die davon ausgehen müssen, dass sie allerWahrscheinlichkeit nach weiter schrumpfenund dabei vor allem gerade die Jüngerenverlieren werden.

2.3 Die doppelte Polarisierung der StädteEs ist ein großes Verdienst des BochumerSoziologen Peter Strohmeier, mit hoch diffe-renzierten empirischen Arbeiten zur Sozial-raumanalyse im Ruhrgebiet gezeigt zuhaben, welche gravierenden sozialpoliti-schen Konsequenzen die Abwanderungenvor allem von Familien mit Kindern insUmland für viele Stadtquartiere in den gro-ßen Städten des Ruhrgebiets haben. Ähn-lich gravierende Konsequenzen sind in glei-cher Weise für die Bezirke Berlins undanderer großer Städte in Deutschland zubenennen. Denn die großen Städte habeneinen großen Teil der Bevölkerung aufge-nommen, die zwischen 1990 und 2000 indie Bundesrepublik zugewandert ist.Ebenso waren sie auch in den Hochzeitender »Gastarbeiter«-Zuwanderung die bevor-zugten Orte für die Zuwanderer. Hier gab esdie Arbeitsplätze, für die sie angeworbenworden waren, und entsprechend wander-ten später im Rahmen der Familienzusam-menführung Ehepartner und Familienange-hörige in diese Standorte nach. Da im Zugeder Veränderung der ökonomischen Struk-tur in vielen großen Städten, die ihren wirt-schaftlichen Aufschwung wesentlich derIndustrialisierung zu verdanken hatten,aber nun genau jene Arbeitsplätze ver-schwanden, die von den Beschäftigten ohnegrößere Qualifikation ausgeführt werdenkonnten, bedeutete das auch, dass sich Pro-zesse ethnischer Konzentration bestimmterBevölkerungsgruppen nun mit Prozessen

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sozialer Segregation infolge von Arbeitslo-sigkeit verbanden.

Schon im siebten Familienbericht (2006)wurde beschrieben, dass die sozialen Unter-stützungsleistungen in einzelnen großenStädten gegenüber anderen Regionen nichtnur überdurchschnittlich hoch ausgeprägtsind, sondern sich auch auf bestimmteStadtquartiere konzentrieren. Strohmeierzeigt nun, dass infolge dieser Zuwande-rungsprozesse und der gleichzeitigen Ver-änderung der ökonomischen Struktur dieserStädte die Familien mit Kindern in derWahrnehmung der Öffentlichkeit zuneh-mend als eine ökonomisch prekäre Lebens-form angesehen werden, die sich der Kinderwegen deutlich einschränken muss. Denndie, gemessen an den in Deutschland fürökonomischen und beruflichen Erfolg übli-chen Bewertungsstandards, »erfolgreichenFamilien« leben nach den beschriebenenWanderungsprozessen nicht mehr in diesengroßen Städten, sondern allenfalls inbestimmten ausgewählten Quartieren oderaber in den ländlichen Kreisen im Umland.Das betrifft einen großen Teil jener Fami-lien, die zeigen, dass eine Familienform mitKindern durchaus ökonomisch und beruf-lich erfolgreich sein kann, für beide Eltern-teile.

Die Mehrzahl der städtischen Familien, diesich in benachteiligten Quartieren konzen-trieren, ist nicht nur ökonomisch benach-teiligt, sondern zudem auch in hohem Maßauf Unterstützungsleistungen durch Kom-mune und Staat angewiesen. Auf der ande-ren Seite leben aber auch gut qualifizierteund erfolgreich berufstätige junge Erwach-sene, häufig als Single oder auch in derLebensform des Living-Apart-Together, inden Städten. Daher lautet die These vonStrohmeier, dass Familien im Vergleich zuden Singles oder den nichtehelichen Part-nerschaften zunehmend den Status einerbenachteiligten Lebensform bekommen undmöglicherweise eher den »Verlierern« zuge-

rechnet werden, während der ungebundeneSingle ohne Kinder als der erfolgreichePrototyp städtischen Lebens gilt (Stroh-meier 1997).

Strohmeiers empirische Beobachtungen imRuhrgebiet lassen sich auch in vielen ande-ren Städten Europas machen, wie beispiels-weise in London (Hull). In der Öffentlichkeitwerden diese Segregationstendenzen oftnur unter der Perspektive diskutiert, ob insolchen Quartieren auch die öffentlicheSicherheit und Ordnung gewährleistet undzudem sichergestellt sei, dass die Motiva-tion und Bereitschaft, auch unabhängig vonsozialen Unterstützungsleistungen zu leben,noch tatsächlich vorhanden sei.

Aus diesem Befund ergeben sich zwei klarepolitische Konsequenzen für Städte undKommunen, die sie entweder akzeptierenkönnen oder ihnen durch eine kluge Famili-enpolitik entgegensteuern müssen: Wennjunge Familien mit ihren Kindern in ländli-che Regionen abwandern, verlassen damitnicht nur Lohn- und Einkommensteuerzah-ler die Städte, sondern auch Betriebe undInstitutionen, die auf diese qualifiziertenArbeitskräfte angewiesen sind, »wandernihnen nach« (Frank 2005). Zum Zweitenreduziert sich durch diese Abwanderungs-prozesse auch die soziale Durchmischungder städtischen Quartiere erheblich.

3 Ökonomie und FamilieEin in Deutschland häufig diskutiertes Pro-blem ist, dass es bisher nicht gelungen ist,die steigende »relative« Kinderarmut erfolg-reich zu bekämpfen. Mitte der 1950er Jahrebezifferte Helga Schmucker den Anteil derKinder, die nach ihrer damaligen Definitionvon relativer Armut betroffen waren, mitetwa 17 Prozent. Ein großer Teil dieser Kin-der damals wuchs bei Kriegerwitwen auf,die trotz ihrer Berufstätigkeit in der Regelnicht in der Lage waren, ein hinreichendesEinkommen für ihre Familie zu erzielen. DieBerechnung der relativen Kinderarmut

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heute auf der Basis der revidierten OECD-Skala kommt mit etwa 15 Prozent (Eggen/Rupp 2006) auf fast ähnliche Werte wie inden 1950er Jahren, als es in Deutschlandmit den damals großen ökonomischenSchwierigkeiten nicht leicht war, Arbeits-plätze für Mütter mit Kindern zu bekom-men, geschweige denn Betreuungsplätze fürKinder während der Arbeitszeit der Mütter.

Auch wenn sich diese Zahlen wegen derunterschiedlichen Rahmenbedingungennicht vergleichen lassen, ist es für den deut-schen Wohlfahrtsstaat skandalös, dass aus-gerechnet die ökonomisch und politischschwächste Gruppe am stärksten von relati-ver Armut betroffen ist. Das hängt einer-seits damit zusammen, dass der deutscheWohlfahrtsstaat anders als Schweden oderFinnland lange an der Fiktion festgehaltenhat, eine Familie habe vom Einkommen desHaupternährers (Vater) zu leben; zudem seidie Trennung eines Paares ein »Betriebsun-fall«, der sich dadurch ausgleichen lasse,dass der Haupternährer auch nach derTrennung in der Lage sein müsse, der Fami-lie, von der er sich getrennt hat, einen ange-messenen Lebensstandard zu garantieren.Dabei zeigt der Vergleich (Abbildung 5),dass in allen europäischen Ländern, seienes die häufig positiv zitierten nordeuropäi-schen Sozialstaaten oder die südeuropäi-schen Länder oder Deutschland, von denFamilien, in denen die Mutter allein für sichund ihre Kinder ökonomisch sorgt, etwa einDrittel unter der relativen Armutsgrenzedes jeweiligen Landes liegt.

Die in der deutschen Sozialpolitik langevorherrschende Betonung der Rolle desVaters als Haupternährer für alle familiärenLebensformen beruhte auf zwei Fehlein-schätzungen. Die Entscheidung, als Paargemeinsam ein Kind aufzuziehen, wird auchheute noch von den meisten Eltern in dieserForm getroffen. Und wie immer wiederbestätigt wird, wächst auch sowohl in Ost-wie in Westdeutschland die Mehrzahl aller

Kinder bei ihren beiden Eltern auf (zwi-schen 65 und 85 Prozent). Allerdingsbedeutet die Entscheidung für ein Kindheute nicht mehr in allen Fällen, immergemeinsam mit dem Vater oder der Mutterdes Kindes zu leben. Treue, Partnerschaftund wechselseitige Verlässlichkeit sind auchheute in einer Beziehung ebenso hoheWerte wie vor 30 oder 40 Jahren (Schmidt/Dekker/Matthiesen/Starke 2006). Allerdingswird heute gesellschaftlich akzeptiert, dassTreue und Partnerschaft nicht notwendiger-weise ein Leben lang, das selbst viel längergeworden ist, halten müssen. Neben demKonzept einer lebenslangen Beziehung in

Abbildung 5: Staatliche Transferleistungenim europäischen VergleichArmutsraten vor und nach Transferleistungen 2001(in Prozent)

Quelle: Heikkilä et al. 2006

Dänemark

Finnland

Österreich

Deutschland

Schweden

Niederlande

Belgien

Luxemburg

Frankreich

Alle

Großbritannien

Spanien

Irland

Portugal

Italien

Griechenland

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

nach Transferleistungen vor Transferleistungen

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56 57 III. Für eine neue Familienpolitik

Treue hat sich eine Vorstellung von sequen-zieller Monogamie etabliert, die es denPartnern ermöglicht, sich auch ohne gesell-schaftliche Ächtung aus einer Partnerschaftzu lösen, die aus welchen Gründen auchimmer brüchig geworden ist.

Wenn man nur die ökonomischen Konse-quenzen dieses Wertewandels betrachtet,so leuchtet ein, dass das Einkommen, daszuvor für einen Haushalt gereicht hat, nichtfür einen zweiten Haushalt in gleicherWeise reichen kann. Denn bei einer Tren-nung gehen notwendigerweise die Skalen-vorteile verloren, die sich aus dem Zusam-menleben ergeben: Die zweite Miete, diezweite Einrichtung und andere Folgekostenführen dazu, dass zwei Haushalte immerteurer sind als einer. Der zweite Irrtum lagin der Annahme, dass in der postindustriel-len Gesellschaft mit teilweise sehr unsiche-ren Arbeitsplätzen das Einkommen desHaupternährers, wie er in der amtlichenStatistik heißt, dauerhaft in ausreichenderHöhe zur Verfügung steht, um die hinrei-chende Existenzsicherung der Familie zugewährleisten. In einer Gesellschaft miteher unsicheren Beschäftigungsverhältnis-sen, vor allem in jungen Lebensjahren, diesich zudem nicht mehr wie in früherenJahrzehnten zuverlässig weiterentwickeln,ist es nur folgerichtig, sich von der Vorstel-lung des Haupternährers zu verabschiedenund stattdessen zu akzeptieren, dass auchin einem Haushalt mit Kindern zwei Ein-kommen eine notwendige Voraussetzungdafür sind, den Kindern einen hinreichen-den Lebensunterhalt zu ermöglichen.

Im Bericht »Starke Familie« wurde am Bei-spiel des einkommensabhängigen Elterngel-des schon ausgeführt, dass solche Überle-gungen zur ökonomischen Selbständigkeitunter einer demographischen Perspektiveeine wichtige Voraussetzung sind, um dieRessourcen von Müttern und Frauen fürGesellschaft und Wirtschaft zu nutzen. Aberauch wenn ein solches System in Deutsch-

land etabliert ist, das stärker auf die öko-nomische Selbständigkeit von Frauen undMüttern setzt, bleibt die Lebensform deralleinerziehenden Mutter ökonomisch auchweiterhin gefährdet, wie internationale Ver-gleiche zeigen, denn häufig reicht ein Ein-kommen zur Finanzierung eines Haushaltsmit Kindern nicht aus. Wenn auch derBund mit seiner Politik in der Lage seinsollte, diese ökonomischen Ressourcen zurVerfügung zu stellen, um ein solches neuesKonzept dauerhaft zu realisieren, so istdoch davon auszugehen, dass die Skalen-vorteile, die ein Haushalt durch dasgemeinsame Wirtschaften ermöglicht, aufdiese Weise nicht auszugleichen sind. Undgenau hier gilt es wieder zu fragen, ob undinwieweit sich durch kommunale Maßnah-men und die Stützung kleiner Netze aufkommunaler Ebene entsprechende Formenneuer Unterstützungsleistungen, wie siespäter konkret beschrieben werden, etab-lieren lassen.

Neben den Kindern von alleinerziehendenMüttern wachsen in Deutschland vor allemKinder aus Familien mit drei und mehr Kin-dern in ökonomisch knappen Verhältnissenauf. Lange Zeit herrschte die Meinung vor,durch steuerliche Maßnahmen ließe sicheine horizontale Gerechtigkeit zwischendenjenigen, die keine Kinder haben, unddenen mit mehreren Kindern herstellen.Dabei sollten auch Familien mit mehrerenKindern durch Splitting, Kindergeld undKinderfreibeträge ökonomisch so leistungs-fähig gemacht werden, dass diese Kinder inihren Lebenschancen nicht benachteiligtwären. Eine solche Konzeption kann abernur so lange tragen, wie die Lebensformenaller, die zur Steuer herangezogen werden,in etwa übereinstimmen. Sobald es aber zurRegel wird, dass Alleinstehende und kinder-lose Paare, wenn sie zusammenleben, unab-hängig davon, ob sie verheiratet sind odernicht, über zwei Einkommen verfügen, diezu der hohen Besteuerung führen, wie wirsie in Deutschland kennen, ist ein solcher

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Ausgleich faktisch ausgeschlossen. Diezusammenlebenden Paare verfügen dannnicht nur über ein doppeltes Einkommen,sondern nutzen genauso wie Familien mitmehreren Kindern die Skalenvorteile desgemeinsamen Haushaltes, möglicherweiseauch noch Splittingvorteile. Denn der ent-scheidende Unterschied zwischen zusam-menlebenden Paaren ohne Kinder und Paa-ren mit Kindern liegt in der Entscheidung

der Frauen mit Kindern, nicht oder allen-falls reduziert am Arbeitsleben teilzuneh-men. Die Korrelation zwischen der Zahl derKinder und der Beteiligung von Müttern amErwerbsleben ist überaus deutlich. Ist vonden Müttern mit einem Kind noch knappein Drittel voll erwerbstätig und weitere 25Prozent teilzeitbeschäftigt, so sind die Müt-ter mit vier Kindern nur zu 5,5 vollzeit- und6,1 Prozent teilzeitbeschäftigt und bei den

Abbildung 6: Einkommenssituation und Wohlstand von Kindern in Deutschland 2003und 2006

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2007

Jahr 2003 Jahr 2006

Wohlstandsposition in % Pro-Kopf-Einkommen in €

11881198

100100

10181032

8686

10481098

8892

13511363

10401147

11241173

13681384

9351000

10501075

13731364

637746

776799

12041201

636741

766791

10951089

114114

8896

9598

115116

7983

8990

116114

5462

6567

102100

5462

6566

9291

120 100 80 60 40 20 0 140012001000800700600500

Lebensformen insgesamt

unter 3 Jahren

unter 18 Jahren

18 Jahre und älter

Kinder insgesamt

Kinder bei alleinerziehenden Frauen

unter 3 Jahren

unter 18 Jahren

18 Jahre und älter

Kinder bei Alleinerziehenden

unter 3 Jahren

unter 18 Jahren

18 Jahre und älter

Kinder bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften

unter 3 Jahren

unter 18 Jahren

18 Jahre und älter

unter 3 Jahren

unter 18 Jahren

18 Jahre und älter

Kinder bei Ehepaaren

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58 59 III. Für eine neue Familienpolitik

Müttern mit drei Kindern 9,4 beziehungs-weise 13,7 Prozent (Bertram 2008). DieseVariation in der Erwerbsbeteiligung derMütter erklärt fast ausschließlich die unter-schiedlichen Pro-Kopf-Einkommen von Paa-ren ohne Kinder, Familien mit einem, mitzwei oder mit drei Kindern.

Nach Berechnungen von Eggen (2008) tra-gen die steuerlichen Maßnahmen mögli-cherweise sogar dazu bei, dass Paare mitein oder zwei Kindern, wenn sie verheiratetsind, deutlich von den steuerlichen Maß-nahmen profitieren, während bei der Fami-lie mit einem Kind solche Effekte geradenicht mehr auftreten, was aus dem Mikro-zensus so nicht im Detail abzuleiten ist.Dabei ist zunächst das durchschnittlicheEinkommen über die Gesamtbevölkerungmit 100 gesetzt; dann werden die relativenAbweichungen von 100 abgetragen und dergleichen Information in Euro gegenüberge-stellt; gleichzeitig zeigen sich hier die Ver-änderungen zwischen 2003 und 2006. BeimVergleich von Kindern bei Ehepaaren undKindern bei nichtehelichen Partnerschaftenist festzustellen, dass 2006 Kinder bei nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften in Fami-lien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von906,60 Euro oder 81 Prozent des durch-schnittlichen Einkommens lebten. Die Diffe-renz zu den Ehepaaren mit drei Kindern istmit etwa 73 Prozent oder 1.093 Euro ver-hältnismäßig gering. Die Differenz für Kin-der bei einem Kind oder zwei Kindern beinichtehelichen Partnerschaften und Kindernvon Ehepaaren ist jedoch viel ausgeprägter.Bei einem Kind von verheirateten Elternbeträgt 2006 das Pro-Kopf-Einkommen1.375 Euro oder 115 der Wohlstandsposi-tion 100. Bei den nichtehelichen Partner-schaften beträgt das Pro-Kopf-Einkommenmit einem Kind 2006 aber nur 1.196 Euround entspricht ziemlich der Wohlstandspo-sition 100. Ohne das hier abschließend zubeurteilen, fällt diese 15 Prozent-Differenzstärker aus als die 6 Prozent-Differenz beiden Drei- und Vier-Kinderfamilien. Gleiches

gilt für die Familien mit zwei Kindern, wobei verheirateten Eltern ein Pro-Kopf-Ein-kommen von etwa 1.300 Euro zur Verfü-gung steht und der Abstand zu den nicht-ehelichen Partnerschaften 19 Prozent-punkte beträgt. Diese Abstufung entsprichtziemlich genau der vorher berichtetenVariation hinsichtlich der Beteiligung derMütter am Erwerbsleben, weil sich bei denKindern mit verheirateten Eltern die steuer-lichen Maßnahmen so auswirken, wie sichder Gesetzgeber das vorgestellt hat, was beiden Kindern in nichtehelichen Partner-schaften nicht der Fall ist. Besonders kri-tisch ist aber das Ergebnis, dass bei denKindern von Ehepaaren mit zwei und mehrGeschwistern diese Effekte nicht mehr auf-treten und ihr Pro-Kopf-Einkommen in etwadem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkom-men der Kinder von Alleinerziehenden ent-spricht, denn das Pro-Kopf-Einkommeneiner Familie mit drei und mehr Kindernliegt nur leicht über dem Pro-Kopf-Einkom-men alleinerziehender Mütter mit einemKind.

Hier soll keine steuerpolitische Diskussioneröffnet werden, ob diese Abstufungensinnvoll oder auch veränderbar sind, weildie zur Verfügung stehenden Daten desMikrozensus es nicht zulassen, zu prüfen,ob diese Einkommensdifferenzen nichtallein auf bessere Berufspositionen und Ein-kommenschancen von Verheiratetenzurückzuführen sind oder eben darauf, obhier die steuerlichen Maßnahmen unter-schiedlich wirken. Diese Diskussion musseinem anderen Kontext überlassen bleiben.Mit Sicherheit lässt sich aus diesen Datenableiten, dass die Familie mit drei und mehrKindern in Deutschland in gleicher Weisemit ökonomischen Schwierigkeiten zukämpfen hat wie die Familie, in der dieMutter allein die Verantwortung für ihreKinder hat. Wenn alle Alleinerziehenden,Männer wie Frauen, gemeinsam betrachtetwerden, ist die Lebenssituation dieser Fami-lienform in ökonomischer Hinsicht für Väter

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wie für Mütter gleich schwierig, weil dieEinkommensdifferenzen zwischen diesenbeiden Gruppen nicht sehr ausgeprägt sind.Sollte der Steuergesetzgeber die Leitideegehabt haben, dass die ökonomischen Res-sourcen einer Familie weder vom Familien-stand noch von der Kinderzahl abhängensollten, um horizontale Gerechtigkeit herzu-stellen zwischen unterschiedlichen Famili-enformen und denen, die nicht in Familienleben, dann ist auf der Basis der Mikrozen-susdaten von 2003 und 2006 nur festzustel-len, dass dies offenkundig in Bezug auf dieFamilie mit drei und mehr Kindern nichtgelungen ist. Ursache hierfür ist, dass hier-bei nicht in Rechnung gestellt wurde, dassdurch den ökonomischen Wandel dermodernen Gesellschaft heute die Arbeitsbe-teiligung von Müttern mit Kindern offen-sichtlich eine Voraussetzung dafür ist, einenHaushalt mit mehreren Kindern ökonomischso anzuheben, dass keine Armutsgefähr-dung besteht.

Das Statistische Landesamt Baden-Württem-berg, das diese Analysen erstellt hat (Eggen/Rupp 2006), wählt noch eine andere Dar-stellungsform für die ökonomischen Schwie-rigkeiten von Mehrkinderfamilien, indem esdas Pro-Kopf-Einkommen von Mehrkinder-familien (drei und mehr Kinder) in Bezie-hung zum Pro-Kopf-Einkommen von Paarenohne Kinder setzt: Es liegt bei beschämen-

den 40 Prozent. Daraus lässt sich die Theseableiten, dass die bisherigen Instrumenta-rien des Steuerrechts, um Familien mit Kin-dern so zu stützen, dass die Lebensform derEltern nicht die ökonomischen Chancenihrer Kinder bestimmt, nicht erfolgreichsind.

Nun kann man dieses Problem nicht einfachdurch eine Erhöhung des Kindergelds odersonstiger staatlicher Leistungen lösen oderdarauf hoffen, durch eine volle Erwerbstä-tigkeit von Müttern mit mehreren Kindernsei diesen »Problemen« beizukommen. Manwird diese Problemstellung vermutlichangemessen nur durch eine sinnvolle Kom-bination unterschiedlicher Maßnahmenlösen können. Dabei macht ein Blick auf dieGeburtenfolge und das Reproduktionsver-halten von Müttern mit mehreren Kindernallerdings deutlich, dass eine Erwerbsbetei-ligung für diese Mütter in Deutschlandgegenwärtig faktisch ausgeschlossen ist.Daran wird auch die zunehmende Verfüg-barkeit von frühkindlicher Betreuung kaumetwas ändern, weil diese Mütter bei dem inDeutschland zu beobachtenden Reprodukti-onsverhalten eine maximale Entlastung undeine entsprechende Möglichkeit, sich ineinem bestimmten Umfang (wieder) amErwerbsleben zu beteiligen, vermutlich erstdann erhalten, wenn es ein flächendecken-des Angebot an Ganztagsschulen gibt, wie

Abbildung 7: Durchschnittliche Kinderzahl in Deutschland seit 1890

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2007

Baden-Württemberg

6

5

4

3

2

1

0

Kinder je Frau (zusammengefasste Geburtenziffer)

1890 1900 1910 1920

Deutsches Reich früheres Bundesgebiet Deutschland

1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2006

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in allen anderen europäischen Ländern undden USA seit langem üblich.

Zwar beginnen die Mütter mehrerer Kinderschon mit 20 bis 24 Jahren, ihre Kinder zubekommen, durchschnittlich werden diemeisten ersten Kinder jedoch zwischen dem26. und 36. Lebensjahr ihrer Mütter gebo-ren. Die Geburt der zweiten Kinder beginntbei diesen Frauen auch schon mit 23 Jahren.Ähnlich verhält es sich mit dem drittenKind, da einige Frauen mit 26 bis 28 Jahrenein drittes Kind haben, aber die meistendieser Kinder jenseits des 30. Lebensjahresgeboren werden.

Der Reproduktionszyklus beträgt bei dreiKindern etwa sechs bis acht Jahre. Daherfängt beim Schuleintritt des ersten Kindesdas letztgeborene Kind möglicherweisegerade an zu laufen oder liegt noch in derWiege. Angesichts der unzureichendenTagesbetreuung auch für Schulkinder, wennschon die »verlässliche Grundschule« nichtin allen Bundesländern gesichert ist, bleibtdie Chance für Mütter mehrerer Kinder,eine Erwerbsbeteiligung zu planen, ohneeine solche zuverlässige Betreuung auch derälteren Kinder ein Wunschtraum.

Die Verspätung Deutschlands, Österreichsund der Schweiz hinsichtlich des Ausbauseiner kindgerechten Ganztagsschule, dienicht unbedingt dem straffen Regiment desfranzösischen Schulsystems folgt, sondernsich an anderen Konzepten schulischer Bil-dung in Europa orientieren kann, ist für diemeisten Eltern eine ferne Utopie. Dennwenn auch einzelne Bundesländer inzwi-schen in den Ausbau von Ganztagsschuleninvestiert haben, ist der Rückstand in die-sem Bereich noch unverhältnismäßig größerals im vorschulischen Bereich. Der Ausbaudes vorschulischen Bereichs wird aufgrunddes hier skizzierten Geburtenrhythmusallenfalls die Mütter mit einem und zweiKindern unterstützen können, währendgerade bei der Mehrkinderfamilie mit drei

und mehr Kindern Bildungsangebote inGanztagsschulen eine Grundvoraussetzungdafür sind, dass Mütter darüber nachden-ken, wie sie möglicherweise die Verantwor-tung für ihre Kinder mit ihrem Partner soorganisieren können, dass sich auch für sieberufliche Alternativen ergeben.

Hinter dieser klar artikulierten Vorstellung,Möglichkeiten zu schaffen, um Beruf undFamilie auch für Mehrkinderfamilien ver-nünftig aufeinander zu beziehen, steht aberauch die Überlegung, dass die heutigenMütter gegenüber ihrer eigenen Mütterge-neration eine längere Lebenserwartung vonetwa zwölf Jahren haben. Diese höhereLebenserwartung lässt sich, wie schon imBericht »Starke Familie« gezeigt, nicht mehrohne weiteres mit dem klassischen Modelldes dreigeteilten Lebenslaufes ausfüllen,weil aufgrund der relativ späten Geburtenin Deutschland rein zeitlich kein nahtloserÜbergang von der Mutter- in die Großmut-terrolle möglich ist, wie man sich das nochin den 50er und 60er Jahren des 20. Jahr-hunderts vorgestellt hat. Denn wenn dasdurchschnittliche Erstgebärendenalter inDeutschland heute bei 28 Jahren liegt, wirdeine Mutter mit zwei Kindern die Sozialisa-tionsphase auch bei großzügiger Berech-nung von 15 Jahren spätestens mit 45 Jah-ren beendet haben. Ihre Tochter wird allerWahrscheinlichkeit nach aber erst dannselbst ein Kind bekommen, wenn die Mutterzwischen 56 und 60 Jahre alt ist. Der zweiteEnkel wird sich frühestens zwischen dem60. und 65. Lebensjahr einstellen, waserhebliche Wartezeiten für eine möglicheGroßmutterrolle bedeutet.

Die Organisation der Teilhabe von Mütternan der Berufswelt oder anderen außer-familiären Aktivitäten ist also nicht nur derökonomischen Situation der Familiegeschuldet. Es geht auch um die Frage, wiesich ein viel längeres Leben mit einem ver-änderten »Timing« der Rollen so gestaltenkann, dass in jeder Lebensphase eine eigen-

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ständige Teilhabe an vielen gesellschaftli-chen Bereichen möglich ist. Schon der ersteFamilienbericht der Bundesregierung unterFamilienminister Bruno Heck (1968) hatdarauf hingewiesen, dass die ausschließli-che Konzentration der Mütter auf Familieund Haushalt auch die Gefahr mit sichbringe, dass diese Mütter in Bezug aufgesellschaftliche Teilhabe »desintegriert«seien. Und schon damals fragten die Auto-ren des Familienberichtes, wie sich dieseTeilhabe verbessern ließe.

Aber auch solche Teilhabechancen sindnicht einfach durch Bundesregelungen inder Gesellschaft durchzusetzen, sonderndarauf angewiesen, dass im kommunalenwie auch im Länderkontext Anstrengungenunternommen werden, um einerseits dieInfrastruktur für Kinder so zu entwickeln,dass entsprechend dem Reproduktionsver-halten der Frauen auch Unterstützungendurch vorschulische Betreuung und Ganz-tagsschulen tatsächlich umgesetzt werden.Darüber hinaus sind aber solche Teilhabe-chancen für Mütter vor allem am Arbeits-markt vermutlich besser geeignet, um dieökonomische Situation sowohl der Familiender Alleinerziehenden wie der Mehrkinder-familien zu verbessern, als dies allein überstaatliche Zuschüsse, die sich durch dieIdee der horizontalen Gerechtigkeit begrün-den, zu erhoffen wäre. Dazu sind die fami-liären Lebensverhältnisse inzwischen zuvielfältig geworden, als dass sie tatsächlichdurch schematische Regelungen ausgegli-chen werden könnten.

4 Geburtenentwicklung, Rush Hour desLebens und LebensperspektivenIm Bericht »Starke Familie« (Robert BoschStiftung 2005) wurden viele familienpoliti-schen Maßnahmen und vor allem das ein-kommensabhängige Elterngeld auch damitbegründet, dass solche Unterstützungs-leistungen in Abhängigkeit von der Höhedes Einkommens es auch Frauen ermögli-chen, Kinderwünsche zu realisieren, die

sich schon im Beruf etabliert haben undihre Berufstätigkeit nur eine kürzere Zeitunterbrechen wollen. Denn eineinkommensabhängiges Elterngeld vermei-det jenen »Achterbahneffekt« des Einkom-mens, der dadurch entsteht, dass in derfrühkindlichen Betreuungsphase auch beieinem Paar für eine bestimmte Zeit nur einEinkommen zur Verfügung steht. Die aktu-elle öffentliche Debatte um das Elterngeldkonzentriert sich jedoch fast ausschließlichauf die Geburtenentwicklung, obwohl dieseher langfristige Prozesse sind, so dass sichdie möglichen Wirkungen des Elterngeldesauf die Höhe der Geburtenraten erst ineiner sehr langfristigen Perspektive feststel-len lassen. Das hängt auch damit zusammen,dass die Geburtenrate in Deutschland alsPeriodenfertilität berechnet wird, in der alleFrauen zwischen 15 und 45 Jahren zusam-mengefasst werden.

Aus Abbildung 9 geht aber hervor, dass diemeisten Kinder zwischen dem 28. und32. Lebensjahr geboren werden, so dass beider Berechnungsmethode der Periodenferti-lität solche familienpolitischen Maßnahmennur einen beschränkten Effekt haben kön-nen. Denn es ist wenig plausibel, dass sich15-jährige oder 44-jährige Frauen aufgrund

Abbildung 8: Geburtenhäufigkeit fürdie Altersjahrgänge 1930 bis 1990 inDeutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt 2008

BRD – alte BundesländerDDR – neue Bundesländer

2,5

0

0,5

1,0

1,5

2,0

Geburten pro Frau nach Geburtsjahrgang

1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990

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des Elterngeldes für Kinder entscheiden.Die tatsächlichen Wirkungen auf die Gebur-tenentwicklung werden sich überhaupt erstdann feststellen lassen, wenn über einenZeitraum von mehreren Jahren für die ein-zelnen Altersjahrgänge vergleichbare Datenzusammengestellt sind.

Interessant im Zusammenhang unsererArgumentation scheint aber das Ergebnis zusein, dass sich mehr Frauen über 30 Jahrenfür Kinder entscheiden. Alle europäischenLänder haben bis Anfang der 1970er Jahreeinen erheblichen Geburtenrückgang ver-zeichnet, was auch als »zweite demographi-sche Transformation« interpretiert wird(Lesthaeghe/Surkyn 2004). Danach entwi-ckeln sich die Geburten in Europa unter-schiedlich, wobei vor allem in den nordeu-ropäischen Ländern und Frankreich Frauenzunehmend nach dem 30. bis 35. Lebens-jahr Kinder bekommen.

Schon in Graphik 8 waren die Altersjahr-gänge der häufigsten Geburten in Deutsch-land abgebildet; die Kurve für Frankreichzeigt deutlich, dass sich Französinnen auchnoch in höherem Lebensalter für Kinderentscheiden. Wenn sich dies als stabiler

Trend auch in Deutschland etablierte,könnte das zur Entzerrung der Lebensver-läufe beitragen. Aber auch eine solche Ent-wicklung lässt sich frühestens in fünf oderzehn Jahren empirisch beurteilen.

Die heute schon sichtbare geringe Verschie-bung beim Gebäralter führt zu der Frage, obfür diese neue Müttergeneration, die sichberuflich erfolgreich etabliert und mögli-cherweise schon Karriere gemacht hat, diegegenwärtigen Angebote an Unterstützungdurch Kinderkrippen und Kindergärtenangemessen sind. Die steigenden Qualifika-tionserwartungen an pädagogische Fach-kräfte im Vorschulbereich werden häufigdamit begründet, dass die Kinder aufgrundder größeren Heterogenität der Lebensfor-men der Eltern und des unterschiedlichensozialen und ethnischen Hintergrundesheute ganz andere Anforderungen an dieErzieherinnen stellen als noch in den1970er und 1980er Jahren. Daher wird zuRecht eine bessere Qualifikation von Erzie-herinnen gefordert. Inzwischen gibt es eineFülle von wichtigen Vorschlägen, wie durchdie Einführung eines frühpädagogischenStudienganges eine bessere Vorbereitungder pädagogischen Fachkräfte auf diese

Abbildung 9: Altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern 2005 in ausgewählten europäischenLändern

Quelle: Eurostat, elektronischer Datenservice, Fruchtbarkeitsziffern nach Alter; eigene Darstellung

Deutschland Frankreich Finnland Schweden

160

140

120

100

80

60

40

20

00

altersspezifische FruchtbarkeitsziffernKinder pro 1.000 Frauen

16 2018 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 16 2018 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48

2,0

1,8

1,6

1,4

1,2

1,0

0,8

0,2

0,4

0,6

kumulierte altersspezifische FruchtbarkeitsziffernKinder pro Frau

Frauen im Alter von ... Jahren Frauen im Alter von ... Jahren

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sehr unterschiedlichen Herausforderungenerreicht werden kann (Robert Bosch Stif-tung 2008).

Hier stellt sich die Frage, ob die Tatsache,dass sich gerade beruflich etablierte Müttervermehrt für Kinder entscheiden, es not-wendig macht, dass im Vorschulbereich bes-ser qualifizierte und möglicherweise durch-aus ältere Pädagoginnen tätig sind. EineFinanzinspektorin mit 33 oder 35 Jahren,die beruflich selbst andere junge Frauen imAlter der Erzieherinnen ausbildet und diegelernt hat, mit schwierigen Situationen inSteuerstreitfällen umzugehen, braucht fürdie Betreuung ihrer Kinder ein Gegenüber,dem sie Vertrauen, Achtung und auchErfahrung zubilligt. Das wird nicht unbe-dingt die 22-jährige kinderlose Erzieherinsein, so dass möglicherweise gerade beiqualifizierten Frauen die Tendenz entsteht,die eigenen Kinder privat betreuen zu las-sen, um den Prozess der kindlichen Ent-wicklung und Erziehung besser zu kontrol-lieren.

Inzwischen liegt eine immense internatio-nale Forschungsdiskussion zu der Tatsachevor, dass gerade die hoch qualifiziertenFrauen ihre Kinder in dieser Form betreuenlassen. In Deutschland gibt es dazu keineverlässlichen Zahlen, aber für die USAschätzt Arlie Hochschild (Ehrenreich/Hoch-schild 2004) etwa 800.000 Philippinas inder kindlichen Kinderbetreuung. Es stelltsich die Frage, ob diese Entwicklung mögli-cherweise in Deutschland auch zu erwartenist, wenn die öffentlichen Betreuungsein-richtungen im Vorschulbereich nicht aufeinem qualitativ so hohen Standard sind,dass sie von allen gesellschaftlichen Grup-pen in gleicher Weise akzeptiert werdenkönnen. Denn die Einbeziehung dieser Kin-der und ihrer Mütter in die öffentliche Kin-derbetreuung ist schon wegen der sozialenMischung sinnvoll, damit sich nicht Tenden-zen wie heute bereits in manchen Städten

im Schulbereich auch im Vorschulbereichdurchsetzen.

Das gilt vor allem für die großen Zentren,wo durch das Verhalten vieler junger Eltern,sich aus bestimmten Bezirken der großenStädte zurückzuziehen und ins Umland zuwandern, Segregation stattfindet unddadurch Formen der sozialen Durchmi-schung der Gesellschaft zunehmend inFrage gestellt sind. Um solche Prozesse ausder Sicht der Kommunen einigermaßenpositiv zu beeinflussen, reicht es nicht aus,das Betreuungsangebot flächendeckend vor-zuhalten, sondern es ist geradezu zwingend,dafür Sorge zu tragen, dass die Angebote sogut qualifiziert, so gut ausgestattet undöffentlich so angesehen sind, dass alleEltern das Gefühl haben, dass ihre Kinderhier richtig untergebracht sind.

In einer demokratischen Gesellschaft kannjeder Einzelne über den Wohnort für sichund seine Familie entscheiden. ElterlicheEntscheidungen werden stark davongeprägt, wo sie besonders gute Lebens-chancen für ihre Kinder vermuten. BeimWohnumfeld können die großen Städte inder Regel mit den ländlichen Regionen imUmland nicht konkurrieren. Die inzwischenrelativ gute Verkehrsinfrastruktur lässtauch größere Entfernungen selbst imöffentlichen Personennahverkehr schrump-fen. Konkurrieren können die Städte mitden wachsenden ländlichen Regionen imUmland daher nur, wenn sie mit über-durchschnittlich guten Angeboten für dasVorschul- und Schulalter die Gewissheitvermitteln, alles daranzusetzen, den Kin-dern Lebenschancen zu ermöglichen, dieim ländlichen Umland nicht zu erreichensind. In Bezug auf ihre eigenen Kinder sindEltern zu Recht »egoistisch«. Diese Motiva-tion lässt sich jedoch positiv nutzen, indemgute Angebote auch dort entwickelt wer-den, wo qualifizierte Mütter und Väterzunächst nicht wohnen.

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64 65 III. Für eine neue Familienpolitik

Dass Städte und Gemeinden unterschiedlichattraktiv für Paare mit Kindern sein können,wird auch an den sehr unterschiedlichenGeburtenraten in einzelnen Regionen deut-lich. Am Beispiel von Baden-Württembergzeigt Abbildung 10, dass im Stadtkreis Hei-delberg erstaunlicherweise die Kinderzahlbei 0,95 Kindern pro Frau liegt und damitvermutlich den deutschen Tiefststand mar-kiert. Stuttgart liegt mit 1,2 Kindern proFrau zwar auch unter dem Bundesdurch-schnitt, aber hier werden auf 1.000 Frauen250 Kinder mehr geboren als in Heidelberg.Ulm und Tübingen liegen mit 1,28 Kindernpro Frau auch deutlich höher, und Pforz-heim im selben Bundesland liegt offenkun-dig ähnlich wie Heilbronn mit 1,42 bzw.1,39 Kindern pro Frau »in einer anderenWelt«.

Diese Ergebnisse sind auch nicht neu, denndie geringe Geburtenrate in Heidelberg istseit langem bekannt. Auch ohne darüber zuspekulieren, warum es diese Differenzen ineinem Bundesland mit einer relativ homoge-nen ökonomischen Entwicklung, ungefährähnlichen Arbeitsmarktchancen für Frauenund einem relativ guten Qualifikationsni-veau der Frauen in den meisten Kreisengibt, wird daraus deutlich, dass bundespoli-tische und landespolitische Maßnahmen aufsolche Variationen nur einen begrenztenEinfluss haben. Auch wenn hier hinreichenddifferenzierte Analysen fehlen, zeigen dieseVariationen, die auch in anderen Bundeslän-dern in gleicher Weise auftreten und dieunter gleichen ökonomischen Bedingungenentstehen, dass es einer konkret auf dieLebenspraxis von Männern und Frauen inden jeweiligen Kommunen bezogenen Fami-lienpolitik vor Ort auf kommunaler Ebenebedarf. Möglicherweise kann sich eine kom-munale Familienpolitik lokal zumindest soflexibel und bedarfsgerecht angleichen, dasseine junge Frau in Heidelberg, die sich Kin-der wünscht, diesen Wunsch in gleicherWeise realisieren kann wie eine andere Frauin Stuttgart oder Pforzheim.

Abbildung 10: Kinder je Frau in Kreisen inBaden-Württemberg

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg2007

Tuttlingen (LKR)

Alb-Donau-Kreis (LKR)

Sigmaringen (LKR)

Schwäbisch Hall (LKR)

Biberach (LKR)

Zollernalbkreis (LKR)

Rottweil (LKR)

Ortenaukreis (LKR)

Emmendingen (LKR)

Böblingen (LKR)

Ostalbkreis (LKR)

Pforzheim (SKR)

Ravensburg (LKR)

Schwarzwald-Baar-Kreis (LKR)

Breisgau-Hochschwarzwald (LKR)

Neckar-Odenwald-Kreis (LKR)

Ludwigsburg (LKR)

Hohenlohekreis (LKR)

Göppingen (LKR)

Esslingen (LKR)

Heilbronn (SKR)

Rems-Murr-Kreis (LKR)

Reutlingen (LKR)

Karlsruhe (LKR)

Heidenheim (LKR)

Heilbronn (LKR)

Calw (LKR)

Rhein-Neckar-Kreis (LKR)

Waldshut (LKR)

Freudenstadt (LKR)

Baden-Württemberg

Rastatt (LKR)

Main-Tauber-Kreis (LKR)

Enzkreis (LKR)

Bodenseekreis (LKR)

Ulm (SKR)

Tübingen (LKR)

Lörrach (LKR)

Mannheim (SKR)

Baden-Baden (SKR)

Karlsruhe (SKR)

Stuttgart (SKR)

Konstanz (LKR)

Freiburg (SKR)

Heidelberg (SKR)

1,55

1,51

1,48

1,48

1,47

1,44

1,44

1,44

1,44

1,44

1,43

1,42

1,41

1,41

1,41

1,41

1,41

1,40

1,40

1,40

1,39

1,38

1,37

1,37

1,37

1,37

1,36

1,36

1,35

1,35

1,34

1,32

1,32

1,30

1,29

1,28

1,28

1,27

1,26

1,26

1,22

1,20

1,19

1,08

0,95

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Möglicherweise sind solche Variationenauch Ergebnis der typischen regionalenBerufsangebote. Dann müssten durch dieZusammenarbeit von Kommune, regionalerIndustrie- und Handelskammer und denlokalen Arbeitgebern Konzepte der Famili-enfreundlichkeit konkret entwickelt werden.Oder aber die jungen Frauen, die sich fürKinder entscheiden, ziehen lieber insUmland. Auch dann müsste eine KommuneStrategien entwickeln, die es den jungenErwachsenen ermöglicht, zu bleiben, wennsie sich für Kinder entscheiden.

Diese Daten machen deutlich, dass eine Dis-kussion über die Geburtenentwicklungallein auf der Basis des Elterngeldes schondeswegen zu kurz greift, weil die Variatio-nen innerhalb der einzelnen Bundesländerauf kommunaler Ebene genauso groß sindwie die Variationen im europäischenVergleich. Im Landkreis Tuttlingen werdenmit 1,55 Kindern pro Frau 600 Kinder auf1.000 Frauen mehr geboren als in Heidel-berg mit 0,95. Das Europäische Parlament(European Commission 2008) gibt dieGeburtenrate für Irland mit 1,99 und fürTschechien mit 1,23 Kindern pro Frau an,was einen Unterschied von 0,76 Kindernpro Frau ausmacht. Auf der nationalenEbene vergleichen wir uns immer mit denerfolgreichen Ländern wie Frankreich (1,9)oder Finnland (1,8), obwohl die Differenzzwischen diesen Ländern und Deutschland(1,37) ziemlich genau der Variation inBaden-Württemberg zwischen verschiede-nen Land- und Stadtkreisen entspricht.

Eine entsprechende Diskussion des Deut-schen Städtetages oder des DeutschenLandkreistages über die unterschiedlichenLebensbedingungen von Familien in denStädten und über gemeinsame Programmezur Verbesserung der Lebensbedingungenvon Familien auf kommunaler Ebene gibt esbislang kaum. Sehr wohl aber entwickelneinzelne Städte sehr viel Eigeninitiative beiden Konzepten, was sie für ihre Familien

und ihre Kinder tun. Hier müsste man einenSchritt weitergehen und sich genauer fra-gen, was diese Unterschiede tatsächlich ver-ursacht und ob bzw. wie man sie beeinflus-sen kann.

Damit ist ein zentrales Problem vieler wis-senschaftlicher Diskurse zur Geburtenent-wicklung angesprochen. Denn die meistendieser Diskurse stützen sich auf sehr globaleTheorien, die für solche kleinräumigen Dif-ferenzen wenig geeignet sind. Wie soll eineTheorie des allgemeinen Wertewandels mitder These einer größeren Individualisierungerklären können, dass in Heidelberg vielweniger Kinder geboren werden als inMannheim, Karlsruhe oder Stuttgart? AuchTheorien, die die Opportunitätskosten oderdie rationale Kalkulation der Kosten vonKindern für das eigene Leben als Erklärungder Geburtenentwicklung heranziehen, kön-nen mit solchen kleinräumig nebeneinan-derliegenden Entwicklungen kaum etwasanfangen. Es handelt sich hier nicht nur umein politisches Problem, sondern bisher hatauch die Wissenschaft nur relativ wenig zurErklärung dieser Unterschiede beigetragen.

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66 67 IV. Kindeswohl und Wohl der Älteren

1 Subsidiarität und globale WeltDie Grundlagen des Prinzips Subsidiaritäthaben wir bereits in Teil I dargelegt. Dabeiwurde deutlich, dass es sich im Kern um dieEntscheidung einer Machtfrage handelt. Esgeht um das Spannungsverhältnis zwischenbürgerlicher Freiheit, die eigenen Angele-genheiten verantwortlich selbst und frei vonstaatlicher Einmischung zu ordnen, und derinhaltlichen Bestimmung des Rechts derstaatlichen Macht, in den geschützten Raumaus Gründen eines höherwertigen Gesamt-interesses einzugreifen. Im deutschen Wohl-fahrtsstaat obrigkeitlicher Prägung des19. Jahrhunderts wurde das Eingriffsrechtdes Staates aus dem Anspruch abgeleitet,die Lebensverhältnisse möglichst aller Men-schen nach einheitlichen Maßstäben zuregulieren. Die heutigen sozialen Siche-rungssysteme, wie gesetzliche Renten, Pen-sionen und die Arbeitslosenversicherung,entstammen dieser Vorstellung ebenso wieeine möglichst einheitliche Krankenversi-cherung. Ihnen allen liegt die Vorstellungzugrunde, vor allem der Zentralstaat sei inder Lage, gesellschaftliche Risiken abzusi-chern und damit auch die individuellenLebensrisiken in angemessener Weise abzu-wenden.

Diese Sicht der Dinge entspricht in derwissenschaftlichen Diskussion der Thesevon Putnam, es werde in hoch differenzier-ten Gesellschaften immer schwieriger, sichdarauf zu verlassen, dass die Familie, dieNachbarschaft und die Gemeinde die not-wendigen Unterstützungen erbringen könn-ten, um das Subsidiaritätsprinzip zu leben.Mit seiner Argumentation, dass die Men-schen heute nur noch für sich allein leben(»bowling alone«), steht Putnam nicht allein;in der deutschen Diskussion ist Ulrich Beckein prominenter Vertreter dieser Position.Auch Richard Sennett beschreibt, wie in derhoch flexiblen Welt des Kapitalismus festeBindungen und Beziehungen gar nicht mehrentwickelt werden können, so dass nurnoch der Gesamtstaat und die von ihm

getragenen Institutionen in der Lage seien,die Lebensrisiken des Einzelnen zu bewälti-gen.

Erstaunlich an dieser weltweit geführtenDebatte ist die Tatsache, dass vor allemdeutschsprachige Autoren die These vertre-ten, der Zentralstaat gebe immer die Struk-turen des individuellen Handelns und derBeziehungen vor und strukturiere damitauch die privaten Lebensformen und diefamiliären Bindungen (Alber 1982). Im Kon-trast zu dieser eher deutschen Debatte zei-gen jedoch französische Historiker, etwaAries in der »Geschichte der Familie«, dassvor allem im 19. Jahrhundert die staatlichenInstitutionen immer wieder den Versuchunternommen haben, das private Leben derBürger möglichst nach ihren Vorstellungenzu formen.

Das galt nicht nur für die FranzösischeRevolution, bei der sogar die Nachthemdender Bürger revolutionär vorgeschriebenwaren. Der französische Historiker Donzelothat in seiner »Ordnung der Familie« mitbewundernswerter Klarheit beschrieben,wie der französische Staat im 19. Jahrhun-dert sukzessiv versuchte, zunächst das pri-vate Leben der Unterschichten zu organisie-ren, um revolutionäre Ereignisse wie 1848möglichst zu unterbinden, etwa mit demBau von Sozialwohnungen am Stadtrand vonParis. Sie waren so angelegt, dass die Poli-zei zügig eingreifen konnte. Auch wurdendie Hausbesuche der Fürsorgerinnenzunächst mit der Begründung erfunden, denSchulbesuch aller Kinder sicherzustellen.Später wurden sie aber als geeignetesInstrument genutzt, um die private Lebens-führung der Unterschichten sorgfältig zukontrollieren. Auch zeigt Donzelot, wie dieMittelschichten über steigende Ansprüchean die »richtige« Sozialisation der Kinderzunehmend in die Abhängigkeit von Profes-sionellen, in der Regel staatlich angestellt,gebracht wurden.

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Ohne ihre kritische Perspektive in allenEinzelheiten zu teilen, liefert vermutlich dieThese von Tamara Hareven eine guteBeschreibung dieses spannungsgeladenenWechselverhältnisses von bürgerlicher Frei-heit und dem Regelungsanspruch eines vor-mundschaftlichen Staates, von Menschen inihren individuellen Beziehungen und Bin-dungen und der Vorstellung der staatlichenAkteure, dies nur in gesetztem Rahmen zurealisieren. Zu allen Zeiten der Geschichtehätten Individuen und Familien versucht,ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zugestalten, und seien dabei immer mit demProblem konfrontiert gewesen, dass dieObrigkeit, aus welchen Gründen auchimmer, mit diesen Formen der Lebensge-staltung nicht immer einverstanden war.

Dieser historische Hinweis ist von besonde-rer Bedeutung. Denn vor dem Hintergrunddieser Perspektive wird deutlich, dass zujedem Zeitpunkt gesellschaftlicher Entwick-lungen, ob im 19. oder späten 20. oder jetztim 21. Jahrhundert, entschieden werdenmuss zwischen der individuellen Verant-wortlichkeit für andere auf der Basis voneigenständigen individuellen Entscheidun-gen oder staatlicher Kontrolle und Unter-ordnung. Wir neigen heute eher zu derÜberzeugung, dass die Antworten des 19.oder 20. Jahrhunderts nicht mehr angemes-sen sind. Das würde jedoch bedeuten: DieThese vom Zerfall der wechselseitigenUnterstützungsleistungen, die zu der Ant-wort führt, heute sei nur noch der Staat inder Lage, solche Unterstützungsleistungensicherzustellen, kann nur dann zutreffen,wenn man die Antworten aus dem 19. und20. Jahrhundert auf den im Subsidiaritäts-prinzip angelegten Konflikt auch heute nochals in sich richtig einschätzt.

Tatsächlich müssen wir, wie in den vorher-gehenden Kapiteln ausgeführt, heute davonausgehen, dass wir in einer globalen Gesell-schaft leben. Sie stellt uns vor neue Heraus-forderungen. Vor deren Hintergrund

erscheint es geboten, auch hier die Thesezu formulieren, dass eine Rückkehr in dieStrukturen und Diskussionen um staatlicheUnterstützungsleistungen versus bürgerli-che Selbstorganisation wie im 19. und20. Jahrhundert nicht der richtige Weg ist.Vielmehr sind wir darauf angewiesen,Lösungen und Perspektiven zu entwickeln,die der Gegenwart entsprechen undzugleich eine gewisse Zukunftssicherheitgeben.

Für Familienforschung, Familienpolitik undauch weite Teile der Öffentlichkeit stehtfest, dass eine Rückkehr zu den Lebensfor-men des 19. und frühen 20. Jahrhundertsausgeschlossen ist. Denn die Gleichstellungder Geschlechter, die Flexibilisierung derÖkonomie mit neuen Berufen, die Bildungs-investitionen in die nachwachsende Genera-tion und die hier im Einzelnen beschriebe-nen Migrationsprozesse haben dazugeführt, dass die Individuen auch versuchenmüssen, auf diese neuen Entwicklungenneue, passende Antworten zu finden. DieFamilienpolitik muss versuchen, der Vielfaltangemessene Rahmenbedingungen zuschaffen. Demgegenüber scheinen viele deraktuell geäußerten Theorien im Bereich derSozialpolitik wie auch die konkrete Sozial-politik selbst immer noch in den Vorstellun-gen des späten 19. und frühen 20. Jahrhun-derts gefangen zu sein, als man nochglaubte, mit relativ generellen Lösungen fürgroße Bevölkerungsgruppen die Sicherheitauch für die kleinen Lebenskreise zugewährleisten.

Die Gesetzgebung zu Hartz IV ist dafür eingutes Beispiel. Die Vorstellung, dass einheit-lich in Deutschland ein individuelles, füralle geltendes, ohne Berücksichtigungbesonderer Lebensumstände festzulegendesExistenzminimum für jedes Individuumdefiniert werden kann, hat dazu geführt,dass die Sozialgerichte überlastet sind.Denn nun ist die Gerichtsbarkeit aufgerufen,die besonderen Lebensumstände unter-

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68 69 IV. Kindeswohl und Wohl der Älteren

schiedlicher Lebensformen in unterschiedli-chen Regionen mit unterschiedlicher Betrof-fenheit der einzelnen Personen in einer sol-chen Lebensform festzulegen. Die vielenProzesse zu Fragen, ob die Größe der Woh-nung im Einzelfall angemessen oder einUmzug in eine kleinere Wohnung gerecht-fertigt ist, oder wie individuelle Vermögens-teile im Einzelnen zu berechnen sind undvieles andere, sind notwendig geworden,weil der Gesetzgeber offenkundig geglaubthat, man könne in einer ausdifferenzierten,pluralen und individualisierten Gesellschaftdie De-Individualisierung für bestimmteBevölkerungsgruppen gesetzlich erzwingen.

Auch hier trifft die These von Tamara Hare-ven zu, dass Individuen und Familien immerversuchen, ihre eigenen Lebensvorstellun-gen und ihre eigenen Zukunftsperspektivendann auch gegen den Staat durchzusetzen.Als Konsequenz daraus müssen wir uns imRechtsstaat daran gewöhnen, dass die Indi-viduen zukünftig die rechtlichen Möglich-keiten und Gegebenheiten genauso in ihremeigenen Sinne gestalten, wie auch großeUnternehmen ihre Steuerkonstruktionen inAbhängigkeit von geltenden Gesetzen sogestalten, wie sie selbst und nicht der Staatdas für richtig halten.

Noddings (2002) führt dieses Festhalten aneiner überholten Konzeption von Sozialpoli-tik auch darauf zurück, dass wir »seit Platonimmer nur fragen, wie denn die Familie unddie privaten Lebensformen für den Staat dasein können und ihn stützen können«. Statt-dessen sei umgekehrt die Frage zu stellen,wie sich sinnvollerweise in einer ausdiffe-renzierten und komplexen Gesellschaft diebestmöglichen Lebensformen mit den best-möglichen Lebenschancen für Eltern, Kin-der und Großeltern entwickeln lassen, umdann zu fragen, wie Staat und Gesellschaftdiese Entwicklung unterstützen können.

Damit sind wir wiederum bei einem Pro-blem, das Tocqueville schon beim Vergleichder amerikanischen und der französischenFamilie um 1830 thematisiert hat. Er kriti-sierte an der französischen Konzeption vonFamilie, dass sie die Familie als einen Ortbetrachtet, an dem die Eltern, vor allem derVater, die staatliche Autorität auch gegen-über den Kindern vertritt, während in deramerikanischen Familie die Eltern als »Care-taker« ihrer Kinder primär die Aufgabehaben, die Kinder möglichst schnell in denStand zu versetzen, ihre eigenen bürgerli-chen Rechte wahrzunehmen.

Im Folgenden ist zu zeigen, dass dieser Per-spektivenwechsel, wie er auch der neuenFamilienpolitik zugrunde liegt, nicht nur zueiner neuen Begründung von Solidaritätund Subsidiarität führt, die als eine kon-struktive und zukunftsorientierte Antwortauf die neue Vielfalt moderner Gesellschaf-ten anzusehen ist. Er macht auch deutlich,dass in einer modernen und hoch ausdiffe-renzierten Gesellschaft die Fürsorge fürandere, die Orientierung am Wohlbefindender Kinder, die Teilhabe der Älteren anaktuellen gesellschaftlichen Entwicklungennicht nur möglich sind, sondern wesentlicheElemente einer demokratischen Gesellschaftdarstellen, wie es Tocqueville schon vor180 Jahren beschrieben hat und damit einegenaue Begründung für eine Familienpolitikauf kommunaler und länderspezifischerEbene liefert.

Mit dieser Perspektive wird die Kritik desNobelpreisträgers Yunus ernst genommen,der moderne Sozialstaat westlicher Prägungnehme für sich in Anspruch, alle Lebensrisi-ken des Einzelnen abzusichern, was nachseiner Meinung eher zu einem »Menschen-zoo« führt als zu einer demokratischenGesellschaft, weil es grundsätzlich ohneRisiko auch keine individuelle Entschei-dungsfreiheit geben kann.

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2 Neue Formen der FürsorgeDer wichtigste Bereich, in dem das Subsi-diaritätsprinzip seine Wirkung entfaltet,sind die Familie und die wechselseitigenUnterstützungsleistungen der Familienmit-glieder füreinander. Die klassische Thesevon Tocqueville, die Eltern seien die »Care-taker« für ihre Kinder, um es ihnen zuermöglichen, möglichst schnell selbständigund unabhängig von den Eltern und ande-ren Autoritäten die gleichen staatsbürgerli-chen Rechte in Anspruch zu nehmen wiedie Eltern, wird in modernen Gerechtig-keitstheorien fortgeführt und begründet(Rawls 1972). Denn die Fähigkeit, gleichbe-rechtigt, selbstbewusst und unabhängig vonanderen die eigenen Rechte wahrnehmen zukönnen, hat die Entwicklung von Selbstach-tung zur Voraussetzung. Diese Selbstach-tung können Kinder nach Rawls aber nurdann entwickeln, wenn die Eltern ihre Kin-der um ihrer selbst willen lieben und Feh-ler, Irrtümer oder auch das Scheitern derKinder bei bestimmten Aufgaben nicht alseinen Teil der Eltern-Kind-Beziehungbetrachten. In der unbedingten Eltern-Kind-Beziehung können sich die Kinder auch beiFehlern darauf verlassen, dass ihre Bezie-hung und die Zuneigung zu den Elternsowie die bestehenden Bindungen nicht inFrage gestellt werden.

Dass in der empirischen Realität solche Ent-wicklungsprozesse aus vielerlei Gründengestört werden können und damit auch diekindliche Entwicklung zu Selbstachtunggefährdet wird, stellt dieses Grundtheoremder kindlichen Entwicklung nicht in Frage.Bronfenbrenner, wohl einer der wichtigstenVertreter der modernen Entwicklungspsy-chologie im 20. Jahrhundert, hat gezeigt,dass Kinder für ein stabiles Selbstkonzeptmit dieser Selbstachtung zumindest einePerson benötigen, die »crazy« für diesesKind ist (Bronfenbrenner/Morris 2000).Dabei konnte sich Bronfenbrenner auf eineFülle empirischer Belege der Entwicklungs-forschung stützen, die immer wieder zeigen,

wie wichtig für die Entwicklung der Selbst-achtung eine stabile Beziehung zur Mutterund zum Vater ist. Diese Selbstachtungeines Kindes, und hier knüpft Rawls anTocqueville an, ist die Grundvoraussetzungfür die Achtung anderer Menschen. Ohnedie Erfahrung einer unbedingten Liebe undZuneigung entwickelt sich eine solcheSelbstachtung aber nicht. Auch in dieserTheorie der Gerechtigkeit von Rawls, dersich hier auf Piaget stützt, braucht ein Kinddie Erfahrung, mit Gleichaltrigen zu kom-munizieren, mit ihnen Regeln zu entdeckenund weiterzuentwickeln, um die Achtungvor sich und vor anderen auch in ein Kon-zept der wechselseitigen Gleichheit einzu-betten.

Dieses komplexe Grundmodell kindlicherEntwicklung löste die traditionelle Indus-triegesellschaft durch eine Arbeitsteilungzwischen den Geschlechtern ab, indem derVater außerhalb des Hauses seine Fürsorgefür die Kinder auf die ökonomische Exis-tenzsicherung ausrichtete, während dieMutter, zumindest in den bürgerlichenFamilien, zu Hause blieb und sich der per-sönlichen Fürsorge für die Kinder widmete.In der Industriegesellschaft war man bereit,die Ressourcen und das Potential derFrauen und Mütter exklusiv für die Familieund für die kindliche Entwicklung zur Ver-fügung zu stellen. Mit den zumeist auchgrößeren Familien war auch die zweiteBedingung für die Entwicklung von Achtungvor anderen gegeben, nämlich die Erfah-rung der Gleichheit in der Auseinanderset-zung mit den Geschwistern. Arlie Hoch-schild nennt dieses Modell »traditionell-warm«, weil in diesen traditionellen Struktu-ren der Industriegesellschaft, aufbauend aufeiner gesellschaftlichen Arbeitsteilung derGeschlechter, ein großer Teil der gesell-schaftlichen Ressourcen in die kindlicheEntwicklung investiert wurde.

Hochschild nennt auch den Preis für diesesModell: Die Mütter waren auf diese Weise in

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ihrer Teilhabe an der gesellschaftlichen Ent-wicklung nicht nur auf einen kleinen Aus-schnitt begrenzt. Sie waren auch ökono-misch vollständig abhängig vom Ehemann.Das jedoch widersprach und widersprichtallen Vorstellungen der demokratischenGleichheit der Geschlechter. Aber nicht nurdieses theoretische Argument hat zumZusammenbruch dieses Modells geführt,sondern auch die oben skizzierten Argu-mente, das Bildungskapital der jungenFrauen erlaube ihnen, mit ihren Ressourcenan vielen Bereichen der Gesellschaft ebensogut oder möglicherweise besser als dieMänner zu partizipieren.

Auch wenn man nicht zum »traditionell-warmen« Modell zurückkehren kann, so las-sen sich die Bedingungen der kindlichenEntwicklung – Bindungen und Liebe als Teilder eigenen Existenz zu erfahren, umSelbstachtung zu entwickeln – auch in einerpostmodernen Gesellschaft realisieren, inder beide Eltern berufstätig sind. Das setzt,vor allem bei sehr kleinen Kindern, einer-seits voraus, dass die zeitlichen Strukturenes den Eltern ermöglichen, diese Bindungenund Beziehungen wesentlich auf die Kinderzu konzentrieren, etwa während der Eltern-zeit. Die Rahmenbedingungen dafür schafftder Bundesgesetzgeber. Aber alle nachfol-genden Elemente – die flexible Vereinbarkeitvon Familie und Beruf sowie die Entwick-lung einer angemessenen Infrastruktur, umdie Bedürfnisse der Kinder nach verlässli-chen Bindungen und die Integration derKinder in eine Gruppe der Gleichaltrigen zugewährleisten – können in ihrer spezifischenAusprägung jeweils nur auf kommunalerEbene geschaffen werden.

Solche Modelle sehen in der GroßstadtStuttgart anders aus als in einer ländlichenRegion der Lausitz, weil die jeweiligen Rah-menbedingungen so sehr variieren, dassihre identische Gestaltung in derart unter-schiedlichen Regionen wenig effektiv wäre.In der Recherche der Prognos AG werden

neben Elternnetzwerken, Elterninitiativen,Großelterndiensten und unterschiedlichenAngeboten an Kinderbetreuung eine Füllevon Möglichkeiten aufgezeigt, wie die obendefinierten Bedingungen auch in einermodernen Gesellschaft mit ihren neuenAnforderungen an die Eltern zu erfüllensind. Dabei wird aber auch deutlich, dasssolche Angebote immer dann gut funktio-nieren, wenn sich die Hilfen innerhalb eineskommunalen Kontextes in der Nachbar-schaft, in kleinen Lebenskreisen und derGemeinde organisieren lassen.

Die Beispiele machen auch deutlich, dass esnicht darum geht, staatliche oder kommu-nale Angebote durch solche Initiativen zuersetzen, sondern um eine neue Interpreta-tion des Zusammenspiels von Initiativenund zivilgesellschaftlichen Elementen aufder einen Seite und professioneller Stützungdieser Entwicklungen auf der anderen Seite.Dieses Zusammenspiel von Bürgerengage-ment in Nachbarschaft und Gemeinde undprofessioneller Unterstützung wird anModellen wie den Familienpaten und -men-toren besonders deutlich. Solche Paten- undMentorenmodelle wurden ursprünglich inFinnland entwickelt. Sie basieren auf derIdee, dass junge Eltern oder auch Paare vorder Elternschaft dankbar sind für Hilfe ausder Nachbarschaft, die sie beim Prozess desÜbergangs vom Paar zur Familie unter-stützt. In vielen Fällen ist das die Mutterder jungen Mutter. Aber häufig sind solchefamiliären Bezüge nicht vorhanden. Manarbeitet deshalb vor allem in ländlichenRegionen sehr gut mit Patenschaftsmodel-len.

Ohne Frage sind diese Paten als lediglichtrainierte Laien manchmal mit Fragen kon-frontiert, die sie selbst, da sie keine ausge-bildeten Pädagogen oder Psychologen sind,überfordern, etwa in der Schwangerschafts-konfliktberatung. In diesem Fall brauchensie jemanden, mit dem sie sich über solcheFragen austauschen und beraten lassen

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können. Hier bedarf es also einer Kombina-tion von Paten und Professionellen. Paten-schaftsmodelle haben zudem den Vorteil,ältere Menschen, die sich noch in derGesellschaft engagieren wollen, entspre-chend ihrer Lebenserfahrung an der Ent-wicklung von Kindern und Jugendlichenteilhaben zu lassen. So gibt es sehr erfolg-reiche Mentoren, die Jugendlichen ausunterschiedlichen gesellschaftlichen Schich-ten dabei helfen, sich in Lehre und Berufzurechtzufinden. Aufgrund ihrer Lebenser-fahrung können sie es häufig besser als dieEltern, die zu diesen Bereichen nicht immerüber den Zugang verfügen wie diese erfah-renen Menschen.

Während das »traditionell-warme« Modelldavon ausging, dass die Mutter alle Verant-wortung für die kindliche Entwicklungträgt, gehen diese neueren Modelle davonaus, dass die Entwicklungsbedingungen derKinder auch dann hinreichend beachtetwerden, wenn die Paare und Familien ineinen nachbarschaftlich unterstützendenKontext eingebettet sind, der neben freiwil-ligen und zivilgesellschaftlich engagiertenMenschen auch eine professionelle Basisenthält, mit deren Hilfe sich die höherenAnforderungen an die Eltern auch außer-halb der Familie bewältigen lassen. In einemsolchen Kontext können Kinder nicht nurauf der Basis einer stabilen Eltern-Kind-Beziehung Selbstachtung entwickeln, son-dern erleben auch, welche Bedeutung dieGemeinde, die Nachbarschaft und die ältereGeneration für die eigene Entwicklunghaben können.

3 Das Kindeswohl als Maßstab kommunalerFamilienpolitikWenn wir in Deutschland über kindlicheEntwicklung und die Teilhabechancen vonKindern sprechen, neigen wir dazu, dieswesentlich auf die Bildung von Kindern zureduzieren. Die Prominenz von PISA, IGLUund anderen Bildungsstudien in der öffent-lichen Debatte, die Diskussion um Schulfor-

men, die Entwicklung der vorschulischenBetreuungsangebote und Unterstützungs-leistungen für Familien werden im Regelfallmit der Chancengleichheit von Kindern imBildungssystem begründet. Kindliche Ent-wicklung und kindliche Teilhabe sind abernur in begrenztem Maße von den Kogniti-ons- und Motivationsfaktoren abhängig, diefür den Schulerfolg wichtig sind.

Die kindliche Entwicklung hängt voneinem Bündel unterschiedlicher Faktorenab: der gesunden körperlichen Entwick-lung, der Sicherheit, sich in der räumli-chen Lebensumwelt zu bewegen, derFähigkeit, stabile Beziehungen zu Mutterund Vater aufrechtzuerhalten, auch wenndiese getrennt sind, Beziehungen zuFreunden zu haben, in Schule, Nachbar-schaft und Familie möglichst keine Gewalt-erfahrungen zu erleben, und natürlicheben auch davon, dass die Schule, dieAusbildung und auch die vorschulischenEinrichtungen individuelle Förderungsstra-tegien für Kinder so entwickeln, dass auchdie Kinder, die die Standardvorstellungennicht erfüllen, entsprechende Entwick-lungschancen bekommen.

Aus einer solchen Perspektive des kindli-chen Wohlbefindens oder des Kindeswohlsals Grundlage von Familienpolitik wirddeutlich, dass Familienpolitik immer auchkommunale Politik sein muss, weil die hiergenannten Dimensionen der kindlichen Ent-wicklung nur auf dieser konkreten Ebeneim Alltag von Kindern tatsächlich zusam-menspielen. Eine solche Orientierung amKindeswohl ist bisher nur in wenigen Kom-munen erkennbar. Gesundheitsämter,Jugendämter, Ämter für Straßenbau undVerkehrsplanung, Bildungsverwaltungen,Polizei und andere für die Sicherheitzuständige Institutionen arbeiten zwar vonZeit zu Zeit zusammen. Aber hinsichtlicheiner systematischen kommunalen Famili-enpolitik finden sich in Deutschland nurwenige Ansätze, die versuchen, gemeinsam

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Informationen über die kindliche Entwick-lung so zusammenzustellen, dass sichdaraus klare Handlungsempfehlungen fürdie einzelnen Organisationen ergeben undgleichzeitig Strategien ableiten lassen, wiedie Ämter hier besser zusammenarbeitenkönnen. Das ist kein spezifisch deutschesProblem, sondern nach Einschätzung deramerikanischen Akademie der Wissen-schaft auch eines der zentralen Problemeder amerikanischen Politik für Kinder undFamilien.

Eine solche Politik definiert das Kindeswohlals Handlungsprinzip für die kommunaleFamilienpolitik. Sie kann deshalb mit denEntwicklungen einer ausdifferenzierten,pluralen Gesellschaft, mit heterogenenLebensformen und unterschiedlichen kultu-rellen Hintergründen viel besser umgehenals eine Politik, die in verschiedenen Gebie-ten separat Standards definiert und dieseeinzeln durchzusetzen versucht, ohne inte-grativ aufeinander Bezug zu nehmen. Denndie Definition des Kindeswohls ist zwar inBezug auf die Entwicklungsdimensionen desKindes überall gleich, so dass sich dasgemeinsame Ziel einer kommunalen Famili-enpolitik bundesweit nicht unterscheidenmuss. Aber die konkreten Lebensbedingun-gen innerhalb der einzelnen Regionen,Kommunen und Gemeinden sind höchstvariabel. Ihnen können dann die konkretenindividuellen Leistungen und Maßnahmenin den jeweiligen Kommunen und Regionendurch höchst unterschiedliche Ausgestal-tung entsprechen.

Im Berliner Bezirk Neukölln mit einemhohen Anteil von Kindern mit Migrations-hintergrund und einer hohen Siedlungs-dichte sind die Bewegungsmöglichkeitenvon Kindern stärker eingeschränkt als etwaim Bezirk Köpenick mit vielen Grünflächen.Wenn Neukölln das Kindeswohl als Maßstabseiner kommunalen Familienpolitik inter-pretiert, wird man dort eine Fülle von Stra-tegien entwickeln, die Kindern mit Migrati-

onshintergrund die Teilhabe am Bildungs-system auch dadurch ermöglichen, dass ihreEltern, die selbst noch nicht in die deutscheGesellschaft integriert sind, einen Wegsehen, an dieser Gesellschaft doch stärkerteilzuhaben als bisher. Das Modell der Neu-köllner Stadtteilmütter stellt nur eine Mög-lichkeit für solche Angebote der stärkerenTeilhabe gerade auch an die Eltern dar. Einweiteres Instrument sind die Lesepaten-schaften, die verdeutlichen, dass die Gesell-schaft das Wohl der Kinder nach diesenÜberlegungen besonders ernst nimmt. Auchder Aufbau des sogenannten »Campus Rütli«in Neukölln zeigt, wie sich im Stadtteil Orteund Angebote für Kinder und Jugendlicheschaffen lassen, die nicht nur Bildung anbie-ten, sondern auch die Möglichkeit, sich kör-perlich zu entwickeln und Aktivitäten zuentfalten, die nicht primär dem schulischenKontext zuzurechnen sind, aber für die Teil-habe an der Gesellschaft von großer Wich-tigkeit sein können.

Inzwischen gibt es in Deutschland, wie dieRecherchen der Prognos AG und andererzeigen, eine Fülle von ganz unterschiedli-chen und heterogenen Strategien, die kom-munalen Besonderheiten in eine entspre-chende Angebotsstruktur zu übersetzen.Allerdings fehlt bis heute eine grundlegendeVerständigung darüber, dass trotz allerHeterogenität der Lebensbedingungen undLebensverhältnisse in der unmittelbarenUmwelt der Kinder das Kindeswohl mit sei-nen unterschiedlichen Dimensionen denMaßstab gesellschaftlichen Bürgerengage-ments auf kommunaler Ebene bilden muss.Stuttgart und Hannover haben ähnlich wieauch andere Kommunen in diesem Kontextintegrative Programme entwickelt. In sol-chen großen Kommunen ist das in der Regelmöglich, weil hier der politische Wille, einehinreichend ausgeprägte Zivilgesellschaftund die notwendige professionelle Infra-struktur zusammenkommen. Schwierigerscheint zumindest gegenwärtig die Situationin den ländlichen Gemeinden, Kreisen und

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kleineren Städten zu sein, die aus nahelie-genden Gründen nicht über dieses Potentialverfügen.

Genau darin liegt aber die zentrale Frage:ob nicht die einzelnen Bundesländer ihreFamilien- und Sozialpolitik so neu formulie-ren müssen, dass sie es ermöglicht, auchdas Kindeswohl als Grundlage für dieUnterstützungsleistungen und Zuweisungenan die Kommunen und Kreise als wichtigenMaßstab für das landespolitische Handelnzu akzeptieren. Die Fokussierung auf dieEntwicklungschancen von Kindern im Kon-zept des Kindeswohls, das hier nur kurso-risch definiert werden kann, gibt den obe-ren Gebietskörperschaften immer die Mög-lichkeit zu prüfen, was mit den entspre-chenden Mitteln geschehen ist. Konkretjedoch wirkt sie im Sinne einer Revolution.Denn die konkreten Maßnahmen, Initiativenund Entwicklungslinien, die das Handelnder politischen Entscheidungsträger undder örtlichen Zivilgesellschaft beeinflussen,werden unmittelbar auf der kommunalenEbene entwickelt.

Auf diese Weise entsteht bei gleichen Zieleneine erhebliche Vielfalt sehr unterschiedli-cher Strategien. Mit ihr lässt sich die Hete-rogenität Deutschlands weit besser abbildenals mit der Vorstellung, der Bund könnedurch eine standardisierte Familienpolitik –wie in der Sozialpolitik – diese unterschied-lichen Lebensbedingungen innerhalb derRegionen angleichen. Im vorigen Abschnittwurde gezeigt, dass sich die HeterogenitätDeutschlands, die sich durch die demogra-phische Entwicklung früherer Jahrzehnteergeben hat, vermutlich nicht beeinflussenlässt. Niemand wird glauben, dass dieGeburtenrate von 0,95 in Heidelberg durchirgendwelche bundespolitischen Maßnah-men auf das Niveau von Tuttlingen mit 1,55angehoben werden kann.

Es ist aber nicht auszuschließen, dass jun-gen Heidelbergern, die sich Kinder wün-

schen, durch ein spezifisch auf Heidelbergbezogenes Programm zur Entwicklung desKindeswohls nicht nur die Möglichkeitgeboten wird, in Heidelberg zu bleiben,sondern auch die Chance, vorhandene Kin-derwünsche dort zu realisieren. Die Frei-heitsspielräume, die das Subsidiaritätsprin-zip den kleinen Einheiten einräumt, führenalso nicht dazu, die Heterogenität derGesellschaft nur hinzunehmen. Vielmehrbleiben durch das gemeinsame Ziel der Ent-wicklung kindlicher Lebenschancen, orien-tiert am Kindeswohl, die unterschiedlichenStrukturen und Lebensformen der jeweili-gen Regionen bestehen; gleichzeitig werdendurch diese unterschiedlichen Perspektivenund Strategien die Entwicklungschancender Kinder in den Regionen verbessert.

4 Das Wohl der ÄlterenBeginnen wir mit der Illustration unseresProblems durch eine Parabel, die wirJohann Peter Hebel verdanken: Ein Wan-dersmann begegnet einem Bauern, der aufseiner Schulter ein Brett mit drei Brotenträgt. Auf die Frage des Wandersmannes,warum er drei Brote gebacken habe, obwohler doch nur eines essen könne, erwidert derBauer, mit seiner Frau könne er nur ein Brotessen. Aber ein zweites habe er für seineEltern gebacken. Von denen habe er näm-lich seinen Hof übernommen, und sie hättenvieles geschaffen, was ihm heute nutzenkönne, dafür sage er Dank. Das dritte Brotsei für seine Kinder bestimmt, damit sieeines Tages für ihn das Brot backen werden.

4.1 Der Auftrag einer neuen FamilienpolitikIn unserer Zeit und unserem Leben ist fastalles anders geworden, als es im Leben desBauern war. Aber eines ist gültig geblieben:Die Kinder verdanken ihr Leben ihrenEltern. Sie sind als Kinder auf ihre Solidari-tät und die ihrer Lebenskreise angewiesen.Und ihre alten Eltern rechnen später aufihre Kinder. Jedoch für knapp 30 Prozentder Angehörigen der geburtenstarken Jahr-gänge, die von Anfang der 50er bis gegen

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Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhundertsgeboren wurden, wird die Rechnung desBauern so nicht aufgehen. Sie haben nurzwei Brote gebacken, eines für sich undeines für ihre Eltern. Sie haben keine Kin-der, für die sie das dritte hätten backenkönnen – und 45 Prozent werden auch keineEnkel haben. Für die Kinder, die einesTages auch für sie sorgen sollen, habenandere das Brot gebacken.

Die klassische Familienpolitik war von jeherdarauf ausgerichtet, Frauen und Männer beider Erfüllung ihres Kinderwunsches durchdie Gestaltung geeigneter Rahmenbedingun-gen zu unterstützen. Der Bericht »StarkeFamilie« (Robert Bosch Stiftung 2005) istvor allem diesem Anliegen gewidmet. Mitder Erweiterung der Familienpolitik um dasWohl des Kindes erweitern wir zugleich denengeren Kreis der Familie um die kleinenLebenskreise und die Kommunen understrecken die Verantwortlichkeiten für dasKindeswohl auf sie und die Netzwerke derNachbarschaft. Auf diese Weise stärken wirnicht nur die Familie, ihre Selbständigkeitund Verantwortungsfähigkeit sowie ihredurch das Subsidiaritätsprinzip geschützteFreiheit. Wir verbessern zugleich ihre Sub-sidiaritätsfähigkeit.

Politisch legitimiert sich die Familienpolitikauch durch das Ziel, mit ihren Maßnahmendazu beizutragen, dass sich die niedrigeGeburtenrate wieder erhöht. Die Gesell-schaft soll Kinder offener annehmen, um ihrWohl besorgt sein und sich wieder derwichtigsten Bedingung ihrer eigenen Konti-nuität bewusst werden, die nur durch Fami-lien mit Kindern erfüllt werden kann, wieauch immer sich diese Familien und die sieumgebenden kleinen Lebenskreise konkretgestalten.

Ungeachtet dieser Erweiterung durch dieneue Familienpolitik orientiert sich dieGesellschaft jedoch weiterhin an der lang-fristig angelegten Aufgabe, die Kontinuität

der Generationen durch Kinder zu sichern.Sie stützt ihre Eltern und die kleinenLebenskreise und ist um ihre Entwicklungbemüht. Damit die Kinder, wie im Beispieldes Bauern, eines Tages den alt gewordenenEltern im privaten Lebenskreis die persönli-che Solidarität entgegenbringen können, dieEltern und Kinder voneinander erwarten. Esgeht, mit anderen Worten, um die langfris-tige »Investition« in Kinder.

Der Erfolg dieser Investition reicht über dieEltern hinaus. Er kommt der Gesellschaftund dem Staat als Ganzem zugute und zieltauf ein erfolgreiches Leben der heranwach-senden Generation ab. Wer heute geborenwird, wird frühestens nach 20 Jahren eineneigenen Beitrag zur Wertschöpfung des Lan-des leisten und kaum vor dem 25. Lebens-jahr daran denken, eine Familie zu gründen.Wir haben es gewissermaßen mit der inves-tiven, auf die Folgegeneration zielendenDimension der Familienpolitik zu tun. Dassdie Sorge um das Kindeswohl und die Ver-antwortung für seine Entwicklung mit dervorgeschlagenen Vernetzung der Familiemit ihren kleinen Lebenskreisen, Nachbar-schaft und Kommune eine breitere Grund-lage erhält, entspricht dem Interesse derBeteiligten. Aber die Empfehlung, so zu ver-fahren, bleibt gleichwohl im Rahmen dieserinvestiven Dimension angesiedelt.

Praktisch gesprochen heißt das: SoweitFamilienpolitik die Förderung der Kontinui-tät – und darin eingeschlossen der Fertili-tät – der Gesellschaft zum Inhalt hat, ist sielangfristig angelegt. Ihre Wirkungen könnensich erst in Zeitabschnitten einer Generationvoll entfalten. Zur politischen, sozialen undrechtlichen Gestaltung dieser Dimensionder Familienpolitik hat sich der Bericht»Starke Familie« ebenfalls geäußert.

Worum es der Familienpolitik jedoch auchgehen muss, ist die Bewältigung der Heraus-forderungen, die sich innerhalb dieser Fristaus der Alterung der Bevölkerung ergeben.

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Auch sie erfordern neue Antworten auf Fra-gen nach der Rolle der Familie im geschütz-ten Freiheitsraum der Subsidiarität und derpersonalen Solidarität, im Zusammenwirkenmit den kleinen Lebenskreisen und denKommunen. In diesem Zusammenhang wer-den sich weitreichende Veränderungen vonLebensformen entwickeln. Sie als Ausdruckvon Innovationen zu begreifen, in ihrerVielfalt zu erfassen, zutreffend einzuordnenund als Veränderungen der familiärenLebensformen zu erkennen: Darin liegt eineder großen Herausforderungen der nächs-ten Jahrzehnte. Regierungen und Parla-mente können die dafür notwendigen politi-schen Rahmenbedingungen nur formulie-ren, wenn Bedeutung und Tragweite derVeränderungen als Aufträge einer Familien-politik verstanden werden, die konkret aufder kommunalen Ebene angesiedelt sindund deshalb auch dort gestaltet werdenmüssen. Darin liegt die besondere Bedeu-tung des Zusammenhanges von Familie undSubsidiarität: die Stärkung der Familie, inihrem Zusammenwirken und vernetzt mitkleinen Lebenskreisen und dem kommuna-len Raum, geschützt durch Subsidiarität undgeprägt durch personale Solidarität.

4.2 Die Zeit der Großeltern, Verwandtenund FreundeWas also geschieht in der Zwischenzeit, bisdie Kinder herangewachsen sind und dasBrot für ihre Eltern backen können? Wel-cher Solidarität können sich in dieser Zeitdie Eltern und diejenigen anvertrauen, diekeine Kinder und Enkel haben? WelcherSolidarität können sie sich zugehörig füh-len? Welche Verantwortung können undwerden die dann aktiven Kinder für ihreEltern übernehmen und wann werden siesich überfordert fühlen? Wie wird es mitder personalen Solidarität der Aktiven mitdenen bestellt sein, die sich nicht auf denBeistand von Kindern oder Enkeln stützenkönnen?

Wie diese Fragen in den kommenden Jahrenbeantwortet werden und welche Qualität anZuverlässigkeit und Belastbarkeit den Ant-worten zuerkannt werden kann, wird überdie Kultur unseres Landes und die Lebens-qualität der heute Aktiven und der nach-kommenden Generation entscheiden.Die heutige Rentnergeneration – die Älteren,die sich Senioren nennen, weil sie sich nochnicht alt fühlen –, praktisch gesprochen: dieEltern der Angehörigen der geburtenstar-ken Jahrgänge, werden allenfalls die erstenAuswirkungen der Veränderungen erleben.

Im späteren Rückblick wird man von ihnensagen, sie konnten den Zenit des Rentner-wohlstandes erreichen, weil ihre Kinderstark und zahlreich genug waren, sie zu tra-gen. Aber man wird auch feststellen müs-sen, dass sie es unterlassen haben, dasWohl ihrer Enkel mit in den Blick zu neh-men. Denn zu viele unter ihnen gingen undgehen bis heute davon aus, der Sozialstaatsei auch in Zukunft stark genug, ihreAnsprüche an soziale Sicherung einzulösenund ihnen die Verantwortung für ihreSicherheit im Alter auch in Zukunft abzu-nehmen.

So verweisen die Antworten auf die Fragender heute Aktiven mit der herrschendenAnsicht – wenn auch nicht länger aus Über-zeugung – auf den Sozialstaat und das Ver-sprechen der sozialen Sicherungssysteme,mit ihrem Eintritt in das Rentenalter fürihren Lebensunterhalt zu sorgen, durch diegesetzliche Krankenversicherung ihreärztliche Versorgung zu sichern und sichdurch die Pflegeversicherung an den Kostenihrer Pflege zu beteiligen.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: DieGroßeltern und die vielen kinderlosen Tan-ten, Onkel und Singles werden sich auch inZukunft auf den Sozialstaat verlassen kön-nen, wenn es um die dauerhafte Sicherungihrer Grundbedürfnisse geht. Er wird sieauch dann vor Not und Krankheit und

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einem unwürdigen Leben im hohen Alterbewahren. Mit der jetzigen Rentnergenera-tion wird für eine wachsende Zahl von Sozi-alversicherten aber auch die Zeit zu Endegehen, in der die gesetzliche Rente denLebensstandard sichern und als sicher gel-ten konnte.

In jedem Falle wird sich der sozialstaatlicheBeitrag zu einem Leben im Alter – wie auchin der Vergangenheit – auf die finanzielleFürsorge beschränken, und das in zuneh-mend engeren Grenzen. Geborgenheit, zwi-schenmenschliche Zuwendung, Empathie,Interesse und Mitgefühl für die Sorgen undÄngste der Nächsten wie der Einsamenkann der Staat nicht gewähren. All dies kön-nen die Älteren nur in dem Lebensbereicherfahren, um den es hier geht: in der Fami-lie, in ihrer Erweiterung durch die kleinenLebenskreise, in der Verbindung und Ver-netzung untereinander und auf der Ebeneder Kommunen, in denen sie sich entfaltenund auf Rat, Mitwirkung und Unterstützungrechnen können. Das heißt aber: Ohnestarke Familie und ihre Lebenskreise wirdes für die Mehrheit der Älteren und Altenkein Wohl im Alter geben.

Das heißt aber auch: Das Verhältnis zwi-schen der in unserem Sinne erweitertenFamilie und dem Staat muss sich umkehren.Es muss – wie schon gesagt – wieder vomKopf auf die Füße gestellt werden. Dieumfassende Sozialpolitik des Sozialstaates,die Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhun-derts konzipiert und eingeleitet wurde unddie sich mit ihren Institutionen und Veräste-lungen bis heute ständig ausgedehnt hat,wird in einem stetigen Prozess des Über-gangs abgelöst werden müssen durch denSozialstaat, der seinen Auftrag subsidiärversteht und dessen Strukturen subsidiärkonzipiert sein werden.

Durch ihn werden die Grundlagen für einemenschenwürdige Existenz garantiert:durch Grundsicherungen ohne Bedürfnis-

nachweis oder durch ein Grundeinkommen,durch eine entsprechende Gewährleistungder ärztlichen Versorgung und durch diesubsidiäre Übernahme von Aufgaben undLasten, welche die Leistungsfähigkeit derFamilien, der kleinen Lebenskreise undihres kommunalen Umfeldes nicht überfor-dern. Dies allerdings in einer Ordnung, dienicht der kleinen Einheit die Beweislast fürihre Leistungsfähigkeit zuweist, sondernden Institutionen des Sozialstaates dieBeweislast dafür auferlegt, dass ihre Inter-ventionen den Grundsätzen der Subsidiari-tät nicht widersprechen, sondern mit Blickauf die konkrete Überforderung der kleine-ren Einheit geboten sind.

Das heißt schließlich: Das Konzept einererweiterten Familienpolitik mit ihrenebenso erweiterten Aufgaben wird den Rah-men der gegenwärtigen organisatorischenAusgestaltung der Familienpolitik sprengen.Jede Beschäftigung mit Zukunftsfragen derSozial-, Arbeitsmarkt-, Familien- undGesundheitspolitik, um nur die wichtigstenzu nennen, muss zu dem Ergebnis führen,dass die heutigen sozialpolitischen Struktu-ren mit dem Konzept subsidiärer Gestaltungnur begrenzt kompatibel sind. Mit ihrerZentralität und ihrer Aufspaltung in zahlrei-che Ressortzuständigkeiten können sie denvielfältigen Wirklichkeiten der vernetztenund zusammengehörigen Lebenssachver-halte nur unzureichend gerecht werden.

Welche Probleme sich aus dem Zusammen-stoß der unterschiedlichen Organisations-welten und -zuständigkeiten ergeben kön-nen, wird bei dem Versuch deutlich, dieOrganisationsstrukturen neu zu gestalten,durch die die Grundsicherung für Arbeits-suchende administriert werden soll. DieBetreuung der Empfänger dieser Grundsi-cherung und ihrer Bedarfsgemeinschaftenkann sinnvollerweise nur auf kommunalerEbene und erfolgversprechend nur unterMitwirkung der lokalen und regionalenZivilgesellschaften erfolgen. Denn bei den

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als Bedarfsgemeinschaften auf ihre ökono-mische Funktion reduzierten Lebenskreisen– die in Wirklichkeit Ausdrucksformen ver-antwortlicher Lebensgemeinschaft sind undvom Gesetz, wenn es um die Berechnungder Bedürftigkeit geht, auch so verstandenwerden – handelt es sich regelmäßig ummehr oder weniger, wenn auch instabilefamilienähnliche Formen des Zusammenle-bens.

Aus deren sozial- und arbeitsmarktpoliti-scher Reduktion können die Beteiligten nurmit Hilfe von Leistungen entkommen, diezu erbringen keine zentrale Bürokratie,sondern nur die auf kommunaler Ebenelebendige Nachbarschaft und ihre unter-stützende Zivilgesellschaft fähig sind. DenBetroffenen diese Möglichkeiten der Hilfedurch eine Organisationsform zu verwei-gern, die sich am zentralen Charakter derFinanzierung der Grundsicherung orien-tiert, ist weder sinnvoll noch wird sie deneigentlichen Problemen der Langzeitar-beitslosigkeit gerecht. Sie widerspricht imGrunde auch dem Anspruch auf Mensch-lichkeit, die dem Sozialstaat von der Mehr-heit der Bevölkerung bis heute attestiertwird.

Unser Beispiel ist durchaus verallgemeine-rungsfähig. Was sich aus ihm ableiten lässt,ist die Erkenntnis: Die politische Gestaltungeiner erweiterten, auf den Grundsätzen Sub-sidiarität und personale Solidarität fußen-den Familienpolitik ist eine Querschnittsauf-gabe. Oder anders formuliert: Sie lässt sichmit den vorhandenen Ressortstrukturen,wenn überhaupt, dann nur höchst unvoll-kommen verwirklichen. Denn in ihre Gestal-tung müssen Entscheidungen sozialpoliti-scher Art ebenso eingehen wie Aspekte derArbeitsmarkt-, Gesundheits- oder Schul-und Ausbildungspolitik. Die politisch-admi-nistrative Bewältigung dieser Herausforde-rungen gehört zu den wichtigen Aufgabender kommenden Legislaturperiode.

Fehlt es an der Bereitschaft für notwendigeVeränderungen, wird man mit der erweiter-ten familienpolitischen Konzeption, dieauch dem Kindeswohl wie dem Wohl derÄlteren dienen soll, in den Anfängen ste-cken bleiben. Die Folge wird allerdingsnicht die Bewahrung geringfügig veränder-ter Strukturen sein, sondern ihre zuneh-mende, ungeordnete Auflösung unter demDruck veränderter Wirklichkeiten.

Wie sich solche Veränderungen in der Pra-xis vollziehen, lässt sich an den jahrelangenebenso entschlossenen wie vergeblichenVersuchen ablesen, die Schattenökonomiezu bekämpfen. Sieht man von ihrem profes-sionellen Missbrauch und dessen berechtig-ter Verfolgung ab, handelt es sich bei demPhänomen um eine Art zivilgesellschaftli-cher Korrektur der Folgen, die sich auseinem überholten System der Finanzierungvon Sozialleistungen ergeben. Tatsächlichhat sich ein Markt etabliert, der zum einender Bevölkerung die Möglichkeit bietet, eineArt Grundeinkommen zu erzielen, das nichtdurch Beiträge belastet ist. Zum anderenmacht er es möglich, die Nachfrage nachLeistungen zu befriedigen, die im Bereichder Familien und kleinen Lebenskreiseerbracht werden müssen und die im regulä-ren Arbeitsmarkt, wenn überhaupt, nur zuBedingungen verfügbar sind, die die Leis-tungsfähigkeit der Familien und kleinenLebenskreise übersteigen. Derartige»Improvisationen« außerhalb der recht-lichen Ordnung lassen sich zwar vorüber-gehend unterdrücken. Aber sie lassen sichnicht auf Dauer politisch aufhalten. Wennüberhaupt, kann man sie allenfalls durchnachlaufende Reformen früher oder späterund dann zu erheblich höheren Kosten wie-der einfangen. Eine intelligente Governancesähe anders aus.

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4.3 Ist Wirtschaftswachstum die Lösung?Die Dringlichkeit der hier beschriebenenAufgaben wäre zweifellos geringer, könnteman davon ausgehen, dass der heutigeSozialstaat und seine wichtigsten Systemeauch den neuen, von uns beschriebenenHerausforderungen gewachsen wären. Nachallem erscheint es uns nicht gerechtfertigt,unser Konzept auf diese Annahme zu stüt-zen. Denn die Fundamente, auf denenunsere Sozialsysteme aufbauen und denensie ihre Stabilität verdanken, stehen schonseit längerer Zeit auf schwankendem Boden.

Nichts macht dies deutlicher als das geringeVertrauen, das die Bevölkerung der gesetz-lichen Rentenversicherung und ihrerzukünftigen Leistungsfähigkeit entgegen-bringt. Zwar zweifelt die große Mehrheitnicht daran, dass die staatliche Rente einGrundbaustein ihrer Alterssicherung blei-ben wird. Gleichwohl setzt die Bevölkerungzunehmend auf eine Mischung von gesetz-licher und privater Vorsorge, zu derWohnungseigentum, private Rentenversi-cherung oder betriebliche Alterssicherunggehören. Sie ist überzeugt, dass die Rentenin zehn Jahren niedriger sein werden alsheute. Kaum noch jemand hält es für realis-tisch, dass die künftige Entwicklung derRenten auch nur mit der InflationsrateSchritt halten könne (Köcher 2008). In denAugen der großen Mehrheit ist die Rentelängst auf dem Wege zur Grundsicherung.Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich beider gesetzlichen Krankenkasse und derPflegeversicherung ab.

Zu einer realistischen Einschätzung derzukünftigen Leistungsfähigkeit des Sozial-staates besteht deshalb aller Anlass. Dennseine Systeme leiten ihre Zukunftsverspre-chen nach wie vor aus der Überzeugung ab,ein nachhaltiges angemessenes Wirtschafts-wachstum werde es ihnen auch in Zukunftermöglichen, »die berechtigten Erwartun-gen« der Bevölkerung einzulösen. Zweifel andieser Erwartung sind angebracht.

Um ihnen nachzugehen, müssen wir hiernicht untersuchen, ob dauerhaftes Wirt-schaftswachstum in den reifen, hochentwi-ckelten Industrieländern ein sinnvolles,wenn auch nicht unbedingt mehr sinnstif-tendes Ziel sein kann. Für unsere Zweckereicht es aus, zwei Fragen zu stellen:(1) Sind die Menschen auch in Zukunftbereit, die zusätzlichen Leistungen zuerbringen, die für eine weitere Steigerungder Wirtschaftsleistung des Landes erfor-derlich sind? (2) Und wenn ja, wie müsstendie zusätzlichen, durch Wachstum geschaf-fenen Ressourcen eingesetzt werden, umdie Zukunft des Landes zu sichern? Stehensie auch dann noch der Bedienung zusätzli-cher Anforderungen der sozialen Systemezur Verfügung? Wie steht es dabei insbeson-dere mit der zukünftigen Belastbarkeit derSozialbeiträge? Jede verantwortungsvolleSozialpolitik muss diese beiden Fragenebenso beantworten wie die heutige Famili-enpolitik.

Zu der Frage, wie es um die Bereitschaft derBevölkerung beschaffen ist, sich an weiterenWachstumsanstrengungen zu beteiligen,haben im vergangenen Jahr Meinhard Mie-gel und Thomas Petersen eine fundierteUntersuchung vorgelegt (Miegel/Petersen2008). Sie beruht auf einer Befragung von1.824 Personen, davon 1.252 in West-deutschland und 572 in Ostdeutschland. Mitihr sollte die Einstellung der Bevölkerung inDeutschland zu Wirtschaftswachstum undmaterieller Wohlstandsmehrung ermitteltwerden. Ihre Ergebnisse lassen sich wie folgtzusammenfassen: Einerseits können sichunter den Befragten alle bestätigt sehen, dieglauben, dass die Bevölkerung DeutschlandsWachstum will. Andererseits werden aberauch die bestätigt, die meinen, die Mehrheitsei nicht bereit, sich so zu verhalten, dassdie Wirtschaft auch tatsächlich wächst.

Dass Deutschland wirtschaftliches Wachs-tum brauche, meinen zwischen 70 und 80Prozent der Bevölkerung. Der zugespitzten

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Formulierung »Wachstum ist zwar nichtalles, aber ohne Wachstum ist alles nichts«stimmen noch immer 60 Prozent zu. Ver-lässt man die abstrakte, durch das Medien-umfeld vermittelte Ebene, ändert sich dasBild. Zwar ist auch dann finanzieller Wohl-stand noch immer bedeutsam. Aber Wirt-schaftswachstum und Wohlstandssteigerunggehören nicht zu den Dingen, die das Wohl-ergehen der meisten vorrangig bestimmen.Nur 19 Prozent können sich dafür erwär-men, »hart zu arbeiten und beruflich viel zuleisten«. Bei der Beantwortung der Frage, obsie in ihrem Leben etwas schaffen oder eseher ruhiger und gemütlicher haben wollen,bilden sich zwei etwa gleiche Gruppen. Dieunter 45-Jährigen sind »ein wenig« schaf-fensgeneigt die über 45-Jährigen umsoruhegeneigter – »ein für eine zügig alterndeBevölkerung aufschlussreicher Befund«,wie die Autoren hinzufügen.

Ein ähnliches Bild bietet sich, wenn es umdie Verbesserung des Einkommens geht.Nur 45 Prozent der Befragten sind bereit,und keineswegs vor allem die wirtschaftlichSchwächeren, für einen höheren Lohn mehrzu arbeiten. Von den nicht erwerbstätigen30- bis 60-Jährigen erklären rund 44 Pro-zent, sie hätten in den letzten drei Jahrennichts unternommen, um ihr Einkommen zuverbessern. Bei den unter 30-Jährigen sindes 35 Prozent. Die Antwort auf die Frage, inwelchem Alter mit der ErwerbsarbeitSchluss sein soll, ergibt einen Mittelwert,der bei 61 Jahren liegt. Ein Rentenbeginnmit 65 oder erst mit 67 Jahren ist der gro-ßen Bevölkerungsmehrheit zu spät.

59 Prozent erklären, dass ihnen die Bewah-rung des Erreichten wichtiger sei alsWachstum und materielle Wohlstandsmeh-rung. Nur jeder Vierte strebt nach mehr, vorallem die unter 30-Jährigen. Doch schonvom 30. Lebensjahr an bilden die Bewahrerdie Mehrheit. »Bewahren ist vielen wichti-ger als Mehren, Sicherheit und Gleichheiterstrebenswerter als Chancen und Risiken

von Freiheit und Eigenverantwortung.«Soziale und innere Sicherheit »ist vielen einso hohes Gut, dass sie bereit sind, dafür vie-les hinzugeben, einschließlich zentralerGrund- und Freiheitsrechte« (Miegel/Peter-sen 2008). 78 Prozent ziehen ein »sicheresLeben in Bescheidenheit« einem »risikorei-chen Leben und seinen finanziellen Chan-cen« vor.

Insgesamt ziehen die Autoren aus denErgebnissen der Studie den Schluss: Diementalen Voraussetzungen für Wirtschafts-wachstum und materielle Wohlstandsmeh-rung sind nur noch bedingt vorhanden. Nurein Sechstel bis höchstens ein Fünftel derBevölkerung ist bereit, sich konsequent fürWachstum zu engagieren. Als Gründeerkennen die Autoren eine weitgehende Sät-tigung materieller Bedürfnisse, den abneh-menden Grenznutzen zusätzlicher Anstren-gungen, den Verlust der sinnstiftenden Wir-kung einer weiteren materiellen Wohl-standsmehrung oder die ernüchterndeErkenntnis der schädlichen Folgen ständi-gen Wirtschaftswachstums. Insgesamt folgtaus dem Wandel der Einstellung großerTeile der Bevölkerung, »dass die bisherigenWachstumsstrategien zunehmend auf Sandgebaut sind« (Miegel/Petersen 2008). Es seideshalb geboten, die bisherigen politischenund wirtschaftlichen Handlungsmuster vonGrund auf zu überdenken. Denn »es ist irra-tional und gefährlich, eine befriedigendeBeschäftigungslage, soziale Sicherheit odergar die Stabilität der freiheitlich-demokrati-schen Ordnung von Wirtschaftswachstumund materieller Wohlstandsmehrung abhän-gig zu machen« (Miegel/Petersen 2008).

Fehlt jedoch ein ausreichender, durch per-sönliche wie gesellschaftliche Interessenund Ziele angetriebener Wille zu mehrWachstum, dann ist es sozialpolitisch pro-blematisch, die in der Zeit des Wiederauf-baus der Bundesrepublik vorhandenenMotivationsstrukturen kritiklos auf eine Zeitzu übertragen, in der bereits das Gesetz des

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abnehmenden Ertrages zusätzliche persön-liche Anstrengungen als wenig attraktiverscheinen lässt. Weitaus einsichtiger wärees, von den heute vorherrschenden Lebens-zielen der Bevölkerung auszugehen.

Die Aufstellung zeigt, dass materiellen Zie-len weit weniger Gewicht beigemessen wirdals zwischenmenschlichen Werten. Es sinddies Werte, die eher auf Familie, Freunde,Nachbarschaft und überschaubare Lebens-kreise ausgerichtet sind. Die heutigen Prio-ritäten sind keineswegs die Folge der Kriseoder das Ergebnis konjunktureller Schwan-kungen. Sie sind Ausdruck des Wandels, dersich in den letzten Jahrzehnten vollzogenhat, widersprüchlich in sich, aber eindeutigin den Präferenzen, von denen sich vorallem die Jüngeren leiten lassen. Sie jedochsind es, die in Zukunft zunehmend diewachsenden Lasten der Sozialsysteme undder Staatsverschuldung werden tragenmüssen. Aus ihrer Sicht sind es Lasten derVergangenheit, die ihnen die Älteren hinter-lassen oder an sie weiterreichen. Es wäreleichtsinnig anzunehmen, dass sie dieseLasten als Motivation empfänden, sich ohneeigenen Nutzen zusätzlich anzustrengen.

Sollte es ungeachtet der Einstellung einerMehrheit der Bevölkerung gelingen, zueinem substantiellen Wachstumskurszurückzukehren, dann bleibt die Frage, wiedie Sozialsysteme am Zuwachs des BIP par-tizipieren würden. Wir gehen davon aus,dass der Zuwachs der Wertschöpfung denSozialsystemen selbst dann nur in geringemUmfang zur Verfügung stehen würde, wennes gelänge, die weltweite Finanz- und Wirt-schaftskrise zu überwinden. Dort würdedieser Zuwachs vor allem der Stabilisierungbereits vorhandener Leistungen dienen.Schon heute nimmt der Sozialstaat einenwesentlichen Teil unseres BIP in Anspruch,der in erheblichem Umfang aus den durchdie Steuern der Bevölkerung finanziertenöffentlichen Haushalten stammt. So wirdder Bundeshaushalt derzeit zu 27 Prozentfür die Subventionierung der gesetzlichenRentenversicherung in Anspruch genom-men. Durch die kürzlich beschlosseneGarantie der gegenwärtigen Rentenhöhewerden in den kommenden Jahren weitereMittel in Milliardenhöhe benötigt werden,um die entstehende Finanzierungslücke zuschließen. Insgesamt beanspruchen sozialeLeistungen und Zinsen auf die bestehende

Abbildung 11: Lebensziele

Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 JahreQuelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10004, April/Mai 2007

Gute Freunde haben, enge Beziehung zu anderen Menschen

Für die Familie da sein

Einen Beruf haben, der Spaß macht

Gute vielseitige Bildung

Unabhängigkeit

Eine Familie gründen und Kinder haben

Immer Neues lernen

Menschen helfen, die in Not geraten sind

Die gleichen Chancen wie andere haben

Viel Spaß haben, das Leben genießen

Nicht so viel Stress haben

Im Beruf vorankommen, aufsteigen

Möglichst viel Eigenverantwortung haben

Ein abwechslungsreiches Leben haben

Wachsendes Einkommen

87

81

75

70

60

58

57

55

55

49

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Staatsschuld gegenwärtig mehr als dieHälfte des Bundeshaushaltes.

Durch die staatlichen Maßnahmen zurBewältigung der Folgen der Finanz- undWirtschaftskrise wird sich die Staatsschuldund mit ihr die Zinslast weiter wesentlicherhöhen. Gleichzeitig werden die Einnah-men des Staates krisenbedingt abnehmen.Die Steuerschätzung im Mai 2009 gehtdavon aus, dass die Steuereinnahmen deröffentlichen Haushalte in diesem und dendrei folgenden Jahren um 316 MilliardenEuro geringer ausfallen werden als bishergeschätzt. Ihr Ergebnis entspricht denWachstumsprognosen der Sachverständi-gen. Sie rechnen für das Jahr 2010 miteinem Wachstum der Wirtschaft von 0,5 bis1 Prozent auf der Basis von 2009. Am Endedieses Jahres wird die Basis jedoch um rund6 Prozent niedriger sein als im Jahr zuvor.Die Aussichten sind deshalb gering, dass dieEinnahmen in absehbarer Zeit wieder dasNiveau von 2008 erreichen. Bereits zu die-sem Zeitpunkt war die Ansicht weitverbrei-tet, dass einer weiteren Expansion desSozialetats enge Grenzen gezogen seien.

Doch selbst wenn sich die Einnahmenunerwartet schnell erholen, werden kaumnennenswerte Mittel für eine zusätzlicheBedienung sozial- oder familienpolitischerLeistungen zur Verfügung stehen. Dennzunehmend werden politische Entscheidun-gen, die mit öffentlichen Ausgaben verbun-den sind, unter Gesichtspunkten der Gene-rationengerechtigkeit bewertet werden. Legtman ihre Kriterien zugrunde und berück-sichtigt die bereits vorhandene Staats-verschuldung, dann kann von einer Über-windung der jetzigen Krise wohl erst danndie Rede sein, wenn auch die krisenbeding-ten Staatsschulden zurückgeführt wordensind. Unter allen denkbaren politischen undwirtschaftlichen Konstellationen wird daserst in fernerer Zukunft gelingen.

Soweit mit einer Erholung der Wirtschafts-leistung zusätzliche Staatseinnahmenentstehen, werden sie zudem neben derBegrenzung der Neuverschuldung des Staa-tes und der Bedienung der vorhandenenVerschuldung durch Aufgaben in Anspruchgenommen werden, die ausschließlichzukunftsorientiert sind. Konkret heißt das:für Investitionen in Personal und Infra-struktur für Ausbildung, Studium, For-schung und Entwicklung, für die Beseiti-gung ökologischer und infrastruktureller,durch die bisherige Wachstumspolitik ver-ursachter Fehlentwicklungen, für Investitio-nen in unsere Energiesicherheit oder dieWahrnehmung europäischer und internatio-naler Aufgaben, die im weiteren Sinne derSicherheit unseres Landes und Europas die-nen – um nur einige zu nennen. Eine Politik,die derartigen Aufgaben den Vorrang vorweiteren sozialpolitischen Ausgaben verwei-gert, wäre mit dem Grundsatz der Genera-tionengerechtigkeit kaum vereinbar. Siewürde zugleich das Risiko eingehen, denZusammenhalt zwischen den Generationenzusätzlich zu belasten.

Nach all dem erscheint uns die Schlussfol-gerung gerechtfertigt, dass der Sozialstaatnicht nur aus politischen, sondern auch ausobjektiven Gründen an seine Grenzen stößt.Die Wirklichkeit hat sein Sicherheitsver-sprechen eingeholt. Vieles spricht dafür,dass der Sozialstaat in absehbarer Zukunftohne tiefgreifende Veränderungen seinerStrukturen und deren Finanzierung kaumin der Lage sein wird, selbst seine bisheri-gen Leistungsversprechen aufrechtzuer-halten.

Dies wiederum gilt vor allem für das Ren-tenversprechen. Die Voraussetzungen, unterdenen es abgegeben wurde, sind weitge-hend entfallen. Seit der Einführung derdynamischen Rente haben sich die Alters-struktur der Bevölkerung, ihre Zusammen-setzung und die Arbeitsmärkte grundlegendund dauerhaft verändert. Vor allem ist der

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Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen undMänner auf rund ein Drittel aller sozialver-sicherten Beschäftigten angewachsen. Vonihnen wiederum ist ein wesentlicher Anteilnur geringfügig beschäftigt. Sie können imAlter keine Rente erwarten, die die Höheder Grundsicherung nach Hartz IV erreicht.Die demographische Veränderung derBevölkerungsstruktur trägt das ihre dazubei, das Verhältnis der Beitragszahler zuden Rentnern mit Eintritt der geburten-starken Jahrgänge in die Rente nachhaltigzum Nachteil der Aktiven zu verändern.

4.4 Erneuerung der Gesellschaft durchdie kleinen LebenskreiseDie bisherigen Überlegungen führen unszurück zu den neuen familienpolitischenAufgaben und der Feststellung, dass dieseAufgaben nicht allein mit Hilfe des bisheri-gen sozialpolitischen Instrumentariumsdes Sozialstaates bewältigt werden können.Vielmehr wird der Sozialstaat gezwungensein, die Beiträge seiner Einrichtungen zueinem Leben im Alter zunehmend auf dieGewährung einer Grundausstattung zubeschränken: Grundsicherung, medizinischeGrundversorgung, subsidiäre Pflegeversor-gung. Das ist nicht wenig. Aber es bleibtweit hinter den seit Jahrzehnten begründe-ten Erwartungen der Bevölkerung zurück.

So werden sich die Institutionen des Sozial-staates in den kommenden Jahren vor einefür unser bisheriges sozialpolitisches Ver-ständnis gleichermaßen neue wie revolutio-näre Aufgabe gestellt sehen; ebenso revolu-tionär wie ihr Anlass: die Bewältigung derdemographischen Revolution. Um denGrundsätzen der Subsidiarität und der per-sonalen Solidarität entsprechen zu können,müssen auch sie sich neu erfinden. Und diesmit einem Ergebnis, das nicht als Katastro-phe begriffen wird, sondern als die Über-windung einer ökonomisierten und durchvormundschaftliche Strukturen beengtenLebensweise. Als eine Reform im bestenSinne des Wortes, die den kleinen Lebens-

kreisen wieder zu ihrem Recht verhilft,ihrer Vielfalt und wachsenden Bedeutunggerecht wird, ihre Freiheitsräume respek-tiert. Die ihre Fähigkeiten anerkennt, perso-nale Solidarität zu mobilisieren, und ihreAufgabe akzeptiert, den Einzelnen in sei-nem Verhältnis zum Staat und seinenhoheitlich organisierten Sozialstrukturenmit ihrer schützenden und mediatisieren-den Rolle zu begleiten. Kurz: eine Reform,die erkennt, dass sich in all dem eine sinn-stiftende Alternative andeutet zur ständiganstrengender werdenden materiellenWohlstandssteigerung.

Dies mag den politischen Gestaltern unsererGegenwart idealistisch erscheinen. Aber,wie die Beispiele zeigen, mit denen wirunsere Ausführungen beginnen und die wirspäter noch einmal aufgreifen, ist eine sol-che Entwicklung längst in Gang gesetzt wor-den. Sie macht deutlich, dass wir die wirkli-chen Innovationen in der Gesellschaft nicht»oben« gestalten können, ehe sie nicht»unten« gesucht und gefunden werden: alsAntworten auf eine Wirklichkeit, derenBedeutung noch nicht zu den Regierungenund den Besitzständen durchgedrungen ist,die sie umstellen.

Das heißt aber auch: Wer sich auf die Zeitenvorbereiten will, die sich mit den Verände-rungen unserer Lebenswelt ankündigen, dermuss sich frei machen von bisherigen Erfah-rungen und sich öffnen für die Möglichkei-ten, die die neuen Wirklichkeiten bereithal-ten. Das gilt vor allem für die zukünftigenÄlteren selbst. Sie werden, wie alle Umfra-gen zeigen, in ihrer großen Mehrheit auchnach ihrem 60. Lebensjahr jung und unter-nehmerisch sein. Das ist gut so! Denn dieneue Wirklichkeit wird sie nicht mit dem61. Lebensjahr aus ihren Pflichten entlassenund sie »in Rente« schicken. Sie werdenauch weiter gebraucht werden. Im Arbeits-markt, als Selbständige, als Beteiligte ineiner großen Vielfalt von Aktivitäten, inihrer Gemeinde oder Stadt, in den Vereinen

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und den kleinen Lebenskreisen, als Hel-fende für Junge und Alte in Not, als Erfah-rene, wenn vorhandenes Wissen nicht aus-reicht, als Lernende, wenn ihnen selbst Wis-sen fehlt – kurz: als Zeugen für ein erfülltesLeben im Alter. Ihre Lebensverläufe werdensich zunehmend weniger an den staatlichverfügten oder durch Tradition begründe-ten Zeitabschnitten orientieren. Sie werdenebenso offen und freier gestaltet sein, wiedie der Jüngeren es sein werden – unddamit das Leben bereichern.

Dies wird auch für die Älteren gelten, dieohne Kinder oder Enkel leben und sich aufdie verschiedensten Weisen mit anderenzusammenfinden. Zahlreiche kleine Lebens-kreise entstehen durch derartige Initiativen,verbinden sich mit bestehenden Familien,suchen Kontakt zu anderen und sorgenauch auf diese Weise für das Wohl der Älte-ren in ihren Gemeinschaften. Ihre Teilhabeschöpfen die Älteren selbst aus den Beiträ-gen, die sie für andere erbringen und diejene von ihnen erwarten. Sie werden dieBedeutung personaler Solidarität und derenmenschliche Qualität entdecken – und dieBefriedigung, die daraus erwächst, sie auchanderen zu gewähren. Die 70-Jährigen wer-den die 90-Jährigen pflegen und den Jünge-ren die Aufgabe überlassen, für die Wert-schöpfung zu sorgen, auf der das Ganzeaufbaut.

Es würde unsere Möglichkeiten übersteigen,nun im Einzelnen die Vielfalt zu beschrei-ben, die sich aus der Rückgewinnung derAutonomie der Familien, der kleinenLebenskreise und der Kommunen entwi-ckeln kann. Beispiele für die Kreativitätihrer Beteiligten haben wir angeführt, wei-tere hat uns die Recherche der Prognos AGgeliefert. Eine Bewegung ist in Gang gekom-men, nicht nur aus der Not geboren, dieerfinderisch macht, sondern auch aus derEinsicht, dass Lebensqualität im Alter zwarauf soziale Sicherheit angewiesen ist, sichaber nicht in ihr erschöpft. Dass sich ihre

Vielfalt im subsidiären Raum entfalten kann,ist ihre ebenso unverzichtbare Bedingung.

Diese Bedingung, so viel lässt sich bereitsheute feststellen, hat zur Voraussetzung,dass der Grundsatz der Subsidiarität ver-wirklicht und die personale Solidarität alsein unverzichtbares Element jeder solidari-schen Gesellschaft anerkannt wird. DerSozialstaat muss sich neu definieren. Ermuss sich auf seine dienende, subsidiäreRolle besinnen und auf den vormundschaft-lichen Anspruch einer umfassenden Sozial-politik verzichten. Die Gründe, die in den50er Jahren für diesen Anspruch geltendgemacht wurden, haben ihre Überzeugungs-kraft verloren. Sie sind überholt. Die »brei-ten Schichten des Volkes« haben die Demo-kratie angenommen. Sie haben sie zum ers-ten Mal in der deutschen Geschichte, trotzvieler Belastungen auf dem Wege, zumErfolg werden lassen. Der damalige politi-sche Tausch, umfassende Sozialpolitikgegen Mitarbeit am Wiederaufbau der jun-gen Bundesrepublik, hat sich erledigt. Derkleine Mann ist groß geworden. Die Fortset-zung einer Sozialpolitik, die ihre Aufgabedarin sieht, die Loyalität des kleinen Man-nes zur deutschen Demokratie zu sichern,wird ihm nicht länger gerecht. Das gilt auchin Zeiten der Krise.

Die Erneuerung unserer Sozialordnungdurch Verwirklichung der Subsidiarität wirdnicht gelingen ohne die Mitwirkung der bis-herigen sozialstaatlichen Strukturen, desBundes und der Länder. Denn sie wirdallenthalben auf Widerstand, auf Bedenkenund Einwände stoßen. Bedenken, die vonden Besitzständen vor allem zum Schutz derBetroffenen erhoben werden und von ihnenimmer dann besonders entschieden geltendgemacht werden, wenn sie um den Verlustihrer bisherigen Zuständigkeiten fürchten.Auch hier zeigt sich, dass wir es mit Macht-fragen zu tun haben werden. Ihre Entschei-dung ist Aufgabe der politisch Handelnden.Aber unter allen sozialpolitischen Aufga-

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benfeldern erscheint uns keines für eineVerwirklichung besser geeignet als die neueFamilienpolitik, eingebettet in ihre heutigenund zukünftigen Aufgaben und unterstütztdurch die kleinen Lebenskreise, die Nach-barschaften und die Kommunen.

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V. Feststellungen und Empfehlungen

Bereits in ihrem Bericht »Starke Familie«(2005) hat die Kommission einige Feststel-lungen getroffen, die für unseren Gegen-stand von Bedeutung sind:

Die Kommission betont die besondereBedeutung des Grundsatzes der Subsidiari-tät. Änderungen des gesellschaftlichenBewusstseins können nicht befohlen wer-den. Sie müssen von unten nach oben wach-sen. Ihre Wurzeln hat die Veränderung vorallem dort, wo die Nachteile des vorherr-schenden Bewusstseins ihre besondere Evi-denz entfalten. In unserem Falle werden dieNachteile auf der Ebene der Familien, derkleinen Lebenskreise und der Kommuneevident. Unsere Empfehlungen sind auf denAbbau und die schließliche Überwindungdieser Nachteile gerichtet.

Das durch laufende Umlagen finanzierteSystem der deutschen Sozialversicherungführt zu einer ständigen Umverteilung vonjungen und jüngeren zu mittleren und älte-ren Generationen. Innerhalb der Generatio-nen verursacht es eine Umverteilung vonFamilien durchschnittlicher und überdurch-schnittlicher Größe zu Kinderarmen undKinderlosen. Diese Effekte führen zu einerschwerwiegenden wirtschaftlichen Diskrimi-nierung der Familien. Unter der Herrschafteines gesellschaftlichen Bewusstseins, indem Stellung und Bedeutung des Einzelnenvorwiegend wirtschaftlich definiert werden,reichen die Folgen dieser Diskriminierungüber den wirtschaftlichen Bereich weithinaus.

Im Kern werden die »möglichen Erträge derErziehung der Kinder« durch das Steuer-und Sozialsystem »in großem Umfang sozia-lisiert und ohne die Berücksichtigung derindividuellen Übernahme von Kinderkostenan alle Angehörigen der jeweiligen Eltern-generation weitergeleitet«. Diese Effektebegründen die Notwendigkeit umfangrei-cher staatlicher Unterstützungen der Fami-lie im Rahmen der staatlichen Familien- und

Sozialpolitik. Mit der Kompensation der dis-kriminierenden Wirkungen der Steuer- undSozialsysteme werden zwar wirtschaftlicheNachteile zum Teil ausgeglichen. Zugleichwächst jedoch die Abhängigkeit der Fami-lien und ihrer kleinen Lebenskreise vomStaat. Denn diese Abhängigkeit reduziertdie Selbständigkeit der Familie und beraubtsie damit ihrer Subsidiaritätsfähigkeit.

Die Kommission »Starke Familie« hat dasinzwischen eingeführte einkommensabhän-gige Elterngeld als einen wichtigen Bausteinbezeichnet, um »Fürsorge für andere« inunserer Gesellschaft aufzuwerten und denwirtschaftlichen Aktivitäten außerhalb desHaushaltes gleichzustellen. Die hohe Akzep-tanz dieser Lohnersatzleistung bei jungenMüttern und Vätern und in der gesamtenBevölkerung macht deutlich, dass die Unter-stützung und Förderung solidarischenHandelns auf eine breite Resonanz stößt.Diese Form der Lohnersatzleistung, die sehrspezifische Fürsorgeleistungen im Lebens-verlauf ermöglicht, könnte auch der allge-meinen Idee der Unterstützung personalerFürsorgeleistungen im höheren Lebensalterfür die eigenen Eltern oder andere Ver-wandte dienen. Die Umsetzung einer der-artigen Konzeption ist im Rahmen einer all-gemeinen Grundsicherung ebenso möglichwie im Rahmen einer lebenslauforientiertenSozialpolitik.

Einiges an diesem Politikansatz läuft aufeine Stärkung der staatlichen Rolle in derFamilienpolitik hinaus. Unsere folgendenEmpfehlungen für die Stärkung kleinerLebenskreise stehen dazu in einem komple-mentären Verhältnis. Denn idealerweisesollten professionelles und staatliches Enga-gement und die Leistungen der Familienund kleinen Lebenskreise in Zukunft einneues Mischungsverhältnis finden. NachAnsicht der Kommission sollten die ver-schiedenen Ebenen der Familienpolitikeinander nicht ersetzen, sondern ergänzen.In der Kinderbetreuung – ob in bürger-

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86 87 V. Feststellungen und Empfehlungen

lichen, wohlhabenden oder verarmten, bil-dungsfernen Milieus – können beide EbenenDinge leisten, zu denen die jeweils andereEbene nicht in der Lage ist.

Unsere Überlegungen zu Subsidiarität undkleinen Lebenskreisen führen zu den fol-genden Erkenntnissen und Empfehlungen:

1. Mit dem Ende des Familienideals des19. Jahrhunderts muss das Prinzip familiä-rer Lebensführung nicht aufgegeben wer-den: Kinder zu haben und im familiärenRaum großzuziehen, sich wechselseitig zuunterstützen, füreinander einzustehen undzu versuchen, das eigene Leben selbst zugestalten. Es muss neu gestaltet werden.Auch wenn wir heute noch nicht wissen, wiedie Lebensformen der Zukunft aussehen,lassen sich doch einige Rahmenbedingun-gen nennen, die es erleichtern werden, dasPrinzip Familie auch in Zukunft sinnerfülltzu leben.

2. Zu den wichtigsten Bedingungen derWeiterentwicklung familiärer Lebensformenin einer neuen Vielfalt gehört, dass kleineLebenskreise und neue Lebensformen derFamilien mit der Unterstützung der Nach-barschaft und der Gemeinde rechnenkönnen. Denn die wichtigsten Rahmen-bedingungen von Subsidiarität und persona-ler Solidarität werden auf der gemeindli-chen Ebene geschaffen. Das setzt voraus,dass sich neben der Bundes- und Landes-ebene eine kommunale Familienpolitikentwickeln kann. Denn nur dort werdenentsprechende lokale Rahmenbedingungengeschaffen. Dies gilt vor allem für die vonuns vorgeschlagene Erweiterung der Famili-enpolitik auf das Kindeswohl und das Wohlder Älteren.

3. Unter Gesichtspunkten der Subsidiaritätsind im Verhältnis zur Familie und den klei-nen Lebenskreisen weder der Bund nochdie Länder in allen Fällen die unmittelbarnächsthöhere Ebene. Nächsthöhere Ebene

ist zunächst immer die Gemeinde, wenn esdarum geht, Familien auch dann Teilhabe zusichern, wenn sie selbst dazu nicht in derLage oder durch ihre eigenen kulturellenVorstellungen daran gehindert sind. Damitwird deutlich, dass es bei Subsidiarität imhier verstandenen Sinne auch um dieBegründung eines neuen Wechselverhältnis-ses geht: der Gestaltung der eigenenLebensperspektiven und der professionel-len Unterstützung, die sich durch dieHerausforderungen einer sich schnell wan-delnden Gesellschaft ergeben.

Nur die Kommune und ihre Zivilgesellschaftkönnen angesichts ihrer Sachverhaltsnähedazu beitragen, dass auch die Familien undKinder, denen es aus unterschiedlichenGründen schwerfällt, sich nachbarschaftlichzu engagieren und sich wechselseitig zuunterstützen, Möglichkeiten für nachbar-schaftliche und kommunale Teilhabe finden.Dies gilt vor allem für Familien, die ausanderen Ländern und Kulturen zu unsgekommen sind. Auch hier bedarf es geeig-neter Strategien, die zu einem eigenenEngagement führen. Aber es bedarf auchentsprechender Angebote, sich selbst ineinen derartigen Prozess der Teilhabe ein-zubringen – wie etwa die Stadtteilmütter inBerlin-Neukölln. Denn auch hier geht es umdie produktive Gestaltung eines neuenWechselverhältnisses zwischen der Ent-wicklung einer eigenständigen Lebensper-spektive im Raum der Familie und der klei-nen Lebenskreise und professionellerUnterstützung. Dieses Wechselverhältnismuss den Herausforderungen entsprechen,vor die uns eine sich stark wandelndeGesellschaft stellt.

4. Im Bereich der Wirtschaft können Fami-lien und kleine Lebenskreise nur dann ihreKraft und Wirksamkeit entfalten, wenn dieUnternehmen und die Kommunen intelli-gente Antworten auf die neuen Bedürfnisseentwickeln, die sich aus der verändertenArbeitswelt ergeben. Traditionelle Maßstäbe

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wirtschaftlichen Handelns sollten durchLösungen ersetzt werden, in denen ökono-misches Wachstum nicht der alleinige Maß-stab unternehmerischen und politischenHandelns ist. Wesentliche Ansätze, die einebessere Vereinbarkeit der Wirkungsgesetzevon Familien und kleinen Lebenskreisen mitwirtschaftlichen Notwendigkeiten anstre-ben, sind bereits erkennbar. Auch hier wirdsich gesellschaftliches Bewusstsein vorallem von unten nach oben verändern. Ein-facher wird das Leben dadurch nicht. In derÜbergangszeit bis zur Entwicklung stabilerneuer Konzeptionen und Strukturen werdendie Herausforderungen eher größer werden.Doch zusätzliche Anstrengungen, ausgelöstdurch die Notwendigkeit, Eingefahrenesdurch Neues zu überwinden, sind mit jedemWandel verbunden.

5. Wo Familien mit mehreren Kindern undAlleinerziehende mit Kindern in gleicherWeise, wenn auch aus unterschiedlichenGründen, mit ökonomischen und organisa-torischen Schwierigkeiten zu kämpfenhaben, können kleine Lebenskreise undkommunale Initiativen Entlastung bringen.Sie können Beiträge leisten durch die Orga-nisation von Skalenvorteilen und die Kom-bination von Dienstleistungen Dritter extracommercium und professioneller Unterstüt-zung. Derartige Entwicklungen solltendurch die Landes- und Bundesebene unter-stützt und nicht substituiert werden. Dennwirksam kann derartigen Beeinträchtigun-gen der Lebenschancen der Kinder nur aufder kommunalen Ebene, mit Hilfe geeigne-ter kleiner Lebenskreise und der kommuna-len Zivilgesellschaft, begegnet werden.

Dies gilt umso mehr, als die bisherigenInstrumente des Steuerrechts und der Sub-ventionen nicht besonders erfolgreich sind,wenn es darum geht, Familien mit Kindernso zu stützen, dass die Lebensformen derEltern nicht die ökonomischen Chancen derKinder bestimmen. Führt die Entscheidungder Eltern für alternative Lebensformen

oder für mehrere Kinder dazu, dass trotzumfänglicher staatlicher Leistungen in man-chen Lebensformen mehr als ein Drittelaller Kinder in relativer Armut lebt, dannmuss geprüft werden, wie die vielfältigenLeistungen für Kinder so weiterentwickeltwerden können, dass das Existenzminimumvon Kindern auch dann gesichert ist, wenndie Eltern aufgrund ihrer Entscheidungenfür bestimmte Lebensformen dazu nicht inder Lage sind.

Die Existenzsicherung von Kindern im Rah-men einer Grundsicherung entspricht denVorstellungen, die dem Konzept einer dyna-mischen Alterssicherung von 1957zugrunde lagen, aber politisch nicht reali-siert wurden. Da nur das Humankapital dernachwachsenden Generation die Rente derheutigen Beitragszahler sichert, wurdedamals eine »Vor-Rente« für Kinder gefor-dert. Sie sollte es ihnen ermöglichen, sichso zu entwickeln, wie es geboten ist, um dieökonomische Entwicklung der Gesellschaftnachhaltig zu sichern.

6. Damit die Kommunen ihre Möglichkeitenvoll ausschöpfen können, muss ihre finan-zielle Basis gestärkt werden. Sie brauchendafür eigene Einnahmequellen, beispiels-weise ein Hebesatzrecht bei der Einkom-mensteuer. Auch andere kleine Lebens-kreise sollten bessere rechtliche Rahmenbe-dingungen für die Entfaltung ihrer Fürsor-gerolle erhalten. Eine Möglichkeit dafür bie-tet die sogenannte »Eingetragene Partner-schaft«. Sie sollte über ihre heutige Bestim-mung hinaus generell als Rechtsform fürMenschen zugelassen werden, die füreinan-der Verantwortung übernehmen und tragfä-hige Bindungen eingehen wollen. Also auchdann, wenn es sich nicht um gleichge-schlechtliche Liebesbeziehungen handelt.

Bisher ist die Eingetragene Partnerschaftein der Ehe teilweise nachempfundenerRechtsrahmen, der für gleichgeschlechtlichePaare eine gegenseitige Unterhaltspflicht

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88 89 V. Feststellungen und Empfehlungen

begründet, dafür aber auch Ansprüche imErbfall sowie Besuchs- und Informations-rechte im Falle von Unfällen oder Krankhei-ten einräumt und anderes mehr. Solch einRechtsrahmen kann auch für andere Bin-dungen sinnvoll sein – für zu-sammenlebende Alte etwa, die bereit sind,einander zu pflegen. Für den Staat ent-stehen dadurch keine zusätzlichen Kosten,aber für die Betroffenen eine größereSicherheit.

Andere rechtliche Rahmenbedingungen, diekleine Lebenskreise stärken, sind Maßnah-men, die den Privathaushalt als Arbeitgeberaufwerten. Ob es sich um eine Alleinerzie-hende handelt, die von einer »Leih-Oma«und einer engagierten Nachbarin unter-stützt wird, um eine pflegebedürftige alteFrau, der regelmäßig von Bekannten vorge-lesen wird, oder um die Mutter von sechsKindern mit Migrationshintergrund, die beider Hausaufgabenhilfe ihrer Kinder unter-stützt wird: Alles, was solche Angebote ein-facher und selbstverständlicher macht,sollte unternommen werden.

Dazu gehört die bessere steuerliche Absetz-barkeit, sofern es sich um professionelleDienstleistungen handelt, aber auch bei-spielsweise die Anerkennung bei Arbeitge-bern oder Lehrern, sofern dies privat und inder Freizeit stattfindet. Engagement in klei-nen Lebenskreisen findet nur in begrenztemUmfang aus materiellen Gründen statt.Eine Kultur der Anerkennung ist mindes-tens so wichtig. Es muss häufiger vorkom-men, dass Menschen stolz darauf sind, sichbeispielsweise um ihre Nachbarn zu küm-mern.

In den vergangenen Jahren ist es selbstver-ständlicher geworden, die Altersversorgungnicht ausschließlich als Angelegenheit desStaates zu betrachten, sondern selber vor-zusorgen. Neben dieser materiellen Eigen-verantwortung muss auch eine immaterielleEigenverantwortung der Menschen gestärkt

werden: Zu den nötigen Antworten auf dendemographischen Wandel gehört nebendem individuellen Sparen auch ein Beitragdazu, dass eine Kultur des Engagements inkleinen Lebenskreisen entstehen undwachsen kann. Gerade die Generation dergeburtenstarken Jahrgänge, die heute nebenden Älteren in der Lage ist, andere zu stüt-zen, wird dereinst auf solches Engagementin kleinen Lebenskreisen angewiesen sein.

7. Die wissensbasierte Wirtschaft mit ihrerwissenschaftlich-technischen Fähigkeit, dieProduktivität der Arbeitsplätze zu steigern,erschwert die Vermehrung von Arbeits-plätzen selbst dann, wenn es gelingt, dieWirtschaftsleistung zu steigern und dieBevölkerung, insbesondere die über 60-Jäh-rigen, besser auszubilden. Die angemesseneBeschäftigung einer wachsenden Zahl vonMenschen ist deshalb durch ihre Teilnahmean der wirtschaftlichen Wertschöpfungallein nicht zu erreichen. Dies umso mehr,als man mit einem Anstieg der Bereitschaftrechnen muss, auch nach dem 60., späterauch nach dem 65. Lebensjahr weiter zu ar-beiten.

Deshalb bieten sich neben der Teilnahmeam regulären Arbeitsmarkt als AlternativeTätigkeiten extra commercium oder auf»Märkten« an, die im Rahmen der Bedürf-nisse von Familien, kleinen Lebenskreisenund kommunalen Initiativen entstehen undzur Entlastung der Familien, alleinlebenderälterer Menschen oder in den zahlreichensonstigen Strukturen beitragen sollen.

8. Häufig wird unterstellt, das Subsidiari-tätsprinzip, der Vorrang kleiner Lebens-kreise bei der Bewältigung von Aufgabender Fürsorge, funktioniere vor allem dort,wo vom Sozialstaat wenig geleistet werdenmüsse: in bürgerlichen Milieus, wo Engage-ment für andere, im Kirchenchor oder imElternbeirat selbstverständlich sei. DieKommission legt jedoch Wert auf die Fest-stellung, dass der Sozialstaat gerade in bil-

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dungsfernen, vielfach vernachlässigtenBezirken und Regionen allein mit derLösung der Probleme überfordert ist, schonweil er der Vielfalt der Lebenssachverhaltenicht gerecht werden kann. Diesen Sachver-halten können nur das komplementärefamiliäre, nachbarschaftliche oder zivilge-sellschaftliche Engagement auf kommunalerEbene entsprechen. Ob es sich um Stadtteil-mütter handelt, die in Berlin-Neukölln Mig-rantenfamilien helfen, oder Patenschaftenfür verhaltensauffällige Jugendliche: DieEmpfehlungen der Kommission gelten fürRegionen mit problematischen Sozialdatenin besonderem Maße.

Ein besonderes Problem für Familien oderfamilienähnliche Lebenskreise (Bedarfsge-meinschaften) ist die Langzeitarbeitslosig-keit. Langzeitarbeitslose und ältere Men-schen in geeignete Tätigkeiten zu vermit-teln, kann sich nicht im Nachweis geeigne-ter Stellen oder Tätigkeiten erschöpfen.Vielfach sind persönliches Engagement,Patenschaften, die aktive Mitwirkung derlokalen Unternehmen und der Bau vonBrücken aus der Arbeitslosigkeit zurück indie Teilhabe an Arbeitsprozessen für denErfolg erforderlich. Derartige Leistungensind auf überregionaler Ebene, wenn über-haupt, nur in engen Grenzen möglich. ImBlick auf die vielfältigen Verflechtungen die-ser Aufgabe mit anderen, auf der kommuna-len Ebene angesiedelten Betreuungsaufga-ben erscheint uns eine wirklich erfolgreicheVermittlung Langzeitarbeitsloser deshalbnur auf kommunaler Ebene möglich.

9. Kleine Lebenskreise werden auch alsAnbieter von Teilhabechancen für ältereMenschen unverzichtbar sein. Auch sie kön-nen weder bundes- noch landesweit organi-siert werden. Bundesweit kann allein einvertretbares Alterseinkommen, notfallsdurch eine Grundsicherung ohne Bedürftig-keitsprüfung oder durch ein Grundeinkom-men, gesichert werden. Die Teilhabe derÄlteren kann auch nicht abhängig sein von

ihrer Fähigkeit, sich durch entgeltlicheArbeit im ersten Arbeitsmarkt ein ausrei-chendes Einkommen zu erarbeiten.

Mit zunehmendem Alter und abnehmendenAngeboten des »ersten Arbeitsmarktes«werden die Älteren deshalb vermehrt aufTeilnahme und Teilhabe im Bereich der klei-nen Lebenskreise und der Zivilgesellschaftangewiesen sein. Soweit es dabei um dieMitwirkung an der Gestaltung und der Teil-habe am Leben der Privathaushalte undkleiner Lebenskreise geht, wird dieseimmer häufiger extra commercium erfolgen,auch aus Kostengründen für die Empfängerder Leistungen.

10. Mit Blick auf ihre familienpolitischenAktivitäten und Initiativen sollte es durchdie kommunale Verbandsebene Querverglei-che und Bewertungen geben. Sie sollten dieVielfalt nicht beeinträchtigen, die sich imRaum einer erweiterten Familienpolitik ent-wickelt. Sie sollen vielmehr sichtbarmachen, welche Maßnahmen der Städte zurLösung familienpolitischer Anliegen beitra-gen können und unter welchen Bedingun-gen. Dabei denken wir ebenso an unter-schiedliche Geburtenraten benachbarterStädte wie an die zahlreichen Versuche,Familien zu unterstützen oder durch dieOrganisation kleiner Lebenskreise zur Ver-besserung der Vereinbarkeit von Familieund Beruf beizutragen. Auf Landesebenekann aus derartigen Vergleichen sowohl dieVielfalt der Experimente wie auch derenNachhaltigkeit deutlich werden.

11. Wie bereits erwähnt, handelt es sich beider Neugestaltung der Familienpolitik umeine Querschnittsaufgabe. Sie muss ange-gangen werden. Denn mit den bisherigenFormen der Zusammenarbeit zwischen demeigentlich zuständigen Ressort und densonstigen relevanten, vertikal gegliedertenRessortzuständigkeiten des Bundes und derLänder ist es nicht möglich, eine in sichschlüssige Familienpolitik zu verwirklichen,

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90 91 V. Feststellungen und Empfehlungen

die nachhaltig auf Subsidiarität, personalerund staatlich organisierter Solidarität auf-baut und die Fähigkeiten der Familien, derkleinen Lebenskreise und der kommunalenZivilgesellschaft als Stärken und Ausdruckeiner freiheitlichen Ordnung begreift.

Uns ist bewusst, dass es sich dabei um eineAufgabe handelt, an der bisherige Versuchemit weniger Gewicht für die Zukunft desLandes gescheitert sind. Gleichwohlerscheint uns der erneute Versuch unver-zichtbar. Denn die Unübersichtlichkeit derstaatlichen Interventionen und mit ihr dieFülle der bereits allein in der Familienpoli-tik angebotenen Programme wächst ebensowie die damit verbundenen bürokratischenLasten und Widersprüchlichkeiten. Eserscheint uns deshalb unwahrscheinlich,dass es ohne eine grundlegende Erneuerungder Administration familienpolitisch rele-vanter staatlicher Aktivitäten möglich seinkönnte, das Potential an Freiheit und Ver-antwortungsbereitschaft, aber auch anSynergien zu heben, das sich mit Subsidiari-tät und personaler Solidarität gewinnenlässt.

12. Der von uns empfohlene Prozess hat diegenerelle »Neuerfindung« der Rollen derFamilie, ihrer kleinen Lebenskreise und derkommunalen Zivilgesellschaft einerseits unddes Sozialstaates und seiner spezifischenfamilienpolitischen Ausprägung anderer-seits zum Ziel. Konkret geht es um diegegenseitige Anerkennung ihrer originärenAufgaben, Fähigkeiten und Begrenzungen,um die Überwindung ihrer Schwächen unddie Erneuerung ihrer Stärken und die Neu-gestaltung der Wechselbeziehungen zwi-schen beiden.

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehntehaben beide, die Familie und den Sozial-staat, geschwächt. Die Familie, die kleinenLebenskreise, die kommunale Zivilgesell-schaft und die Kommunen selbst verlorenzunehmend ihre rechtlich gesicherte Fähig-

keit zur Eigengestaltung und Eigenverant-wortung in einem durch Subsidiaritätgeschützten Raum der Freiheit und derGemeindeautonomie. Der Sozialstaat gefähr-dete seine innere Schlüssigkeit durch dieständige Expansion seiner Zuständigkeitenbis in den Bereich personaler Verantwor-tung und seine Fähigkeit, sich auf diewesentlichen sozialpolitischen Aufgaben zubeschränken. Ein sich gegenseitig verstär-kender Prozess der Abnahme der Leistungs-fähigkeit der Familie und Expansion – alsUrsache und Folge – des Sozialstaates hat zueiner Situation geführt, die lähmt undgefährdet.

Wir sind überzeugt, dass die Überwindungdieser sich selbst verstärkenden Entwick-lung zu den wichtigsten Zukunftsaufgabenunseres Landes gehört. Sie bedroht glei-chermaßen die Eigenständigkeit der Familieund die freiheitliche Lebensqualität des Ein-zelnen wie die nachhaltige Legitimation desSozialstaates. Erfolg ist nur von einer all-mählichen, jedoch von Anfang an zielorien-tierten Neugestaltung des Verhältnisseslokaler und staatlicher sozialpolitischer Ver-antwortung zu erwarten. Das eher konfron-tative Verhältnis von Sozialstaat und kleinenLebenskreisen muss übergeleitet werden inein kooperatives Verhältnis.

In einem solchen kooperativen Verhältniswerden die originären Aufgaben beiderBereiche anerkannt. Sie leiten sich zumeinen ab aus dem wohlverstandenen Grund-satz der Subsidiarität, dem Vertrauen aufdie personale Solidarität und dem verfas-sungsrechtlichen Schutz verantworteterFreiheit von Ehe und Familie. Sie gründenzum anderen in dem Verfassungsauftrag dessozialen Rechtsstaates. So wie beide vonVerfassungs wegen komplementär ausge-staltet sind, muss auch ihr konkretesZusammenwirken komplementär gestaltetwerden. Der Sozialstaat verletzt dieseGestaltungsidee der Verfassung, wenn erdurch seinen Zuständigkeitsanspruch den

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freiheitssichernden Grundsatz der Subsidia-rität missachtet und die Familie und ihrekleinen Lebenskreise de facto unter seineVormundschaft stellt.

Unabhängig von allgemeinen Überlegungenist die Wiederherstellung eines durchSubsidiarität geprägten komplementärenVerhältnisses von Familie und Sozialstaatvor allem aus praktischen Gründen geboten.Wir haben sie in unserem Bericht verschie-dentlich und im Einzelnen erörtert. Zusam-mengefasst sehen wir schon angesichts derAufgaben kommender Jahre, die auf einealternde Bevölkerung zukommen, zu demvorgeschlagenen Weg keine vernünftigeAlternative. Nur im Zusammenwirken leis-tungsstarker Familien und kleiner Lebens-kreise auf kommunaler Basis und einemdurch seine Fähigkeit zur Begrenzunggestärkten Sozialstaat lassen sich die nächs-ten 30 Jahre ohne schwere Verluste anLebensqualität und an Vertrauen in denSozialstaat und die Legitimation seinerLeistungsansprüche bestehen.

Erfolgreich werden wir die unserem Landgestellten Aufgaben nur bewältigen, wennsie jetzt begonnen werden. Die von derBundesregierung in Aussicht gestellteerneute Reform der Pflegeversicherungkönnte einen ersten Anlass bieten, mit derNeugestaltung in der kommendenLegislaturperiode zu beginnen. Unter ande-rem erscheinen uns die folgenden Punktevon Bedeutung:

:: Ziel der Neugestaltung der verschiedenenZweige des Sozialstaates sollte die Kon-zentration auf diejenigen Leistungen sein,die einer allgemeinen, für alle gleichenRegelung entsprechen. Ihre Aufgabe ist es,alle Bürger vor Not zu schützen und ihnenein menschenwürdiges Leben zu gewähr-leisten. Ansätze finden sich in den – aller-dings an der Bedürftigkeit des Einzelnenorientierten – Grundsicherungen im SGB IIund in der gesetzlichen Rentenversiche-

rung. Dort finden sich mit der sogenann-ten Riester-Rente auch erste Ansätze sub-sidiärer Gestaltung.

:: Die Erfassung und Gestaltung der Vielfaltder Lebensverhältnisse sollte zunehmendder unteren, kommunalen Ebene übertra-gen werden: der Familie, den kleinenLebenskreisen und der örtlichen oderregionalen Zivilgesellschaft.

:: Voraussetzung ist die Formulierung vonKriterien genereller Art, die die Abgren-zung der Zuständigkeiten für alle relevan-ten Systeme des Sozialstaates und diesonstigen einschlägigen Ressorts gestat-ten. Dabei sollte nicht nur von der jetzi-gen, sondern von der Leistungsfähigkeitder unteren Ebene ausgegangen werden,die mit der Neugestaltung angestrebt undermöglicht werden soll. Die derzeitigenVerhältnisse sind Ausgangspunkt einerErneuerung, aber nicht ihr Maßstab.

:: Der Grundsatz der Sachverhaltsnähe solltemitentscheidend sein. Besteht Sachver-haltsnähe, dann sind im Zweifel nicht diekleinen Einheiten verpflichtet, ihre Fähig-keit zur Eigengestaltung der jeweiligenSachverhalte nachzuweisen. Beweispflich-tig sind die Institutionen, die den Rege-lungsanspruch gegenüber Familie, kleinenLebenskreisen und kommunaler Zivilge-sellschaft unter Hinweis auf deren feh-lende Leistungsfähigkeit erheben. In die-sem Falle soll zunächst Hilfe zur Selbst-hilfe geleistet werden. Dies gilt sinngemäßauch für die Gemeindeautonomie. Prinzi-piell gilt in beiden Fällen: fordern durchfördern.

:: Mit einer grundsätzlichen Reformentschei-dung sollte der Prozess der Erneuerungnach der Bundestagswahl in Gang gesetztwerden. Schon heute gilt, dass mit jederweiteren Vertagung die Kosten derErneuerung mit dem Quadrat der verlore-nen Zeit steigen. Dabei geht es neben denfinanziellen vor allem auch um die politi-schen Kosten. Sie wachsen zum einendurch den Fortbestand und die weitereVerfestigung überholter Denk- und Orga-

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nisationsbesitzstände. Zum anderen – undin ihren Wirkungen langfristiger – wirdsich der gegenwärtige Zustand nicht nurverfestigen und verstetigen. Er wird dieErfahrungen der nächsten Generation prä-gen und einer immer größeren Zahl jungerMenschen den Versuch aussichtsloserscheinen lassen, dem vormundschaftli-chen Anspruch des Sozialstaates den eige-nen Anspruch auf Freiheit in eigener Ver-antwortung erfolgreich entgegenzusetzen.Wir sind überzeugt, dass es so weit nichtkommen darf.

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94 95 Gastbeiträge

Die Kommission hat zu ihren Sitzungen eineReihe von Experten eingeladen, deren wis-senschaftliche Positionen und politischeMeinungen ihr für ihre Diskussion förder-lich erschienen. Die unterschiedlichen Vor-träge erstreckten sich auf Grundsätzlicheszum Subsidiaritätsbegriff, die sozialstaatli-chen Rahmenbedingungen, kommunaleFamilienpolitik und die Chancen von Subsi-diarität in großstädtischen Problemquartie-ren. Die Beiträge von Tine Stein, Bert Rürupund Anja Ranscht, Barbara Riedmüller,Claus Offe, Hartmut Häussermann, KlausPeter Strohmeier sowie Volker Hassemersind im Folgenden wiedergegeben. Der Bei-trag von Heinz Buschkowsky ist in der Formeines Interviews verfasst. Die von der Stif-tung bei der Prognos AG in Auftrag gege-bene Recherche ist ebenfalls in weitenTeilen wiedergegeben. Den Beiträgen istjeweils eine kurze Zusammenfassung voran-gestellt.

Tine Stein arbeitet in ihrem Beitrag diegeschichtlichen Hintergründe des Subsidia-ritätsprinzips heraus, wie sie vor allem inder katholischen Soziallehre fassbar sind,und dokumentiert ihre wachsende Relevanzunter den Bedingungen von Globalisierungund Umbau des Sozialstaates. In ihrem Bei-trag »Familienpolitik und soziale Sicherung«analysieren Bert Rürup und Anja Ranschtdie Wechselwirkung von demographischerEntwicklung, Familienpolitik und sozialenSicherungssystemen. Dabei wird der Ein-fluss der Familienpolitik auf Renten- undKrankenversicherung deutlich, und es wirdgezeigt, welche unterschiedlichen familien-politischen Elemente in diesen SystemenBerücksichtigung finden. Das familienpoliti-sche Leitbild der vergangenen Jahrzehnteuntersucht Barbara Riedmüller anhand derFrage »Ein neues Geschlechterverhältnis?Familienpolitik muss sich veränderten Rea-litäten anpassen« – und gibt dazu gleich dieAntwort in Form einer Forderung. Die Fami-lie sei lange als staatsferne Sphäre definiertund dabei doch durch die Politik in ihrer

Rollenverteilung bestimmt worden, mit demErgebnis der Festschreibung des typischdeutschen Hausfrauenmodells.

Ein Gegenmodell zum geläufigen Entloh-nungs- und Transferleistungssystem ent-wirft Claus Offe unter dem Titel »Familien-leistung jenseits der Marktarbeit – dasbedingungslose Grundeinkommen«. Für dieDiskussion über Familie und kleine Lebens-kreise ist diese Idee besonders interessant:Je weniger der Staat seine Bürger durchmaterielle Anreize zu bestimmten Verhal-tensweisen veranlasst, desto größer ist derFreiraum für freiwilliges Handeln, wenndenn die materielle Grundvoraussetzunggegeben ist. Hartmut Häussermann zeichnetin seinem Beitrag »Die soziale Dimensionunserer Städte – von der ›Integrationsma-schine‹ zu neuen Ungleichheiten« die pro-blematische Entwicklung nach, die sich inallen europäischen (Groß-)Städten in ähnli-cher Form vollzieht: Auf eine Homogenisie-rung der Lebensstile im 20. Jahrhundertfolgt eine Phase starker Ausdifferenzierungund Polarisierung mit der Folge, dass Städteund Wohnviertel durch gleichzeitige Bewoh-nung von einkommensschwachen Familienund einkommensstarken Bevölkerungsgrup-pen – Singles, Doppelverdiener, aber auchFamilien – auseinanderdriften.

Klaus Peter Strohmeier macht unter demTitel »Die Stadt im Wandel – Wiedergewin-nung von Solidarpotential« am Beispiel desRuhrgebiets deutlich, wie sich durch Entso-lidarisierung – durch gegenseitiges Miss-trauen – Abgrenzung und Vereinzelung aus-breiten. Die typische »Kultur des Helfensund Borgens« sei mit der Abwertung derklassischen Industriearbeit und der wach-senden Arbeitslosigkeit massiv im Rückzug.Dringend nötig seien Programme, die Ver-trauen stiften und die Erfahrung befördern,dass Engagement sich lohnt.

Für Volker Hassemer in seinem Beitrag »Füreine familienorientierte Stadtpolitik« ist es

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eine Frage der Stadtentwicklungsplanung,ob die Städte ihren Reichtum an Menschen,Infrastruktur und Phantasie erkennen undzu ihrem Nutzen umzusetzen imstande sind.Freilich sind die Ausgangsbedingungen jeandere, ob es sich etwa um den BerlinerStadtteil Prenzlauer Berg oder den (West-)-Berliner Problembezirk Neukölln handelt, indem Menschen aus vielen Nationen zusam-menleben und fast die Hälfte der Bewohnereinen Migrationshintergrund hat. Hierzunimmt Heinz Buschkowsky im Interview mitElisabeth Niejahr prägnant Stellung: MehrStaat soll Familien und Nachbarschaftenstärken.

Zum Schluss schlägt unter dem Titel »Her-zenswärme für starke Familien« die Prog-nos AG den breiten bunten Fächer subsidiä-rer Unterstützungsformen auf und gibt Ein-blick in die Vielfalt bereits existierenderBeispiele von Elternnetzwerken und Groß-elterndiensten bis zu Familienpaten, Senio-rengenossenschaften und neuartigen Wohn-gemeinschaften – die Vielfalt und Vitalitätder kleinen Lebenskreise.

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96 97 Tine Stein:Subsidiarität – eine Ideemit Geschichte

Zu den prägenden theoretischen Inspirationen bei der Herausbildung des deutschen Sozial-staates gehört die katholische Soziallehre. Mit dem Prinzip der Subsidiarität greift sie auf eintraditionelles Thema der politischen Theorie zurück und entwickelt dies seit dem Ende des19. Jahrhunderts allmählich zu einem zentralen sozialpolitischen Konzept. Tine Stein stellt diehistorischen Veränderungen des Subsidiaritätsbegriffs dar und verweist auf dessen bemer-kenswerte Modernität im Zeitalter von Globalisierung und zunehmender weltweiter Verant-wortung.

Mit dem Begriff der Subsidiarität wird einKoordinationsverhältnis von politischer undgesellschaftlicher Ordnung ausgedrückt, beidem der Vorrang der selbstverantwortli-chen Lebensgestaltung des Individuums dieLeitidee abgibt. Das Individuum muss aller-dings auf die Unterstützung und Hilfestel-lung (»subsidium«) staatlicher Institutionenvertrauen können, wenn die eigenen Kräftebeziehungsweise die des gesellschaftlichenNahbereichs nicht hinreichen. BesondereProminenz hat der Begriff der Subsidiaritätin der katholischen Soziallehre und in sozi-alpolitischen Auseinandersetzungen der frü-hen Bundesrepublik erfahren. Heute dientSubsidiarität im weiteren Sinne als einKoordinationsbegriff zur komplementärenVerhältnisbestimmung der Funktionen ganzunterschiedlicher Einheiten – sei dies terri-toriale Einheiten betreffend wie eine supra-nationale Organisation im Verhältnis zuihren Mitgliedsstaaten oder sei dies diegesellschaftliche und die staatliche Sphärebetreffend. Im Kontext der Diskussion überdas Potential der Zivilgesellschaft zurLösung von sozialen Problemen angesichtseines überforderten Staates und auch über-forderter internationaler staatlicher Koope-rationen kommt dem Begriff heute wiederverstärkt Bedeutung zu.

Zunächst sollen hier zwei zentrale moderneTraditionen vorgestellt werden, in denendas Verhältnis von Individuum und gesell-schaftlichen Gruppen einerseits und poli-tisch-staatlicher Ordnung andererseitsunterschiedlich beantwortet wird. Vor die-sem politiktheoretischen Hintergrund wer-den sodann die zentralen Entwicklungs-linien der Verwendung des Subsidiaritätsbe-

griffs in der christlichen Soziallehre in Erin-nerung gerufen. Dabei ist insbesondere aufdie sich wandelnden soziostrukturellen undpolitischen Rahmenbedingungen einzuge-hen. In diesem Zusammenhang können dreiPhasen unterschieden werden. Hierbei sollauch gezeigt werden, dass von der grund-sätzlichen Wertschätzung der gesellschaftli-chen und gemeinschaftlichen Gruppen, diedem Individuum die freie Initiative und dasfreie Tätigwerden ermöglichen, eine Verbin-dung zur Wertschätzung der Zivilgesell-schaft gezogen werden kann, der in neuerenlehramtlichen Texten sogar ein Vorrangzugesprochen wird. In einem Ausblick sollschließlich ein Vorschlag unterbreitet wer-den, was das Subsidiaritätsprinzip unterden Bedingungen der Globalisierung bedeu-ten kann. Hinsichtlich einer solchen trans-nationalen, sogar weltgesellschaftlichenSolidarität sind beispielsweise die päpstli-chen Rundschreiben der Nachkriegszeitihrer Zeit voraus gewesen.

Staat und Gesellschaft inder politischen TheorieBei dem klassischen Subsidiaritätsbegriffgeht es im Kern um das Verhältnis zwischenIndividuum und gesellschaftlichen Gruppeneinerseits und politisch-staatlicher Ordnungandererseits. Dabei ist die Idee der Subsi-diarität älter als der Begriff. Über derenrechtes Verhältnis zueinander wird einKardinalstreit in der politiktheoretischenBegründung des neuzeitlichen Staatesgeführt, ebenso darüber, welchen Instanzeneine Vorrangstellung zukommt. Hier stehtdie auf die Souveränität des Staatespochende Tradition eines Thomas Hobbesund eines Jean-Jacques Rousseau der libera-

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len Tradition eines John Locke gegenüber,in der die Eigenkräfte der Gesellschaftbetont werden. Im Rahmen des vertrags-theoretischen Paradigmas der neuzeitlichenStaatsbegründung gründet sich die staatli-che Souveränität, also seine Handlungs-macht, auf eine Autorisierung durch die amVertrag beteiligten Bürger, die den Staatkonstituieren und der für die Garantie deröffentlichen Sicherheit zuständig ist. Wieumfänglich die staatlichen Aufgaben sind,wie stark der Staat die gesellschaftlicheSphäre regeln und was er alles für dieGesellschaft zur Verfügung stellen soll, wirdfortan ein dauernder Streitgegenstand sein.Dabei erkannte insbesondere Rousseau,dass der Staat nicht allein auf ein sicher-heitstheoretisches Kalkül der Vertragsbetei-ligten gegründet sein kann. Deswegen hat erals Republikaner für ein gemeinschaftlichesWertfundament plädiert, das freilich beiihm ein staatlich oktroyiertes ist. FreieAssoziationen der Bürger, gar ein innererGewissensvorbehalt vor der staatlichenZivilreligion, die wie einst im vorchrist-lichen Römischen Reich das Ferment desZusammenhalts in der politischen Ordnungdarstellt – das ist bei Rousseau und seinemallzuständigen Souverän, der keine Frei-heitsrechte und keine eigenständige gesell-schaftliche Sphäre respektiert, nicht vor-gesehen.

Demgegenüber betonen liberale Denker dieAutonomie der Gesellschaft, welche derStaat zu respektieren habe, der sich zudemauf die Gewährleistung von Rahmenbedin-gungen für den gesellschaftlichen Verkehrder Individuen zu beschränken, für allge-meine Sicherheit zu sorgen habe und nur inAusnahmesituationen nachrangig, das heißtnur subsidiär in das Leben der Individuenund Familien eingreifen solle. Grundsätzlichist in dieser liberalen Sichtweise die Sicher-stellung und Gestaltung der eigenen Exis-tenz dem Individuum überlassen. Was aberim klassischen Liberalismus zu wenigbedacht ist, ist der Umstand, dass die

Gesellschaft in ihrem Zusammenspiel derEinzelnen und Gruppen auch gewisserma-ßen auf ein wechselseitiges Wohlwollen derBeteiligten angewiesen ist, um einen sozia-len Mehrwert zu produzieren, damit sichnicht im freien Spiel der gesellschaftlichenKräfte nur das Recht des Stärkeren durch-setzt und sich Zustände sozialer Ausbeu-tung einstellen. Über diesen sozialen Mehr-wert, der eine Gesellschaft in ihren Basis-Institutionen zusammenhält, hat Alexis deTocqueville in seinen klassischen Betrach-tungen über die Demokratie in Amerikaberichtet. Tocqueville beschreibt mit Blickauf die amerikanische Gesellschaft des frü-hen 19. Jahrhunderts, wie die gesellschaftli-chen Assoziationen und der christlicheGeist in den lokalen Einheiten des Staatesfür einen sozialen Ausgleich und für Zusam-menhalt sorgen.

Mit dem Aufkommen des Industriekapitalis-mus im 19. Jahrhundert zeigt sich dannallerdings, dass über die Rolle des Staatesneu nachzudenken ist. Die ökonomischenEntwicklungen produzieren nicht nur eineneue Güterfülle, sondern auch sogenanntenegative externe Effekte, die eine anderestaatliche Regulierung und Leistung verlan-gen als jene, die ein bloßer Nachtwächter-staat bereithält. Das Nachdenken über eingeändertes Verhältnis zwischen Staat undGesellschaft und ihren jeweiligen Aufgabenunter der Leitidee der Subsidiarität ist vor-nehmlich ein Beitrag des deutschen Katholi-zismus.

Subsidiarität im Spiegel der katholischenSoziallehreDas Subsidiaritätsprinzip ist wesentlich vonder katholischen Soziallehre geprägt.Darunter sind sowohl die lehramtlichenSchriften, insbesondere die sogenanntenSozialenzykliken der Päpste, zu verstehen,als auch Schriften katholischer Denker (vgl.Uertz 2005). Das protestantische Denkenund die protestantische Sozialethik habensich nicht prägend mit dem Gedanken der

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98 99 Tine Stein: Subsidiarität – eine Idee mit Geschichte

Subsidiarität beschäftigt, weswegen hiereine Konzentration auf die katholischen Bei-träge erfolgt. Es lassen sich drei Phasenunterscheiden.

1. Vom 19. Jahrhundert bis 1945:Subsidiarität als Antwort auf die neuenAufgaben des Staates angesichts dersozialen FrageNoch nicht vom Begriff, aber von der Sacheher wird das Verhältnis zwischen der Ver-antwortung des Staates für soziale Fragenund Eigenverantwortung der Einzelnen inder Enzyklika »Rerum Novarum« von 1891behandelt. Papst Leo XIII. sucht hier eineAntwort auf die im Zuge des Industriekapi-talismus verschärfte soziale Frage zu finden.Dabei wird ein Mittelweg eingeschlagenzwischen einem Liberalismus, der die staat-lichen Funktionen auf einen »Nachtwächter-staat« reduziert, also im Wesentlichen fürinnere und äußere Sicherheit zu sorgen hat,aber ansonsten die gesellschaftlichen Kräftesich selbst überlässt, und dem Sozialismus,der eine andere Gesellschaftsordnung aufder Basis von Gemeineigentum anstrebt.In »Rerum Novarum« wird einerseits klarfür das Privateigentum Stellung bezogen.Das muss sich für die katholische Kirche imausgehenden 19. Jahrhundert immer noch»ungewohnt« anfühlen. Denn schließlichhatte die Kirche mit dem modernen, aufLocke zurückgehenden Paradigmenwechselin der Eigentumsbegründung noch langeZeit ihre Schwierigkeiten. Andererseits wirdkomplementär dazu eine Verantwortung desStaates gesehen, mit Rechtsmitteln die Inte-ressen der bedrängten Arbeiter und derSchwachen in der Gesellschaft zu schützen.Dies wird nicht als partikulare Parteinahmeverstanden, sondern als im Gesamtinteressedes Gemeinwesens liegend. Auch solle derStaat sich dafür einsetzen, dass die Arbeitereinen gerechten Lohn bekommen, der sie indie Lage versetzt, für ihre Familien zu sor-gen. Dass die Familien zu stärken sind, istfür die katholische Sichtweise zentral. Dennder eigenverantwortlichen Lebensgestaltung

in den Familien gebührt gewissermaßender Kompetenzvorrang, da die Familien,so Leo XIII., näher an der Natur sind. Siesind nämlich älter als der Staat und auchals die bürgerliche Gesellschaft. Die Fami-lien, nicht der Staat, sind verantwortlichfür die Erziehung und Ausbildung der Kin-der, damit sie in den Wechselfällen desLebens bestehen können. Dies wird freilichalles ganz im patriarchalischen Sinnegedacht. Es ist der Vater mit seiner väter-lichen Gewalt, der hier als handelndes Sub-jekt auftritt. Frauen und Kinder sind nur alsSchutzgut ein Objekt der väterlichen Sorgeund Verantwortung. Wenn nun allerdingseine Situation der Not eintritt, dann ist derStaat auch aufgefordert, den Familien zuhelfen.

»Rerum Novarum«: »Allerdings, wenn sicheine Familie in äußerster Not und in soverzweifelter Lage befindet, daß sie sich inkeiner Weise helfen kann, so ist es derOrdnung entsprechend, daß staatliche Hil-feleistung für die äußerst Bedrängten ein-trete; die Familien sind eben Teile desStaates. Ebenso hat die öffentliche Gewaltzum Rechtsschutz einzugreifen, wenninnerhalb der häuslichen Mauern erhebli-che Verletzungen des gegenseitigen Rech-tes geschehen: Übergriffe in Schrankenweisen und die Ordnung herstellen heißtdann offenbar nicht Befugnisse der Fami-lie und der Individuen an sich reißen: DerStaat befestigt in diesem Falle die Befug-nisse der einzelnen, er zerstört sie nicht.Allein an diesem Punkt muß er haltma-chen, über obige Grenzen darf er nichthinaus, sonst handelt er dem natürlichenRecht entgegen. Die väterliche Gewalt istvon Natur so beschaffen, daß sie nichtzerstört, auch nicht vom Staate an sichgezogen werden kann; sie weist einegleich ehrwürdige Herkunft auf wie dasLeben des Menschen selbst« (Ziffer 11).

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Für dieses Verhältnis zwischen Familie,größeren Gemeinschaften und staatlicherGemeinschaft ist das Bild konzentrischerKreise oder Schalen vorgeschlagen worden:Die Gesellschaft setzt sich organisch ausineinandergestellten Schalen zusammen,wobei der jeweils kleineren Gemeinschafteine primäre Verantwortung zukommt vorder je größeren (vgl. Sachße 1994, S. 718).Diese Primärverantwortung dient dann auchdazu, Eingriffe des Staates in die kleinerenGemeinschaften abzuwehren, und anderer-seits begründet sie eine Unterstützungsver-pflichtung im Falle der Not.

Dieser Wertschätzung sozialer Verantwor-tung im Nahbereich entsprach gerade imdeutschen Katholizismus in der Realitätauch eine starke Vereinstätigkeit. Die christ-lichen Verbände werden in »Rerum Nova-rum« auch belobigend im Sinne einerSelbstorganisation der Arbeiterklasse mitdem Ziel der Verbesserung ihrer Existenz-bedingungen erwähnt. Der Kulturkampf imKaiserreich hatte ja entgegen der Intentioneiniger seiner Akteure gerade zu einem Auf-schwung des katholischen gesellschaftlichenLebens und seiner öffentlichen Bedeutunggeführt. So wie im sozialdemokratischgeprägten Milieu durch die Vorfeldorganisa-tionen der Partei eine Einbindung der Ein-zelnen von der Wiege bis zur Bahre angebo-ten wurde, so geschah dies auch im staats-fernen katholischen Milieu. Religiösgeprägte gesellschaftliche Organisationensollen das ganze Volk ansprechen, was sichinsbesondere an der katholischen Massen-organisation »Volksverein« mit seiner sozial-politischen Zielsetzung zeigt, der zu seinenHochzeiten eine Mitgliederzahl von 800.000und eine umfangreiche Tätigkeit aufgewie-sen hat (vgl. Sachße 1994, S. 724).

Nicht nur in der sozialdemokratischen undkatholischen Grundströmung ist die gesell-schaftliche Wahrnehmung sozialer Verant-wortung als Antwort auf die soziale Frageim Kaiserreich ein wichtiges Phänomen –

auch viele Unternehmer betätigen sichsozial. Im Deutschland der Kaiserzeit gab esan die 50.000 – 70.000 Stiftungen (Biggele-ben 2006/2007; Gaehtgens). Während dieBerliner Mäzene beispielsweise bereitseinen guten Teil ihres Vermögens für wohl-tätige Zwecke ausgaben, war dies in NewYork noch eher unbekannt. Tatsächlich reis-ten zunächst einige amerikanische Indus-trielle nach Deutschland, um sich vor Ortkundig zu machen über die Möglichkeitensozialen Engagements mit Stiftungskapital.Das bürgerliche Engagement in Form desMäzenatentums durch Stiftungen kann mit-hin als ein deutscher Exportartikel bezeich-net werden, der allerdings in den USA aufeine besondere Bereitschaft des Gebensgestoßen ist. Andrew Carnegie hat dies ineinem Ehrencodex ausgedrückt: »Wer reichstirbt, stirbt in Schande«, was eine gesell-schaftliche Norm als ein erwartetes Ver-halten ausdrückt. Warum demgegenüberdas soziale Engagement von Großbürgernin Deutschland keine ebenso nachhaltigeTradition ausgeprägt hat, dafür lassen sichverschiedene Faktoren anführen: Nebensituativen Faktoren wie der Vernichtung desStiftungskapitals durch die Inflation ist auchdie Judenverfolgung ein Grund. Denn derjüdische Anteil der deutschen Philanthro-pen war im Vergleich zur Gesamtbevölke-rung überproportional hoch. Ein strukturel-ler Faktor ist daneben der mit Bismarckbegonnene und von Adenauer auf ganzanderer Intensitätsstufe fortgesetzte Ausbauder wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, derauch mit erheblichen Sozialabgaben derArbeitgeber einherging. Hinzu kommt eineandere steuerliche Belastung der Einkom-men, als dies in den USA der Fall ist.

Auch bei den weniger vermögenden Bür-gern lässt sich in dieser ersten Phase einehorizontal-gesellschaftlich praktizierte Soli-darverpflichtung erkennen. So kann mandie Einrichtung von Genossenschaften, vonRaiffeisenbanken und Spar- und Darlehens-kassen mit ihren Kleinkrediten für den Auf-

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bau kleiner und mittelständischer Unter-nehmen auch als eine Form bürgerschaft-lichen gesellschaftlichen Engagementsbegreifen, bei der die lokale Solidargemein-schaft mit dem durch die gemeinschaftli-chen Einlagen gemeinsam getragenenFinanzprojekt eine Alternative zur Abhän-gigkeit vom etablierten Bankensystemgeschaffen hat. Hier sei auf die von Muham-mad Yunus initiierte Grameen Bank verwie-sen, die mit ihren Mikrokreditprogrammeneinige Ähnlichkeiten zu den deutschenRaiffeisenbanken sowie Spar- und Darle-henskassen aufweist (vgl. Seibel 2005).

Die nächste Enzyklika, die soziale Themenbehandelt, und die nun auch explizit dasSubsidiaritätsprinzip benannt hat, ist die1931 von Papst Pius XI. veröffentlichteEnzyklika »Quadragesimo Anno«, der sichhier vor allem auf die Vorarbeiten vonOswald von Nell-Breuning stützen konnte.Das Subsidiaritätsprinzip wird hier nichtnur gewissermaßen systematisch eingeführtund erörtert, sondern auch als oberes Prin-zip der Sozialphilosophie bezeichnet.Danach müssen die sozialen Körperschaftenhöherer Ordnung den kleineren Gemein-schaften Unterstützung und Förderung –»subsidium« – zukommen lassen, dürfenaber nicht aufsaugend oder die jeweilseigenen Kräfte zerstörend in sie eingreifen.

»Quadragesimo Anno«: »Wenn es nämlichauch zutrifft, was ja die Geschichte deut-lich bestätigt, daß unter den verändertenVerhältnissen manche Aufgaben, die frü-her leicht von kleineren Gemeinwesengeleistet wurden, nur mehr von großenbewältigt werden können, so muß dochallzeit unverrückbar jener höchst gewich-tige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rüttelnnoch zu deuteln ist: wie dasjenige, was derEinzelmensch aus eigener Initiative undmit seinen eigenen Kräften leisten kann,ihm nicht entzogen und der Gesellschafts-

Hier ist auch schon eine Kritik an einemüberbordenden Staatswesen zu vernehmen.Statt eine staatliche Allzuständigkeit zupraktizieren, gehe es vielmehr darum, mit-tels der Beachtung des Prinzips der Subsi-diarität die Stufenordnung der verschiede-nen Vergesellschaftungen einzuhalten. DieInitiative, Freiheit und Verantwortlichkeitder je kleineren Vergesellschaftung bezie-hungsweise des Gemeinwesens soll nichtverdrängt werden.

2. Nach 1945: Erweiterung undVeränderungsdruckDie Sozialenzykliken der Nachkriegszeithaben diesem Subsidiaritätsdenken zwarkeine prinzipiell neuen Elemente hinzuge-fügt, sie öffneten allerdings explizit denAnwendungsbereich, indem sie sich – ingewisser Weise ihrer Zeit voraus – welt-politischen Themen zuwandten und diesoziale Situation der Arbeiter in unter-entwickelten Ländern aufgriffen. So liestsich die 1961 von Papst Johannes XXIII.verfasste Enzyklika »Mater et Magistra« wieeine erste globalisierungskritische Stellung-nahme. Und in der zwei Jahre später ver-öffentlichen Enzyklika »Pacem in terris«,deren Hauptintention eine friedenspoliti-sche Botschaft im Kalten Krieg war, wirdabermals die Verantwortung des Staates zurHilfestellung unterstrichen. Hilfestellungsoll in diesem Zusammenhang explizit nicht

tätigkeit zugewiesen werden darf, so ver-stößt es gegen die Gerechtigkeit, das, wasdie kleineren und untergeordnetenGemeinwesen leisten und zum guten Endeführen können, für die weitere und über-geordnete Gemeinschaft in Anspruch zunehmen; zugleich ist es überaus nachteiligund verwirrt die ganze Gesellschaftsord-nung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist jaihrem Wesen und Begriff nach subsidiär;sie soll die Glieder des Sozialkörpersunterstützen, darf sie aber niemals zer-schlagen oder aufsaugen« (Ziffer 79).

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nur für Notsituationen vorhanden sein, son-dern auch die Bereitstellung wesentlicherInfrastrukturleistungen im Bereich der»Daseinsfürsorge« (Wasser, Kommunikation,Transport, Wohnung, Bildung) umfassen.

Auf den Subsidiaritätsstreit, der in den1950er und 1960er Jahren in der Bundesre-publik ausgetragen wurde, nehmen dieseEnzykliken keinen erkennbaren Bezug. Indem Streit ging es um die Frage eines Vor-ranges privater oder freier Träger in Ein-richtungen der Wohlfahrtspflege (Sachße1994, S. 730 ff.). Schon in der WeimarerRepublik hatte das von Politikern des Zen-trums bestimmte Reichsarbeitsministeriumauf die staatliche Förderung vor allem kon-fessioneller Träger von Wohlfahrtseinrich-tungen gesetzt, als Gegengewicht gegen einebefürchtete Sozialisierungstendenz durchkommunal verantwortete Sozialpolitik. Ent-gegen staatsbürokratischer Entmündigungdurch den »verlängerten Arm der Kommu-nen« (Sachße 1994, S. 731) galten die freienTräger als Garanten gesellschaftlicher Frei-heit und gemeinschaftsbezogener Hilfe fürFamilien und in Not geratene Individuen.Mit der Subsidiaritätspolitik der Bundesre-gierung und dem Vorrang für freie Träger inder Wohlfahrtspflege sahen die Gemeindennun eine Einschränkung ihrer kommunalenSelbstverwaltung gegeben. Politikwissen-schaftlich gesehen kann man hinter diesersozialpolitischen Debatte, die unter demSchlüsselbegriff der Subsidiarität geführtwurde, wie Christoph Sachße (1994) heraus-gearbeitet hat, bereits die Interessenwah-rung jener Verbände erkennen, die in diestaatlichen Wohlfahrtsinstitutionen korpora-tiv einbezogen worden sind. In den Sozial-wissenschaften ist dies als Neokorporatis-mus bezeichnet worden: Die freien Trägererbringen für den Staat und mit öffentlichenGeldern Leistungen, und zwar auf der Basisstaatlicher Vorgaben (Sachße 1994, S. 732).

Diese zweite Phase der Subsidiaritätsdiskus-sion lässt sich als Plateauphase kennzeich-

nen, da wesentliche Aussagen bekräftigtwerden. In dem Plateau zeigen sich aller-dings erste Risse: Das Prinzip ist durchausanerkannt und institutionalisiert, aber dieInstitutionalisierung der staatlichen sozialenLeistungen spiegelt schon die Wirklichkeitdes etablierten und umfassenden Wohl-fahrtsstaates wider – eine staatliche Struktur,die ja weder zu Zeiten von »QuadragesimoAnno« (1931) noch erst recht von »RerumNovarum« (1891) gegeben war. Zudem ver-ändert sich die gesellschaftliche Wirklich-keit. Da die Lebenswelt der Menschen sichpluralisiert und weiter funktional ausdiffe-renziert, ist ein Individuum nicht mehr nurlänger in einem Kreis beheimatet, um an dasBild der konzentrischen Kreise anzuknüp-fen. Darüber hinaus ergeben sich Verände-rungen hinsichtlich der bisherigen Voraus-setzungen der staatlichen und gesellschaftli-chen Aufgabenteilung bei der sozialen Hilfe-stellung für den Einzelnen. So beginnen mitder wachsenden Arbeitslosigkeit der 1970erJahre die Einnahmen der sozialen Siche-rungssysteme zu sinken, da diese wesentlichüber die Abschöpfung der Erwerbsarbeit,nicht über Steuern finanziert sind. Dazuträgt auch die demographische Entwicklungbei. Auch zeigt sich eine zunehmende Ero-sion traditionaler Solidarpotentiale. Insoziale Bindungen wird man nicht mehr län-ger hineingeboren und tradiert diese weiter,sondern wählt sie mehr und mehr selbst.Dies ist nicht allein das Ergebnis der vonRonald Inglehart diagnostizierten »SilentRevolution«, worunter die Verdrängungmaterieller Werte zugunsten postmateriellerWerte, insbesondere die Durchsetzung desLeitwerts der Selbstbestimmung, verstandenwird. Darüber hinaus ist diese Entwicklungauch eine Konsequenz aus einem Wirt-schafts- und Arbeitsleben, das höchsteAnforderungen an Flexibilität und Mobilitätder Arbeitnehmer stellt. Das gesellschaftli-che Sozialkapital und das Solidarpotentialwerden damit zunehmend ortlos. DieseTrends führen im Ergebnis dazu, dass derBedarf an staatlicherseits zu erbringenden

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sozialen Dienstleistungen steigt – beizugleich schwächer werdenden Quellenöffentlicher Finanzierung.

3. Seit den 1970er Jahren bis indie Gegenwart: Neue Akzente unterJohannes Paul II. und Benedikt XVI.Vor dem Hintergrund dieser verändertengesellschaftlichen Rahmenbedingungen seitden 1970er Jahren wandelt sich auch dasVerständnis der Subsidiarität. Nun ist vonneuer Subsidiarität die Rede. In der Sozial-enzyklika »Centesimus Annus«, die PapstJohannes Paul II. 1991 aus Anlass des ein-hundertjährigen Jubiläums von »RerumNovarum« veröffentlicht hat, soll der Staatgemäß dem Prinzip der Subsidiarität durch-aus in bekannter Weise die Voraussetzungenfür eine freie Entfaltung des Wirtschaftsle-bens schaffen, wobei zugleich die Verteidi-gung der Schwächeren und auch die Garan-tie eines Existenzminimums eingefordertwerden (Centesimus Annus, Ziffer 15). Aberes finden sich nun auch kritische Tönegegenüber einem aufgeblähten Fürsorge-staat, dessen wohlfahrtsstaatliche Institutio-nen Eigeninteressen verfolgen und die Emp-fänger von sozialen Leistungen zu Klientenwerden lässt, was die Eigeninitiative erstickt.

»Centesimus Annus«: »Funktionsstörungenund Mängel im Wohlfahrtsstaat rührenvon einem unzutreffenden Verständnis derAufgaben des Staates her. Auch auf diesemGebiet muß das Subsidiaritätsprinzip gel-ten: Eine übergeordnete Gesellschaft darfnicht in das innere Leben einer unterge-ordneten Gesellschaft dadurch eingreifen,daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt.Sie soll sie im Notfall unterstützen und ihrdazu helfen, ihr eigenes Handeln mit demder anderen gesellschaftlichen Kräfte imHinblick auf das Gemeinwohl abzustim-men.Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreiftund die Gesellschaft ihrer Verantwortungberaubt, löst den Verlust an menschlicher

Hier empfiehlt das katholische Lehramt dieRückgabe von Kompetenzen an unteresoziale Einheiten und auch eine Hilfe zurSelbsthilfe. Diese Kritik am Sozialstaat ent-sprach im Übrigen einer seit Ende der1970er Jahre auch in der Politik und in denSozialwissenschaften vorgetragenen Kritik(in konstruktiver Absicht äußerten sichhierzu jüngst Grözinger/Maschke/Offe2006).

Als ein vorläufiger Schlussstein kann dieAntrittsenzyklika »Deus Caritas est« vonPapst Benedikt XVI. angesehen werden.Diese ist zwar keine Sozialenzyklika.Gleichwohl wird in ihr auf das Subsidiari-tätsprinzip positiv Bezug genommen, undzwar an jener Stelle, an der es darum geht,das Verhältnis von Gerechtigkeit und christ-licher Liebe zu klären. Das Grundprinzipdes Staates sei es, für Gerechtigkeit zu sor-gen. Eine gerechte Gesellschaftsordnung seijene, in der unter Berücksichtigung desSubsidiaritätsprinzips jedem sein Anteil anden Gütern der Gemeinschaft gewährleistetwürde. Sogar eine historische Einordnungder sozialen Frage findet sich hier und eineAnerkennung des Aufbegehrens gegen dieRechtlosigkeit der Arbeiter. Aber dann gibtBenedikt dem Subsidiaritätsprinzip eineneue Wendung und eine genuin christlicheBestimmung, indem er die durch nichts zuersetzende Bedeutung der christlichenLiebe als Tröstung, als Mit-Leiden, alsgelebte Nächstenliebe in all jenen Situatio-nen von Einsamkeit und Not hervorhebt, indenen keine staatlichen Mittel Linderung zugeben vermochten. Gerechte Strukturenmachen mitnichten in den Augen Benediktsdie Liebestätigkeit, die »Caritas«, überflüs-sig:

Energie und das Aufblähen der Staatsap-parate aus, die mehr von bürokratischerLogik als von dem Bemühen beherrschtwerden, den Empfängern zu dienen; …«(Ziffer 48).

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Zusammenfassend können folgende Punktefestgehalten werden, die das von der katho-lischen Soziallehre geprägte Subsidiaritäts-prinzip charakterisieren:

:: Es gibt eine grundsätzliche Wertschätzungder gesellschaftlichen und gemeinschaftli-chen Gruppen, denn diese ermöglichendem Individuum die freie Initiative unddas freie Tätigwerden. In neueren lehr-amtlichen Texten ist in diesem Zusammen-hang auch von dem Vorrang der Zivilge-sellschaft die Rede, in der die politischeGemeinschaft ihre Daseinsberechtigung

»Deus Caritas est«: »Liebe – Caritas – wirdimmer nötig sein, auch in der gerechtestenGesellschaft. Es gibt keine gerechte Staats-ordnung, die den Dienst der Liebe über-flüssig machen könnte. Wer die Liebeabschaffen will, ist dabei, den Menschenals Menschen abzuschaffen. Immer wirdes Leid geben, das Tröstung und Hilfebraucht. Immer wird es Einsamkeit geben.Immer wird es auch die Situationen mate-rieller Not geben, in denen Hilfe im Sinngelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totaleVersorgungsstaat, der alles an sich zieht,wird letztlich zu einer bürokratischenInstanz, die das Wesentliche nicht gebenkann, das der leidende Mensch – jederMensch – braucht: die liebevolle persönli-che Zuwendung. Nicht den alles regelndenund beherrschenden Staat brauchen wir,sondern den Staat, der entsprechend demSubsidiaritätsprinzip großzügig die Initia-tiven anerkennt und unterstützt, die ausden verschiedenen gesellschaftlichenKräften aufsteigen und Spontaneität mitNähe zu den hilfsbedürftigen Menschenverbinden. Die Kirche ist eine solchelebendige Kraft: In ihr lebt die Dynamikder vom Geist Christi entfachten Liebe, dieden Menschen nicht nur materielle Hilfe,sondern auch die seelische Stärkung undHeilung bringt, die oft noch nötiger ist alsdie materielle Unterstützung« (Ziffer 28b).

finde (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeitund Frieden 2006).

:: Es wird die Eigenverantwortung bei derVorsorge für das eigene Leben und für dieFamilie betont.

:: Die staatliche Gemeinschaft wird als ver-antwortlich gesehen, subsidiär aktiv zuwerden, und zwar:a) wenn sich Notsituationen ergeben,b) in den Aufgabenbereichen, die nur derStaat sinnvoll übernehmen kann, insbe-sondere bei den Infrastrukturmaßnahmender Daseinsvorsorge,c) wenn das freie Spiel der gesellschaftli-chen Kräfte dazu führen würde, dass derStärkere über den Schwächeren siegt,dann muss der Staat ausgleichend und aufdas Gemeinwohl hin ausgerichtet eingrei-fen, wie überhaupt Gerechtigkeit ein Zieldes Staates ist, das freilich auch bei seinerRealisierung den christlichen Dienst amNächsten nie überflüssig machen kann.

Das für die ältere katholische Kirche typi-sche Leitbild einer ständisch geordnetenGesellschaft und die ebenso typische Ab-lehnung des gesellschaftlichen Pluralismussind hier nicht mehr zu erkennen. Diekatholische Soziallehre hat mit dem Ord-nungsbegriff der Subsidiarität ein Konzeptentwickelt, das auch in anderer Hinsichtsich als geeignet erweist, verschiedenenSphären menschlicher Vergemeinschaftungin komplementärer Form unterschiedlicheAufgaben zuzuweisen (zu einem funktiona-len Verständnis vergleiche Koslowski 1997).Dies soll hier abschließend mit Blick auf dasVerhältnis zwischen der politischen Ord-nung jenseits des Nationalstaates und dersich entwickelnden globalen Zivilgesell-schaft verdeutlicht werden.

Ausblick: Subsidiarität als Aufgabenteilungin der globalisierten WeltFür Subsidiarität als Leitbegriff der sozial-politischen Diskussion ist kennzeichnend,dass in der sozialen Dimension das auf derje »unteren« Ebene geregelt werden soll,

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was dort sinnvoll geleistet werden kann, dadiese Ebenen gewissermaßen näher amMenschen sind: Familie, Vereine und anderegesellschaftliche Assoziationen. Hinzuzu-nehmen zu der sozialen Gliederung ist dieterritoriale Dimension. Dies gilt explizit mitBlick auf das Mehrebenensystem der Euro-päischen Union. Danach bezeichnet dasSubsidiaritätsprinzip in der EU den Vorrangder je leistungsstärkeren unteren politi-schen Einheit. Die EU soll in den Bereichen,die nicht in ihre ausschließliche Zuständig-keit fallen, nur dann und insofern tätig wer-den, wie die Mitgliedstaaten und ihre jewei-ligen Entscheidungsebenen allein ein Pro-blem nicht zufriedenstellend lösen können.Es ist allerdings umstritten, ob das Subsidia-ritätsprinzip diesen Zweck erfüllt (Zuleeg2003; Mager 2003).

Noch komplexer wird es, wenn das Subsi-diaritätsprinzip für die sich entwickelndeinternationale politische Ordnung und dieWeltgesellschaft als Koordinationsprinzipherangezogen wird. Würde als theoretischzu denkender Fluchtpunkt dieser Entwick-lung ein Weltstaat angenommen, bekämedas Subsidiaritätsprinzip eine eminent poli-tische Bedeutung als Schutz der näher amBürger stehenden politischen Einheit desNationalstaates. Aber diese Entwicklung miteinem solchen Fluchtpunkt kann aufgrundder nicht hintergehbaren Bedeutung derStaatenwelt nicht sinnvoll angenommenwerden. Vielmehr ist hier die Weltgesell-schaft vor dem Hintergrund der bestehen-den Institutionen der Staatenwelt von Inte-resse. Denn in der Weltgesellschaft bildensich jenseits der wesentlich von Staatenbestimmten internationalen Organisationenund jenseits der bilateralen Staatenhilfeneue Formen transnationaler gesellschaftli-cher Solidarität heraus. So hat sich bei-spielsweise die Mikrokreditidee transnatio-nalisiert: Im Internet gibt es eine seriösePlattform (»Kiva«), auf der die reichen Welt-bürger den armen Weltbürgern grenzüber-schreitend Kleinkredite zur Verfügung stel-

len können (Flannery 2007). Insbesonderehat sich die Philanthropie, wie sie sich inkapitalkräftigen Stiftungen niederschlägt,transnationalisiert. So hat die Bill & MelindaGates Foundation 2007 drei Viertel ihrerSpenden außerhalb der USA ausgegebenund reicht mit dieser Summe von 1,5 Milli-arden Dollar an den Entwicklungshilfeetatkleinerer Nationalstaaten heran. Nicht nurmit Geld wird geholfen: Es gibt auch eineVielzahl von sogenannten Sozialunterneh-mern (»Social Entrepreneurs«), die ihre Zeitund ihre im Beruf und in der Ausbildungerworbenen Kompetenzen einsetzen, umfür gesellschaftlichen Wandel in Staaten zusorgen, in denen sie zwar nicht selbst Bür-ger sind, wozu sie sich aber doch moralischverpflichtet fühlen. Diese wiewohl rudimen-täre, aber doch vorhandene soziale Integra-tion der Weltgesellschaft ist wesentlich vonder normativen Idee der Unteilbarkeit derMenschenrechte initiiert (Stein 2008).

Wie allerdings eine funktionstüchtige insti-tutionell-politische Ebene der Staatenweltaussieht, die subsidiär und fördernd ein-greifen könnte, wenn die Initiativen undwechselseitigen horizontalen Hilfestellun-gen in der Weltgesellschaft nicht hinrei-chen, ist weiterhin unklar. Die VereintenNationen und die völkerrechtlichen Ver-träge jedenfalls scheinen keine hinrei-chende Form zu bieten.

Literatur

Biggeleben, C. 2006: Das Bollwerk des Bürgertums.Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München

Biggeleben, C. 2007: Wurzeln der Philanthropie inDeutschland: URL: http://www.atlantic-outlook.org/files/veranstaltungen/protokoll_philanthropie_in_deutsch-land_und_den_usa.pdf

Flannery, M. 2007: Kiva and the Birth of Person-to-PersonMicrofinance, in: Innovations, winter/spring 2007, S. 31–56

Gaehtgens, Thomas W. 2005: Der Bürger als Mäzen. Ame-rikanische Tradition – Europäische Herausforderung?,Berlin

Grebing, Helga (Hrsg.) 2000: Geschichte der sozialenIdeen in Deutschland. Sozialismus, katholische Sozial-lehre, Protestantische Sozialethik – ein Handbuch, Essen

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Grözinger, G./Maschke, M./Offe, C. 2006: Die Teilhabege-sellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates, Frank-furt am Main/New York

Koslowski, P. 1997: Subsidiarität als Prinzip der Koordina-tion der Gesellschaft, in: Nörr. K.W./Oppermann, T.(Hrsg.) 1997, S. 39–48

Mager, U. 2003: Die Prozeduralisierung des Subsidiaritäts-prinzips im Verfassungsentwurf des Europäischen Kon-vents: Verbesserter Schutz vor Kompetenzverlagerung aufGemeinschaftsebene?, in: Zeitschrift für europarechtlicheStudien, 6. Jg., Heft 4, S. 471–484

Nörr, K.W./Oppermann, T. (Hrsg.) 1997: Subsidiarität.Idee und Wirklichkeit: Zur Reichweite eines Prinzips inDeutschland und Europa, Tübingen

Sachße, C. 1994: Subsidiarität. Zur Karriere eines sozial-politischen Ordnungsbegriffes, in: Zeitschrift für Sozial-reform, 40. Jg., Heft 11, S. 717–738

Seibel, H.D. 2005: Does History Matter? The Old and theNew World Microfinance in Europe and Asia, WorkingPaper, University of Cologne, Development ResearchCenter, URL: http://opus.zbw-kiel.de/volltexte/2007/5602/

Stein, T. 2008: Global Social and Civil Entrepreneurs: AnAnswer to the Poor Performance of Global Governance?,in: WZB Discussion Paper SP IV, 2008-304

Uertz, R. 2005: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Daskatholische Staatsdenken in Deutschland von der Franzö-sischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil(1789–1965), Paderborn u.a.

Zuleeg, M. 2003: Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips,in: Nörr. K.W./Oppermann, T. (Hrsg.) 1997, S. 185–204

Hinweis zu den Dokumenten: Die hier relevanten päpstli-chen Enzykliken sind in elektronischer Form im Internetzugänglich; entweder auf der Seite des Vatikans selbst(www.vatican.va/) oder im online-Leseraum der Katho-lisch-Theologischen Fakultät Innsbruck (www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/). Siehe zusammenfassend auchPäpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: Kom-pendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg u.a.

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106 107 Bert Rürup/Anja Ranscht:Familienpolitik und soziale Sicherung

Die Erhöhung der Geburtenrate und der Anstieg der Frauenerwerbsquote sind wesentlicheVoraussetzungen für die künftige Funktionsfähigkeit des deutschen Sozialstaats. Bert Rürupund Anja Ranscht zeigen, wie stark die demographische Entwicklung auf die traditionellenSysteme der sozialen Sicherung – gesetzliche Krankenversicherung und gesetzliche Rentenver-sicherung – einwirkt und wie in einem Zusammenspiel verschiedener sozialpolitischer Refor-men und familienpolitischer Maßnahmen eine langfristige Funktionssicherung der Sozialsys-teme erreicht werden kann.

Zwischen Familienpolitik und sozialerSicherung bestehen Wirkungszusammen-hänge. Zum einen kann Familienpolitik diedemographiebedingten Auswirkungen aufdie Finanzierung und die Ausgaben dersozialen Sicherungssysteme beeinflussen,zum anderen können über die sozialenSicherungssysteme Ziele der Familienpolitikerreicht werden. In diesem Beitrag geht esdarum, die Wirkungsmechanismen zwi-schen Familienpolitik, demographischerEntwicklung und den sozialen Sicherungs-systemen zu skizzieren sowie zu analysie-ren, ob die Vorstellungen einer nachhaltigenFamilienpolitik konform mit der Finanzie-rung der Sozialversicherungszweige sind.Dabei werden insbesondere die Einflüssevon Familienpolitik auf die Renten- undKrankenversicherung als Teil der sozialenSicherungssysteme erläutert und des Weite-ren beschrieben, welche familienpolitischenElemente bereits in diesen Sozialversiche-rungszweigen Berücksichtigung finden.

Was ist nachhaltige Familienpolitik?In der Familienpolitik der BundesrepublikDeutschland hat in den letzten Jahren einParadigmenwechsel stattgefunden. Dieseräußert sich darin, dass eine Erhöhung derGeburtenrate nun ein erklärtes familienpoli-tisches Ziel ist. In diesem Kontext könnendie nachhaltige und die traditionelle Famili-enpolitik voneinander unterschieden wer-den.

Während die »traditionelle Familienpolitik«sich in Geldleistungen zur Kompensationder direkten Kosten, die mit dem Aufziehenund Erziehen von Kindern verbunden sind,erschöpft und eine Reduzierung der Frau-

enerwerbstätigkeit im Interesse einer Erhö-hung der Geburtenrate anstrebt (Zimmer-mann 1984), verbindet die »nachhaltigeFamilienpolitik« dagegen die Erhöhung derGeburtenrate mit einer Erhöhung derErwerbstätigkeit von Frauen.

Betrachtet man die Länder der Europäi-schen Union (Eurostat 2009), zeigt sich,dass eine hohe Erwerbsbeteiligung vonFrauen nicht mit einer geringen Geburten-rate einhergehen muss. So weisen u. a. dieskandinavischen Länder und Frankreichsowohl hohe Geburtenraten als auch hoheErwerbsbeteiligungen von Frauen aus. Zwi-schen einer hohen Geburtenzahl und einerhohen Erwerbsquote besteht offensichtlichkein Zielkonflikt. Beide Ziele können viel-mehr durchaus als Komplemente aufgefasstwerden. Des Weiteren zeichnet sich nach-haltige Familienpolitik durch eine Angebots-orientierung aus, bei der die Auswirkungendes demographischen Wandels auf das Pro-duktionspotential im Mittelpunkt stehen.

Die Förderung von Familien, d. h. Lebensge-meinschaften mit Kindern, wird im Wesent-lichen über zwei Argumentationssträngebegründet: Zum einen wird angeführt, dassdurch Kinder und deren Erziehung einewichtige gesellschaftliche Aufgabe über-nommen wird, da eine Gesellschaft aufnachwachsende Generationen angewiesensei. In Bezug auf die einzelnen Zweige derSozialversicherung wird zudem argumen-tiert, dass Eltern durch ihre Kinder dieFunktionsfähigkeit der Sozialversicherungauch in Zukunft sicherstellen (Schmähl/Rothgang/Viebrok 2006).

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Zum anderen wird darauf verwiesen, dassdie finanzielle Belastung des Aufziehensund Erziehens von Kindern auf Haushalts-ebene beachtlich ist. Diese entsteht nichtnur in den direkten Kosten für Nahrung,Kleidung und Bildung des Kindes, sonderninsbesondere in den Opportunitätskosteneiner Familiengründung. Unter Opportuni-tätskosten versteht man mögliche Nutzenund Erträge einer Alternativtätigkeit, dieeinem Individuum aufgrund einer Aktivitätoder Mittelverwendung zur Realisationanderer Lebensziele entgehen. Opportuni-tätskosten einer Familiengründung sind auf-grund einer Unterbrechung der Erwerbstä-tigkeit das entfallene individuelle Einkom-men und die damit verbundenen geringerenRentenansprüche. Zu den Opportunitätskos-ten zählen aber auch die Geldsummen, dieman nicht anderweitig verwenden kann, daAufwendungen für Kinder notwendig sind.Hinzu kommen das niedrigere Arbeitslosig-keitsrisiko von erwerbstätigen Nicht-Elternim Vergleich zu erwerbstätigen Eltern, daKinderlose durchweg eine höhere Flexibili-tät aufweisen, und der Nutzen einer stetigenBeschäftigung bezüglich des eigenen Hu-mankapitals. Nicht-monetäre Opportunitäts-kosten schlagen sich in Formen der Diskri-minierung von Müttern insbesondere jungerKinder am Arbeitsplatz (»Rabenmutter«)nieder oder darin, dass Frauen mit Kindernbei wichtigen Projekten aufgrund dererwarteten kinderabhängigen Zeitpräferen-zen weniger berücksichtigt werden – Letzte-res gilt vor allem für qualifizierte Berufe.

Diese skizzierten Opportunitätskosten sindaus ökonomischer Perspektive eine wichtigeDeterminante des Fertilitätsverhaltens.Sich rational verhaltende Individuen wägenindividuelle Kosten und Erträge von Alter-nativsituationen ab und wählen die Alterna-tive, welche den höchsten Nutzen bringt.Wird angestrebt, die Geburtenrate zuerhöhen, erscheint es aus ökonomischenPerspektiven zweckmäßig, die Opportuni-tätskosten von Kindern zu verringern. Dies

kann z. B. durch die Zahlung eines Eltern-geldes geschehen. Das Elterngeld ist jedochzusätzlich durch qualitativ hochwertige Kin-derbetreuung sowie flexible Arbeitszeitar-rangements zu ergänzen, um Müttern eineErwerbstätigkeit zu ermöglichen.

Aus ökonomischer Perspektive ist eine sol-che nachhaltige Familienpolitik aus folgen-den Gründen sinnvoll:

1. Die Bevölkerungsschrumpfung und -alte-rung und die damit einhergehende Verrin-gerung des Erwerbstätigenpotentials undder ansteigende Altenquotient haben nega-tive Effekte auf das wirtschaftliche Wachs-tum. Eine erhöhte Frauenerwerbsquotekann den zukünftigen Arbeits- bzw. Fach-kräftemangel vermeiden oder zumindestabmildern. Nachhaltige Familienpolitik istdaher gleichzeitig auch Wachstumspolitik.

2. Kinder – als zukünftige Erwerbstätige –haben positive externe Effekte für dieGesellschaft. Eine höhere Fertilitätsratekann der demographischen Entwicklungentgegenwirken.

3. Armut in Familien – insbesondere beiAlleinerziehenden hauptsächlich hervorge-rufen durch die Nicht-Erwerbstätigkeit vonMüttern – vermindert die zukünftigen Chan-cen von Kindern und führt gesamtwirt-schaftlich zu negativen externen Effekten.

Nachhaltige Familienpolitik soll zu einerVerbesserung der finanziellen Situation vonFamilien führen. Letztendlich soll aufgrundder Erhöhung der Erwerbstätigkeit und derSteigerung der Geburtenrate, die eineAbsenkung des Altenquotienten impliziert,die Lage der gesamten Gesellschaft verbes-sert werden.

Familienpolitik kann aber nur dann nach-haltig sein, wenn sie auf die sich verändern-den demographischen und wirtschaftlichenRahmenbedingungen reagiert und von der

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Bevölkerung akzeptiert wird. Die Verände-rung der Geburtenrate, ein Ziel nachhaltigerFamilienpolitik, ist ein wichtiger − wennnicht der wichtigste − Einflussparameter aufdie demographische Entwicklung, die imFolgenden beschrieben wird.

Demographische EntwicklungDie Bevölkerung in Deutschland altert seitlängerem und schrumpft seit einigen Jahrenleicht, da seit 2003 der Sterbeüberschuss −d. h. die Differenz zwischen Sterbefällen undGeburten − nicht mehr durch den Zuwande-rungssaldo kompensiert wird. Das, was alsdemographische Entwicklung bezeichnetwird, nämlich die Veränderung der Größeund des Altersaufbaus der Bevölkerung,wird von drei Parametern bestimmt:

:: der Fertilität, d. h. der in Geburten um-gesetzten Zeugungs- und Gebärfreude,

:: der Veränderung der Lebenserwartungund

:: der Migration, d. h. der Zuwanderung.

Trendbestimmend für die Bevölkerungsent-wicklung in Deutschland sind die Geburten-rate und die Zunahme der Lebenserwar-tung, wobei in der längeren Perspektive derGeburtenentwicklung ein deutlich größeresGewicht zukommt als der Erhöhung derLebenserwartung.

Ziel der aktuell verfolgten, nachhaltigenFamilienpolitik ist es u. a., die Fertilitätsratezu erhöhen. Die Fertilität wird üblicher-weise anhand der sogenannten Nettorepro-duktionsrate gemessen. Diese liegt seit gut30 Jahren bei etwa 0,63; d. h. es fehlen proJahr über 35 Prozent geborene Mädchen,um die jeweilige Müttergeneration zu erset-zen. Da regelmäßig einige Jungen mehr alsMädchen geboren werden, entspricht eineNettoreproduktionsrate von etwa 0,63 einerGeburtenrate, d. h. der durchschnittlichenZahl der Geburten pro Frau, von knapp 1,4.Im Jahr 2007 betrug die durchschnittlicheKinderzahl pro Frau 1,37. Die den Bestand

erhaltende Geburtenrate liegt derzeit beietwa 2,1.

In Deutschland ist die Kinderlosigkeit daseigentliche demographische Problem. Imeuropäischen Vergleich bleiben viele Frauenkinderlos. Eine Frau, die ein Kind zur Weltbringt, bekommt sehr wahrscheinlich auchein zweites. Daher muss die Familienpolitikvor allen Dingen dazu beitragen, die Gründezu beseitigen, warum sich Paare grundsätz-lich gegen die Umsetzung eines Kinderwun-sches entscheiden.

Die Lebenserwartung, der zweite Parameter,nimmt − erfreulicherweise − kontinuierlichzu. Nach der aktuellen Sterbetafel 2005/2007 liegt die sogenannte allgemeineLebenserwartung, d. h. die Lebenserwartungeines neugeborenen Mädchens (Jungens)bei 82,3 (76,9) Jahren und damit um gutneun Jahre höher als 1970. Bis zum Jahre2050 soll sie um weitere sieben Jahre stei-gen. Im letzten Jahrhundert ist diese allge-meine Lebenserwartung um beachtliche 30Jahre gestiegen. Damit war allerdings keinesonderlich markante Erhöhung des Alten-quotienten, d. h. der Relation der Personenim Rentenalter zu denen im erwerbsfähigenAlter, verbunden. Diese Zunahme war imWesentlichen Folge

:: verbesserter Hygiene- und Ernährungs-bedingungen,

:: einer abnehmenden Säuglingssterblich-keit,

:: einer rückläufigen Zahl von Verkehrstotenund Toten aufgrund von Betriebsunfällensowie

:: sinkender Suizidraten.

Die sogenannte fernere Lebenserwartung,d. h. die Lebenserwartung, die man noch imAlter von 65 Jahren vor sich hat, ist im letz-ten Jahrhundert nämlich nur um gut achtJahre gestiegen. Seit geraumer Zeit ist nunaber eine spürbare Zunahme dieser ferne-ren Lebenserwartung zu beobachten. Dies

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ist für Sozialpolitiker besonders interessant,da die fernere Lebenserwartung die Renten-bezugsdauer bestimmt. Diese Restlebens-erwartung nimmt laut der jüngsten Bevölke-rungsvorausberechnung des StatistischenBundesamtes (Destatis 2006) im Durch-schnitt um mehr als 30 Tage pro Jahr zu.Bezogen auf das Alter 65 liegt derzeit diesefernere Lebenserwartung einer Frau (einesMannes) bei etwa 20,3 (16,9) Jahren undsoll bis zum Jahr 2050 für Frauen (Männer)auf 24,4 (21,0) Jahre ansteigen.

Die niedrige Geburtenziffer und die stei-gende Lebenserwartung bedingen in dennächsten 30 Jahren einen nur begrenztenRückgang der Gesamtbevölkerung, abereinen deutlichen Anstieg des Altenquotien-ten. Geht man von den aktuellen Projektio-nen der Bevölkerungsentwicklung inDeutschland aus, wird die Gesamtzahl derEinwohner in Deutschland in den nächsten25 Jahren nur relativ geringfügig, um knapp3 Millionen, d. h. von 82 auf 79 Millionen,zurückgehen. Zu einem markantenSchrumpfen wird es erst nach 2040 kom-men, wenn dann die geburtenstarken Jahr-gänge der bis 1970 Geborenen versterben.

Die Alterung stellt das weitaus größere Pro-blem dar. Derzeit kommen auf 100 Perso-nen, die 20 bis 64 Jahre alt sind, gut 30 über65-Jährige; im Jahre 2030 werden dies mehrals 50 sein. Die sogenannte »Bevölkerungs-pyramide«, die heute einer Wettertanneähnelt, wird deshalb in den nächsten40 Jahren ein pilzförmiges Profil annehmen,bei dem dann die am stärksten besetzteKohorte die 60-Jährigen sein werden, undjeder jüngere Jahrgang wird kleiner sein alsdie ältere Kohorte.

Die Zuwanderung, die man anders als dieFertilität und die Mortalität nicht hochrech-nen kann, kann diese Entwicklung allenfallsverlangsamen, nicht aber verhindern.Wie von den Vereinten Nationen in derStudie »Replacement Migration« berechnet,

würden die quantitativen Ausmaße der not-wendigen Zuwanderung, um z. B. den Alten-quotienten konstant zu halten, das Fas-sungsvermögen mit jährlich durchschnitt-lich 3,4 Millionen Zuwanderern bei weitemübersteigen. Ein weiteres Problem istzudem die dynamische Seite der Zuwande-rung, da auch Zuwanderer altern. Wirdzusätzlich unterstellt, dass die bei einigenZuwanderergruppen höhere Fertilität sichim Zeitverlauf an die niedrige Rate derDeutschen anpasst, ist die Alterung auchweiterhin ein ungelöstes Problem.

Auswirkungen der demographischenEntwicklung auf das WirtschaftswachstumDie beschriebene Bevölkerungsalterung und-schrumpfung haben erhebliche Auswirkun-gen auf das Wirtschaftswachstum Deutsch-lands. Die direkten Effekte auf die Entwick-lung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), andessen Verlauf die wirtschaftliche Entwick-lung gemessen wird, sind jedoch nicht ein-fach zu bestimmen. Theoretisch lässt sichzeigen, dass der Bevölkerungsrückgang undder zeitgleich einhergehende Anstieg desAltenquotienten jeweils für sich genommenzu einer Beeinträchtigung des Bruttoin-landsprodukts führen (Rürup/Gruescu2003).

In den nächsten Jahren wird sich die Rela-tion zwischen Erwerbstätigen und Nichter-werbstätigen deutlich zu Lasten derErwerbstätigen verschieben. Damit wird dieErwerbsquote der Gesamtbevölkerung deut-lich zurückgehen, da die in das Erwerbsle-ben eintretenden Geburtenjahrgänge alsFolge der seit etwa 1970 unter dem Bestanderhaltenden Niveau liegenden Geburten-raten zunehmend schwächer besetzt sind.

Aufgrund der Bevölkerungsschrumpfungwird das Arbeitsangebot sinken, wobei dasAusmaß des Rückgangs aber auch von denErwerbsquoten der Frauen und älterenBeschäftigten beeinflusst wird. Eine Erhö-hung der Erwerbsquoten kann den durch

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den demographischen Wandel induziertenRückgang des Arbeitskräfteangebots zumin-dest teilweise abmildern und daher einenpositiven Einfluss auf die Entwicklung desBruttoinlandsprodukts haben.

Die Erhöhung des Altenquotienten − unddamit letztlich auch die des Rentnerquo-tienten − bedeutet, dass die Erwerbstätigeneine immer größer werdende Zahl von Per-sonen unterstützen, die nicht mehr imErwerbsprozess stehen. Durch eine immerhöhere Belastung der Arbeitnehmer undArbeitgeber durch Lohnnebenkosten wer-den das Arbeitsangebot und die Arbeits-nachfrage geschmälert, was sich ungünstigauf das wirtschaftliche Wachstum auswirkenwird.

Kreativität und Risikobereitschaft und somitdie Zahl von Patentanmeldungen undUnternehmensgründungen nehmen mit demAlter ab. Aufgrund der Zunahme des Rent-nerquotienten kommt es daher zu einerBeeinträchtigung des technischen Fort-schritts, der zu geringeren Wachstumsratenführt. Der Rentnerquotient ist dabei einenoch relativ leicht zu beeinflussende Größe:Mit einer Heraufsetzung des Rentenein-trittsalters kann dieser verändert werden.Wesentliche – politisch beeinflussbare –Größe ist somit das Erwerbspersonenpoten-tial. Kurzfristig kann dieses durch eineErhöhung der Erwerbsbeteiligung gesteigertwerden. Mittel- bis langfristig kann dies miteiner Erhöhung der Geburtenrate kombi-niert werden.

Aus dem Rückgang der gesamtwirtschaftli-chen Erwerbsquote erwächst das zentralemakroökonomische Problem der demogra-phischen Entwicklung in Deutschland fürdie nächsten 30 Jahre. Denn damit sich beieiner im Vergleich zur Entwicklung derErwerbsbevölkerung deutlich schwächerenAbnahme der Gesamtbevölkerung − unddamit aller Konsumenten − die reale Ver-sorgung mit Gütern und Dienstleistungen

weiter auf dem derzeitigen Niveau entwi-ckeln kann, muss die kleiner werdendeErwerbsbevölkerung produktiver werden.

Wenn bis 2035 die Erwerbstätigenzahl imVergleich zur Gesamtbevölkerung um etwa15 Prozent zurückgeht, dann müssten 2035die Erwerbstätigen 15 Prozent mehr leistenals heute, um die gleiche Menge an Kon-sum- und Investitionsgütern pro Kopf derBevölkerung zu produzieren und so dasderzeitige Wachstumsniveau zu halten. Undgenau deswegen ist eine nachhaltige Famili-enpolitik neben einer Verlängerung derErwerbsphase erforderlich (Boersch-Supan2006).

Auswirkungen der demographischenEntwicklung auf die soziale SicherungDie Veränderung der altersmäßigen Bevöl-kerungszusammensetzung hat weitrei-chende ökonomische, aber auch gesell-schaftspolitische Konsequenzen. Gesell-schaftliche Alterungs- und Schrumpfungs-prozesse sind, neben den beschriebenennegativen Auswirkungen auf das Wirt-schaftswachstum, für die nachhaltige Finan-zierbarkeit der sozialen Sicherungssystemesowie deren Ausgabensituation von sehrhoher Bedeutung. Im Folgenden werdeninsbesondere die Implikationen für diegesetzliche Krankenversicherung (GKV)sowie die gesetzliche Rentenversicherung(GRV) näher betrachtet.

Wesentlicher Einflussfaktor für die Finan-zierung sowohl der GKV als auch der GRVist – allerdings mit einem unterschiedlichenWertungsmechanismus – der Rentnerquo-tient. Dessen Erhöhung bedeutet, dass dieErwerbstätigen eine immer größer wer-dende Zahl von Personen unterstützen, dienicht mehr im Erwerbsprozess stehen. Hier-durch wird die nachhaltige Finanzierungder Systeme der sozialen Sicherung beein-trächtigt. Dabei sollte nicht vergessen wer-den, dass der Rentnerquotient nicht in ers-ter Linie durch die demographische Ent-

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wicklung bestimmt wird, sondern durch dasgesetzlich fixierte Renteneintrittsalter. DerRentnerquotient ist folglich eine politisch zubeeinflussende Größe. Mit einer Heraufset-zung des Renteneintrittsalters kann dieserverändert und somit das Kranken- und Ren-tensystem entlastet werden.

Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss,das gesetzliche Renteneintrittsalter schritt-weise bis zum Jahr 2029 von derzeit 65 auf67 Jahre anzuheben, positiv zu beurteilen.Er wird zur Folge haben, dass der Rentner-quotient spürbar sinken wird. Hierdurchreduziert sich wiederum der intergenerativeUmverteilungsbedarf − nicht nur in derRentenversicherung, sondern – durch eineVerbesserung der Finanzierungsbedingun-gen – auch in der Kranken- und Pflegeversi-cherung. Und das Wachstumspotential derWirtschaft wird ebenso erhöht wie dasgesamtwirtschaftliche Steueraufkommensowie das Beitragsaufkommen der Kranken-kassen und der Rentenversicherung.

1. Aufbau und Finanzierung der gesetzlichenKrankenversicherung (GKV)Die GKV wird nach dem Umlageverfahrenfinanziert. Wenn man von steuerfinanzier-ten Bundeszuschüssen absieht bzw. voneiner Beitragsfinanzierung für die morbidi-tätsbedingten Ausgaben der Kassen aus-geht, gilt bei diesem Verfahren, dass dieSumme der jährlichen Beitragseinnahmender der jährlichen Ausgaben entsprechenmuss. Dies ist die sogenannte Bilanzglei-chung des Umlageverfahrens.

Die GKV basiert – anders als die GRV – aufeinem Drei-Generationen-Modell. Zumeinen zahlen die Rentner anders als in derRentenversicherung den gleichen Prozent-satz ihrer beitragspflichtigen Einnahmen alsBeiträge an die Krankenkassen. Dies ist fürdie Frage nach den demographischen Kon-sequenzen ein zentraler Unterschied. Zumanderen haben die Kinder als beitragsfreieMitversicherte die gleichen Ansprüche auf

eine medizinische Versorgung wie die Bei-trag zahlenden Mitglieder. Die Beschäftigtenmüssen daher mit ihren Beiträgen nicht nurdie von ihnen verursachten Gesundheits-kosten finanzieren, sondern auch die Aus-gaben für die beitragsfrei mitversichertenFamilienangehörigen, insbesondere dieKinder sowie die Differenz zwischen denGesundheitsausgaben der Rentner undderen Beitragsvolumen. Derzeit liegt dieSelbstfinanzierungsquote der Rentnerhaus-halte bei 40 Prozent.

Die Alterung im Sinne einer Erhöhung desDurchschnittsalters der Bevölkerung bzw.einer Verschiebung der Altersstruktur inRichtung einer stärkeren Besetzung derälteren Kohorten muss deshalb Auswirkun-gen auf die finanzielle Situation der GKVund damit auf den Beitragssatz haben.Dieser Demographieeffekt für die GKV lässtsich analytisch in einen Ausgabeneffekt undeinen Einnahmeeffekt unterteilen.

Ein demographischer Ausgabeneffekt resul-tiert daraus, dass die Gesundheitskosten mitdem Alter der Versicherten ansteigen. Einsteigendes Durchschnittsalter der Versi-cherten bzw. eine entsprechende Änderungder Altersstruktur der Bevölkerung bewirkt,dass die Durchschnittsausgaben je Versi-chertem steigen. In der Summe nehmen dieGesundheitsausgaben deshalb mit steigen-dem Lebensalter zu, allerdings mit einemeher degressiven Verlauf.

Ein demographischer Einnahmeeffekt kanndadurch zustande kommen, wenn die Rent-ner − im Wesentlichen nach Maßgabe desunter 100 Prozent liegenden Rentenniveaus− ein geringeres beitragspflichtiges Einkom-men haben als erwerbstätige Versicherte.Dies kann zur Folge haben, dass mit stei-gender Anzahl der Rentner im Vergleich zuden Erwerbstätigen, d. h. bei einem steigen-den Rentnerquotienten, das beitragspflich-tige Durchschnittseinkommen je Versicher-tem sinkt und Beitragssatzsteigerungen die

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Folge sind. Der Einnahmeeffekt erwächstalso aus einem Rückgang der durchschnitt-lichen beitragspflichtigen Einkommen auf-grund der Änderung der Altersstruktur.

Berechnungen auf der Basis von Daten desJahres 2004 ergeben, dass der Ausgabenef-fekt unter Konstanz der ökonomischen Rah-menbedingungen regelmäßig größer ist alsder Einnahmeeffekt (vgl. Rürup 2007). Die-sen Berechnungen zufolge steigt der durch-schnittliche GKV-Beitragssatz bis zum Jahr2030 ausschließlich aufgrund der Verschie-bung der Altersstruktur und der damit ver-bundenen Zunahme der Durchschnittsaus-gaben um etwa 2,5 Prozentpunkte.

Ein relevanter Einnahmeeffekt ist nichtnachweisbar, weil zwei gegenläufige Ent-wicklungen wirken. Zum einen sinkt auf-grund des ansteigenden Rentnerquotientendas durchschnittliche beitragspflichtige Ein-kommen. Zum anderen führen die abneh-mende Zahl der beitragsfrei mitversichertenKinder und eine steigende Erwerbsquoteder Frauen für sich genommen zu einerErhöhung der beitragspflichtigen Einkom-men pro Versichertem. Der in der demogra-phischen Entwicklung angelegte Einnahme-effekt ist mithin für die nächsten 30 Jahrefaktisch irrelevant. Generell ist der Ausga-beneffekt der Bevölkerungsalterung auf denBeitragssatz dann größer als der Einnahme-effekt, wenn die Zuwachsrate der Durch-schnittsausgaben betragsmäßig größer alsdie Wachstumsrate des durchschnittlichenEinkommens ist.

Hebt man die zur Isolierung der rein demo-graphischen Effekte notwendige Annahmeeines konstanten Rentenniveaus auf undberücksichtigt, dass nach Maßgabe des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes das »Sicherungsni-veau vor Steuern« von derzeit 52 Prozentim Interesse einer Dämpfung der Beitrags-satzentwicklung in der GRV bis 2030 auf 43Prozent abgesenkt werden soll − dies ent-spricht einem Rückgang des Bruttorentenni-

veaus von 48 Prozent auf knapp 40 Prozent−, dann kommt zu dem eben beziffertenAusgabeneffekt infolge einer dann niedrige-ren Wachstumsrate der beitragspflichtigenEinnahmen der Rentner ein den GKV-Bei-tragssatz zusätzlich erhöhender Einnahme-effekt als Konsequenz dieser Rentenreformhinzu. Dieser wird allerdings durch dievolle Verbeitragung aller betrieblichen Ver-sorgungsansprüche abgefedert.

Neben diesem ausschließlich aus der Verän-derung der Altersstruktur und der gewoll-ten Absenkung des Rentenniveaus resultie-renden Einnahmeeffekt gibt es weitere Ein-nahmeeffekte, die aus

:: steigenden Arbeitslosenzahlen,:: einer rückläufigen Lohnquote,:: Frühverrentungsmaßnahmen oder:: Veränderung der Erwerbsstrukturen

resultieren und die finanzielle Entwicklungder GKV belasten.

In der Summe waren es die genanntenEffekte, die in der jüngeren Vergangenheitzu einer Erosion der Beitragsgrundlagenführten, jedoch sind diese nicht auf diedemographische Entwicklung zurückzufüh-ren.

Bemerkenswert ist im Übrigen, dass seit 30Jahren die Leistungsausgaben der GKV inRelation zum BIP unverändert bei gut 6 Pro-zent liegen. Eine »Kostenexplosion« imgesamtwirtschaftlichen Sinne hat es dem-nach in diesem Zeitraum nicht gegeben.Ganz ohne Wirkung sind die über 200 Kos-tendämpfungsgesetze in den vergangenen30 Jahren offensichtlich nicht geblieben.Dennoch sind in diesem Zeitraum die Bei-tragssätze von 9,5 Prozent auf aktuell 15,5Prozent gestiegen.

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2. Auswirkungen der Familienpolitik aufdie GKVEntsprechend der o. g. Ziele der nachhalti-gen Familienpolitik wird nachfolgendbeschrieben, welchen Einfluss die Verfol-gung dieser Ziele auf die GKV hat.

Absicherung/sozialer AusgleichNichterwerbstätige Familienangehörige –insbesondere Kinder und nicht erwerbstä-tige Ehegatten – sind in der GKV beitragsfreimitversichert. Dieses Element der Familien-politik bewirkt zum einen eine finanzielleEntlastung von Familien, zum anderen wirdeine flächendeckende Gesundheitsversor-gung von Kindern und nichterwerbstätigenEhegatten sichergestellt.

Diese beitragsfreie Mitversicherung wird als»gesamtgesellschaftliche Aufgabe« betrach-tet und ist somit eine »versicherungsfremdeLeistung«. Ordnungspolitisch ist es geboten,die den Krankenkassen von der Politikübertragenen »gesamtgesellschaftlichenAufgaben« über Steuern zu finanzieren.Dies trägt zweifellos zur Erhöhung derDemographieresistenz der Finanzierungs-grundlagen bei.

Ein Sozialversicherungsbeitrag ist eine ArtPreis für eine Versicherungsleistung. Wer-den nun von der Politik den Sozialversiche-rungen gesamtgesellschaftliche Aufgabenübertragen und aus den Beiträgen finan-ziert, dann verwandelt sich ein Beitrag nachMaßgabe des Volumens dieser versiche-rungsfremden Leistungen in eine beschäfti-gungsfeindliche implizite Steuer auf dieArbeitseinkommen bis zur Beitragsbemes-sungsgrenze. Eine Steuer ist − im Gegensatzzu einem Beitrag − eine Zwangsabgabe ohneAnspruch auf Gegenleistung. Daraus folgt,dass den Kassen übertragene gesamtgesell-schaftliche Aufgaben nicht aus arbeitskos-tenrelevanten Beiträgen der Mitgliederfinanziert werden sollen, sondern aus demallgemeinen Steueraufkommen. Bei der bei-tragsfreien Mitversicherung handelt es sich

um eine Leistung der Familienpolitik, derenSteuerfinanzierung über Bundeszuschüsseordnungspolitisch geboten ist.

ErwerbsquoteDie Auswirkungen der Verfolgung einernachhaltigen Familienpolitik auf die GKVsind asymmetrisch: Eine steigende Erwerbs-quote von Frauen führt zu einer Verbesse-rung der Einnahmeseite bzw. Entlastung derFinanzierung der GKV. Eine bessere Absi-cherung der Frauen ist hiermit nichtzwangsweise verbunden, da aufgrund derbeitragsfreien Mitversicherung auch ohneErwerbstätigkeit ein Anspruch auf alle Leis-tungen der GKV bestand. Da die Einnahme-seite jedoch aufgrund der Alterung undSchrumpfung der Gesellschaft sowie ande-rer nicht-demographiebedingter Ursachenin den letzten Jahren stark geschwächtwurde, stellt die Erhöhung der Erwerbstä-tigkeit von Frauen eine Notwendigkeit zurSicherung der nachhaltigen Finanzierungder GKV dar.

FertilitätDas dritte Ziel einer nachhaltigen Familien-politik, eine steigende Fertilitätsrate, würde– im Gegensatz zur Erhöhung der Erwerbs-tätigkeit von Frauen – zu einem Steigen derBeitragssätze und somit zu einer fiskali-schen Belastung der GKV führen.

Die Zahl der beitragsfrei mitversichertenKinder sinkt zurzeit, was für sich genom-men die beitragspflichtigen Einkommen proVersichertem erhöht. Auf den Einnahme-effekt wirken somit zwei gegenläufigedemographische Entwicklungen. Zum einennimmt die Anzahl der Rentner zu. Zumanderen aber sinkt mit der Geburtenzahlgleichzeitig die Anzahl der Kinder, d. h. derPersonen mit einer Selbstfinanzierungs-quote von Null. Dies hat zur Folge, dass diedurchschnittlichen beitragspflichtigen Ein-kommen je Versichertem ggf. nicht zurück-gehen.

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Sollten – was zu erhoffen ist, sich aber der-zeit noch nicht abzeichnet – die Geburten-zahlen ansteigen, dann würde dies dämp-fend auf die versicherungspflichtigen Ein-kommen je Versichertem wirken. Langfristigwürden die zusätzlich Geborenen in daserwerbsfähige Alter kommen und somit eineden Beitragssatz dämpfende Wirkung ent-falten.

Kurzfristig kommt es folglich durch dieErhöhung der Fertilitätsrate zu Ausgaben-steigerungen in der GKV, langfristig führtjedoch die Verfolgung der Ziele der nach-haltigen Familienpolitik, also die Erhöhungvon Frauenerwerbsquote und Fertilitätsrate,zu einer Verbesserung des finanzwirtschaft-lichen Status der GKV. Das dritte Ziel, dersoziale Ausgleich, ist eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe und sollte folgerichtigüber Bundeszuschüsse finanziert werden.

3. Aufbau und Finanzierung der gesetzlichenRentenversicherungDie GRV wird wie auch die GKV nach demUmlageverfahren finanziert. Somit gilt auchin diesem Sozialversicherungszweig diesogenannte Bilanzgleichung des Umlagever-fahrens: Die Summe der jährlichen Beitrags-einnahmen muss der der jährlichen Aus-gaben entsprechen. Der GRV liegt jedochanders als der GKV ein Zwei-Generationen-Modell zugrunde. Die Erwerbstätigen finan-zieren mit ihren Beiträgen die laufendenRenten der jeweiligen Rentnergeneration.Hierbei gilt das Prinzip der Teilhabeäquiva-lenz, das heißt die in der Rentenphaseausgezahlten Leistungen sind abhängig vonden in der Erwerbsphase gezahlten Bei-trägen.

Im Bereich der sozialen Sicherungssystemeund somit auch in der GRV führen bei einerAlterung der Gesellschaft die umlagefinan-zierten Systeme dazu, dass junge Menschenverhältnismäßig höhere Lasten tragen müs-sen. Es kommt immer zu einer intergenera-tiven Umverteilung zugunsten der Älteren.

Da die Kosten und Konsequenzen derBevölkerungsalterung real sind und nicht»wegreformiert« werden können, muss ausGründen der Generationengerechtigkeitversucht werden, diese Kosten möglichstgleichmäßig über alle Generationen zu ver-teilen.

Wenn – als Folge der Bevölkerungsentwick-lung – zunehmend weniger Beitragszahlerfür mehr Rentner aufkommen, müssen inumlagefinanzierten Systemen die Beitrags-sätze steigen, wenn man die Rentenleistun-gen unverändert lässt. Steigende Beitrags-sätze bedeuten einerseits steigendeArbeitskosten und damit eine Verschlechte-rung der Beschäftigungsbedingungen derBeitragszahler. Andererseits bringen sieeine Verschlechterung der Beitragsrenditefür die Jüngeren mit sich, da sie, um diegleichen Versorgungsansprüche zu erwer-ben, sukzessive höhere Beitragssätze zahlenmüssen. Hierdurch fällt die Beitragsrenditeder jüngeren Generationen.

Generationengerechtigkeit kann dahinge-hend interpretiert werden, dass die unum-kehrbaren Kosten und Konsequenzen derAlterung nicht einer Generation angelastet,sondern auf alle Generationen verteilt wer-den. Die generative Solidarität, auf derUmlagesysteme basieren, legt es nahe, einenTeil dieser Kosten auch den Rentnern inForm eines sinkenden Rentenniveausanzulasten.

Auf diese Herausforderungen hat die deut-sche Rentenpolitik in den letzten Jahren ineiner Art und Weise reagiert, die im Aus-land – anders als bei uns – als eine durchausintelligente Blaupause zur Lösung der inder Bevölkerungsalterung angelegtenRentenprobleme angesehen wird. DieserRentenpolitik liegt seit dem Jahr 2000 eindoppelter Paradigmenwechsel zugrunde:Der erste Paradigmenwechsel besteht indem Übergang von einer »ausgabenorien-tierten Einnahmepolitik« zu einer »einnah-

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meorientierten Ausgabenpolitik«. Von einerPolitik, bei der das Leistungsniveau vor-gegeben war und die Aufgabe der Politik inder Bereitstellung der erforderlichen Mittelbestand, ging man über zu einer Renten-politik, bei der ein langfristiger Beitragspfad(20 Prozent bis 2020; 22 Prozent bis 2030)vorgegeben wird und die Leistungen sich andiesen vorgegebenen Einnahmen orientie-ren. Umgesetzt wird diese Politik durchdas seit 2002 geltende Altersvermögens-Ergänzungsgesetz und das Rentenversiche-rungs-Nachhaltigkeitsgesetz aus dem Jahr2004 oder, technisch formuliert, durch dieneue Rentenformel mit der »Riester-Treppe«und dem »Nachhaltigkeitsfaktor«.

Die »Riester-Treppe« bedeutet im Ergebnis,dass von 2003 bis 2013 die jährliche Ren-tenanpassung schrittweise gekürzt wird,sofern die Entgeltsteigerungen des Vorjah-res dies erlauben. In den Jahren 2008 und2009 wird die Rentenanpassung durch dieRiester-Treppe ausgesetzt. Diese Stufenwerden in den Jahren 2012 und 2013 nach-geholt (Gesetz zur Rentenanpassung 2008).Der »Nachhaltigkeitsfaktor« in der Renten-anpassungsformel bewirkt, dass eine Verän-derung der Relation von Rentenempfängernzu Beitragszahlern – sei diese Veränderungarbeitsmarktmäßig oder demographischbedingt – sich in einer Dämpfung der prinzi-piell lohnorientierten Anpassungsdynamikder Renten niederschlägt. Diese Dämpfungbeträgt im Durchschnitt etwa 0,3 Prozent-punkte pro Jahr, jedoch nimmt dieserDämpfungseffekt demographisch bedingt imZeitverlauf zu. Allerdings ist auch eineAnpassung in entgegengesetzter Richtungmöglich, so wirkte der Nachhaltigkeitsfaktorin den Jahren 2007 und 2008 – und gegebe-nenfalls auch noch 2009 – rentenanpas-sungssteigernd.

Die neue Rentenformel zielt auf eine deut-lich das Rentenniveau senkende Entkoppe-lung der Rentenentwicklung von der Lohn-entwicklung ab. »Riester-Treppe« und

»Nachhaltigkeitsfaktor« führen auf der einenSeite dazu, dass der Beitragssatz bis 2030die 22-Prozent-Marke nicht überschreitet,allerdings um den Preis, dass das Bruttoren-tenniveau von derzeit 48 Prozent bis 2030auf unter 40 Prozent bzw. die »neue« Netto-versorgung vor Steuern von derzeit gut52 Prozent auf 43 Prozent absinkt. Eine wei-tere Maßnahme besteht in der schrittweisenAnhebung des gesetzlichen Rentenalters biszum Jahr 2029 von derzeit 65 auf 67 Jahre.

Der zweite Paradigmenwechsel bestand inder neuen Zielstellung, ein möglichstflächendeckendes System der kapitalge-deckten Ergänzungsversorgung zu etablie-ren. Dieser Wechsel resultiert daraus, dassdas Ziel der Lebensstandardsicherung alleindurch die gesetzliche Rente aufgegebenwerden musste. In der Zukunft soll nur eineMischung aus gesetzlicher Rente und –staatlich geförderter – ergänzender privaterund betrieblicher Vorsorge ein Versor-gungsniveau gewährleisten, welches an dasEinkommensniveau der Erwerbsphaseanknüpft. Umgesetzt wird dieser zweiteParadigmenwechsel in Richtung einesmischfinanzierten Alterssicherungssystemsdurch das seit 2002 in Kraft getreteneAltersvermögensgesetz und das seit dem1.1.2005 wirksame Alterseinkünftegesetz(mit dem Umstieg zur nachgelagertenBesteuerung).

Im Jahr 2000 deckte die gesetzliche Rentein Deutschland in einem durchschnittlichenZwei-Personen-Hauhalt im Mittel knapp85 Prozent des Alterseinkommens ab, aufBetriebsrenten entfielen knapp 6 Prozentund fast 10 Prozent auf die private Vor-sorge. Wenn das Altersvermögensgesetzund das Alterseinkünftegesetz ihre volleWirkung entfaltet haben, soll sich in derlängeren Frist, d. h. in den nächsten 40 Jah-ren, der Anteil der betrieblichen und priva-ten Vorsorgeformen auf etwa 40 Prozentdes Alterseinkommens erhöhen.

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116 117 Bert Rürup/Anja Ranscht: Familienpolitik und soziale Sicherung

Um den Preis deutlicher Leistungsrück-nahmen ist das demographiebedingteProblem der gesetzlichen Rentenversiche-rung nach den jüngsten Reformen weit-gehend gelöst. Noch nicht gelöst ist jedochdas Problem der ausreichenden undflächendeckenden kapitalgedeckten Zusatz-vorsorge.

4. Auswirkungen der Familienpolitik aufdie GRVIm Folgenden wird der Einfluss familien-politischer Ziele auf die GRV beschrieben.

Absicherung/sozialer AusgleichDie GRV umfasst kinderbezogene Leistun-gen, denn Erziehungszeiten werden als bei-tragsrelevante Zeiten anerkannt. Da die Kin-dererziehungszeiten zwar nicht zwingend,aber faktisch immer den Müttern zugerech-net werden, führt dies zu einer Verbesse-rung der eigenständigen sozialen Sicherungder Frau. Dem Staat obliegt eine besondereVerpflichtung, Familien mit Kindern mate-riell zu unterstützen. Diese Verpflichtunggilt auch für den Bereich der Altersversor-gung, da »ein Ehegatte – bislang in denmeisten Fällen die Frau – während der Kin-dererziehung gar nicht oder nur einge-schränkt in der Lage ist, eigene Rentenan-sprüche aufzubauen« (Deutscher Bundestag1985). Defizite bei der Altersversorgunginfolge der durch die Kindererziehung ver-ursachten Versicherungslücken werdensomit zum Teil ausgeglichen.

Die Bewertung der Kindererziehungszeitenentspricht einem Durchschnittsentgelt, sodass der anzurechnende Wert der Kinderer-ziehungszeiten 0,0833 Entgeltpunkten proMonat bzw. einem Entgeltpunkt pro Jahrentspricht. Eine additive Anrechnung vonEntgeltpunkten für Kindererziehungszeitenauf anderweitig erworbene Entgeltpunkte indemselben Zeitraum ist vorgesehen. Maxi-mal wird jedoch nur der Wert an Entgelt-punkten berücksichtigt, der mit einem biszur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze

versicherten Einkommen erreicht werdenkann.

Mit dem Altersvermögensgesetz des Jahres2000 wurde die Anrechenbarkeit von Erzie-hungsleistungen in der GRV ausgebaut. DiePflichtbeiträge werden für die Zeit von derGeburt des ersten Kindes bis zur Voll-endung des zehnten Lebensjahres desjüngsten Kindes um maximal 50 Prozent bismaximal zu den Beiträgen aufgestockt, wel-che mit einem Durchschnittseinkommenerreicht werden.

Die Berücksichtigung von Kindererzie-hungszeiten wird vom Gesetzgeber alsgesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen.Dies wird zum einen in der Gesetzesbegrün-dung deutlich, in der es heißt, dass »demStaat eine besondere Verpflichtung obliegt,Familien mit Kindern materiell zu unterstüt-zen« (Deutscher Bundestag 1985), und zeigtsich zum anderen darin, dass die renten-rechtliche Berücksichtigung von Kinderer-ziehungszeiten über Steuern – und damitvon allen Bürgern entsprechend ihrer Leis-tungsfähigkeit – finanziert wird. Begründetwird diese Finanzierung über Steuermittelmit der bestandssichernden Bedeutung vonKindern, die als gesamtwirtschaftliche Auf-gabe anzusehen ist.

Die Höhe der Beitragszahlungen des Bundesrichtet sich nach der Anzahl der Kinderunter drei Jahren, dem Durchschnittsentgeltder Versicherten und dem aktuellen Bei-tragssatz. Für das Jahr 2005 wurden dieBeitragszahlungen für Kindererziehungszei-ten auf 11,7 Mrd. Euro festgelegt.

Es wurden immer wieder Reformvorschlägeunterbreitet, mit denen die Berücksichti-gung von Kindererziehungszeiten in derGRV ausgebaut werden soll. Es wurde z. B.eine kinderabhängige Staffelung des Bei-tragssatzes vorgeschlagen. Dieser Vorschlagist aus verschiedenen Gründen jedoch ab-zulehnen:

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:: Erstens würden durch eine Beitragssatz-staffelung die Erziehungsleistungen inAbhängigkeit vom Einkommen unter-schiedlich gewürdigt – mit der Folgeerheblicher sozialer Ungleichgewichte.Erziehende würden umso mehr entlastet,je höher ihr beitragspflichtiges Einkom-men wäre.

:: Zweitens würde es zu verteilungspolitischfragwürdigen Auswirkungen kommen, danicht rentenversicherte Erziehende (z. B.Selbständige, Beamte, Hausfrauen undSozialhilfeempfänger) nicht entlastet wür-den und ihre nicht weniger wertvolleErziehungsleistung somit nicht honoriertwürde.

:: Drittens würden – durch eine Beschrän-kung der Finanzierung der kinderzahlab-hängigen Beitragsstaffelung auf die Versi-cherten der GRV – Kinderlose, die auf-grund ihrer Berufstätigkeit nicht Mitglie-der der GRV sind (Beamte, Selbständigeetc.), begünstigt werden, da sie sich nichtan der Finanzierung des Kinderbonusbeteiligen müssten.

:: Viertens würde von Versicherten mithohem Einkommen nur der Einkommens-anteil bis zur Beitragsbemessungsgrenzezur Finanzierung herangezogen werden.Demgegenüber würde bei Versicherten,deren Einkommen unterhalb der Beitrags-bemessungsgrenze liegt, das vollständigeEinkommen zur Gegenfinanzierung heran-gezogen werden. Es käme somit zu einerrelativen Bevorzugung von Versichertenmit einem Einkommen über der Beitrags-bemessungsgrenze.

:: Fünftens würde durch eine Beitragsstaffe-lung nach Kinderzahl das Grundprinzipder Teilhabeäquivalenz in der GRV konter-kariert. Mit unterschiedlichen Beitrags-zahlungen würden gleiche Rentenansprü-che erworben bzw. für gleich hoheAnsprüche unterschiedliche Beiträgeerhoben werden.

Da familienpolitische Maßnahmen nicht nurden Systemen der Sozialversicherung, son-

dern allen gesellschaftlichen Bereichenzugute kommen, stellen sie eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe dar und werdendaher in der GRV folgerichtig auch gesamt-gesellschaftlich über Steuern finanziert.Eine Differenzierung zwischen Versichertenmit Kindern und Versicherten ohne Kinderauf der Beitragsseite und/oder Leistungs-seite in der GRV ist abzulehnen. Sie lässtsich weder juristisch noch ökonomischrechtfertigen.

ErwerbsquoteEine steigende Erwerbsquote von Frauenhat unterschiedliche Auswirkungen auf dieGRV: Zunächst wirkt sie entlastend für dieGRV, da sich die Beitragszahler-Rentner-Relation verbessert. In einem umlagefinan-zierten System, in dem die derzeitigen Bei-tragszahler für die Rente der aktuellenRentner aufkommen, ist diese Relation vongroßer Wichtigkeit. Zweitens verbessertsich die Versorgungssituation der Familiensowie der nun erwerbstätigen Frauen, dadiese höhere Beitragspunkte erwerben undsomit im Rentenalter ein höheres Einkom-men beziehen. Dieses höhere Haushaltsein-kommen hat zur Folge, dass auch das Risikoder Altersarmut sinkt. Drittens kommt esaufgrund der durchschnittlich geringerenEinkommen von Frauen zu einer Dämpfungder jährlichen Rentenanpassung. Dies istauf die Ausgestaltung der Rentenanpas-sungsformel zurückzuführen, die auf dieEntwicklung der Bruttolohn- und Gehalts-summe je durchschnittlich beschäftigtemArbeitnehmer abstellt. Sinkt das durch-schnittliche Arbeitsentgelt, fällt die Renten-anpassung im darauffolgenden Jahr geringeraus.

FertilitätNicht wenige Frauen kehren nicht unmittel-bar nach der Geburt in ihre sozialversiche-rungspflichtige Vollzeitbeschäftigungzurück. Vielmehr widmen sie sich eine Zeit-lang ausschließlich der Kindererziehungoder nehmen eine Teilzeitbeschäftigung auf.

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118 119 Bert Rürup/Anja Ranscht: Familienpolitik und soziale Sicherung

Eine nachhaltige Familienpolitik hat somitkurzfristig Auswirkungen auf die Einnah-men der GRV. Längerfristig werden die Kin-der jedoch zu Beitragszahlern und entlastendamit das Rentenversicherungssystemdurch eine verbesserte Beitragszahler-Rent-ner-Relation.

Wie auch für die GKV lässt sich für die GRVfeststellen, dass die Ziele der nachhaltigenFamilienpolitik langfristig mit den Interes-sen der GRV konform sind. Kurzfristig kannes allerdings durch ein Ansteigen der Frau-enerwerbsquote zu einem Sinken der Ren-tenanpassung kommen sowie durch einesteigende Fertilitätsrate zu Mehrausgabenbzw. Mindereinnahmen. Auch für diesenSozialversicherungszweig ist zu betonen,dass der soziale Ausgleich – in Form einerBerücksichtigung von Kindererziehungszei-ten – ökonomisch sinnvoll über das Steuer-system finanziert wird.

Eine Familienpolitik zur Erhöhung vonFrauenerwerbsquote und FertilitätsrateZiel dieses Beitrags war es, die Wirkungs-mechanismen zwischen Familienpolitik,demographischer Entwicklung und densozialen Sicherungssystemen am Beispielder GKV und der GRV zu analysieren. Eskonnte gezeigt werden, inwieweit diebetrachteten Sozialversicherungszweige zurAbsicherung von Familien in Form von bei-tragsfreier Mitversicherung und Berücksich-tigung von Erziehungszeiten beitragen.Weiterhin konnte gezeigt werden, dass auchdie Verfolgung weiterer Ziele nachhaltigerFamilienpolitik – wie die Erhöhung derFrauenerwerbsquote sowie der Fertilitäts-rate – langfristig zur Verbesserung derFunktionsfähigkeit der betrachteten Sozial-versicherungszweige beiträgt. Folglich hatdie Förderung der Ziele der nachhaltigenFamilienpolitik auch positive Auswirkungenauf die nachhaltige Finanzierung der Sozial-versicherungszweige. Nachhaltig ist einSozialversicherungssystem in diesemZusammenhang dann finanziert, wenn auf

der Basis des vorgegebenen bzw. geplantenBeitragsregimes in der Zukunft keine unge-planten Leistungsrücknahmen erforderlichsind bzw. wenn die geplanten Leistungszu-sagen keine ungeplanten Beitragssatzerhö-hungen erforderlich machen.

Alle Politikmaßnahmen, die zum Ziel haben,die Konsequenzen der Bevölkerungsent-wicklung abzufedern, setzen letztlichvoraus, dass neugeborene Menschen aufge-zogen und erzogen, ausgebildet undbeschäftigt werden. Daher führt kein Wegan einer nachhaltigen Familienpolitik vor-bei, die durch eine Erhöhung der Geburten-rate zu einer langfristig stabilen Bevölke-rung führen kann und durch eine Erhöhungder Erwerbsbeteiligung von Frauen dasErwerbspersonenpotential auch kurzfristigerhöht bzw. stabilisiert. Denn ein einzelnesIndividuum ist – dank des Sozialstaates –nicht auf seine Reproduktion angewiesen,eine Gesellschaft hingegen schon. Und allerErkenntnis nach sind alternde Gesellschaf-ten mit einem Mangel an Kindern nur wenigdynamisch.

Zum Abschluss bietet sich deshalb ein Zitatdes dänischen Soziologen Gösta Esping-Andersen an: »Als Deutschland jung war,wurden die sozialen Sicherungssysteme aus-gebaut, gerade für das Alter. Jetzt, woDeutschland altert, brauchen Kinder,Jugendliche und Familien Unterstützung.«

Literatur

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Deutscher Bundestag 1985: Bundestags-Drucksache 10/2667, S. 28, Bonn

Eurostat 2009: Europäische Statistik. URL: http://epp.eu-rostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/eurostat/home/

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Organisation for Economic Cooperation and Development(OECD) 1998: The macroeconomic implications of ageingin a global context, Economics department workingpapers 193, Paris

Rürup, B. 2007: Was kostet Gesundheit 2030?, in: G + GGesundheit und Gesellschaft, 10. Jg., Heft 3, S. 22–28(Vortrag anlässlich einer Veranstaltung zum 10-jährigenBestehen der AOK Sachsen, 7. Februar 2007)

Rürup, B./Gruescu, S. 2003: Nachhaltige Familienpolitik imInteresse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gut-achten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie,Senioren, Frauen und Jugend, Berlin

Rürup, B./Gruescu, S. 2004: Familienpolitik ist Wachs-tumspolitik, in: Kinder? Kinder!, Politik für Familien undKinder (Perspektive 21, Brandenburgische Hefte für Wissen-schaft und Politik, Heft 23, S. 27–35)

Schmähl, W./Rothgang, H./Viebrok, H. 2006: Berücksichti-gung von Familienleistungen in der Alterssicherung –Analyse und Folgerungen aus ökonomischer Sicht,Deutsche Rentenversicherung – Schriften, Band 65,Bad Homburg

Vereinte Nationen. Replacement Migration 2000: Is it asolution to declining and ageing populations? UnitedNations Population Division, Department of Economicand Social Affairs, New York

Zimmermann, K. 1984: Grenzen einer Bevölkerungspolitikdurch Familienpolitik, in: Wirtschaftsdienst 1984/IV,S. 180–185

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120 121 Barbara Riedmüller:Ein neues Geschlechterverhältnis?Familienpolitik muss sich veränderten Realitäten anpassen

Lange Zeit orientierte sich die deutsche Familienpolitik am herkömmlichen Ernährermodell.Barbara Riedmüller zeichnet nach, wie hier in den 1990er Jahren auf der Bundesebene all-mählich ein Politikwandel einsetzte. Das veränderte Erwerbsverhalten von Frauen wird seit-her zunehmend stärker berücksichtigt; allerdings wirken im staatlichen Handeln – politischgewollt oder ungewollt – weiterhin allzu oft traditionelle Muster nach. Auch die vielfach disku-tierten und erwünschten neuen Geschlechterarrangements stoßen auf zählebige Realitäten;das Geschlechterverhältnis wandelt sich auf den verschiedenen Ebenen nur langsam.

Die Familie wurde in Deutschland lange Zeitals Ort des Privaten betrachtet. Der Staatbeschränkte sein Interesse an der Familie,indem er deren Innenleben als außerhalbder staatlichen Sphäre befindlich definierte.Familienpolitik war entsprechend dieserPrivatheit institutionell unterentwickelt undin der Regel auf das »Nicht-Funktionieren«beschränkt. Entsprechend dieser Logik desVerhältnisses von Staat und Familie struktu-rierte sich das Geschlechterverhältnis. Wäh-rend staatliches Handeln auf das Umfeldder Familie zu deren Vorteil zielt, bleibt dieBeziehung der Familienmitglieder unterei-nander lange Zeit frei von staatlichen Ein-griffen.

Geschlechterverhältnis und sozialeSicherungHistorisch betrachtet hat diese Konstellationvon privater Sphäre der Familie und Staat-lichkeit die Trennung der Sphären zwischenden Geschlechtern institutionalisiert. Denndie mit der Entstehung moderner Staatlich-keit vorgefundene gesellschaftliche Wert-orientierung geschlechtsspezifischerArbeitsteilung, die die Frau dem Haus, denMann der öffentlichen Sphäre zuweist, wirdals normative Grundlage staatlichen Han-delns institutionalisiert. Diese Trennung dergesellschaftlichen Sphären in privat undöffentlich ist in den ideengeschichtlichenArbeiten der Frauenforschung weitgehendherausgearbeitet worden (Ostner 1978).Das Leitbild der Familienpolitik folgt diesernormativen Ausgangslage, indem dem Manndie Ernährerrolle, der Frau das Haus unddie Kindererziehung obliegen. Entspre-chend dieser normativen Vorgabe wird derstaatliche Schutz der Familie an den Werten

geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung aus-gerichtet (Art. 6 GG: (1) Ehe und Familiestehen unter besonderem Schutz der staatli-chen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung derKinder sind das natürliche Recht der Elternund die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.Über ihre Betätigung wacht die staatlicheGemeinschaft). Die Förderung der Familiedurch Steuern, das Splitting-Verfahren, dieabgeleiteten Ansprüche der Frau im Systemsozialer Sicherung und die Zurückhaltungdes Staates und der Parteien bezüglich derIntegration der Frauen in den Arbeitsmarktlassen sich wie ein roter Faden durch dieFamilienpolitik in Deutschland bis in dieneuere Zeit nachzeichnen. In Abgrenzungzur Rolle der »Frau im Sozialismus« wird inWestdeutschland nach 1945 das Hausfrau-enmodell propagiert, während die DDR dieBerufstätigkeit der Frauen zum familienpoli-tischen und sozialpolitischen Normalfallmacht. Unterschiede zwischen West und Ostkann man heute noch in verschiedenenWertorientierungen bezüglich der Berufstä-tigkeit der Frau beobachten. Zusammenfas-send kann gesagt werden, dass die west-deutsche Familienpolitik nach 1945 bis indie 1970er Jahre an der Normalität desmännlichen Ernährers orientiert bleibt(Gerlach 2004).

Der Auf- und Ausbau des Sozialstaates inDeutschland folgt diesem Leitbild desmännlichen Ernährers, indem die Erwerbs-arbeit des Mannes privilegiert wird. Die fürDeutschland typische strikte Bindung sozia-ler Leistungen an den Status der Erwerbsar-beit benachteiligt Frauen im System sozialerSicherung, indem sie auf die vom Mannabgeleiteten Ansprüche verwiesen werden

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und die in der Familie geleistete Arbeitnicht anerkannt wird. Kindererziehung undPflege von Familienangehörigen wird erstspät mit den Rentenreformen der 1980erund 1990er Jahre als Ausgleich für »ver-lorene« Erwerbsarbeit berücksichtigt. DerSozialstaat negiert die Ungleichheit derArbeit von Mann und Frau und lebt gewis-sermaßen von der normativen Substanz dergeschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.Dass Frauen am Arbeitsmarkt nicht odernur geringfügig teilhaben, spiegelt sichunmittelbar im Umfang sozialer Leistungenwider. Quasi als Kompensation dieses Aus-schlusses aus dem Arbeitsmarkt werdenauch bei der Weiterentwicklung des Bun-dessozialhilfegesetzes Ausnahmen vomZwang zur Erwerbsarbeit fürsorgerischbegründet, wenn Kindererziehung stattfin-det. Das Sozialhilferecht lässt der Frau biszur Einschulung der Kinder die Freiheit,nicht am Arbeitsmarkt teilzuhaben. In derArbeitsmarktförderung wird die Versorgungder Kinder befristet zum Ausnahmefall undversperrt den Zugang zu Leistungen wieetwa Umschulung. Auch die Hartz-IV-Gesetzgebung wiederholt derartige Ausnah-mebestände. Die strukturelle Differenz vonsozialstaatlichen Regelungen bei der Siche-rung von Erwerbs- und Familienarbeit istimmer dann zum Nachteil der Frauen, wennallein Erwerbsarbeit den Zugang zu sozialenLeistungen aufbaut. Dass hier eine norma-tive Entscheidung im Hinblick auf dieBewertung der Arbeit von Mann und Fraustattgefunden hat, die in Zukunft in Fragegestellt werden könnte, liegt auf der Hand.

Die Folgen für die soziale Sicherung derFrau sind offensichtlich. Frauen sind inhohem Maße von Armut betroffen. Sie stel-len als Alleinerziehende in den vergangenenJahren eine immer größere Gruppe vonSozialhilfeempfängerinnen bzw. Hartz-IV-Empfängerinnen dar. Vor allem Kinder sinddaher besonders von Armut betroffen. Auchdie Teilzeitbeschäftigung von Frauen hängtmit einer hohen Rate von Kinderarmut

zusammen (vgl. OECD 2007). Weil Frauen inbesonderem Maße im Segment ungesicher-ter bzw. geringfügiger Beschäftigung tätigsind, zeigt sich der Trend zu einer Verfesti-gung von Armut deutlich (vgl. DIW 2007).Vor allem die Benachteiligung von Frauen inden Systemen der Alterssicherung ist seitvielen Jahren Thema (vgl. Geißler 1976).Aktuell wirken sich die durch Familienar-beit unterbrochene Erwerbsarbeit vonFrauen und ihr prekärer Erwerbsstatus inder gesetzlichen Rentenversicherung alsUngleichheit zwischen Mann und Frau aus.Frauen haben nach wie vor eine höhereArmutsrate, ihr Armutsrisiko im Alterbeträgt aktuell 14 Prozent gegenüber 11Prozent von Männern (Eurostat 2008). DieHöhe der Alterseinkommen differiert lautder ASID-Studie 2003 zwischen Männernund Frauen erheblich (TNS Infratest 2005).

Auf dem Weg zu neuen Geschlechter-arrangements? Wandel und Kontinuitätenin der FamilienpolitikWelchen Einfluss die staatliche Förderungder Familie in der normativen Tradition desmännlichen Ernährermodells auf dasErwerbsverhalten von Frauen hat bzw.gehabt hat, ist empirisch nicht untersuchtworden – wenn sie auch in der parteipoliti-schen Debatte und in wissenschaftlichenDiskussionen der steuerlichen Regulierungdes Ehegattensplittings als ein starkerAnreiz auf Nichterwerbsarbeit und den Sta-tus der Arbeit betrachtet wird. Unterstelltman bei den Beteiligten ökonomisch ratio-nales Verhalten, ist diese Behauptung plau-sibel. Empirisch gesichert ist, dass sichsowohl das Familienverhalten wie dieErwerbsneigung verändert haben. DerTrend zum Arbeitsmarkt kann gewiss nichtals Folge einer neuen Familienpolitik inter-pretiert werden. Vielmehr ist er der Tatsa-che geschuldet, dass Frauen heute einen mitMännern vergleichbaren Bildungsgrad auf-weisen und dass die Frauen immer mehrzum Familieneinkommen beitragen müssen.Dem entspricht auch die höhere Teilhabe

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122 123 Barbara Riedmüller: Ein neues Geschlechterverhältnis?

am Arbeitsmarkt. Die Erwerbsneigung vonFrauen nimmt insgesamt kontinuierlich zu,zeigt aber im Zusammenhang mit Kinderneine Differenzierung zwischen den Frauen.Die bekannte Tatsache, dass hochqualifi-zierte Frauen in Deutschland eine niedrigeGeburtenrate aufweisen, steht neben demBefund, dass die Teilhabe am Arbeitsmarktmit der Zahl der Kinder korreliert und derErfolg am Arbeitsmarkt höchst unterschied-lich ausfällt. Zumindest ist dies in Deutsch-land der Fall.

Ungeachtet dieses für das Familienverhaltenvon Frauen nicht unwichtigen Kriteriumsder Differenz innerhalb der Gruppe vonFrauen kann aber festgehalten werden, dassder Wunsch von Frauen, am Arbeitsmarktteilzuhaben, ungebrochen anhält und sichmit dem Wunsch nach Familie verbindet(vgl. Shell-Studie 2006). Gleichzeitig mitdem Erwerbsverhalten von Frauen werdenFamilie und Ehe instabiler und neue Formenvon Partnerschaft normaler.

Dieser Tendenz der Instabilität von Familieentspricht der Befund, dass Frauen wegenFamilie und Kindern nach wie vor ihreErwerbsarbeit unterbrechen. 2003 unter-brechen 26,5 Prozent ihre Erwerbsarbeit

wegen der Kinder (Eurostat 2003). Interes-sant ist, dass aber nur 5,7 Prozent der Paaresich dieses Modell wünschen, während 52,3Prozent tatsächlich dieses Modell leben(OECD 2001).

Mit Blick auf dieses veränderte Erwerbs-verhalten von Frauen und im Vergleich zuanderen Ländern hat sich die deutscheFamilienpolitik in jüngster Zeit auf die Ver-einbarkeit von Familie und Erwerbsarbeitkonzentriert. Vor allem von den skandinavi-schen Ländern kann man lernen, dassFamilie und Erwerbsarbeit kein Gegensatzsein muss. Die Frage ist nun, ob sich auchdie deutsche Familienpolitik vom Modelldes männlichen Ernährers abwendet, d. h.ob sich ein Wertewandel vollzieht, der demveränderten Erwerbs- und Familienverhal-ten von Frauen entspricht.

Bis in die 1990er Jahre förderte die deut-sche Familienpolitik das Ernährermodellmit Ausnahme weniger Programme zumWiedereinstieg in das Berufsleben im Rah-men des Arbeitsförderungsgesetzes. Es gabzwar eine Öffnung seitens der Politik inRichtung Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie, aber die soziale Wirklichkeit entsprachdiesem Modell nicht. Ein Wandel des Leit-

Abbildung 12: Erwerbstätigenquote von Frauen mit Kindern nach Zahl der Kinder undVoll-/Teilzeittätigkeit (2005)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2007

Vollzeitquoten (Selbsteinstufung der Befragten)Teilzeitquoten (Selbsteinstufung der Befragten)

mit 1 Kind

mit 2 Kindern

mit 3 und mehr Kindern

mit 1 Kind

mit 2 Kindern

mit 3 und mehr Kindern

20,8

13,4

10,9

42,2

39,9

22,2

In % aller Frauen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren ohne vorübergehend Beurlaubte (z.B. Elternzeit)

Alte Bundesländer

40,8

47,3

36,4

24,2

27,5

21,6

Neue Bundesländer

0 10 20 30 40 50 60 70 80

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bildes der deutschen Familienpolitik kamspät und ist im Kontext der demographi-schen Entwicklung zu verstehen. Erst in denvergangenen Jahren, beginnend mit der rot-grünen Regierung, verlor die Familienpoli-tik allmählich ihre Randposition. Ein neuesThema tauchte auf: die Unterversorgungvon Kindergartenplätzen und Kindertages-stätten, die den Frauen eine Erwerbstätig-keit ermöglichen sollen. Dieses Ziel wurdeaus einem anderen Politikfeld, nämlich derBeschäftigungspolitik, importiert. In derwissenschaftlichen Diskussion wird dieserPerspektivenwechsel auf die Beschäftigungin der neuen Leitfigur des »Adult Worker«gesehen. Jeder Bürger, auch die Frau,sichert seine Existenz am Arbeitsmarktselbständig. In dieser Zielsetzung wirkt derStaat fördernd z. B. durch die Schaffungkindbezogener Dienstleistungen. Diesebeschäftigungspolitische Zielsetzung ist einzentraler europäischer Programmpunkt,der die Frauen verstärkt in den Arbeits-markt integrieren soll bis zu einer Quote

von 60 Prozent im Jahr 2010. Dieses Pro-gramm wird verstärkt durch gleichstel-lungspolitische Ziele, wie sie im europäi-schen Programm »Gender Mainstream« vor-gestellt sind. Es besteht kein Zweifel, dassdieses Leitbild eines Zweiverdienerpaaresfür einen Teil der Paare gewünscht wird (s.Abb. 14).

Dieses oben bereits erwähnte Auseinander-fallen von Wunsch und Wirklichkeit hateine gewisse Entsprechung in der Politik.Bereits bei der rot-grünen Regierung warendie gleichstellungspolitischen, familienpoli-tischen und arbeitsmarktpolitischen Zielenicht integriert worden. Mit dem Regie-rungswechsel zur Großen Koalition wird dasThema »Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie« stärker in den Mittelpunkt gerückt. ImVordergrund steht die Frage, ob Deutsch-land wegen der Doppelbelastung der Frauendurch Beruf und Familie auf Kinder verzich-tet. Ein Blick auf die skandinavischen Län-der zum Beispiel zeigt, dass dort Frauenmehr Kinder haben als nichterwerbstätigeFrauen in Deutschland. Zumindest wird aufder Ebene praktischer Politik der Tendenznach ein Wandel in den Wertorientierungensichtbar, indem Frauen die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie ermöglicht werdensoll. Kindergarten und Krippenplätze sollenausgebaut werden. Erziehungsarbeit bedeu-tet nicht gleichzeitig Verzicht auf Erwerbs-arbeit – das könnte ein neues Leitbildbegründen. Die Reform des Elterngeldesbekräftigt diese Position, indem das Eltern-geld die Funktion eines Einkommensersat-zes erhält. Allerdings bleibt das Modell derberufstätigen Frau und Mutter Gegenstandder parteipolitischen Auseinandersetzun-gen. Einer konsequenten Politik der Verein-barkeit durch den Ausbau von Krippenplät-zen steht das Konzept des Betreuungsgeldesentgegen, das Müttern die häusliche Erzie-hung bezahlt. Polemisch wird dieses Kon-zept als »Herdprämie« bezeichnet, denn tat-sächlich wird die intendierte Pluralität vonLebensmodellen durch faktische ökonomi-

Abbildung 13: Tatsächliche Erwerbs-arrangements bei Paaren mit Kindern untersechs Jahren (1998)

Quelle: OECD 2001

Abbildung 14: Gewünschte Erwerbs-arrangements bei Paaren mit Kindern untersechs Jahren (1998)

Quelle: OECD 2001

Beide Vollzeit

Mann Vollzeit, Frau nicht erwerbstätigAndere Konstellationen

Mann Vollzeit, Frau Teilzeit

Deutschland

Angaben in %

8,915,7 52,323,1

Beide Vollzeit

Mann Vollzeit, Frau nicht erwerbstätigAndere Konstellationen

Mann Vollzeit, Frau Teilzeit

Deutschland

Angaben in %

19,432,0 5,742,9

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124 125 Barbara Riedmüller: Ein neues Geschlechterverhältnis?

sche Rahmenbedingungen nicht erreicht.Trotz dieses Bekenntnisses zur Erwerbsar-beit der Frau erfolgt der Wertewandel nichtvom Grundsatz her.

Ein Blick auf die Programme der Regie-rungsparteien der Großen Koalition zeigtEinschränkungen, Überschneidungen undAuslassungen. Die öffentliche politischeDebatte um das Elterngeld mit dem Ziel derBeteiligung des Mannes an der Erziehungs-arbeit ist selbst Gegenstand von kritischenLeitbild-Diskussionen. Leitbilder treten nungleichzeitig oder konkurrierend auf. DasZiel der Normalität der Erwerbsarbeit vonMann und Frau mit entsprechender innerfa-miliärer Arbeitsteilung wird gleichzeitig for-muliert mit dem Ziel einer Zuständigkeit derFrau für die Familie und der schädlichenWirkung der Erwerbsarbeit auf die Kinder-erziehung. Die politische Differenz zwischenSPD und CDU/CSU ist offensichtlich, kannaber auf der Ebene politischer Praxis – unddas ist neu in dieser Diskussion – im Kon-text bevölkerungspolitischer Ziele überwun-den werden. Das heißt, dieses Ziel ist par-teiübergreifend darstellbar. Auf der Ebeneder Wertepräferenzen lässt sich eine Ver-schiebung auf bevölkerungspolitische Zielefeststellen, demgegenüber treten gleich-stellungspolitische Ziele in den Hinter-grund.

Zusammenfassend lassen sich nach wie vorkonkurrierende Leitbilder der Parteienfesthalten: Es gibt eine Varianz von konser-vativer Tradition, bevölkerungspolitischenZielen, Gleichstellungsmotiven und demModell einer individuellen Existenzsiche-rung. Ist diese Entwicklung als ein neuesGeschlechterregime zu verstehen? Es wärefalsch, von einem Wechsel des Leitbildes inder Politik zu sprechen (vgl. Gerlach 2004).Wenn aber kein einheitliches, normativesLeitbild existiert, wie sind dann die famili-enpolitischen Reformen zu interpretieren?Silke Bothfeld spricht in ihrer Analyse derfamilienpolitischen Reformen, in denen die

einzelnen Politikfelder mangelhaft koordi-niert sind, von einer »Fragmentierung« derPolitik (Bothfeld 2008). Die Spannung zwi-schen institutioneller Regulierung und dersozialen Wirklichkeit wird nicht aufgelöst.Daraus könnte sich einerseits die Schwä-chung eines partnerschaftlichen Leitbildesergeben, da in den jeweiligen Politikfeldern,z. B. im Steuerrecht, unterschiedliche Zieleverfolgt werden. Andererseits wird diesoziale Praxis zur Arena konkurrierenderLebensentwürfe, die die soziale Ungleich-heit von Familien verschärfen. Gut ausgebil-dete Frauen leben ihr Modell von Verein-barkeit, das sie sich durch ihre Unabhängig-keit finanziell leisten können. Frauen mitgeringem Einkommen sind hingegen vomEhemann und staatlichen Transfers ab-hängig.

Geschlechterarrangements zwischenWünschen und sozialer WirklichkeitWie Männer und Frauen Beruf und Familievereinbaren und wie sich Wertorientierun-gen wandeln, lässt sich konkret an denIndikatoren der Teilnahme am Arbeitsmarktin der Dimension von Zeit belegen. EinWandel des Geschlechterarrangementsbedeutet in der Dimension der Teilhabe am

Abbildung 15: Erwerbsarrangements vonPaaren mit Kindern

Quelle: Rüling/Kassner 2007

Grundmuster Erwerbsarrangementsvon Paaren mit Kindern

strukturellegalitär

Mann Vollzeit –Frau Vollzeit Adult Worker-

ModellMann Teilzeit –Frau Teilzeit

strukturellspezialisiert

Mann Vollzeit –Frau nichterwerbstätig

traditionellesErnährermodell

Mann Vollzeit –Frau Teilzeit

modernisiertesErnährermodell

Frau Vollzeit –Mann Teilzeit »geschlechts-

untypische«Erwerbs-konstellation

Frau Vollzeit –Mann nichterwerbstätig

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Arbeitsmarkt eine neue Form innerfamiliä-rer Arbeitsteilung. Ein weiteres Merkmal füreinen Wandel des Geschlechterarrange-ments ist auch ein möglicher Einstellungs-wandel von Männern und Frauen im Hin-blick auf diese Arbeitsteilung. Auf dieunterschiedliche Teilhabe von Männernund Frauen am Arbeitsmarkt wurde bereitsverwiesen. Betrachtet man die Erwerbs-arrangements von Paaren mit Kindern, solassen sich vier normative Modelle heraus-stellen.

Die empirischen Daten bestätigen dieseModelle der Vereinbarkeit, zeigen aber fürDeutschland ein starkes Auseinanderfallenvon Wunsch und Wirklichkeit.

Wie verhält sich zu dieser geschlechtsspezi-

fisch segregierten Teilhabe am Arbeitsmarktdie innerfamiliäre Arbeitsteilung? Auskunftdarüber geben Zeitverwendungsstudien.Die europaweit durchgeführten Erhebungenin den Jahren 1998 und 2002 bestätigen diebesondere Problematik der Belastung derFrauen bei der Vereinbarkeit von Beruf undFamilie. In Deutschland belegt Hausarbeitund Kinderbetreuung die Zeit von Frauenüberdurchschnittlich.

Ein Vergleich mit anderen europäischenLändern ist hier interessant, weil deutlichwird, dass die jeweiligen Familien und sozi-alpolitischen Rahmenbedingungen eng mitder Zeitverwendung bei Männern und

Frauen korrespondieren. Aber diese institu-tionelle Vorgabe des Arbeitsmarktes wirdauch durch Einstellungen der Männergestützt. Denn das tatsächliche Erwerbs-verhalten von Männern ist nicht familien-freundlicher geworden (Bauer/Groß/Leh-mann/Munz 2004). So leisteten 2005 immer-hin 62 Prozent der Männer Überstunden,Männer mit Kindern sogar 67 Prozent. Esgibt wenig Daten über einen Einstellungs-wandel bei Männern. Das Bild der »neuenVäter« (vgl. Zulehner/Volz 1998), der »egali-tären Väter« (IfS 2007) oder »Erzieher stattErnährer« (Fthenakis/Minsel 2002) stehteher für eine normative Option als für diesoziale Wirklichkeit. Allerdings ist dieDatenlage dünn, so dass Vorsicht zu waltenhat bei der Prognose von Trends. Nimmtman die Nutzung der Vätermonate als Indi-kator für einen Wertewandel, so lässt sicheine schwache Bewegung beobachten.

Abbildung 18: Männer, die Elternzeit genom-men haben oder darüber nachdenken (2003)

Quelle: European Opinion Research Group EEIG 2004

Für ein/das erste Kind Für mehrere/alle Kinder

Deutschland

Angaben in %

14

Abbildung 16: Gewünschtes Erwerbs-arrangement bei Paaren (2000)

Quelle: European Foundation 2002

Beide vollzeiterwerbstätig

Mann erwerbstätig, Frau nicht Beide teilzeiterwerbstätigAndere Formen

Mann Vollzeit, Frau Teilzeit

Deutschland

Angaben in %

526 17 1537

Abbildung 17: Zeitverwendung von Paarenmit Kindern bis 6 Jahren nach Geschlecht

Quelle: European Commission 2004

Kinderbetreuung ErwerbsarbeitHausarbeit

Minuten pro Tag

DE

FR

GB

SE

59

40

60

67

Männer

Frauen

DE

FR

GB

SE

138

117

142

130

233

232

227

199

72

133

120

137

121

110

106

134

272

295

333

201

0 500400300200100

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126 127 Barbara Riedmüller: Ein neues Geschlechterverhältnis?

Die tatsächliche Inanspruchnahme derVätermonate ist in Deutschland seit ihrerEinführung 2006 gering gestiegen.

Allerdings werden heute von den Männerndie Hindernisse, Familie und Beruf zu ver-einbaren, deutlicher artikuliert. 89 Prozentaller Väter deuten den drohenden Einkom-mensverlust als Grund, keine Elternzeit zunehmen, und 79 Prozent fürchten beruflicheNachteile (Institut für Demoskopie Allens-bach 2005). Diese Aussagen markieren wie-der die gesellschaftlich-ökonomischen Rah-menbedingungen von Erwerbsarbeit. Dasssich aber 50 Prozent der Väter und 55 Pro-zent der übrigen Männer bei der Wahl ihresFamilienmodells auf ihre erlebte Familien-tradition berufen, verweist auf die Zählebig-

keit kultureller Traditionen: einmal so,immer so. Von einem Wandel des Vaterbil-des, wie es im Monitor des Familienministe-riums (Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend 2005) darge-stellt wird, lässt sich bestenfalls eine Unbe-stimmtheit des eigenen Verhaltens vonMännern erkennen.

Auch wenn Männer ein Vereinbarkeitspro-blem für sich artikulieren, bezeichnet dasnicht eine tatsächlich neue gesellschaftlicheEntwicklung (Pilotstudie IAIZ 2004). Siedeutet aber darauf hin, dass das Bewusst-sein für die Vereinbarkeitsprobleme beiMännern zunimmt. Ein Fazit könnte sein,dass ein starker Trend zur Erwerbsintegra-tion von Frauen keine Entsprechung ineinem neuen Geschlechterverhältnis hat,dass aber in gesetzlichen Vorgaben und För-derprogrammen ein Signal für neue Arran-gements enthalten ist, deren Realisierungaber nicht nur eine individuelle Entschei-dung ist. Die Rahmenbedingungen für neueZeitarrangements müssten ebenfalls verän-dert werden. Dies ist allein durch familien-politische Maßnahmen und Programmenicht leistbar, es bedarf einer koordiniertenPolitik, die neue Zeitregime möglich macht.

Die Orte des sozialen WandelsDie oben dargestellte Konstellation voninstitutionalisierter Tradition der Familien-politik in Deutschland und den gesellschaft-lichen Bedarfen und Bedürfnissen bedeutetein Mehr an Sozialstaatlichkeit für Familienund Kinder. Frauen sollen und wollen inden Arbeitsmarkt integriert werden, dieArbeitsleistung der Frauen in der Familiewird daher folgerichtig durch professionelleDienstleistung ersetzt werden. Auf euro-päischer Ebene wird von einer solchenProfessionalisierung familienbezogenerDienstleistungen ein Beschäftigungszuwachserwartet. Ein Beispiel dafür dürfte derPflegesektor sein. In den europäischen Län-dern stößt diese Entwicklung der Professio-nalisierung und Ökonomisierung von

Abbildung 19: Nutzung des Elterngeldes derVäter

Quelle: Statistisches Bundesamt 2007

14%

12%

10%

8%

6%

4%

2%

0%4. Qrtl. 2006

1. Qrtl. 2007

2. Qrtl. 2007

3. Qrtl. 2007

2008

3,5%

7,0%

8,5%

9,6%

vorausgesagter Wertbei demoskopischer Erstbefragung 24%

Anteil der Väter an allen bewilligten

Anträgen

Einführung von Elterngeld und Partnermonaten

Abbbildung 20: Typologie männlicher Rollen-vorstellungen

Quelle: Zulehner 2003Daten für Österreich

traditionell

pragmatisch

unsicher

modern

0 5 25 30 3510 15 20 40

2002 1992

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sozialen Dienstleistungen aber auf unter-schiedliche Ausgangslagen der Verknüpfun-gen von Staat, Familie und nichtstaatlicherProduktion von Wohlfahrt (vgl. Kaufmann1979). Gibt es zur Professionalisierung undÖkonomisierung sozialer Dienste eine Alter-native?

In Deutschland hatten die nicht staatlichenWohlfahrtsverbände eine historisch starkeRolle im Dienstleistungssektor. AndereLänder haben mehr auf den Markt oder, wiedie nordischen Länder, auf den Staatgesetzt. Entsprechend dieser Grundorientie-rung der Wohlfahrtssysteme sind nichtpro-fessionelle Dienstleistungen und Ehrenamtschwach oder stark entwickelt. In Deutsch-land nimmt das freiwillige soziale Engage-ment eine wichtige Rolle ein, ist aber keinErsatz für professionelle Dienstleistungen(vgl. Deutscher Bundestag 2002).Sozialstaatliche Traditionen auf kommuna-ler Ebene sind in den letzten Jahrzehntenschwächer geworden. Ein Grund hierfür istauch die Knappheit der kommunalen Haus-halte. Daher sind die in den letzten Jahrenentstandenen lokalen Bündnisse für Familieein interessanter Versuch, die kommunaleEbene als Ort, an dem soziale Bedürfnissekonkret artikuliert und beantwortet werden,wieder stärker zu organisieren. Diese Bünd-nisse haben in der Mehrzahl das Ziel, dieFamilie bei der Vereinbarkeit von Beruf undFamilie zu unterstützen. Es existierenModellstädte und Modellprojekte, die zumTeil von der Bundesregierung und demEuropäischen Sozialfonds in der Pilotphaseunterstützt werden (vgl. Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend2008).

Eine Bewertung der Steuerung lokalerBündnisse und deren Wirkung auf die Fami-lie ist noch nicht möglich. An dieser Stellekann daher nur auf die Bedeutung einerVernetzung sozialer Dienstleistungenzwischen Staat, Markt und Familie undnichtprofessionellen Systemen hingewiesen

werden. Erfahrungen liegen aus der lokalenBeschäftigungspolitik vor (vgl. Saeed 1999),die zeigen, dass lokale Netzwerke dannerfolgreich sind, wenn die beteiligtenAkteure einen gemeinsamen Wertehorizont(Beliefs) teilen und wenn ein starker Akteur,wie die Kommune, die Initiativrolle gegen-über nichtstaatlichen und teilstaatlichenAkteuren übernimmt.

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Claus Offe: Familienleistung jenseitsder Marktarbeit – das bedingungsloseGrundeinkommen

Zu den originellsten und zugleich umstrittensten Ideen für die Zukunftssicherung der west-lichen Wohlfahrtsstaaten gehört das bedingungslose Grundeinkommen für alle. Claus Offe,engagierter Verfechter dieses Modells, verteidigt die Idee des Grundeinkommens gegen vor-schnelle Kritik, setzt sich substantiell mit den Argumenten der Gegner auseinander und stelltpraktikable Übergangsformen für solch eine Revolutionierung unserer hergebrachten Sozial-systeme vor. Die Krise von Sozialstaat und ökonomischem System, deren Ursachen Offe nocheinmal eingehend theoretisch beleuchtet, könnte am Ende ganz neue gesellschaftliche Lösungs-wege befördern.

In den gegenwärtigen deutschen und euro-päischen Debatten über die Reform vonArbeitsmarkt und Sozialstaat spielt der Vor-schlag eines allgemeinen Grundeinkom-mens, das an die Stelle herkömmlicherModelle sozialer Hilfen treten würde, dieRolle eines Reformprojektes, das von einerpolitisch durchaus buntscheckigen Koalitionvon Befürwortern getragen wird. Im Jahre2004 hat sich ein deutsches »NetzwerkGrundeinkommen« gebildet, das korporati-ves Mitglied des inzwischen weltweit agie-renden Basic Income Earth Network (vor-mals, seit seiner Gründung 1986: EuropeanNetwork) ist. National wie internationalhandelt es sich bei diesen Netzwerken umeine Innovations- und Ideenwerkstatt, ander Personen aus Wissenschaft, Parteien,Gewerkschaften, mittelständischen Unter-nehmen, Kirchen und internationalenOrganisationen beteiligt sind.

Zwei der profiliertesten intellektuellenVorkämpfer für ein allgemeines Grund-einkommen, Yannick Vanderborght und Phi-lippe van Parijs, haben mit ihrem Buch »EinGrundeinkommen für alle?« das unüber-sichtliche Gefüge von unterstützenden Ar-gumenten und Gegenpositionen beschrie-ben, in dessen Mittelpunkt die Idee desGrundeinkommens steht (Vanderborght/van Parijs 2005). Sie sind davon überzeugt,dass es sich beim Grundeinkommen um einradikales Programm zur Durchsetzung poli-tischer und sozialer Gerechtigkeitsansprü-che handelt, das allerdings zur Praxistaug-lichkeit erst noch weiterentwickelt werdenmuss. Von solchen Konkretisierungen hängtdann auch die Frage des Finanzbedarfs,

seiner Gegenfinanzierung durch eingespartesozialpolitische Haushaltsmittel und derbeschäftigungs- und wirtschaftspolitischenAuswirkungen der alternativen Finanzie-rungswege ab. Falls diese Konkretisierunggelingt, kann das allgemeine Grundeinkom-men eine wichtige Rolle in dem Prozessspielen, in dem sowohl fortgeschrittene alsauch weniger fortgeschrittene kapitalisti-sche Industriegesellschaften ihre Wider-sprüche, Strukturprobleme und Gerechtig-keitslücken in einer prononciert freiheit-lichen, also »links-libertären«, der Grund-norm »gleicher realer Freiheit« verpflichte-ten Weise und im Rahmen eines neuartigenSystems ökonomischer Bürgerrechte bewäl-tigen werden.

Vor dem Hintergrund der in Deutschlandgeführten Auseinandersetzungen sollen dreiFragen erörtert werden, die bei Debattenum das Modell eines allgemeinen Grund-einkommens regelmäßig im Mittelpunktstehen. Diese Fragen sind:

(1) Worin besteht der normative Leit-gedanke des Grundeinkommens?

(2) Mit welchen politisch-moralischenGegenargumenten, institutionellen Traditio-nen und sozialökonomischen Interessenmüssen sich Befürworter des Grundeinkom-mens auseinandersetzen?

(3) Welchen funktionalen Beitrag kann dieEinführung eines allgemeinen Grundein-kommens zur Bewältigung akuter Struktur-und Steuerungsprobleme »reifer« kapitalisti-scher Gesellschaften leisten?

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130 131 Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit – das bedingungslose Grundeinkommen

Unter dem allgemeinen Grundeinkommenwird dabei – wie in der lebhaften inter-nationalen Diskussion zum Thema üblich –eine steuerfinanzierte und außer an dendauerhaften Einwohnerstatus an keinerleiBedingungen gebundene, individualisierte,monetäre, regelmäßig ausgezahlte (oderauch kapitalisierte und dann als »Startka-pital« zur Verfügung gestellte) Transfer-leistung verstanden, die der gesellschafts-politischen Zielvorstellung nach zumindestmittelfristig ein existenzsicherndes unddamit armutvermeidendes Niveau errei-chen soll.

Die Logik des Arbeitsmarktes: Einkommen,Erwerbsleben und VerteilungsproblemeWenn das allgemeine Grundeinkommendie Antwort ist, was ist dann die Frage?Jede Wirtschaftsgesellschaft, so viel dürfteunstrittig sein, erhält und reproduziert sichdadurch, dass sie für die beiden ökonomi-schen Zentralprobleme eine Lösung findet.Das eine ist das »Produktionsproblem«, dasdurch die institutionell geregelte Beantwor-tung der Frage gelöst wird, welche Perso-nen welche Arbeitsaufgaben übernehmensollen. Das andere Problem ist das »Vertei-lungsproblem«: Wer hat, gleichsam nachgetaner Arbeit, einen Anspruch auf welchenTeil des Produkts? Kapitalistische Gesell-schaften sind nun der einzige bekannteFall einer wirtschaftlichen Ordnung, in dembeide Zentralprobleme »uno actu« gelöstwerden, nämlich, soweit wir es mit derüberwiegenden Zahl von »abhängig«Erwerbstätigen zu tun haben, durchArbeitsverträge; im Übrigen durch Renditenaus produktiver Verwendung von Kapital.Arbeitsverträge legen im Rahmen derVertragsfreiheit und des betrieblichenLeitungsregimes fest, wer welche Arbeits-aufgaben erledigt; zugleich normieren sie,welche Entgelte für die Erledigung dieserAufgaben den einzelnen Arbeitspersonenzustehen.

Die Höhe des Arbeitsentgelts und damit dieLösung des Verteilungsproblems sind durchzwei einschränkende Bedingungenbestimmt: Es gibt einen »oberen« Grenz-wert, über den der Lohn nicht steigen kann,und einen »unteren« Grenzwert, unter dener nicht dauerhaft sinken darf. Waszunächst den unteren Grenzwert angeht, sokönnen wir sagen, dass die Entlohnungeines abhängig Beschäftigten nicht für nurdie Arbeitskraft selbst, sondern – in einersynchronen Perspektive – auch für seineHaushaltsangehörigen ausreichen muss, die(aus welchen Gründen auch immer) gegen-wärtig nicht erwerbstätig sind. Zusätzlichund in der Längsschnittperspektive mussder Arbeitslohn auch ausreichen, um dieArbeitskräfte mit einem Alterseinkommenzu versorgen (und dies unabhängig von dergewählten Methode der intertemporalenUmverteilung: private Spartätigkeit, Sozial-versicherung, Betriebsrenten, Abschöpfungund Verteilung von Steuern). Dieses Alters-einkommen muss ausreichen, um die finan-zielle Sicherheit derjenigen zu gewährleis-ten, die nicht länger arbeiten können, wol-len oder dürfen.

Die Bedeutung dieser Mindestschwelle,unter die das Arbeitseinkommen nicht fal-len kann, lässt sich leicht vergegenwärtigen,wenn wir uns klarmachen, dass der Anteilder Erwerbszeit an der gesamten Lebenszeitkontinuierlich schrumpft. Die Differenzzwischen Erwerbszeit und Lebenszeitbesteht in Zeitabschnitten, für die Lebens-mittel durch intertemporale Umverteilungdes Arbeitseinkommens verfügbar gemachtwerden müssen. Dies ergibt sich aus derfolgenden überschlägigen Berechnung: Diedurchschnittliche Lebenserwartung nähertsich in der OECD-Welt – mit weiterhin stei-gender Tendenz – der Marke von 80 Jahren.80 Jahre sind ungefähr 700.000 Stunden.Ziehen wir ein Drittel dieser Zeit für denSchlaf ab, ergeben sich 467.000 Stunden»aktiver Lebenszeit«. Wenn wir die durch-schnittlich pro Person auf Erwerbs-

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tätigkeiten verwendete Arbeitszeit konser-vativ auf 40 Jahre pro Leben und 1.000Stunden pro Jahr schätzen (also das Zeit-volumen in Rechnung stellen, das auf Nicht-Beteiligung am Erwerbsleben, auf Arbeitslo-sigkeit, auf Frühverrentung, auf Urlaub, aufKrankheit, auf Teilzeitbeschäftigung, aufBildung und Ausbildung etc. entfällt), dannergibt sich für das Verhältnis von Erwerbs-zeit und aktiver Lebenszeit ein Verhältnisvon 8,6 Prozent. Selbst wenn wir den Anteilder Erwerbszeit an der aktiven Lebenszeitin der »Erwerbsphase« von 50 Jahren – alsovom Alter von 15 Jahren bis zum Alter von64 Jahren – berechnen, stellt sich dieserAnteil als ein Wert von etwa 14 Prozent dar.Diese Berechnung illustriert den wichtigenSachverhalt, dass 86 Prozent der Lebenszeitselbst während der »Erwerbsphase« ausjenem Einkommen versorgt werden müssen,das während des relativ winzigen Bruchteilsder aktiven Erwerbszeit erzielt wird.

Daraus ergibt sich das Bezugsproblem, dasdie »Lissabon-Agenda« der EU aus demJahre 2000 lösen soll, und zwar durch denkühnen, wenn auch offenkundig völligunrealistischen Vorschlag, dass die Regie-rungen der Mitgliedsstaaten im Jahre 2010ein Erwerbstätigkeitsniveau mit den Kenn-zahlen 70/60/50 erzielen sollen: 70 Prozentaller Personen im erwerbsfähigen Alter,60 Prozent aller Frauen im erwerbstätigenAlter und 50 Prozent aller älteren Erwerbs-personen (oberhalb von 55 Jahren) sollensich in irgendeiner Art von Erwerbstätigkeitbefinden. Aber selbst wenn dieses Zielerreichbar wäre, dann wäre höchstens einFünftel der durchschnittlichen Lebenszeit inder »Erwerbsphase« mit Erwerbstätigkeitausgefüllt. Und das Problem einer gewalti-gen intertemporalen Umverteilung von Ein-kommen würde ersichtlich nicht wesentlichentschärft. Insgesamt ergibt sich, dass – wasdie Mindestgrenze des Arbeitseinkommensangeht – die Löhne ausreichen müssen, umeine akzeptable Befriedigung der Bedürf-nisse während der Erwerbsphase sowie

während der anschließenden Phase desRentenalters zu decken.

Auf der anderen Seite dürfen diese Entgeltenicht so hoch sein, dass die auf der Nach-frageseite des Arbeitsmarktes anfallendenBeschäftigungskosten die Nachfrage nachArbeitskräften drosseln. Es ist nicht leicht,die Parameter dieses Einkommens-Korri-dors zu bestimmen. Es ist nicht einmalgewiss, dass es diesen Korridor überhauptund noch dazu dauerhaft gibt, insofern jadas Minimum des »bedarfsadäquaten« Ein-kommens durchaus oberhalb des Maxi-mums eines eben noch »beschäftigungs-unschädlichen« Niveaus der Arbeitskostenliegen kann. Überschreiten die Beschäfti-gungskosten dieses Maximum, so sind ent-weder – in einer offenen Ökonomie – Pro-duktionsverlagerungen oder – in einer inno-vations-intensiven Ökonomie – die ver-stärkte Nutzung des arbeitssparenden tech-nischen Wandels die Folge. Unterschreitendie Arbeitsentgelte dagegen jenes Minimum,so tritt als Folge ein, dass die Systeme dersozialen Sicherung und ihre Finanzierungprekär werden. Die arbeitsmarkt- und sozi-alpolitische Problemlage, die gegenwärtigund auf absehbare Zeit in der Bundesrepu-blik Deutschland vorliegt, ist ein dramati-scher Beweis dafür, dass beide Misslichkei-ten gleichzeitig auftreten können. Die Brut-tolöhne bzw. Beschäftigungskosten sinddann »zu hoch«, weil sie einen weiterenBeschäftigungsabbau induzieren, abergleichzeitig »zu niedrig«, um angesichts dergegebenen Arbeitsmarkt- und demographi-schen Situation sowohl den Bedarf derArbeitnehmerhaushalte als auch die Kostender sozialen Sicherung decken zu können.Die beiden Probleme interagieren in derWeise, dass die Lösung der jeweils einenSeite des Problems die Aussichten auf eineLösung der anderen Seite verschlechtert.

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Die Nachteile der kapitalistischenProduktions- und Verteilungsordnung:Armut, Arbeitslosigkeit undAutonomieverlustDie simultane Lösung des Produktions- undVerteilungsproblems durch die Institutiondes Arbeitsvertrages hat enorme evolutio-näre Vorteile. Verträge können zumindestvon einer der beiden Seiten, meist aber vonbeiden, gekündigt werden und sind insofernin hohem Maße kontingente Verknüpfungenzwischen Akteuren, die der Produktivitätwirtschaftlicher Aktivitäten insgesamt zugu-tekommen. Die für kapitalistische Arbeits-vertragsgesellschaften charakteristischeLösung des wirtschaftlichen Doppelpro-blems von Produktion und Verteilung hatindes auch Nachteile. Drei dieser Nachteilesind geläufig: Armut, Arbeitslosigkeit, Auto-nomieverlust.

Armut (sowohl im Sinne von Einkommens-armut wie auch im weiteren Sinne, der oftaus der Armut folgenden sozialen Margina-lisierung und chronischen Desorganisationder Lebensführung) betrifft diejenigen, diemangels ausreichender persönlicher Pro-duktivität (»Employability«) einen dauerhaf-ten Zugang zur Erwerbsarbeit nicht finden.Darüber hinaus betrifft sie die »WorkingPoor«, die mangels zureichender individuel-ler Produktivität oder kollektiver Organisa-tionsmacht keine existenzsichernden Löhneerzielen können.

(Unfreiwillige) Arbeitslosigkeit betrifft v. a.diejenigen, die über kurze Phasen der sai-sonalen Arbeitslosigkeit oder Arbeitssuchehinaus trotz des ihnen von Gesetzgebungund Administration aus Gründen ihresLebensalters und ihrer physisch-psychi-schen Verfassung zugeschriebenen Merk-mals der »Arbeitsfähigkeit« nicht in derLage sind, arbeitsvertragliche Beschäftigungzu finden und so zumindest Teile ihreseigenen Lebensbedarfs aus eigener Er-werbstätigkeit zu decken.

Autonomieverluste, d. h. Beeinträchtigungender Freiheit, in Übereinstimmung mit sozia-len und rechtlichen Normen die eigeneLebensweise frei zu wählen, sind nicht nurunmittelbare Begleiterscheinungen vonArmut und Arbeitslosigkeit, sondern ebensodie Folge von politisch-administrativenMaßnahmen und Programmen, die nach derLogik von »Workfare« die Arbeitslosen»aktivieren« und in Beschäftigungsverhält-nisse eingliedern sollen. Von Autonomiekann man dann sinnvoll sprechen, wennAkteure Wahlmöglichkeiten haben, derenGebrauch es ihnen erlaubt, sich selbst imzukünftigen Rückblick als Miturheber ihresGeschickes zu verstehen, d. h. sich nichtallein als Spielball des Marktgeschehensoder administrativer Weisungen zu erfah-ren. Autonomieverluste sind zwar keinezwangsläufige, aber eine häufig zu beobach-tende Folge administrativer Interventionen.Diese treten dann auf, wenn etwa im Nameneiner generalisierten »Zumutbarkeit«Berufs-, Einkommens-, Tarif- und Kündi-gungsschutz sowie der Schutz des Wohnortsentfallen und Langzeitarbeitslose im Dienstedes Eingliederungsziels unter Androhungempfindlicher sozialrechtlicher Nachteilegenötigt werden, z. T. Tätigkeiten jeder Artan jedem Ort zu jeder Bezahlung auszu-üben. Ein zentrales Merkmal von Autono-mie ist zweifellos das Recht, am gewähltenWohnort weiterhin zu wohnen und dortTätigkeiten auszuüben, die »zu einem pas-sen«. Die Parole »Freiheit statt Vollbeschäf-tigung« (Liebermann 2009), die von einemTeil der deutschen intellektuellen Vorkämp-fer für ein allgemeines Grundeinkommenzur bündigen Begründung ihres Anliegensverwendet wird, macht auf den Zusammen-hang aufmerksam, der zwischen »Eingliede-rungsmaßnahmen« und der Verletzung derMenschenwürde der administrativ Einge-gliederten zumindest bestehen kann – undwegen des Erfolgsdrucks, dem die Adminis-tration unterliegt, auch mit hoher Wahr-scheinlichkeit eintreten wird. Die von Regie-rungen und Parteien dagegengesetzte

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Parole, »jede Arbeit« sei besser als »keineArbeit«, lässt keinen Zweifel an der inten-dierten Nachrangigkeit von Ansprüchenerwachsener Menschen auf Schutz undWürde. Der elementarste unter diesenAnsprüchen ist das Recht, zu einerbestimmten angesonnenen Betätigung»nein« zu sagen.

Es ist ein wichtiger und vielfach bestätigterSachverhalt, dass eine unter materiellerNötigung seitens der Verwaltung ausgeübteTätigkeit nicht nur elementare Freiheitsinte-ressen der Tätigen, sondern ebenso diewirtschaftlichen Interessen ihrer Beschäftig-ten verletzt (ganz abgesehen von den Inte-ressen derjenigen, die deswegen selbst»keine« Arbeit mehr haben, weil die Klien-ten der Arbeitsverwaltung »jede« Arbeit zuüber- und ihnen damit wegzunehmen ver-anlasst werden). Für ein mehr oder wenigergenötigtes Arbeitsangebot gibt es deswegenauch nur eine zögerliche Nachfrage. Die inden Medien berichtete Weigerung deutscherSpargelbauern, für die Spargelernte einhei-mische Langzeitarbeitslose an Stellebewährter polnischer Saisonkräfte zubeschäftigen, illustriert nur die Faustregel,dass genötigte Arbeitnehmer unterproduk-tive Arbeitnehmer sind, weil ihnen der Fak-tor subjektiver Bereitschaft zur Ausübungeiner konkreten Tätigkeit und die Identifi-kation mit einer Aufgabe abgehen. Dabeiführt der kurzschlüssige Ausweg, fehlendesubjektive Dispositionen durch verschärfteBewachung zu kompensieren, nur zuzusätzlichen Personal- und Konfliktkosten,kaum dagegen zum angestrebten Erfolg.

Gewiss kann dabei nicht kategorisch ausge-schlossen werden, dass die administrativeDisziplinierung arbeitsloser Arbeitskräfteauch zu einer positiv zu wertenden Art von»Aktivierung« führen kann, die dann vonihnen selbst im zukünftigen Rückblick alsGewinn an beruflichen und allgemeinenLebenschancen erfahren und gewürdigtwird. Doch dabei würde es sich angesichts

der aktuellen quantitativen und qualitativenNachfragesituation am Arbeitsmarkt umeine glückliche Fügung im Einzelfall han-deln, nicht um etwas, das als Ergebnis vonadministrativen Eingliederungsprogrammenangestrebt und systematisch bewirkt würde.

Die klassischen Problemlösungsmodelleder Wohlfahrtsstaaten und ihre GrenzenDie Geschichte der Wohlfahrts- bzw. Sozial-staaten in der OECD-Welt zeigt, bei allenUnterschieden ihrer institutionellen Struk-tur, gemeinsame Entwicklungsmuster derinstitutionellen Differenzierung der Einrich-tungen und Programme auf, die mit dendrei problematischen Tatbeständen derArmut, der Arbeitslosigkeit und des Auto-nomieverlusts in der Erwerbsarbeit befasstsind. So sind für das Problem der Armutmeist auf kommunaler Ebene arbeitendeund kommunal finanzierte Einrichtungender Fürsorge und Hilfe zuständig, derenAufgabe darin besteht, die Armutsbevölke-rung nach einer ganzen Reihe von Katego-rien (wirklich versus nur vorgeblich Arme,arbeitsfähige versus arbeitsunfähige, hiesigeversus fremde Arme usw.) zu sortieren, lau-fend zu beobachten und die ihnen gesetz-lich zustehenden Geld- oder Sachleistungenzuzuweisen. Ganz andere institutionelleStrukturen finden sich im Problemfeld derArbeitslosigkeit; in ihm ist die staatlicheWirtschafts- und Beschäftigungspolitik tätig,vor allem aber die Behörden der Arbeits-verwaltung und der Arbeitslosenversiche-rung, die ihre arbeitslos gewordenen (nicht:immer schon erwerbslos gewesenen) Klien-ten mit den Mitteln der Beratung, Vermitt-lung, Zuweisung von Lohnersatzleistungen,Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschu-lung, Weiterbildung, Lohn- und Lohnkosten-zuschüssen usw. und mit dem Ziel ihrerWiedereingliederung in Arbeitsverhältnisseversorgen und behandeln. Wiederum ganzanders ist das Feld organisiert, in dem esum Autonomie und Würde in der Arbeitgeht. Hier finden wir eine lange Traditionvon gesetzgeberischen Aktivitäten, die sich

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134 135 Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit – das bedingungslose Grundeinkommen

u. a. in arbeitsrechtlichen Normen über denphysischen und sozialen Schutz der Arbeits-kräfte und zur Begründung ihrer betriebli-chen Rechte (Betriebsverfassungsgesetz)niedergeschlagen haben.

Es bestehen indes auch Gemeinsamkeitenzwischen diesen ausdifferenzierten und aufbestimmte Klientele spezialisierten institu-tionellen Strukturen. Erstens operieren siesämtlich mit der hoheitlichen Zuschreibungvon Bedarf, Pflichten und Ansprüchen anrechtlich codierte Kategorien und Kollektivevon Personen. Diese Zuschreibungen und»Bedarfs-Standardisierungen« (z. B. Wer ist»arm«? Was sind »zumutbare« Arbeitsbedin-gungen? Wer hat in welcher Höhe Anspruchauf Lohnersatzleistungen?) sind ihrerseits inhohem Maße anfällig für Auswirkungenwirtschaftlicher und politischer Konjunktu-ren und stehen unter permanentem Revisi-onsdruck. Zweitens bedienen sie sich zumVollzug der einschlägigen Normen aufwen-diger Verwaltungen, in denen sich typi-scherweise Grundsätze einer bürokrati-schen Staatsverwaltung und Mit- bzw.Selbstverwaltung repräsentativer Kollektiv-akteure mischen. Und drittens führt dasSystem kollektivistischer Rechte dazu, dassdie Klienten sortiert, versorgt, verwaltet,behandelt, kontrolliert, pädagogischbetreut, »eingegliedert«, »zugewiesen« undoft auch durch wirtschaftliche Sanktionenstigmatisiert – also insgesamt in den passi-ven Status von paternalistisch geschütztenund regulierten Objekten gesetzt werden.

Es sind diese Transaktionskosten des wohl-fahrtsstaatlichen Schutzes, die keineswegsnur in den Verwaltungskosten, sondernebenso in den »Kosten« von Passivierungund Klientelisierung bestehen, die nach Ein-führung eines existenzsichernden allgemei-nen Grundeinkommens sämtlich wegfallenwürden. Wenn jeder Bürger einen Rechtsan-spruch auf eine regelmäßige, bedingungs-lose, individualisierte und steuerfinanzierteZahlung hätte, dann würden offensichtlich

zahllose Verwaltungsvorgänge buchstäblichgegenstandslos. Angesichts dieser Transak-tionskosten sollte es leicht sein, aufrichtigeKritiker von Bürokratie und Staatsverwal-tung von den Vorzügen eines bedingungs-losen Grundeinkommens zu überzeugen(vgl. Offe 2005). Es erübrigte sich dann dieamtliche Prüfung, ob eine Person arm,beschäftigungsfähig, nach ihren haushaltli-chen Lebensverhältnissen anspruchsberech-tigt oder in ihrer Autonomie und Würde ver-letzt ist. Zugleich wäre der Bürger zumGebrauch seiner Handlungs- und Entschei-dungsfreiheit verstärkt herausgefordert undin diesem Sinne »aktiviert«, d. h. aus demStatus eines schutzbefohlenen Klienten inden eines verantwortlichen Urhebers eige-ner Lebenspläne überführt. Er oder siemüsste nämlich entscheiden, welcherzusätzliche Einkommensbedarf durchErwerbsarbeit zu decken ist, welche derrivalisierenden Zeitverwendungen für wel-che Lebensabschnitte zu bevorzugen sindund welcher Arbeitsplatz mit den zugehöri-gen Arbeitsbedingungen individuell »zumut-bar« ist, d. h. als akzeptabel gewertet wird.Die Folge wäre, dass am Arbeitsmarkt derKern aller Freiheit, nämlich die Freiheit,»nein« zu sagen, zur Geltung gebracht würde– wenn auch keineswegs die materiellenAnreize dafür beseitigt würden, gegebenen-falls, d. h. bei ausreichender Arbeitsnach-frage, bei zufriedenstellenden Arbeitsbedin-gungen und Entgelten, zu den Chancen, diesich im Erwerbsleben bieten, »ja« zu sagen.

So würde die bürgerrechtlich gewährteRückzugsposition eines existenzsicherndenGrundeinkommens nicht nur die Problemevon Armut und Arbeitslosigkeit eliminieren,sondern auch einen durchschlagenden indi-rekten Effekt auf Bestrebungen haben, diein den 1970er Jahren unter Bezeichnungenwie »Mitbestimmung am Arbeitsplatz« und»Humanisierung der Arbeit« firmierten.Durch die Realisierung ökonomischer Bür-gerrechte auf ein bedingungsloses Indivi-dualeinkommen würden Arbeitnehmer in

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die Lage versetzt, Jobs abzulehnen, beidenen sie unangemessen niedrige Löhneund/oder unakzeptable Arbeitsbedingungenhinnehmen müssten. Solche Jobs könnteneinfach nicht mehr besetzt werden, wenn esein bedingungsloses Grundeinkommengäbe. Umgekehrt: Jeder Job, den ein Arbeit-geber besetzen möchte, muss ein einigerma-ßen »guter« Job sein, den der Arbeitnehmerohne Armutsrisiko kündigen könnte, wennund sobald sich der Job als ein nicht hinrei-chend »guter« herausstellt. Durch diesenEffekt würden abhängige Erwerbsarbeitenan sich attraktiver. Dies könnte dazu führen,dass das Arbeitsangebot sogar wächst undnicht deswegen schrumpft, weil sich dieArbeitnehmer eine steuerfinanzierte Untä-tigkeit leisten könnten, wie viele Kritikerselbst bestehender Leistungen für Langzeit-arbeitslose unterstellen. Eine weitere Folgewäre, dass die variablen Kosten der Produk-tion von Gütern und Leistungen, also dieKosten der Beschäftigung von Arbeitskräf-ten, je nach Anrechnungsfaktor um dieHöhe bzw. einen Teil des existenzsichern-den Grundeinkommens-Sockels herabge-setzt werden könnten – mit dem Ergebniseiner Expansion der Arbeitsnachfrage.

Das Grundeinkommen in der Debatte:Gerechtigkeitsnormen und Gerechtigkeits-argumenteJede normative Theorie sozialer und politi-scher Gerechtigkeit – und eine solche Theo-rie steht hinter der Idee des allgemeinenGrundeinkommens – braucht zunächst eineTheorie über sich selbst. Diese Theoriezweiter Ordnung beantwortet die Frage,welche sozialen Kräfte und kulturellen Nor-menbestände, welche Vernunft- und Inte-ressensgründe die Durchsetzung des Pro-jekts unterstützen oder seine Aussichtenschmälern können. Es geht dabei um dieErkundung der Diskurslandschaft, in welchedas normativ begründete Projekt einergerechten Reform selbst eingebettet ist.

Es gibt drei ernstzunehmende Einwände,mit denen Befürworter eines Grundeinkom-mens sich überzeugend auseinandersetzenmüssen. Da ist zunächst der Einwand, dasses keinen Grund und keine zu rechtferti-gende Forderung gibt, dass diejenigen, diesich – anders als Arbeitnehmer, Selbständigeund Job-Suchende – »freiwillig« für dasGrundeinkommen entscheiden, auf derAngebotsseite des Arbeitsmarktes und imErwerbsleben insgesamt nicht in Erschei-nung treten. Wer das tut, so heißt es, ver-dient einfach keine staatlichen Transferleis-tungen. Zweitens gibt es den spiegelbildli-chen Einwand, dass große Kategorien vonArbeitnehmern ein solches – an alle Bürgerauszuzahlendes – Grundeinkommen garnicht benötigen, weil es ihnen ihr amArbeitsmarkt erzieltes Einkommen bereitserlaubt, die Gesamtheit ihrer Lebensbedürf-nisse adäquat zu decken. Ein dritter Ein-wand, der vorzugsweise von Sprechern deralten industriegesellschaftlichen Linkenhervorgebracht wird, lautet, dass ein bedin-gungsloses Grundeinkommen gewaltigeOpportunitätskosten impliziere: Weil esersichtlich eine ungeheure Menge vonArbeiten gibt, die in der Welt »eigentlich«getan werden müssten, sollte niemandemerlaubt werden, sich auf eine Positionsteuerfinanzierter Erwerbsuntätigkeitzurückzuziehen statt seinen oder ihren pro-duktiven Beitrag zu leisten. Die Gelegenheitfür einen solchen Beitrag ergäbe sich,sobald – und solange wie – eine Politik der»Vollbeschäftigung« Erfolg habe.

Ein bis zum Ressentiment steigerbarer Ein-wand gegen ein Bürgerrecht auf ein allge-meines Grundeinkommen ergibt sich ausder in christlichen (vor allem protestanti-schen), marktliberalen und sozialistischenTraditionen gleichermaßen verwurzeltenarbeitsethischen Gerechtigkeitsauffassung.Ihr zufolge gibt es – abgesehen von Dispen-sionstatbeständen wie Kindheit, Alter,Krankheit – eine für alle Menschen beste-hende Pflicht, ihre Lebensbedürfnisse durch

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136 137 Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit – das bedingungslose Grundeinkommen

Erwerbsarbeit oder andere nützliche Tätig-keit zu befriedigen. Daraus folgt negativ,dass, wer nicht »arbeitet« (oder zumindestnicht arbeitsbereit ist), auch nicht »essen«soll; und positiv die meritokratischeMaxime, dass das Einkommen einer Personnach der Menge und Nützlichkeit ihrerArbeitsleistung zu bemessen sei. DasGrundeinkommen verstößt demnach gegendie arbeitsethische Grundnorm selbst wiegegen ihre beiden Ableitungen. Zum einenwerden erwachsene und arbeitsfähige Per-sonen wie der »Dauer-Faulenzer« am Strandvon der Arbeit »entpflichtet«, weil ihnengestattet wird, wenn auch auf bescheidenemNiveau, ein arbeits- und leistungsloses, eben»bedingungsloses« Einkommensgeschenk zuLasten der steuerzahlenden Allgemeinheitzu beziehen. Zum anderen werden die sozugeteilten Einkommen von der steuerzah-lenden Mehrheit der »arbeitsamen« Bürgeraufgebracht, deren wirtschaftliche Leis-tungsbereitschaft folglich mit kollektiv-schädlichen Auswirkungen geschwächtwird.

Ausführlich erörtern Vanderborght und vanParijs, wie dieser Kernbestand arbeits- undleistungsgesellschaftlicher Gerechtigkeits-normen teils als berechtigt anzuerkennenund dann in einem geeigneten Arrangementdes Grundeinkommens und seiner Finanzie-rung zu berücksichtigen ist, teils aber auchmit normativen Argumenten zurückgewie-sen werden kann. Zu den Letzteren gehörendrei wichtige Erwägungen. Eine pragmati-sche Erwägung besagt, dass das unverdienteEinkommensgeschenk, das untätige »Faulen-zer« genießen, nicht nur deshalb hingenom-men werden muss, weil auf diese WeiseVerwaltungsaufwand und Freiheitseinbußeneingespart werden können, sondern auchdeshalb, weil mit einer strikt individualisier-ten und universellen Einkommenszuweisungauch die spiegelbildliche und vielleicht sehrviel umfangreichere Kategorie derjenigenbegünstigt wird, die sehr wohl nützliche(wenn auch nicht marktbewertete) Tätigkei-

ten ausüben, dafür jedoch bisher keine Zah-lung erhalten. Beispiele hierfür sind fami-liäre und ehrenamtliche Erziehungs- undPflegearbeit. Das positive Unrecht, von demdie Untätigen profitieren würden, wird alsodurch die Aufhebung des negativenUnrechts kompensiert, das viele Tätigebereits heute betrifft.

Wichtiger ist der in der linksliberalen Tradi-tion nach Thomas Paine oder John StuartMill, aber wohl auch in der christlichenTheologie verankerte Grundsatz, dass dieErde allen ihren Bewohnern gehört unddiese daher, ganz unabhängig von eigenenVorleistungen oder Tätigkeiten, einenAnspruch auf »ihren« Teil an diesem Kollek-tiveigentum haben. Das einzige Beispiel fürein so begründetes und realisiertes Grund-einkommen findet sich im amerikanischenBundesstaat Alaska, dessen Einwohnereinen Anspruch auf jährliche leistungsloseAuszahlungen »a conto« der Erdölvorrätedes Landes haben. Aus der Logik diesesArguments folgt, dass als Finanzierungs-möglichkeit für ein allgemeines Grundein-kommen bevorzugt – zusätzlich zu dengewaltigen Einsparungen, die sich aus demWegfall der fiskalischen und sonstigen Kos-ten der Arbeitslosigkeit ergeben würden –Steuern auf natürliche Ressourcen inBetracht kommen.

Schließlich spielt die »anti-meritokratische«Ableitung aus diesem Argument eine Rolle,die zugleich mit der Ökonomen-Weisheitaufräumt: »There is no such thing as a freelunch.« Sie verweist auf die »geschenkten«Hintergrundsbedingungen, die den soge-nannten »Leistungsträgern« ohne deren Ver-dienst und Zutun erlaubt, ein scheinbarallein durch individuelle Arbeitsanstren-gung »verdientes« Einkommen zu erzielen.Diese Hintergrundbedingungen – von denenmanche einen erfolgreichen, manche einenweniger erfolgreichen, in beiden Fällenjedoch unverdienten Gebrauch zu machenin der Lage sind – bestehen zum Beispiel in

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den Infrastruktur-Einrichtungen, die unsvergangene Generationen hinterlassenhaben, vor allem auch in den Wissensbe-ständen, technologischen Errungenschaftenoder zivilisierenden Moral- und Rechtsord-nungen, welche die Heutigen als »freiesGut« in Anspruch nehmen können. DerNobelpreisträger Herbert Simon hat in die-sem Zusammenhang geschätzt, dass »unge-fähr 90 Prozent des Einkommens in den rei-chen Gesellschaften der Vereinigten Staatenund Nordwest-Europas sich aus Hinter-grundsbedingungen ergeben, die historischakkumuliertes ›Gemeineigentum‹ der Mit-glieder der gesamten Gesellschaft sind«(Simon 2001). Ähnlich liegen die Dinge imsynchronen, nicht diachronen Fall von»Kooperationsrenten«: Das organisiertearbeitsteilige Zusammenwirken vielerAkteure führt zu Zusatzerträgen, die nie-mandem individuell zugerechnet werdenkönnen – sowenig wie eine Lagerstätte fürfossile Brennstoffe. Es handelt sich bei die-sen sozialen »Erbschaften« nur um nicht-natürliche Ressourcen, die ebenso wie dienatürlichen – zu denen auch die in einer»Lotterie der Natur« (vgl. Steiner 1992)gewonnenen physischen und geistigenGaben von Personen gehören – als »unver-diente Geschenke« einem Aufteilungs- bzw.Kompensationsanspruch unterliegen. Dieserverpflichtet diejenigen, die »Glück gehabt«haben, ihre weniger begünstigten Zeitgenos-sen oder Kooperationspartner in einemgewissen Umfang zu entschädigen, der frei-lich nicht anreiz-inkompatibel werden darf.Man kann daher ein moralisches Paradoxdarin sehen, wenn gerade diejenigen, dievon jenen »Geschenken« besonders reich-lich profitieren, die anderen, die das nichttun, gern auffordern, sie mögen doch bitteaufhören, ein »free lunch« zu fordern.

Am schwierigsten wird eine normativeGrundlegung des Grundeinkommens aller-dings dann, wenn es um die Frage geht, wel-chen – ggf. auch noch »nützlichen« – Tätig-keiten diejenigen Personen nachgehen kön-

nen oder sollen, die mangels einer verfügba-ren und von ihnen präferierten Erwerbsge-legenheit von ihrem Grundeinkommen leben(wollen oder müssen), jedenfalls außerhalbder Sphäre der betrieblichen oder selbstän-digen Arbeit bleiben. Die libertäre Antwort,dass es sich um eine »frei gewählte« Tätig-keit handeln solle, greift offensichtlich des-wegen zu kurz, weil die Wahlmöglichkeiten,die auf diese Frage in Betracht kommen, inmodernen Gesellschaften eng beschränktsind. Wir haben es offenbar weitgehendinstitutionell »verlernt«, uns anders alsdurch Erwerbsarbeit nützlich zu machenund Anerkennung zu finden. Abgesehen vonder Familien- und Sorgearbeit, der ehren-amtlichen Tätigkeit im »Non-Profit-Sektor«und verschiedenen Formen der »Eigenar-beit« – zu der auch die Arbeit von Personenan der Verbesserung ihres eigenen Wissens-und Bildungsgrades gehört – fehlen inmodernen kapitalistischen Erwerbs- undArbeitsgesellschaften die institutionellenMuster, die es im gleichen Maße, wie es bei –zumindest den begünstigten Formen –betrieblicher Arbeit der Fall ist, den dortTätigen erlauben würden, sich zugleichsozial zu integrieren und sich als eigenstän-dige und unverwechselbare Person zu indi-viduieren. Insofern ergibt sich das Deside-rat, konkrete Umsetzungen des in mannigfa-chen Varianten, Übergangslösungen undKosteneffekten diskutierten Modells desGrundeinkommens durch die Schaffungneuer institutioneller Gelegenheiten zurTeilnahme an nicht-erwerbsbezogenen For-men nützlicher Tätigkeit zu komplettieren.

Eher unproblematisch ist dagegen diescheinbare Ungereimtheit, dass das allge-meine Grundeinkommen allen Bürgern glei-chermaßen zustehen soll, obwohl die Mehr-zahl von ihnen offensichtlich nicht daraufangewiesen ist, sondern in ausreichendem,jedenfalls armutsvermeidenden Umfangeigenes Erwerbseinkommen erzielt. Eineaufwendige Methode, diesen Effekt zu neu-tralisieren, bestünde darin, die steuerliche

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138 139 Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit – das bedingungslose Grundeinkommen

Belastung mittlerer und hoher Einkommenso zu steigern, dass das an ihre Bezieherausgezahlte Grundeinkommen mit der Steu-erschuld zurückgezahlt wird. Einfacher isteine von Michael Opielka vorgeschlageneLösung, die freilich mit dem ausgeprägt uni-versalistischen Ansatz eines bedingungslo-sen Grundeinkommens nicht übereinstimmtund eher an der Logik von Sozialversiche-rungen orientiert ist: Jeder kann das Grund-einkommen auf Antrag und gleichsam alsein persönliches Sicherheitsnetz inAnspruch nehmen. Wenn sich jedoch amEnde des Steuerjahres zeigt, dass das tat-sächlich erzielte Einkommen bestimmteGrenzwerte (zum Beispiel das Dreifache desGrundeinkommens) überschritten hat, so istdasselbe teilweise oder in voller Höhe ver-zinst zurückzuzahlen (Opielka 2005). Untereiner solchen Struktur von Anreizen würdedas Grundeinkommen ganz überwiegendvon denjenigen in Anspruch genommenwerden, die es benötigen, um ihrer Arbeits-losigkeit oder Verarmung vorzubeugen,während doch die Einkommensanreize, sichbietende Erwerbsgelegenheiten wahrzuneh-men, vollauf wirksam blieben.

Ein letzter Einwand ist, wie erwähnt, dasArgument der Opportunitätskosten. Wäre esnicht eine Verschwendung öffentlicher Mit-tel, wenn man die Erwerbsuntätigkeit vonLeuten subventionieren wollte, die sehrwohl in der Lage sind, produktive Aufgabenzu erfüllen? Es liegt auf der Hand, dass einVerweis auf die »natürliche« Neigung vomMenschen, sich nützlich zu machen, als Ant-wort auf diesen Einwand nicht ganz aus-reicht. Andererseits ist ebenso ersichtlich,dass in den »reifen« Ökonomien der OECD-Welt der Arbeitsmarkt nicht in der Lage ist,dauerhaft und zu adäquaten Löhnen dasgesamte Arbeitsangebot aufzunehmen. DieNachfrage nach Arbeit (gleichviel ob im pri-vaten oder im öffentlichen Sektor) reichtschlicht nicht aus – was auch immer dergesellschaftliche »Bedarf« an Arbeitsleistun-gen sein mag. Über die prinzipielle Möglich-

keit nachhaltiger Vollbeschäftigung zu adä-quaten Löhnen kann man sicher ausgiebigstreiten. Bevor man sich allerdings auf die-sen Streit einlässt, ist zu klären, welcheSeite eigentlich die theoretische und prakti-sche Beweislast zu tragen hat – und wielange sich die Protagonisten des Vollbe-schäftigungsarguments auf eine in naherZukunft bevorstehende Lösung hinausredendürfen. Aber es ist einzuräumen, dass esüber Alternativen zur »Markt-Arbeit«, alsozu institutionellen Formen freier »Tätigkeit«,heute nur höchst vage Vorstellungen gibt.Das gilt sicher dann, wenn Zwangsarbeitbzw. Arbeitszwang als solche Alternativenaus normativen Gründen ausscheiden.

Jenseits der Markt-Arbeit:Ideen, Konzepte und ÜbergangsmodelleVier Alternativen sollen zumindest erwähntwerden, die in der Diskussion über dieInstitutionalisierung von nützlichen »Tätig-keiten« im Unterschied zur Lohnarbeit aufdem Arbeitsmarkt eine Rolle gespielt haben.Ganz nah bei der »Markt-Arbeit« liegen Vor-schläge für eine »negative Einkommens-steuer« bzw. Modelle des Kombilohnes. Hierist die Grundidee, dass die Mehrheit derSteuern zahlenden Bürger die Lohneinkom-men derjenigen (gegebenenfalls zu 100 Pro-zent) subventioniert, die anderenfalls unterdie Armutsgrenze sinken würden. Ein ande-rer Vorschlag läuft darauf hinaus, lokaleNebenwährungen (»grüne Dollars«, »Zeit-Dollars«) zu lizenzieren, die als Gutscheinein einer auf Realtausch beruhenden Ökono-mie eingesetzt werden können(Offe/Heinze 1992). Eine dritte Alternativeist die Idee des »Teilnahme-Einkommens«(»Participation Income«), wie sie von dembritischen Ökonomen Anthony Atkinsonfavorisiert wird; diese Lösung beruht aufeinem Grundeinkommen, bei dem einbestimmtes Maß an Konditionalität (Bezugs-voraussetzungen) gewahrt bleibt, wobeidiese Voraussetzungen auch und wohl vor-zugsweise in der Form nicht marktbewerte-ter Aktivitäten erfüllt werden können, zum

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Beispiel durch Lernarbeit oder durchehrenamtliche soziale Dienste (Atkinson1996). Dabei ist zu erwarten, dass die Krite-rien für Art und Ausmaß der geforderten»Beteiligung« immer umstritten bleiben wer-den; selbst dann, wenn eine Einigung ein-tritt, ergeben sich erhebliche administrativeÜberwachungs- und Kontrollkosten (vgl.Goodin 2001 und für einen gegenteiligenAnsatz De Wispelaere/Stirton 2007). In denZusammenhang solcher Vorschläge gehörtauch die Idee eines kapitalisierten Grund-einkommens, das, etwa beim Eintritt insErwachsenenalter, jedem Bürger als ein»Startkapital« zustehen soll (Ackerman/Alstott 2001; Grözinger/Maschke/Offe 2006).Auf bescheidenem Niveau ist ein solchesModell bereits seit 2005 im britischen ChildTrust Fund realisiert (Nissan/Le Grand2000; Dowding/De Wispelaere/White 2003;Ackerman/Alstott/van Parijs 2004). Schließ-lich gibt es eine lange Tradition von Vor-schlägen, die auf eine zivile Version derWehrpflicht für alle Bürger im »dritten« Sek-tor hinauslaufen (Gorz 1988; Dagger 2002;White 2003a). Viele der Vorschläge, die indiesem Zusammenhang formuliert wordensind, kombinieren nützliche, nicht marktbe-wertete Tätigkeiten mit Gelegenheiten zumErwerb von Arbeitserfahrungen und -fertig-keiten. Insgesamt versteht sich, dass dieinstitutionelle Machbarkeit, die quantitati-ven Effekte, die Finanzierbarkeit und vieleandere Aspekte solcher Tätigkeiten »jen-seits« des Arbeitsmarktes ungewiss, umstrit-ten und theoretisch wie praktisch erkun-dungsbedürftig bleiben.

Unter diesen Reformideen spielt der Vor-schlag eines »Startkapitals«, auf das jederBürger einer »Teilhabegesellschaft« (Acker-man/Alstott 2001) einen Anspruch hat, einebesondere Rolle; denn es ist mehr als nureine kapitalisierte Version des Grundein-kommens. Es bezieht sich auf ein Problem,das nicht oder doch nicht in gleichem Maßevon den anderen Vorschlägen berücksich-tigt wird, zu denen auch das Grundeinkom-

men gehört. Dieses Problem besteht in derunter bestehenden Bedingungen starkuntererfüllten Norm der Chancengleichheit.Die Gleichheit der Rechte ist eine offen-sichtlich unzulängliche Version der Normsozialer Gerechtigkeit. Schon Geschlechts-und ethnische Identitäten können ein Hin-dernis darstellen für den gleichen Gebrauchder Rechte. Dadurch wird diese Norm reinnominal. Die Gerechtigkeitsnorm derRechtsgleichheit fordert nicht mehr als dienegative Pflicht von Gerichten, Gesetzge-bern oder Arbeitgebern, jede Art von Dis-kriminierung zu unterlassen. Dagegen for-dert die Norm der Chancengleichheit einepositive moralische und politische Pflichtein – die Pflicht nämlich, überall dort zuintervenieren, wo der gleiche Zugang zumGebrauch der gleichen Rechte von mora-lisch irrelevanten Faktoren wie sozialeSchicht, Familienhintergrund, Geschlechtund ethnische Zugehörigkeit verzerrt ist(Roemer 1998).

Dieses »aktivistische« Verständnis davon,was die Gerechtigkeitsnorm der Chancen-gleichheit fordert, stellt eine mittlerePosition dar zwischen der bloßen Rechts-gleichheit und der wesentlich weitergehen-den Norm der Ergebnisgleichheit, die kaumrealisierbar ist – und selbst wenn sie eswäre, zu höchst unerwünschten Methodenihrer Realisierung führte. Verglichen mitder Idee eines Grundkapitals kann der Vor-schlag des Grundeinkommens sogar in demSinne kritisiert werden, dass es nur dieOption auf ein vor Armut geschütztes undan keine weiteren Bedingungen gebundenesDasein bietet, dabei aber das Problem derChancengleichheit außer Acht lässt.

Es wäre jedoch ein Fehler, zu unterstellen,dass die Auseinandersetzung über das all-gemeine Grundeinkommen allein von denKonflikten bestimmt wäre, die zwischenverschiedenen normativen Ideen zu politi-schen Rechten und sozialer Gerechtigkeitbestehen. Hinzu kommen gesellschaftspoli-

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140 141 Claus Offe: Familienleistung jenseits der Marktarbeit – das bedingungslose Grundeinkommen

tische Interessen, die Grundeinkommens-modelle aus leicht verständlichen Gründenablehnen. So hält etwa Hans-Peter Klös,Arbeitsmarktexperte am Institut für Wirt-schaft in Köln, »das voraussetzungsloseGrundeinkommen [für] eine gefährlicheDenkfigur. Wir wollen keine Entkoppelungvon Arbeit und Einkommen. Im Gegenteil:Wir müssen das Einkommen wieder stärkeran die Arbeitsleistung binden. Wer zumut-bare Arbeit nicht annimmt, der muss ebenweniger bekommen« (Iwersen 2005). Ähn-lich ablehnend ist die Beurteilung, die dasGrundeinkommen in den meisten gewerk-schaftlichen Stellungnahmen findet. In demMaße, wie die Höhe des Einkommens zurSache von Bürgerrechten und mithin vonPolitik und Gesetzgebung wird, erleiden sieals Verbände einen Teilverlust ihrer Zustän-digkeit für die »tarifautonome« Bestimmungvon Arbeitnehmereinkommen. Dieses orga-nisationspolitische Eigeninteresse derGewerkschaften an der Wahrung ihrerKompetenzen wird gern mit der Warnungbemäntelt, das Grundeinkommen würde dieArbeitgeber aus ihrer freilich völlig fiktiven»Verantwortung für die Schaffung vonArbeitsplätzen« entlassen. Auch in den poli-tischen Parteien der Bundesrepublik findensich bisher nur vereinzelt aufgeschlosseneStimmen, zumal die Grünen in Deutschland,anders als etwa ihre französischen, nieder-ländischen und österreichischen Freunde,das Thema offenbar fallengelassen haben.Das übereinstimmende Hauptargument ist,dass die Befürwortung eines Grundeinkom-mens allzu resignativ sei und dem für sieblamablen Eingeständnis nahekäme, dassdie Probleme von Armut und Arbeitslosig-keit mit herkömmlichen »produktivisti-schen« Mitteln der Wachstumsförderungeinerseits, der »aktivierenden« Arbeits-marktpolitik andererseits nicht mehr zulösen seien. Das scheint indes nach Lageder Dinge und unter der Voraussetzung,dass einigermaßen faire Beweislastvertei-lungsregeln gelten sollen, ein Argument zusein, dessen Überzeugungskraft einem

nahen Verfallsdatum unterliegt. Diese kannauch nicht durch den üblichen zutreffendenHinweis aufgebessert werden, es gebe ja»so viel Arbeit zu tun«, sowohl bei uns alsauch in der Dritten Welt. Mit dieser Erinne-rung wird jedoch die offensichtlicheAnschlussfrage nicht beantwortet, sonderneher verdrängt. Sie richtet sich auf die zah-lungsbereite Nachfrage, die hier oder dortnach der »an sich« zu leistenden Arbeitbesteht.

Marktliberale Mythen: Wirtschaftspolitik,Wachstum, Beschäftigung, VerteilungJede normative Theorie muss den Nachweisführen können, dass sie zu den Funktions-zusammenhängen, Strukturproblemen undHerausforderungen des Systems passt, fürdas die aus ihr abgeleiteten Politikvor-schläge gedacht sind. Politische Innovatio-nen müssen nicht nur Gerechtigkeitsargu-mente auf ihrer Seite haben, sondern auchsituations- und problemadäquat sein. Siemüssen nicht nur gut gemeint, sondern auchhinreichend intelligent sein. Unter diesemKriterium der funktionalen Problemlösungs-kapazität schneidet der Vorschlag des allge-meinen Grundeinkommens ausgesprochengut ab. Das Problem der deutschen Ökono-mie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundertsist eindeutig kein Produktions-, sondern einVerteilungsproblem: Da sowohl Individual-wie Sozialeinkommen institutionell an dieErwerbsarbeit gekoppelt sind, führt diebestehende Arbeitslosigkeit, also ein hoherund personell verfestigter Angebotsüber-hang am Arbeitsmarkt, zu der Frage, wie diePersonen, die am Arbeitsmarkt nicht unter-kommen, mit einem bedarfsgerechten Ein-kommen versorgt und damit nachfragefähiggemacht werden können. Auf diese Fragehaben Befürworter des Grundeinkommenseine eindeutige Antwort: durch ein steuer-finanziertes ökonomisches Bürgerrecht aufexistenzsicherndes Einkommen. Marktlibe-rale haben eine andere Antwort. Sie erwar-ten von einer richtigen, d. h. investitions-freundlichen Finanz- und Wirtschaftspoli-

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tik (I) mehr Wachstum (W), von mehrWachstum mehr Beschäftigung (B), undvon mehr Beschäftigung schließlich eineLösung des Verteilungsproblems (V), alsodie Teilhabe der gesamten Bevölkerung amgesellschaftlichen Reichtum.

Diese Theorie ist nicht etwa deswegenhegemonial, weil sie wahr wäre. Vielmehrbleibt sie dadurch herrschende Lehre, dasssie dem Test ihrer Wahrheit aus dem Wegegeht und sich gegen ihre Widerlegungimmunisieren kann. Gegen die Evidenzihrer Unwahrheit kann sie sich, eine hin-reichende, an intellektuelle Hörigkeit gren-zende Indoktrination politischer Elitenvorausgesetzt, stets mit einer Argumentati-onsfigur aus der Affäre ziehen, die einemleninistischen Kalkül verblüffend ähnelt.Die Theorie überlebt allein wegen derBeweislastverschonung, die ihr politischgewährt wird. Das Argument lautet dann:Wenn die »an sich« richtige Theorie(I) � (W) � (B) � (V) sich in der Praxisnicht bestätigen sollte, dann kann die Erklä-rung nur darin zu suchen sein, dass dieunabhängige Variable (I) noch nicht hochgenug dosiert war! Die pragmatische Folgedieser Immunisierungsstrategie besteht indem pathologischen Lernprozess, als dessenErgebnis in der nächsten Runde eine nochinvestitionsfreundlichere und sozialpolitischnoch kürzungsversessenere Finanz- undWirtschaftspolitik ausprobiert wird.

Dabei ist allein über den Zusammenhangvon Wachstum und Beschäftigung u. a. dasFolgende wohlbekannt:

(1) Erst bei einer gesamtwirtschaftlichenWachstumsrate von ca. zwei Prozent tretenüberhaupt positive Beschäftigungseffekteauf. Unterhalb dieses bereits ehrgeizigenWachstumsziels schrumpft das Volumenbeitragspflichtiger Beschäftigung weiter,und mit ihr wachsen die aus allgemeinenHaushaltsmitteln zu stopfenden Löcher derSozialversicherungshaushalte.

(2) Allein die fiskalischen Gesamtkosten –entgangene Einnahmen plus verursachteAusgaben – der in Deutschland bestehendenArbeitslosigkeit beliefen sich, einer Berech-nung des Instituts für Arbeitsmarkt- undBerufsforschung (IAB) zufolge, im Jahr 2004auf 85,7 Milliarden Euro. In dieser Summesind die sonstigen volkswirtschaftlichenSchäden der Arbeitslosigkeit, also der Ein-kommensverlust der Arbeitslosen und dieentsprechenden negativen Nachfrageeffekte,noch nicht enthalten. Ebenso wie die Ein-nahmeausfälle, die aus dem anteiligenWachstum von Beschäftigungsformen resul-tieren, die der Beitragspflicht nicht wirksamunterliegen. Diese gewaltige fiskalischeBürde wirkt sich selbst als gravierendesWachstumshindernis aus. Sie müsste erstabgetragen sein, um Wachstum u. a. dadurchzu erlauben, dass öffentliche Mittel für dieFinanzierung staatlicher Investitionen freiwürden.

(3) Mikroökonomisch führt das Wachstumvon Industrie- und Dienstleistungsunterneh-men nicht zu mehr Beschäftigung, sondernim Gegenteil wird der zum Beispiel durchFusion und Umstrukturierung erzielteBeschäftigungsabbau von den Börsen durchWachstumserwartungen, Kursgewinne undverbesserte Kapitalversorgung prämiert.

Ein typisches Reaktionsmuster des von denTatsachen irritierten Glaubens an (I) � (W)� (B) ist die Moralisierung des Problems.Wenn die tatsächlichen von den erwartetenErgebnissen abweichen, so die Logik derMoralisierung, dann kann das nur am vor-werfbaren Fehlverhalten wichtiger Akteureliegen. Aber, mit Hegel gesprochen, »dieFaulheit des Gedankens hat am Sollen einenzu leichten Ausweg«. So wird im moralisie-renden Geiste einer neuen Kapitalismuskri-tik »den« Unternehmern gern vorgehalten,sie ließen es an sozialer oder gar nationalerVerantwortung fehlen, wenn sie es versäu-men, inländische Arbeitsplätze zu schaffen.Abgesehen davon, dass eine Politik, die

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über moralische Verfehlungen bestimmterKategorien von Bürgern lamentiert, sichselbst und ihren eigenen autoritativenGestaltungsanspruch der Lächerlichkeitpreisgibt, mahnt sie auch noch die Erfüllunggänzlich fiktiver Pflichten der so Getadeltenan. Es gehört nämlich unzweifelhaft wederzu den Organisationszielen noch zu denzivilrechtlichen Obliegenheiten von Wirt-schaftsunternehmen, für (»mehr«) Beschäfti-gung zu sorgen. Beschäftigung entsteht viel-mehr als ein möglicher, wenn auch ebenkeineswegs zwangsläufiger Nebeneffekt desErfolges, den diese Unternehmen bei derVerfolgung ihres ganz anders geartetenDaseinszwecks erzielen, nämlich dem derSicherung und Steigerung ihrer Rentabilität.

Was speziell den Glauben an (B) � (V)angeht, also an die Möglichkeit, das Vertei-lungsproblem weiterhin über Arbeitsmarktund Erwerbseinkommen zu lösen, so kommtoffensichtlich die Frage nach dem Beschäfti-gungspotential einer Ökonomie wie derdeutschen ins Spiel, also die Frage nachdem Niveau ihrer Absorptionsfähigkeit für»ausreichend« bezahlte und gesicherteLohnarbeit. Die Fragen, die bei der Abschät-zung dieses Niveaus eine Rolle spielen, sindgeläufig: Sind reife Ökonomien wie die deut-sche, also solche mit hoher Kapitalintensi-tät, hohen Humankapitalansprüchen, Tarif-autonomie, einem liberalen Handels- undKapitalverkehrsregime und großen Erfolgenbei der Nutzung des arbeitssparenden tech-nischen Wandels, überhaupt in der Lage,etwa im vielbeschworenen – jedoch keines-wegs insgesamt gegen technischen Wandelimmunen – »Dienstleistungssektor« eineArbeitsnachfrage aufzubauen, die für eineKompensation der laufenden inländischenBeschäftigungsverluste im primären undsekundären Sektor erforderlich wäre? Sindinternationale Arbeitsteilung und globaleWettbewerbsverhältnisse dazu angetan,einen dauerhaft positiven Saldo von inländi-schen Beschäftigungsverlusten und export-induzierten Gewinnen entstehen zu lassen?

Können die Arbeitsmärkte solcher reifenÖkonomien ein zumindest auf mittlere Sichtweiterhin wachsendes – weibliches, auslän-disches – Arbeitsangebot zu Lohnsätzenabsorbieren, aus denen – auf welchemFinanzierungswege auch immer – die gegen-wärtig erwerbstätige Generation sowohl dieErziehung der nächsten Generation wie denUnterhalt der schon aus Gründen derLebenserwartung anteilsmäßig wachsendenretirierten Generation aufbringen kann?Kurz: Ist eine Arbeitsmarktgesellschaft imVollbeschäftigungsgleichgewicht eine wei-terhin glaubwürdige politische Option?Selbst dann, wenn das Vollbeschäftigungs-gleichgewicht eine realistische Option wäre,taucht die nächste, nämlich eine politischeund moralische Frage auf: Lohnt es sich,den dafür fälligen Preis in Gestalt vonwachstumsinduzierten Umweltschäden zuzahlen?

Nach der deutschen Erfahrung eines überca. 30 Jahre stufenweise und ohne Gegen-trend aufgebauten Fehlbestandes anarbeitsvertraglich formalisierten Beschäfti-gungsgelegenheiten, der heute eine Größen-ordnung von mehr als sieben Millionenerreicht hat, sind skeptische Antworten aufdiese Fragen nicht nur erlaubt, sonderngeboten. Auch der Verweis auf angelsächsi-sche oder skandinavische Erfolgsgeschich-ten führt nicht weiter, weil deren institutio-nelle Grundlagen und wirtschaftsgeographi-schen Vorteile nur in eng begrenztemUmfang kopierbar, wenn auch als Anstößefür politische Lernprozesse keinesfalls zumissachten sind. Deshalb erscheint es auchin steuerungspolitischer Hinsicht geboten,schlicht nach dem Grundsatz der klugenVorsorge für nicht auszuschließende dauer-hafte Ungleichgewichte die Wirtschaftsord-nung so zu modifizieren, dass sie einerseitseinen hohen Fehlbestand an Beschäfti-gungsgelegenheiten ohne desintegrierendeBegleiterscheinungen aushalten kann, ande-rerseits aber weder das Recht aller Bürgerauf die freiwillige Wahrnehmung von quali-

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tativ angemessenen Erwerbsgelegenheitennoch das allgemeine Interesse an einer lau-fenden Steigerung der Produktivität verlet-zen würde.

Ein allgemeines und existenzsicherndesGrundeinkommen erfüllt wegen seinerAnreiz- und Steuerungseffekte alle drei die-ser Bedingungen. Es führt nicht zu »Vollbe-schäftigung«, aber entschärft das Vertei-lungsproblem, das sonst mit einer Unteraus-lastung des Arbeitspotentials einer Gesell-schaft einhergehen würde. Demnach machtes auch kontraproduktive Praktiken deradministrativen »Aktivierung«, d. h. dieErwerbsnötigung von Arbeitskräften, ver-zichtbar und »aktiviert« sie vielmehr in demSinne, dass sie die Suche nach nicht-erwerblichen Zeitverwendungspräferenzenanspornt. Es lässt für beide Seiten dieAnreize zum Abschluss von Arbeitsverträ-gen intakt: Für die Anbieter deshalb, weilsie durch Erwerbsarbeit ihr Einkommensteigern; für die Nachfrager deshalb, weilsie mit niedrigeren, um den Satz des Grund-einkommens gesenkten direkten Kosten derBeschäftigung von Arbeit rechnen können –so jedenfalls eine der möglichen Ausgestal-tungen des Grundeinkommens. Und dieProduktivität der Arbeit würde nicht nurdeshalb steigen, weil bei allen Beschäftigtendie »Freiwilligkeit« ihrer Erwerbsbeteiligungunterstellt werden könnte, sondern auchdeshalb, weil moralische und gesetzlicheHemmungen bei der Nutzung des arbeits-sparenden technischen und organisatori-schen Wandels zu großen Teilen entfallenkönnten.

Auf dem Weg zu einem bedingungslosenGrundeinkommen?Wenn man einige der tatsächlichen Entwick-lungslinien und Innovationstendenzen derSozial- und Arbeitsmarktpolitik in derOECD-Welt betrachtet, so kann man dieseals – oft uneingestandene und halbherzige –Schritte auf einem Weg interpretieren, derzum bedingungslosen Grundeinkommen

führt. So gehört es – unter den vorherr-schenden demographischen Trends leichtverständlich – zur Programmatik aller politi-schen Parteien in der Bundesrepublik, dieAusgaben privater Haushalte für das Aufzie-hen von Kindern (einschließlich der Wohn-kosten und der Opportunitätskosten inGestalt entgangenen Erwerbseinkommens)durch steuerfinanzierte Zahlungen und/oderdurch Besteuerungsverzichte verstärkt zusubventionieren. Auch das beschäftigungs-politische Ziel der Entlastung der Beschäfti-gungskosten von gesetzlichen Lohnneben-kosten, zumindest der Erreichung von Bei-tragssatzstabilität, lässt sich nicht andersverwirklichen als durch einen wachsendenAnteil von Steuerfinanzierung an den Kos-ten der gesetzlichen Rentenversicherung.Die Umfinanzierung der Rentenlasten istalso ein Vorhaben, das von allen parteipoli-tischen Kräften unterstützt wird, wenn auchmit durchaus umstrittenen und zum Teilverteilungspolitisch problematischen Vor-stellungen darüber, wie die Kosten zwischenFiskus, Betrieben, Arbeitnehmern und denRentnern selbst aufzuteilen sind. Ähnlichesgilt für die gesetzliche Krankenversicherungund die Reform ihrer Finanzierung, wobeieine Gemeinsamkeit der diskutiertenModelle wiederum in der intendiertenAbkoppelung der Kosten der sozialen Siche-rung vom Arbeitsverhältnis besteht. Staatli-che Politik ist, anders gesagt, nicht längerbeschränkt auf die Aufgaben kollektiverDaseinsvorsorge (wie im Bereich der öffent-lichen Erziehung und des Verkehrswesens).Darüber hinaus gewährleistet sie wachsendeTeile des individuell verfügbaren Einkom-mens. Dies scheint ein unumkehrbarerTrend zu sein. Wenn wir in Anteilen derWohnbevölkerung rechnen und nicht inAnteilen des gesamten Einkommens derHaushalte, dann zeichnet sich ein ähnlicherTrend ab: Nach Berechnungen des Institutsder Deutschen Wirtschaft Köln lebten imJahr 1980 69,6 Prozent der deutschenBevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18 –64) von Erwerbseinkommen; die Zahl sank

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auf 63,7 Prozent im Jahr 2006. Noch drama-tischer: 13,9 Prozent der Bevölkerung imErwerbsalter lebten 1980 von Sozialversi-cherungen und anderen Transferleistungen,und diese Zahl stieg auf 25,7 Prozent imJahre 2006 (Daten nach Institut der Deut-schen Wirtschaft Köln 2008). Im Mittel-punkt derartiger Reforminitiativen stehtalso nicht mehr der Arbeitnehmer, sondernder Bürger mit seinen Rechten und Pflich-ten.

Diese Reforminitiativen machen bei denSozialbeiträgen, also dem gewichtigsten Teilder Lohnnebenkosten, nicht halt. Der fiska-lische Finanzierungsmodus ist dabei, sichnicht nur auf die Kosten der sozialenSicherheit, sondern zum Teil auf dieArbeitsentgelte selbst auszudehnen. DerGrundgedanke ist hierbei, dass Beschäfti-gung geringproduktiver Arbeitskräfte (wennüberhaupt) nur zu abgesenkten Löhnenstattfinden wird und dass daher die Arbeits-einkommen im so entstehenden Niedrig-lohnsektor in degressiver Weise aus öffent-lichen Mitteln aufzustocken sind: die Ideedes Kombilohnes. Auch hier geht es, wieähnlich in der Debatte über gesetzlicheMindestlöhne, um die Politisierung und»Fiskalisierung« der Entgeltfindung fürErwerbsarbeit, für die die Zuständigkeit vonden Akteuren des Tarifsystems partiell anden Gesetzgeber fällt und der Rechtsformnach nicht durch (Kollektiv-)Verträge, son-dern durch gesetzlich begründete, subjek-tive öffentliche Rechte geregelt wird.

Allerdings liegt auf der Hand, dass allediese neuen Politikansätze, zu denen inDeutschland auch die Komplexe »Hartz IV«und »Agenda 2010« gehören, sich voneinem bedingungslosen Grundeinkommendadurch unterscheiden, dass sie strengbeschäftigungspolitisch ausgerichtet sind.Die Entlastung des Arbeitsverhältnisses vonLohnnebenkosten, die »künstliche« Verbilli-gung des Angebotspreises der Arbeit durchKombilöhne, die Beseitigung von Zumutbar-

keitsbarrieren, die Absenkung der Arbeits-losenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfedienen also explizit dem Zweck, Wirt-schaftsunternehmen zur Schaffung vonArbeitsplätzen und Arbeitslose zur Einglie-derung in diese Arbeitsplätze zu veranlas-sen. Ob dieser Zweck und gegebenenfallswann er erreicht wird, ist eine empirischeFrage, die sich in absehbarer Zeit entschei-den wird. Sollte die Antwort negativ ausfal-len, stünden die jetzt geschaffenen Mittel,nämlich die offene Politisierung von Vertei-lungsfragen, für den weitergehenden Zweckeines bedingungslosen Grundeinkommenszur Disposition.

Jede Annäherung an das normative Idealeiner steuerfinanzierten bedingungslosen,armutsvermeidenden, bürgerrechtlich aus-gestalteten Garantie eines individuellenGrundeinkommens wird sich sicher nichtvon einem Tag auf den anderen voll ver-wirklichen lassen. Manche unter den weni-ger realistischen Anhängern eines bedin-gungslosen Grundeinkommens scheinendies jedoch manchmal zu unterstellen. Viel-mehr jedoch wird es um einen sich schritt-weise vollziehenden Reformprozess gehen,in dem bereits heute beobachtbare Trendszur legislativen statt marktvermittelten Ein-kommensbestimmung fortgesetzt werden.Fünf Annäherungspfade an ein vollständi-ges Grundeinkommen kann man sich aufder Leistungsseite vorstellen. Auf der Seiteder Finanzierung gibt es eine noch vielgrößere Zahl von Optionen, unter denen dieeinfachste und radikalste die ist, etwajedem US-Bürger 10.000 Dollar pro Jahr aufbürgerrechtlicher und bedingungsloserBasis auszuzahlen (3.000 davon für einePflicht-Krankenversicherung) und dabeidiese Umverteilung aus einem gigantischenKahlschlag aller Subventions- und Transfer-programme zu finanzieren (Murray 2006).

Was die fünf Annäherungspfade auf derLeistungsseite angeht, so handelt es sich umdie folgenden:

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1. Ein Pfad wachsender Großzügigkeit: DasGrundeinkommen würde zunächst erheblichunterhalb der Subsistenzschwelle beginnenund schrittweise nach oben angepasst wer-den (van Parijs 1995; 2001).

2. Man kann sich eine Skala wachsender»Bedingungslosigkeit« vorstellen. Zu Anfangnoch geltende Bedingungen zur Gegenleis-tung würden Schritt für Schritt gelockert(Goodin 2001).

3. Ebenso gibt es eine Skala des zunehmen-den Universalismus: Zu Beginn der Reform-bewegung würden Leistungsansprüche aufbestimmte Einkommens- und Bevölkerungs-gruppen, auch Kategorien von Familien,begrenzt. Ein Beispiel hierfür ist die Politikder Bolsa Familia in Brasilien (Suplicy 2005;2007). Allmählich käme es auf diese Weisezu einer Annäherung an den universalisti-schen Maßstab, nach dem alle Bürger glei-chermaßen anspruchsberechtigt gemachtwerden.

4. Weiterhin gibt es eine zeitliche Skala,auf der man sich eine allmähliche Annähe-rung an das Ideal vorstellen kann. Dabei isteine »chronometrische« von einer »chrono-logischen« Dimension zu unterscheiden.Was die chronologische Dimension angeht,so können wir uns vorstellen, dass derAnspruch auf ein Grundeinkommen nichtmit der Geburt beginnt, sondern bei einerAltersschwelle von beispielsweise 30 Jahren;diese Schwelle muss man passiert haben,um Grundeinkommen zu beziehen. Eine sol-che Schwelle lässt sich recht überzeugendmit dem Gesichtspunkt begründen, dass dasGrundeinkommen nicht den Effekt nachsich ziehen sollte, junge Leute dadurch zumarginalisieren, dass sie vom Erwerb vonQualifikationen und der Teilnahme amArbeitsmarkt abgeschreckt bzw. entmutigtwerden. Was die chronometrische Dimen-sion angeht, so kann das Grundeinkommenzunächst einmal begrenzt werden auf einZeitkonto von vielleicht zehn Jahren pro

Leben. Von diesem Konto können gegebe-nenfalls oberhalb der Altersschwelle dann,so eine Version dieses Vorschlages, Gutha-ben im Umfang von beispielsweise mindes-tens sechs Monaten »gezogen« werden (Offe1997; White 2003b).

5. Schließlich gibt es die Dimension derantizyklischen Ausgestaltung des Grundein-kommens. Sollte der Arbeitsmarkt sichannähernd in einem Vollbeschäftigungs-Gleichgewicht befinden, dann wären Gründedafür gegeben, dass das Grundeinkommenrelativ niedrig angesetzt wird, wobei danndie Transferleistung pro Kopf in dem Maßewachsen würde, wie die Arbeitslosigkeitzunimmt und mit ihr die Chancen, ein aus-reichendes Erwerbseinkommen zu erzielen,abnehmen.

Diese möglichen Annäherungspfade könnennatürlich in vielfältiger Weise kombiniertwerden. Jeder Schritt auf einer dieserDimensionen wird politisch umstritten sein.Es kommt letztlich also alles darauf an, dassman durch intelligentes Experimentierenund die laufende Revision unerwünschterWirkungen vorwärtsschreitet.

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Hartmut Häussermann:Die soziale Dimension unserer Städte– von der »Integrationsmaschine« zuneuen UngleichheitenDie europäische Stadt hat in den letzten Jahrzehnten ihre klassische Funktion als sozialeNivellierungs- und Integrationsinstanz weitgehend verloren. Wachsende ökonomischeUngleichheiten und flexiblere Lebensformen prägen heute das Bild der Stadt. Segregation inunterschiedlichen Quartieren, Residualisierung einkommensschwacher Bevölkerungsteile undzugleich Gentrifizierung führen zu einer innerstädtischen Polarisierung. Hartmut Häusser-mann stellt im internationalen Vergleich unterschiedliche Konzepte vor, mit denen auf dieseSpannungen innerhalb der Städte reagiert wird. Städtische Politik muss dabei sowohl dem wei-teren Abstieg sozial benachteiligter Gruppen entgegenwirken als auch die Interessen der neuenurbanen Kreativmilieus berücksichtigen, deren stadtfixierter Lebensstil in sozialen Netzwerkenauch auf häufig wechselnde, unsichere Erwerbslagen und berufliche Ansprüche reagiert.

Die meisten großen Städte in Europa habensich im Laufe der Industrialisierung ent-wickelt. Sie waren die Orte, an denen eineneue Gesellschaft entstand: die Industriege-sellschaft, gekennzeichnet durch die raschwachsende Masse unqualifizierter Lohnar-beiter, die eine neue Klasse im Sozialgefügeder Städte bildeten. Die enorme Leistungder Städte im Laufe des 20. Jahrhundertsbestand in der Integration und Assimilationdieser Klasse, die dem Bürgertum zunächstnur als rebellische unzivilisierte Masseerschienen war. Mit dem Auf- und Ausbaueines umfassenden Systems von Infrastruk-tureinrichtungen und eines Planungsappa-rates, mit der Entwicklung des Sozialstaatesund ab 1918 auch einer sozialen Wohnungs-politik entstand die »fordistische Stadt«, dieauf der Grundlage von industriellem Wachs-tum und zunehmendem Massenkonsum zueiner »Integrationsmaschine« wurde. Bereitskurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurdedies von Helmut Schelsky als »nivellierteMittelstandsgesellschaft« beschrieben. Inder Tat orientierten sich Stadtentwicklungund Wohnungspolitik seit den 1920er Jah-ren an der Vorstellung einer »modernen«Stadt, in der Klassenunterschiede eingeeb-net sind und die Lebenswirklichkeit voneinem vereinheitlichten modernen Lebens-stil der »breiten Schichten des deutschenVolkes«, wie es im Wohnungsbauförde-rungsgesetz hieß, geprägt ist. Die Standardi-sierung im sozialen Wohnungsbau wardafür ebenso Ausdruck wie die starken Sub-urbanisierungsbewegungen, die durch das

Leitbild der Kleinfamilie motiviert und des-halb auch politisch durch Zuschüsse undSteuernachlässe gefördert wurden.

Die starke Sogkraft der »Mitte« bewirkte imLaufe des 20. Jahrhunderts tatsächlich einegewisse Homogenisierung der Lebensver-hältnisse und der Lebensstile in den Städ-ten. Am Ende des 20. Jahrhunderts erlebtedieses Modell den Beginn einer Erosion, diezu tiefgreifenden Veränderungen in denFormen des Zusammenlebens und in dersozialräumlichen Struktur der Städte führte.Der Strukturwandel der städtischen Ökono-mie, die damit zusammenhängenden Verän-derungen auf den Arbeitsmärkten, dieFinanzkrise der öffentlichen Hand und diezunehmende Individualisierung und Plurali-sierung von Lebensformen haben nicht nurdie Beziehungen zwischen Privathaushaltenund städtischer Umwelt verändert, sondernauch die Rolle der Stadtverwaltungen beider Gestaltung dieser Umwelt. Hatte in der»fordistischen Stadt« die Stadtpolitik einezentrale Rolle gespielt bei der Gestaltungder Voraussetzungen für das Wachstum vonArbeitsplätzen und Bevölkerung sowie beimAusbau der städtischen Infrastruktur, dieeine höhere Lebensqualität und mehr Chan-cengleichheit bewirken sollte, so bleibt derStadtpolitik in der »postfordistischen« Stadtzunehmend eine eher moderierende Funk-tion. Private Investoren und zivilgesell-schaftliche Akteure übernehmen hingegenin stärkerem Maße Steuerungsfunktionen.

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148 149 Hartmut Häussermann: Die soziale Dimension unserer Städte –von der »Integrationsmaschine« zu neuen Ungleichheiten

Von der »Integrationsmaschine« zu neuenUngleichheiten: Die Stadt im WandelIn den europäischen Städten gibt es dreiTrends, die die Sozialstruktur und diesoziale Kohäsion der Städte nachhaltig ver-ändern. Dabei handelt es sich um

1. eine wachsende Einkommensungleich-heit, die aus dem Wandel der ökonomischenStruktur von der Industrie- zur Dienstleis-tungsgesellschaft resultiert;

2. eine wachsende ethnisch-kulturelle Hete-rogenisierung, die neue Herausforderungenfür die gesellschaftliche Integration und diesoziale Kohäsion mit sich bringt;

3. eine zunehmende Ökonomisierung imBereich der technischen Grundversorgungund eine fortschreitende Privatisierung imBereich der Wohnungsversorgung, die sichin einer Zunahme von individuellem Wohn-eigentum und einem Umbau des Systemsder sozialen Wohnraumversorgung äußert.

Der öffentliche Einfluss auf die sozialräumli-che Entwicklung der Städte wird durch dierasche Abnahme von Belegungsbindungenund durch den Verkauf kommunaler Woh-nungsbestände laufend geringer.

Neuere Analysen der Einkommensverteilungin Deutschland zeigen, dass seit dem Jahr2000 die Anteile der unteren Einkommens-gruppen (unterhalb von 70 Prozent desMedian-Jahreseinkommens) sowie dieAnteile der Bezieher von hohen Einkommen(mehr als 150 Prozent des Median-Jahres-einkommens) auf Kosten des Anteils dermittleren Einkommen zunehmen. Dasabnehmende Gewicht der mittleren Einkom-men und das zunehmende Gewicht derniedrigsten und der höchsten Einkommenkann als ein Prozess der Polarisierungbezeichnet werden. Während die hohenLöhne in der verarbeitenden Industrie inder lang anhaltenden Phase wirtschaftlichenWachstums nach dem Zweiten Weltkrieg

auch den gering qualifizierten Arbeiternden Anschluss an die Lebensstile und dasKonsumniveau der Mittelschichten ermög-lichten, ist mit der in den 1970er Jahreneinsetzenden Deindustrialisierung und Ter-tiarisierung der städtischen Ökonomie eineneue Differenzierung verbunden. Die meis-ten einfachen Arbeitsplätze in der Massen-produktion sind in den Städten inzwischenverschwunden, dagegen wachsen in derDienstleistungsökonomie einerseits die sehrgut bezahlten, hoch qualifizierten Arbeits-plätze in den »wissensbasierten« bzw. »krea-tiven« unternehmensbezogenen Bereichenund andererseits die sehr schlecht bezahl-ten Arbeitsplätze in den personenorientier-ten Diensten. Dadurch verliert die »Mitte«bei der Einkommensverteilung an Gewicht;eine Polarisierung zeichnet sich ab. Hinzukommt der Verlust von Stabilität. Immerhäufiger sind Arbeitsverträge befristet, waszu Unterbrechungen beim Einkommensbe-zug führen kann. Insbesondere in den krea-tiven Berufen ist die Projektförmigkeit derBeschäftigung stark verbreitet. Die lebens-lange Beschäftigung mit stetig wachsendemEinkommen, gleichsam der Normalfall inder fordistischen Ära, ist für immer wenigerBeschäftigte noch Realität. Wie Umfragenimmer wieder zeigen, schlägt sich dies ineiner größer werdenden Unsicherheit undZukunftsangst auch bei den Qualifizierten inder Mittelschicht nieder.

Diese Entwicklung ist Teil einer Verände-rung der Städte auch in anderer Hinsicht:

1. Die Städte erleben einen Wandel voneiner hinsichtlich der Nationalität und eth-nischen Herkunft weitgehend homogenenBevölkerung zu einer multinationalen, mul-tikulturellen Stadtbevölkerung. In Londonhaben die Anteile von Bevölkerung mitMigrationshintergrund bereits einen Wertvon fast 50 Prozent erreicht. Auch in eini-gen deutschen Städten liegt dieser Anteilbei etwa 40 Prozent.

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2. Die relativ eindeutigen Klassen- undSchichtungsstrukturen in den Städten wan-deln sich in der Postmoderne zu einemGebilde aus kulturell differenziertenMilieus, deren Interessen und Ansprüche andie Stadt sich erheblich unterscheiden unddie sich nicht mehr zu einheitlichen »Inte-ressensblöcken« formieren lassen.

3. Dieser Wandel ist gekennzeichnet durcheine abnehmende Bedeutung der »Mitte«,auf deren Vergrößerung und Verbreiterungdie sozialstrukturelle Entwicklung nach demZweiten Weltkrieg so deutlich hinauszulau-fen schien. So war etwa der soziale Woh-nungsbau in Deutschland auf die »breitenSchichten der Bevölkerung« ausgerichtet,denen einheitliche Bedürfnisse und Lebens-stile unterstellt wurden. Diese soziale»Mitte« ist heute durch die – von der Globa-lisierung und Ökonomisierung des Sozialenverursachten – Unsicherheiten in zuneh-mendem Maße betroffen. Zukunftsängsteführen dazu, dass der Wunsch nachAbstand zu den Problembeständen in denStädten wächst. Die Mittelschichten werdenvon einer Art »Statuspanik« erfasst, die zueiner verstärkten Sorge um die Zukunft derKinder führt.

4. Die Versuche, den prekären Entwick-lungen in der Gesellschaft zu entgehen,schlagen sich auch räumlich nieder. SozialeSchließung führt dazu, dass die Quartiereder integrierten Bevölkerungsgruppensozial immer stärker entmischt werden.Die Segregation der einkommensschwachenHaushalte geht von der »Mitte« aus.

Die Gesellschaft ändert sich. Sie differen-ziert sich stärker aus und sie wird heteroge-ner. Dieser soziale Wandel vollzieht sichrelativ rasch, er stößt sich gleichsam an denbeharrlicheren Strukturen der Städte.Daraus entstehen Konflikte und Problembe-reiche in den Städten, die nicht mehr wiefrüher vor allem durch bauliche Maßnah-men gesteuert werden können, sondern die

in zunehmendem Maße komplexe und inte-grierte Strategien erfordern. Der städtischeWandel hat zwei Gesichter: »Gentrifikation«,d. h. soziale und bauliche Aufwertung vonQuartieren einerseits, und »Residualisie-rung«, d. h. die Konzentration einkommens-schwacher Haushalte in »benachteiligten«Quartieren andererseits. Beide Prozessehängen zusammen, denn »Gentrifikation«führt zur Verdrängung von Haushalten mitniedriger Kaufkraft aus den innerstädti-schen Lagen, die sich dann immer stärker injenen Segmenten des Wohnungsmarkteskonzentrieren, wo ihnen der Zugang nochmöglich ist.

Nachfolgend soll zunächst auf den Prozessder »Residualisierung« eingegangen werden,um danach auf den Wandel zu sprechen zukommen, der hinter der »Gentrifikation«steht.

»Residualisierung« der Benachteiligten –Probleme und Strategien im internationalenVergleichDer sozialräumliche Wandel in den Städtenfolgt nicht überall dem gleichen Muster. InStädten wie Paris, London oder Kopenha-gen, die ein starkes Wachstum der Nach-frage nach hochqualifizierten Arbeitskräftenaufweisen, ist er durch eine Verdrängungder untersten Einkommensgruppen aus derInnenstadt geprägt, wo sich Inseln mitHaushalten mit einem relativ geringen Ein-kommen nur noch dort halten können, woes einen öffentlichen bzw. sozialen Woh-nungsbestand gibt. In anderen Städten, wiebeispielsweise in Berlin, ergibt sich eineKonzentration der untersten Einkommens-gruppen an den Rändern der City, in derInnenstadt, aber auch in den Großsiedlun-gen am Stadtrand. Dort entstehen die Quar-tiere »mit einem besonderen Entwicklungs-bedarf«, wie es im Bund-Länder-Programm»Soziale Stadt« heißt – eine Umschreibungder zunehmenden Konzentration von Bevöl-kerung mit multiplen sozialen Problemla-gen. Ob der Wandel sich eher als Peripheri-

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150 151 Hartmut Häussermann: Die soziale Dimension unserer Städte –von der »Integrationsmaschine« zu neuen Ungleichheiten

sierung der Armut oder als Konzentrationin innerstädtischen Gebieten darstellt:Gemeinsam ist beiden Erscheinungen dieHerausbildung von Quartieren, von denenbefürchtet wird, dass sie »Kontexteffekte«entfalten, durch die ihre Bewohner zusätz-lich zu ihrer schwierigen sozialen Lagebenachteiligt werden. Diese Gebiete einer»Residualisierung« entstehen umso eher,wenn eine Steuerung der Wohnungsbele-gung aufgrund der abnehmenden Beständean sozialem Wohnungsbau in den innerstäd-tischen Bereichen zunehmend schwierigerwird.

Im »Monitoring Soziale Stadtentwicklung«der Senatsverwaltung für StadtentwicklungBerlin wurde im letzten Bericht gezeigt,dass sich die Quartiere am obersten und amuntersten Rand in einer Skala, die anhandder Problemdichte gebildet wurde, immerstärker auseinanderentwickeln. Von den64 Quartieren, die anhand von sozialenIndikatoren als Gebiete mit einem hohensozialen Status eingestuft wurden, habensich im Laufe eines Jahres 39 noch weiterin eine Richtung entwickelt, die durch nochweniger soziale Probleme gekennzeichnetist. Auf der anderen Seite der Stadt, in denGebieten mit einem niedrigen sozialen Sta-tus, hat sich die Mehrheit der Quartieredagegen weiter negativ entwickelt. Die Rän-der der Stadt streben also weiter auseinan-der. Es ist daher gerechtfertigt, von einersozialräumlichen Polarisierung zu sprechen.

In London, der ökonomisch am stärkstenwachsenden Stadt in Europa, ist eine flä-chendeckende soziale Aufwertung der inne-ren Stadtgebiete zu beobachten. Die Räumefür Haushalte mit niedrigem Einkommenwerden immer enger, sie werden an denRand verdrängt. In Paris ist eine ähnlicheEntwicklung zu beobachten; hier sind frü-her durch sozialen Wohnungsbau imUmland der Stadt, in der »Banlieue«, Woh-nungen entstanden, die für die »breitenSchichten der Bevölkerung« gedacht waren,

die aber heute überwiegend von Migrantenbewohnt werden. Paris hat seine Armutsozusagen ausgelagert, es ist ein starkersozialer Gegensatz zwischen innerer Stadtund Peripherie entstanden. In Berlin dage-gen bilden sich die stärker werdendensozialen Gegensätze in größeren Diskrepan-zen zwischen Quartieren innerhalb desStadtgebietes ab. Die besonders von sozia-len Problemlagen charakterisierten Quar-tiere liegen nördlich und südlich der Innen-stadt sowie an den Rändern der Stadt in Ostund West, wo sich in den dort noch vor-handenen sozialen Wohnungsbeständenzunehmend die armen Haushalte konzen-trieren.

Diese Entwicklungen haben eine mangel-hafte Integration von Migrantengruppen zurFolge, wenn deren Segregation durch Woh-nungsvergabe oder durch Diskriminierungin den »besseren Vierteln« entstanden ist.Diese Gruppen werden dadurch stark segre-giert, es bilden sich erhebliche Konzentra-tionen von Quartieren mit hoher Problem-dichte. Diese Situation hat insbesondere imBildungsbereich eine ausgrenzende Konse-quenz, denn in den Schulen sind die Anteilevon Schülern mit niedrigen Leistungen bzw.mit einer fremden Muttersprache sehr vielhöher als in den Quartieren selbst. DieUrsache dafür ist, dass sich die einheimi-schen Mittelschichten aus diesen Quartierenzurückziehen und so zur weiteren Konzen-tration von Haushalten mit geringem sozia-len und kulturellen Kapital beitragen.

Die Zuspitzung der sozialen Gegensätzezwischen den Quartieren dürfte eine sin-kende Attraktivität der Städte zur Folgehaben, da sich bei fehlender sozialer Kohä-sion Unsicherheitsgefühle in der Stadt ver-breiten – bis hin zu gewaltsamen Eruptio-nen, wie sie insbesondere in den »Ban-lieues« der französischen Großstädte in denvergangenen Jahren zu beobachten waren.Für die Bewohner solcher Gebiete, diedurch eine Kumulation von multiplen Pro-

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blemlagen (Arbeitslosigkeit, Transferabhän-gigkeit, soziale Desorganisation) gekenn-zeichnet sind, entsteht durch den Ort, wosie wohnen, eine Einschränkung ihrerLebenschancen, die das Ziel sozialer Fair-ness bzw. sozialer Gerechtigkeit verletzt.

Insbesondere angesichts der Bevölkerungs-prognosen, die alle zeigen, dass die Anteilejunger Menschen in Zukunft kleiner wer-den, wird ein Eingreifen der Stadtpolitikimmer dringlicher. Quartiere der Benachtei-ligten sind zu benachteiligenden Quartierengeworden. Die Kontexteffekte, die in denQuartieren mit hoher Problemdichte entste-hen, müssen bekämpft bzw. neutralisiertwerden. Für die Jugendlichen ist dabei dieextreme Segregation von bildungsfernenSchichten in den Schulen das Hauptpro-blem, für die Bevölkerung insgesamt ist esdie Netzwerkarmut, d. h. der Mangel ansozialem und kulturellem Kapital, das sol-chen Quartieren, die kulturelle und sozialeGemeinschaften bilden, zunehmend fehlt.Dadurch bilden sich Milieus der Apathieund Resignation, es verbreitet sich eineMentalität des Versagens, die sich dieBewohner selbst zuschreiben oder aneig-nen. Die dadurch entstehende soziale Aus-grenzung wurde in Frankreich als »sozialeApartheid« bezeichnet, ein Ausdruck, derdie höher werdende Schwelle zwischendrinnen und draußen dramatisch akzentu-iert.

In allen europäischen Ländern, die von die-sen Entwicklungen betroffen sind, sindinzwischen nationale Programme eingerich-tet worden, die diesen Tendenzen begegnensollen. Nachfolgend werden fünf Beispielegenannt, die zeigen, dass es sehr unter-schiedliche Strategien gibt.

In England wurde vor über zehn Jahren, alsdie Labour-Partei die Regierung übernom-men hatte, ein Programm gestartet, das dasZiel verfolgt, niemanden durch den Ort zubenachteiligen, an dem er wohnt. Dazu

wurden auf zentraler Ebene indikatoren-gesteuerte, gebietsbezogene Strategien ent-wickelt, die laufend kontrolliert und evalu-iert werden. Das Leitbild der englischenPolitik ist es, die Wettbewerbsfähigkeit unddie soziale Kohäsion gleichzeitig zu fördern,also Notlagen zu bekämpfen, Lebens-chancen zu erhöhen und dies durch einegesamtstädtisch integrierte Politik miteinan-der zu verbinden.

Die französische Quartierspolitik hat sichüber drei Phasen entwickelt: Zunächst wur-den im Stile von Gemeinwesenarbeit dieBewohner und ihre Organisationen geför-dert, um das soziale Kapital zu stärken.In einer zweiten Phase entstand eine auf dieEntwicklung des gesamten Quartiers gerich-tete Strategie, die Steuerbefreiungen fürUnternehmen und eine positive Diskriminie-rung bei der Infrastruktur umfasste. So wur-den z. B. Schulen bei der Ausstattung mitLehrern bevorzugt, öffentliche Einrichtun-gen erneuert und – wo sie fehlten – hinzuge-fügt. In der dritten, gegenwärtigen Phaseder Quartierspolitik ist die französischeRegierung zu einem direkten Angriff aufdie Segregation übergegangen, die neuenSchlagworte heißen: »Mixité, Mixité,Mixité!« Durch den Abriss von Wohnblöckenin den Großsiedlungen und durch den Neu-bau von Sozialwohnungen an anderer Stellesoll eine Desegregation herbeigeführt wer-den. Alle Städte mit einer Einwohnerzahlüber 20.000 sind gesetzlich verpflichtet,etwa 20 Prozent ihres Wohnungsbestandesals sozialen Wohnungsbau auszuweisen, umdie hohe Konzentration von Bewohnern, dieauf solche Wohnungen angewiesen sind,abzubauen.

In den Niederlanden ist ein Gesetz erlassenworden, das es den Kommunen erlaubt,Gebiete abzugrenzen, für die sie eineZuzugssperre für Haushalte mit sehr niedri-gen Einkommen erlassen können. Dort dür-fen Bewohner, die in den letzten vier Jahrennach Holland zugezogen sind und die weni-

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152 153 Hartmut Häussermann: Die soziale Dimension unserer Städte –von der »Integrationsmaschine« zu neuen Ungleichheiten

ger als das 1,5fache des Sozialhilfeniveausals Einkommen haben, nicht mehr zuziehen.Ihnen werden Wohnungen in anderenQuartieren zur Verfügung gestellt. Gleich-zeitig werden Quartiere mit einer hohenProblemverdichtung durch Eigentumsbil-dung, höherwertigen Wohnungsbau unddurch gezielte Aktionen der Nutzung vonleerstehender Infrastruktur aufgewertet.Am Rande der Städte werden Großsiedlun-gen umgebaut, Abriss und Neubau vonSozialwohnungen gehören ebenfalls zu die-ser Strategie.

In Deutschland gibt es seit dem Jahre 2001das Programm »Stadtteile mit besonderemEntwicklungsbedarf – Die Soziale Stadt«. DasProgramm hat zum Ziel, die Abkoppelungvon Quartieren von der gesamtstädtischenEntwicklung zu bremsen bzw. in ihr Gegen-teil zu verkehren. Mittel dazu ist das»Empowerment« der Bevölkerung, d. h. ihreBeteiligung an gebietsbezogenen Entschei-dungen und die Bereitstellung von Möglich-keiten, selbst aktiv zu werden. Dazu gehö-ren integrierte Strategien der Gebietsent-wicklung, in denen Fachpolitiken miteinan-der verzahnt werden sollen. Die Programmedes Stadtumbaus in Ost und West richtensich vor allem auf Quartiere, in denen durchden Wohnungsbestand eine Problemver-dichtung entstanden ist bzw. in denen leer-stehende Wohnungen die Quartiersentwick-lung nachhaltig beeinträchtigen. In derWohnungsbaupolitik dominiert die Privati-sierung von Wohnungen. Durch die Stadt-umbauprogramme werden Abrisse geför-dert, es gibt allerdings keinen Neubau vonSozialwohnungen als Bestandteil einerStrategie der nationalen Stadtentwicklungs-politik. Es gibt kaum Möglichkeiten für dieStadtpolitik, neue Arbeitsplätze in denQuartieren zu schaffen, in denen dieArbeitslosigkeit besonders hoch ist. Undwenn sich die Quartierspolitik auf dieEntwicklung endogener Potentiale richtet,wie häufig proklamiert wird, dann müssenzwangsläufig schulische und berufliche

Qualifikationen ins Zentrum der Bemühun-gen rücken. Diese sind auch genau diejeni-gen Bereiche, für die negative Kontextef-fekte am ehesten zu erwarten sind.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt dasamerikanische Ministerium für Stadtent-wicklung. Nach einem ersten Zugriff aufdie Blocks des »Public Housing«, die aller-dings nur einen minimalen Anteil an derGesamtwohnungsversorgung ausmachen,ist das experimentelle Programm MTO(»Moving To Opportunity«) aufgelegt wor-den, das einen Modellversuch in fünf gro-ßen Städten (New York, Los Angeles, Chi-cago, Baltimore und Boston) darstellt, indessen Rahmen einzelnen Haushalten dieMöglichkeit zum Umzug aus einem depra-vierten Gebiet in ein suburbanesMittelschichtgebiet ermöglicht wird.Dadurch sollen die Haushalte von den Kon-texteffekten befreit und ihre Entwicklungs-chancen verbessert werden. Das Programmwird sorgfältig evaluiert.

Die Quartiersentwicklung ist, was ihresoziale Problemdichte angeht, abhängig vonden Rahmenbedingungen, die durch denArbeitsmarkt und die Institutionen dersozialen Sicherung gebildet werden. Daszentrale Ziel der Strategien in allen fünfLändern ist es, die Kontexteffekte zu neu-tralisieren. Quartiere sollen entwickelt,soziales Kapital gestärkt, Exklusionbekämpft werden. Dies kann durch die Stär-kung der örtlichen Wirtschaft und die damiteinhergehende Ausweitung des Arbeitsan-gebotes geschehen sowie durch die Stär-kung des sozialen Kapitals in den einzelnenQuartieren. Ein Merkmal der meisten natio-nalen Strategien ist die Desegregation durchAbriss und Neubau von Sozialwohnungen,aber auch durch die Steuerung der Wohn-standorte von Haushalten mit großen sozia-len Problemen. Schließlich versucht dasamerikanische Programm, durch die Förde-rung der Mobilität einen Wechsel des Kon-textes für einzelne Haushalte herbeizufüh-

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ren, mit dem die Perspektiven der darinlebenden Personen verbessert werden sol-len.

»Gentrifikation« – die neuen urbanenMilieus und ihre flexiblen Arbeits- undLebensformenIn den letzten Jahren ist viel von der Revita-lisierung beziehungsweise Renaissance derInnenstädte die Rede. Sowohl beim »Stadt-umbau«, bei dem es um die Anpassung vonStadtstrukturen und Wohnungsbeständenan eine schrumpfende Bevölkerungszahlgeht, als auch bei der Förderung von Inves-titionen in den Städten steht die »Stärkungder Innenstadt« immer im Zentrum. Auchprivate Investoren bevorzugen wiederinnerstädtische Standorte bei der Errich-tung von Einkaufszentren, der öffentlicheRaum wird aufgewertet, Kultureinrichtun-gen werden modernisiert oder neu errich-tet.

Nach Jahrzehnten des Bevölkerungsverlus-tes der großen Städte an ihr Umland hatsich die Suburbanisierungsbewegung inzwi-schen abgeschwächt, die Bevölkerungszah-len vieler Großstädte nehmen wieder zu.Verantwortlich dafür ist eine neue Nach-frage nach innerstädtischem Wohnraum,der vor allem von jüngeren Haushalten miteinem hohen Bildungsniveau ausgeht. Zwarsind keineswegs alle Absolventen von Hoch-schulen in der Lage, hohe Mieten bezie-hungsweise Kaufpreise für modernisierteWohnungen zu bezahlen, aber in denLebensstilen hat sich doch eine entschei-dende Veränderung ergeben: Während frü-her mit dem Abschluss der Berufsausbil-dung und dem Einstieg in ein Beschäfti-gungsverhältnis häufig die Abwanderung insUmland verbunden war, bleiben solcheHaushalte nun häufiger in der Stadt woh-nen.

Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe: Zumeinen bietet der einschlägige Arbeitsmarktheute nur noch wenigen eine Perspektive,

die eine langfristige Finanzplanung (undVerschuldung) zum Kauf eines Hausesermöglicht. Gerade bei den modernen krea-tiven Berufen, die in der wissensbasiertenÖkonomie der Städte eine immer größereBedeutung bekommen, haben befristetebeziehungsweise prekäre Beschäftigungenein hohes Gewicht. In diesem Berufsseg-ment wird eine hohe zeitliche Flexibilitäterwartet, zudem treten häufig Phasen vonNichtbeschäftigung auf. Arbeit ist immeröfter in Projektform organisiert, man muss»am Ball bleiben«, um nach Ablauf desgegenwärtigen Projektes wieder bei einemnächsten mit anderen Partnern mitmachenzu können. Um den Kontakt zu diesemArbeitsmarkt nicht zu verlieren, muss manin den entsprechenden Milieus beziehungs-weise Netzwerken präsent sein. Der Ortdafür sind sehr häufig die multifunktionalgemischten innerstädtischen Altbaugebiete,in denen es auch eine große räumliche Fle-xibilität gibt. Das Wohnen in der Innenstadtwird so gleichsam zu einer Frage der exis-tentiellen Sicherheit. Zum zweiten ist inzwi-schen das Bildungsgefälle zwischen Mäd-chen und Jungen weitgehend abgebaut, sodass sich immer mehr Paare finden, beidenen beide Partner einen akademischenAbschluss haben. Auch die jungen Frauenwollen ihre erworbenen Qualifikationen aufdem Arbeitsmarkt verwerten, sie sind –abgesehen davon, dass die Männer immerseltener einen »Familienlohn« beziehen – inimmer geringerer Zahl bereit, sich nur umHaushalt und Kinder zu kümmern. Wennaber ein Alltag mit zwei Berufstätigen orga-nisiert werden muss, in dem von beideneine hohe Flexibilität in zeitlicher undräumlicher Hinsicht erwartet wird, sindkurze Wege eine Notwendigkeit. Dieses Pro-blem potenziert sich, wenn Kinder im Haus-halt leben. Das Leben in der suburbanenRegion, bei dem die Arbeits-, Schul-, Frei-zeit- und Wohnorte durch Pendeln mit demindividuellen Pkw verbunden werden müs-sen, setzt im Grunde eine Vollzeitarbeits-kraft voraus: die Hausfrau. Da sich aber aus

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den genannten Gründen auch Frauen inimmer geringerer Zahl für diese Tätigkeitzur Verfügung stellen, geht der Suburbani-sierung gleichsam das Personal aus. »A pro-fessional woman needs a wife«, formulierteeine englische Soziologin bereits in den1980er Jahren, und Elisabeth Pfeil hatbereits früher festgestellt, welche großeBedeutung die »ambulante Oma« für dieHaushalte mit jüngeren Kindern hat.

Dieser Wandel des Lebensstils, der auf dasengste verbunden ist mit dem Wandel derRolle der Frauen in unserer Gesellschaft,hat also zur Folge, dass sich eine räumlichund funktional geringere Trennung zwi-schen Wohnen und Arbeiten gerade bei denHaushalten entwickelt, die in den Segmen-ten der städtischen Ökonomie tätig sind, diedie höchsten Wachstumsraten aufweisen. Inden innerstädtischen Quartieren ist dasLeben mit Kindern aber nur dann leichter,wenn die Haushalte in soziale Netze und einNetzwerk von unterstützender Infrastruktureingebunden sind, die zeitliche Flexibilitätund die Verbindung von Eltern- undArbeitsrolle ermöglichen. Da gerade bei dergemeinsamen Erziehung von Kindern, etwadurch wechselseitiges Beaufsichtigen in derWohnung oder durch Übernachtungen beiFreunden, sehr stark auf die Ähnlichkeitvon Erziehungsvorstellungen und kulturel-len Standards geachtet wird, werden kultu-rell sehr homogene Milieus bevorzugt. Wersein Kind in Obhut anderer gibt, will sichsicher sein, dass die Bedürfnisse des eige-nen Kindes nicht missachtet werden unddass der Umgang auch entsprechend »kulti-viert« ist. Diese Sorge erstreckt sich auchauf Kindergärten und Schulen, wodurchsich dort eine immer stärkere Segregationnach Bildungsniveau und Lebensstil heraus-bildet.

Angesichts der demographischen Entwick-lungen sind die Städte immer mehr darumbemüht, junge und qualifizierte Menschenanzuziehen. Ein günstiger Arbeitsmarkt ist

dafür natürlich eine zentrale Voraussetzung.Aber die Möglichkeit, nach eigenen Vorstel-lungen sein Leben einrichten zu können,wird – Stichwort »postmaterielle Orientie-rung« – doch auch sehr hoch bewertet. Inallen großen Städten haben sich inzwischeninnerstädtische Quartiere mit einer vielfälti-gen funktionalen Mischung herausgebildet,die zunehmend von jüngeren Bewohnernmit einem hohen Bildungsniveau bewohntwerden. Dies stellt für die Städte eine wich-tige Ressource dar, denn der »Kampf um dieKöpfe« wird zu einem immer wichtigerenElement in der Standortkonkurrenz.

Aus dem bisher Gesagten sollte deutlichgeworden sein, dass sich die Lebensstile inden Städten und damit auch die Bedürfnissein verschiedenen Stadträumen stark ausei-nanderentwickeln. Auf der einen Seite sindvor allem die Sicherungen durch den tradi-tionellen Wohlfahrtsstaat und die Förderungdurch ein modernisiertes Bildungssystemvon fundamentaler Wichtigkeit. Auf deranderen Seite ist die Entwicklung von neu-artigen Unterstützungssystemen für neueArbeits- und Lebensformen notwendig.

Die Stadtpolitik kann sich also immer weni-ger an einem biographischen Modell und aneiner Standardform von privaten Haushal-ten orientieren. Verschiedene Unterstüt-zungsleistungen sind an verschiedenenOrten gefragt. Das »soziale Kapital«, dassich in den Quartieren auf die eine oderandere Weise bildet, sieht sehr verschiedenaus und muss durch sehr verschiedene Stra-tegien unterstützt werden.

Die »modernen« (fordistischen) Vorstellun-gen vom Leben und von der Organisationder Stadt sind in eine Krise geraten, wobeiinsbesondere die Standardisierung vonLeistungen den gegenwärtig sich ausdiffe-renzierenden Bedürfnissen und Nachfragenimmer weniger gerecht wird. Die durch dieräumliche Konzentration von problembela-denen Haushalten entstandenen Situationen

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lassen befürchten, dass sich Milieus mitnegativen Kontexteffekten verfestigen. Wiedie Stadtpolitik darauf reagieren kann, istbisher noch keineswegs geklärt – häufigwird in den Städten noch nicht einmal dasProblem wahrgenommen. Die skizziertenAnsätze in verschiedenen Ländern zeigen,welche Suchbewegungen derzeit unternom-men werden. Die neuen Lebensstile ininnerstädtischen Altbauquartieren, die miteiner wieder wachsenden Kinderzahl ver-bunden sind, verdienen aber genauso dieAufmerksamkeit der Stadtpolitik und dieEntwicklung innovativer Konzepte, um dieBewältigung des immer komplexer werden-den Alltags zu unterstützen.

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156 157 Klaus Peter Strohmeier:Die Stadt im Wandel – Wieder-gewinnung von Solidarpotential

In Stadtvierteln mit massiven sozialen Problemen beobachten wir seit einigen Jahren zuneh-mende Entsolidarisierungsprozesse. Klaus Peter Strohmeier zeigt am Beispiel des Ruhrgebiets,wie sich unter einkommensschwachen Bevölkerungsteilen Misstrauen und Abkapselung aus-breiten. Für eine Partizipation dieser Betroffenen an lokaler Politik und Stadtteilentwicklungist jedoch ein neues Vertrauen in eigenes und fremdes Handeln nötig: Integration ist nur dannerfolgreich, wenn dieses Vertrauen untereinander entsteht. Programme zur sozialen Stadtteil-erneuerung müssen langfristig dieses Vertrauen unter den sozial Benachteiligten befördernund erzeugen.

Solidarität und Solidarpotentiale inder modernen GesellschaftSolidarität ist ein Gefühl mit Potential. BeiÉmile Durkheim ist »organische Solidarität«das Gefühl der wechselseitigen Abhängig-keit der Menschen in einer arbeitsteiligenGesellschaft, aus dem bindende moralischeOrientierungen des Handelns erwachsen.Solidarität ist das Gefühl von Zusammenge-hörigkeit und gemeinsamen Interessen, ausder spontane Kooperation, Hilfe und beiBedarf Unterstützung, ohne unmittelbarerwartete Gegenleistung, entstehen können.Franz-Xaver Kaufmann (1984) unterscheidetdrei gesellschaftliche Steuerungsmechanis-men: Markt, Macht (Hierarchie, Organisa-tion) und Solidarität, von denen Solidaritätder Mechanismus ist, der Ordnung ameffektivsten und effizientesten stiftet.Grundsätzlich ist die Bereitschaft zu solida-rischem Handeln gebunden an soziale Näheund an die Wahrnehmung eines »sozialenBandes«, das Menschen verbindet (Gabriel/Herlth/Strohmeier 1997).

Das wirkungsvollste, Solidarität stiftende»Band« in der modernen Gesellschaft istsicherlich Verwandtschaft. Die Verpflich-tung, unter bestimmten Bedingungen undgegenüber Familienmitgliedern solidarischzu handeln, hat den Charakter einerkulturellen Norm. »Familien sollen zu-sammenhalten«, nennt Kaufmann (1995)eine »Aufgabe« der Familie. »Nachbarnsollen zusammenhalten« ist im ländlichenRaum, wo es zum Teil heute noch spezifi-sche Bräuche nachbarschaftlichen Ver-haltens gibt, aber auch in den Arbeiter-vierteln der großen Städte lange Zeit eine

ebenso anerkannte Selbstverständlichkeitgewesen.

Individualisierung in der modernen Gesell-schaft, so eine wohlfeile Zeitdiagnose, istdas Ende der sozialen Solidarität (Huinink/Strohmeier/Wagner 2001). Tatsächlichbeobachten wir heute die Auflösung tradi-tioneller Sozialverbände, etwa die Erosiongewerkschaftsnaher oder konfessionellerMilieus. Dieser Diagnose lässt sich ent-gegenhalten, dass lebenslange »Zwangsver-gemeinschaftungen« heute in zunehmendemMaße durch kündbare »Wahlvergemein-schaftungen«, die Menschen durchaus nut-zenorientiert und zunehmend befristet ein-gehen, ersetzt werden (Heinze/Bucksteeg2001; Tegethoff 1999). Der Kontrapunktzum Erosionsszenario ist »entgrenzte Soli-darität«, die zunehmend alle Menschen unddie ganze Welt einschließen will.

Solche Debatten übersehen, dass die sozia-len Unterschichten, anders als die gebilde-ten Mittelschichten, von der Individualisie-rung – in deren Folge immer mehr Men-schen das Recht auf ein »eigenes Leben«haben und wahrnehmen – nicht rechterreicht worden sind. Sie erleben zwar dieErosion traditioneller Formen sozialer Soli-darität, aber eben keine sie ersetzendenund ihre Wirkungen kompensierendenneuen Formen freiwillig gewählter Bindun-gen.

Solidarpotentiale in der »Unterstadt« –soziale Milieus im StrukturwandelFranz Josef Degenhardts Lied von denSchmuddelkindern verdanken wir die Meta-

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pher von der »Oberstadt«, in der die bürger-lichen Schichten leben, und der »Unter-stadt« des Proletariats, wo es Armut undSünde auf der einen, auf der anderen Seiteaber vor allem auch Solidarität gegeben hat.Heute sind aus etlichen von nachbarlicherSolidarität und sozialer Kontrolle geprägtenArbeitervierteln der 1950er Jahre Armuts-quartiere geworden, geprägt von Entsolida-risierung und verbreiteter sozialer Isolationder Bewohner, ohne Perspektive für die, diedort aufwachsen.

Jede Gesellschaft, so stand es im fünftenFamilienbericht der Bundesregierung ausdem Jahr 1994, braucht eine nachwach-sende Generation, die mit elementarensozialen Kompetenzen und Motiven – unteranderem Solidarität, Empathie, Partizipati-onsbereitschaft und Gesundheit – ausgestat-tet ist, um diese Gesellschaft als Erwach-sene fortsetzen zu können. Die Familie unddie sie umgebenden »kleinen Lebenskreise«im Stadtteil haben große Bedeutung für dieBildung des Humanvermögens. Hier werdenVertrauensfähigkeit als Merkmal sozialerKompetenz und Vertrauenswürdigkeit alsBedingung sozialer Mitgliedschaften aufge-baut. Mit Bezug auf Niklas Luhmann (2001)werden im Folgenden Grundelemente einer»Alltagsepistemologie« von Vertrauen undMisstrauen in alltäglichen sozialen Bezie-hungen entwickelt. Aus diesem theoreti-schen Modell lassen sich praktische Über-legungen für effektive Strategien sozial-inte-grativer Politik in benachteiligten Sozialräu-men ableiten. Am Schluss des Beitrags wer-den einige Beispiele guter Praxis in derFamilien- und Integrationspolitik vor-gestellt, die es verdienen, unter vergleich-baren Bedingungen imitiert zu werden.

Die Sozialforschungsstelle der UniversitätMünster in Dortmund hat 1959 unter demTitel »Daseinsformen der Großstadt« eineStudie über die Stadt Dortmund als Prototypder industriellen Großstadt im Nachkriegs-deutschland publiziert. In der sich derzeitig

in Vorbereitung befindlichen Replikationdieser Studie 50 Jahre später wird dieselbeStadt nach Jahrzehnten eines tiefgreifendenStrukturwandels noch einmal untersucht.Eine solche Replikation wird mit großerWahrscheinlichkeit irreversible Wandlungenvor allem im Bereich der ehemals proletari-schen Milieus aufdecken. Die Arbeiterviertelder industriellen Großstadt sind dieArbeitslosenviertel am Anfang des 21. Jahr-hunderts.

Das traditionelle Arbeitermilieu war noch,wie die Befragung der Dortmunder Nord-stadtbewohner in den 1950er Jahrenergeben hatte, durch eine typische »sozialeBandbreite«, das heißt eine Art mehrdimen-sionales Ähnlichkeitsprofil der Menschen,die dort lebten, geprägt. Das typische Soli-darpotential des Stadtteils gründete sich aufverschiedenen Loyalitäten in Betrieb, Ver-wandtschaft und Nachbarschaft, die einan-der gegenseitig überlagerten und damit ver-stärkten. Zwei Drittel der Menschen, darun-ter viele Flüchtlinge, die in der Nordstadt inkleinen, vielfach überbelegten Wohnungenlebten, hatten Verwandte im selben Stadt-teil, die zugleich Nachbarn waren. Außer-dem war der Nachbar zugleich für die meis-ten Männer der Arbeitskollege, der auf derZeche oder in der Hütte arbeitete.

Die Autoren beschrieben das Milieu als eine»Kultur des Borgens«, in der man einandermit Gütern des täglichen Bedarfs und mitkleinen Gefälligkeiten aushalf. Das Milieuwar nicht ohne Konflikte, aber dennochgetragen vom Vertrauen in die Sozialitätund Solidarität der anderen. Noch in den1970er Jahren konnte man beobachten,dass temporäre Notlagen, z. B. infolge vonArbeitslosigkeit oder Armut, in Gelsenkir-chener Arbeiterquartieren wirkungsvolldurch Familien- und Nachbarschaftssolida-rität überbrückt wurden, ohne dass die»Fürsorge« ins Haus kam (Strohmeier 1983).Noch in den 1990er Jahren gab es – imGegensatz zu heute – keinen statistischen

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158 159 Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wandel – Wiedergewinnung von Solidarpotential

Zusammenhang zwischen Sozialhilfedichteund Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet. Bis indie 1980er Jahre hinein war die Bevölke-rung in den Ruhrgebietsstädten die sess-hafteste in ganz NRW. Innerhalb wenigerJahre hat sich die Fluktuation deutlicherhöht.

Das stabile, sozial integrierte Milieu derIndustriearbeiter ist im Zuge des wirtschaft-lichen Strukturwandels allmählich ver-schwunden. Deindustrialisierung, Entwer-tung der vorhandenen Qualifikationen,Arbeits- und Perspektivlosigkeit haben dieArbeiterviertel der Industriegesellschaft indie Siedlungen einer neuen »sozialen Unter-klasse der Dienstleistungsgesellschaft«transformiert (Dubet/Lapeyronnie 1994).Von diesen Transformationen ist auch die indiesem Milieu traditionell besonders starkeFamiliensolidarität betroffen, denn sie»bedarf der Hoffnung auf bessere Zeiten«(Strohmeier 1995) und versagt in verstetig-ten Armutslagen.

Heinz Buschkowsky, Bürgermeister desBerliner Stadtbezirks Neukölln, hat in einerdichten Schilderung die spezifischen Pro-bleme der Familien (einschließlich der Pro-bleme von Politik und Verwaltung mit denFamilien) in solchen heute von Einkom-mens- und Bildungsarmut geprägten, meistethnisch hoch segregierten Stadtviertelnbeschrieben (siehe hierzu auch das Inter-view mit Herrn Buschkowsky in diesemBand). Diese Informationen sollen im Fol-genden in den Kontext von Forschungengestellt werden, die das Zentrum für inter-disziplinäre Regionalforschung an der Ruhr-Universität Bochum in den letzten Jahrenunternommen hat. Es wurden Strukturenund Folgen sozialer Segregation in denStädten untersucht und die Auswirkungenräumlicher Strukturen sozialer Ungleichheitin den Städten auf das Aufwachsen von Kin-dern und Jugendlichen transparent gemacht(Faktor Familie 2009). Weiterhin wurden inNRW sowohl Fördergebiete für das Landes-

programm »Stadtteile mit besonderem Ent-wicklungsbedarf – Soziale Stadt« identifiziertals auch ein Gutachten über »soziale Kon-texte der Stadtteilentwicklung« im Rahmender Evaluation des Landesprogrammserstellt (City-Monitoring 2009; Sozialbe-richterstattung 2009). Mit einer mittlerweilebeträchtlichen Zahl von Städten wurde dieEntwicklung einer kommunalen Familienbe-richterstattung mit dem Ziel einer systema-tischen Orientierung der örtlichen Familien-politik vorangetrieben und ein Instrumentder Vernetzung und Qualifizierung derAkteure vor Ort entwickelt (Familie in NRW2009).

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnissewerden nachfolgend theoretische Über-legungen über Modelle örtlicher Sozialpoli-tik angestellt, die zum Ziel haben, sozial»abgehängte« apathisch-resignative »Gestal-tungspessimisten« in benachteiligten und –besonders mit Blick auf die Lebenschancender nachwachsenden Generation – benach-teiligenden Sozialräumen in die Ortsgesell-schaft zu »integrieren«.

Suburbanisierung und Segregation:»Daseinsformen der Großstadt heute«Der Suburbanisierungsprozess der letztendrei Jahrzehnte hat zu einer regionalenUmverteilung der Bevölkerung nachLebenslagen (arm und reich) und nachLebensformen (Menschen mit und ohneKindern) geführt. Das Umland der Groß-städte ist zur Familienzone der mobilenMittelschicht geworden. Hier werden Kom-munalpolitiker trotz Geburtenrückgangheute noch mit fortbestehenden Engpässender kinder- und familienbezogenen sozialenInfrastruktur konfrontiert. Aus den meistenKernstädten dagegen ist die Familie mitKindern als Lebensform weitgehend ver-schwunden, auch wenn es vereinzelt eineRenaissance des Familienlebens in bestimm-ten Szenevierteln, etwa am Prenzlauer Bergin Berlin, geben mag. In der FreiburgerAltstadt zum Beispiel liegt der Anteil der

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Bevölkerung unter 18 Jahren unter fünf Pro-zent, im Stadtteil Rieselfeld dagegen sindmehr als ein Drittel der Bewohner unter18 Jahre alt.

Die meisten Haushalte in den Kernstädtensind heute kleine »Nicht-Familienhaushalte«,das heißt Einpersonenhaushalte und diesogenannten neuen Haushaltstypen: »LivingApart Together«, Paare verschiedenen odergleichen Geschlechts und andere Haushalts-formen kinderloser Erwachsener. In einzel-nen Stadtteilen in den Dienstleistungs- undVerwaltungszentren liegt der Anteil der Ein-personenhaushalte an den Haushalten ins-gesamt über vier Fünfteln. Die in den Städ-ten im Ballungskern verbliebenen Familien-haushalte sind vielfach Familien alleinerzie-hender Mütter (die meisten davon nachScheidung) und (kinderreiche) Familien mitMigrationshintergrund. Diese städtischenFamilien sind heute besonders von Armutbetroffen. Im Jahr 2004 bezog jedes dritteKind unter sechs Jahren in den innerstädti-schen Vierteln einer großen Ruhrgebiets-stadt Sozialhilfe, im Kreis Kleve am Nieder-rhein dagegen nur jedes sechzigste.

Armut in Deutschland ist heute vor allemdie Armut der Kinder, der jungen Frauenund der Familien. Dabei geht es nur in denseltensten Fällen um absolute Armut, in derdas absolute Existenzminimum nicht mehrgewährleistet wäre, sondern um »relativeArmut«. Relative Armut ist ein Grad vonsozialer Ungleichheit und Unterversorgungmit Ressourcen der Lebensführung, der ineiner Gesellschaft als ungerecht bzw. alsnicht akzeptabel angesehen wird.

Bei insgesamt zurückgehender Bevölkerungin immer mehr Städten führen selektiveWanderungen, das heißt der Fortzug derMittelschichtfamilien ins Umland, beigleichzeitigen Zuwanderungsüberschüssenaus dem Ausland und die unterschiedlichenGeburtenraten der deutschen und der nicht-deutschen Bevölkerung dazu, dass sich der

Anteil der Einwanderer unter den 20- bis40-jährigen jungen Erwachsenen bereitsinnerhalb des nächsten Jahrzehnts mehr alsverdoppeln wird. In den kreisfreien Städtendes Ruhrgebiets werden bis 2015 mehr als40 Prozent der unter 40-Jährigen einen»Migrationshintergrund« haben.

Nur noch jeder sechste Haushalt in den gro-ßen Städten ist ein Familienhaushalt. Nurwenige der städtischen Familien findet manin den euphemistisch »Stadtteile mit beson-derem Entwicklungsbedarf« genanntenArmutsinseln der inneren Stadt und in denGroßsiedlungen des sozialen Wohnungs-baus. In Gelsenkirchen und Essen wachsenetwa 60 Prozent der Kinder und Jugendli-chen in benachteiligten Stadtteilen auf, inMünchen sind es immer noch 40 Prozent.Überall in Europa ist in diesen Vierteln dieErosion traditioneller informeller Solidarpo-tentiale in Familie und Nachbarschaft alsFolge von Verstetigung der Arbeitslosigkeit,materieller Not und sozialer Ausgrenzungzu beobachten.

Unter den Bedingungen von Stagnation odergar Schrumpfung der Bevölkerung kommtes in den Städten zur fortgesetzten Steige-rung gesellschaftlicher Polarisierung. Einezunehmende Ungleichheit von Lebenslagenund Lebensformen wird auch räumlich ineiner wachsenden sozialen Segregationabgebildet. Neuere Analysen zur Segrega-tion der Wohnbevölkerung in wachsendenund schrumpfenden Städten belegen, dassbei sinkender Gesamtbevölkerung dieArmutssegregation besonders ausgeprägtist, während in wachsenden Städten dieArmutssegregation geringer ist. Unabhängigvom Wohnungsmarkt aber leben die Rei-chen überall am stärksten segregiert unterihresgleichen (Strohmeier et al. 2008a;Strohmeier/Alic 2006).

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160 161 Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wandel – Wiedergewinnung von Solidarpotential

Isolierte Armut in der neuen »Unterklasseder Dienstleistungsgesellschaft« und ihreFolgenIn den großen Städten Deutschlands sinddie Stadtteile mit den höchsten Anteilen vonKindern und Familien an der Bevölkerungzugleich jene, die sich durch besondershohe Armutsquoten, hohe Arbeitslosigkeit,hohe Anteile von Alleinerziehenden undbesonders viele Aussiedler und Ausländerauszeichnen.

Einige dieser Stadtteile sind zugleich jenemit der höchsten Belastung durch Gewalt-kriminalität. Hier ereignen sich die meistenDelikte, hier wohnen die meisten Täter unddie meisten Opfer von Gewalt. Bei denNRW-Kommunalwahlen 1999 und 2004 gin-gen dort nur zwei Drittel der wahlberechtig-ten Bevölkerung zur Wahl. KommunaleWahlbeteiligung ist ein Indikator für diesoziale Integration der Menschen in ihreGemeinde. In den ärmsten Vierteln findensich die niedrigsten Niveaus lokaler Integra-tion und Identifikation der Bevölkerung mitihrer Stadt und dem Stadtteil. Im Zusam-menhang damit steht eine relativ hoheMobilität bzw. ein hoher »Bevölkerungsum-satz« bei schrumpfender Bevölkerungszahl.In den meisten Stadtteilen im nördlichenRuhrgebiet, das vom wirtschaftlichen Struk-turwandel besonders betroffen ist, wirdinfolge von Zu- und Fortzügen rein rechne-risch die Bevölkerung alle drei bis fünfJahre einmal komplett ausgetauscht. In denInnenstädten ist die Fluktuation deutlichhöher. Die meisten dieser Stadtteile warenin den Hochzeiten der großindustriellenProduktions- und Beschäftigungsweise, diein Westdeutschland in den 1970er Jahren, inOstdeutschland mit der deutschen Einheitendete, einmal die Quartiere mit der sess-haftesten und räumlich am wenigsten mobi-len Bevölkerung. Die Wohnungen warenWerkswohnungen, die Nachbarn zugleichKollegen. Heute lebt die »Unterschicht derDienstleistungsgesellschaft« (Dubet/Lapey-ronnie 1994) in ökonomisch prekären Ver-

hältnissen, ohne traditionelle betrieblicheSolidaritäten, ohne traditionelle familialeund nachbarschaftliche Solidaritäten. DieseUnterschicht lebt sozialräumlich segregiert,ohne lokale Identifikation und sozial isoliertin Stadtteilen, deren »soziale Bandbreite«,das soziale Ähnlichkeitsprofil, allein durchdie Einkommensarmut der Bewohnerbestimmt wird. Armut allein aber stiftetkeine sozialen Beziehungen und schon garkeine Solidarität.

In Stadtteilen, in denen diejenigen wohnen,die keine Beteiligungsrechte haben, nimmtdie große Mehrheit derer, die solche Rechtehaben, sie auch nicht wahr. Der größere Teilder nachwachsenden Generation wächst ingroßen Städten unter Lebensbedingungenauf, die die alltägliche Erfahrung der Nor-malität von Armut, Arbeitslosigkeit, sozialerAusgrenzung und Apathie, gesundheitlichenBeeinträchtigungen, gescheiterten Familien,möglicherweise auch Gewalt und Vernach-lässigung umfassen. Kinder in Armutsstadt-teilen erfahren damit eine abweichendegesellschaftliche Normalität. In einem preis-gekrönten Artikel in der Zeitschrift »Stern«beschreibt Walter Wüllenweber dieses»wahre Elend« (Wüllenweber 2004). Die»natürliche« Einstellung der Menschen zur

Abbildung 21: Anteil der Ausländer und Aus-siedler an der Wohnbevölkerung sowie kom-munale Wahlbeteiligung in den Stadtteileneiner Ruhrgebietsstadt

Quelle: Strohmeier (Eigene Darstellung)

Stadtteile in Essen

40

30

20

10

0

Aussiedler und Ausländer in %

20 807060504030Wahlbeteiligung Kommunalwahl 1999 in %

WV

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Welt prägt unter diesen VoraussetzungenMisstrauen und ein geringes Selbstwertge-fühl. Rückzug und Apathie bzw. »Gestal-tungspessimismus«, wie es im EssenerHandlungskonzept für den Stadtteil Katern-berg heißt, sind eine durchaus »rationale«,das heißt vernünftige und verstehbare Hal-tung (Stadt Essen 1993).

Die Mehrheit armer Kinder in armen Vier-teln, ob eingebürgert oder nicht, hat damitkeine oder nur eine denkbar schlechte Per-spektive auf einen Platz in dieser Gesell-schaft. Die schlechte Perspektive dieserKinder ist umgekehrt gesehen aber aucheine schlechte Perspektive für die Stadtge-sellschaft. In dieser Perspektive, das heißtmit Blick auf die sozialen Basiskompetenzender nachwachsenden Generation, ist einesozial integrative Kommunalpolitik, alsoeine Politik, die soziale Beziehungen imQuartier und entsprechende Solidarpoten-tiale aufbaut, auch eine Gesellschaftspolitik.Denn sie gestaltet zugleich förderlicheBedingungen für das Aufwachsen der nach-wachsenden Generation.

Die »Unterstadt« ist heute »Kinderstube«und »Integrationsmaschine« der Stadtgesell-schaft. Lokale Armutspolitik in großenStädten ist zugleich lokale Familienpolitik –denn die meisten Armen sind Familien.Zugleich ist sie Migrationspolitik, da immermehr dieser Familien Einwanderer sind.Kommunales Handeln hat gesellschafts-politische Wirkung. Denn »vor Ort« wirdHumanvermögen gebildet. Die gesellschafts-politische Frage nach der Zukunft des»Humanvermögens«, nach der »Familienori-entierung« unserer Gesellschaft, stellt eineHerausforderung für die Gemeinden dar.

Bereits die Sachverständigen des fünftenFamilienberichts haben in den 1990er Jah-ren mit ihrer Forderung nach »Familien-orientierung« Gegenmaßnahmen hinsicht-lich der Überforderung aller Familien inDeutschland durch »strukturelle Rücksichts-

losigkeit« einer zunehmend individualisier-ten Gesellschaft und gegen das damitverbundene Schwinden der LebensformFamilie gefordert. In den städtischenArmutsquartieren kommen andere, sehr vielspezifischere Überforderungen hinzu.Eltern, die sozial isoliert sind, finden keineHilfe, keinen Rat und keine Unterstützung.Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit nichtmehr erfahren haben, was Kinder brauchen,geben ihren Kindern eben das nicht mit aufden Weg und machen Fehler. Heute sindarme Kinder vorrangig nicht unter-, son-dern fehlernährt und übergewichtig. In denärmsten Vierteln im Norden einer Ruhr-gebietsstadt war nur jedes achte Kind beider Einschulung vollständig gesund. Bis zuein Drittel der türkischstämmigen Jungendagegen war stark übergewichtig. Inden wohlhabenden Vierteln im Süden warenbis zu 80 Prozent der Kinder vollständiggesund und nur wenige – auch türkischeKinder – waren übergewichtig. Nicht dieNationalität der Kinder macht hier denUnterschied, sondern ihre Adresse (Stroh-meier/Amonn/Kersting 2008).

Akzeptiert man, dass die Beteiligung derBevölkerung an Kommunalwahlen ein Indi-kator für geringe soziale Integration, fürsoziale Isolation, für Instabilität sozialerMilieus, für »Gestaltungspessimismus« undresignative Apathie der Menschen ist, dannwird erklärbar, warum bei verschiedenenStudien zur Kindergesundheit im Ruhrge-biet die Wahlbeteiligung der Erwachsenenbei der Kommunalwahl der beste Prädiktorfür den Gesundheitszustand der Kinder ist.

In Gebieten mit geringster Wahlbeteiligungist der Gesundheitszustand der Kinderbesonders schlecht (links unten), hier lebengleichzeitig die meisten Ausländer (ver-gleiche Abbildung 22). In diesen Gebietenist die Armutsquote besonders ausgeprägtund die Fluktuation der Bevölkerung amhöchsten. Die Wahlbeteiligung der Genera-tion ihrer Eltern und Großeltern bei der

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162 163 Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wandel – Wiedergewinnung von Solidarpotential

Kommunalwahl ermöglicht eine nahezu per-fekte Vorhersage des Gesundheitszustandesder Kinder. Links unten gehen zwei Drittelder Wahlberechtigten nicht zur Wahl, rechtsoben in den bürgerlichen Vierteln gehenbeinahe drei Viertel wählen.

Solche Ergebnisse definieren nicht nurräumliche Schwerpunkte für Prävention undIntervention, sondern zugleich Rahmenbe-dingungen, unter denen vor Ort unter-schiedlich gehandelt werden muss und diemöglicherweise zuerst verändert werdenmüssen, damit Prävention erfolgreich seinkann. Solche Bedingungen in den Milieuslinks unten wären etwa die Reduzierung derFluktuation, die Schaffung stabiler sozialerVerhältnisse und die Unterstützung sozialerNetzwerke. Dass diese Stadtteile im politi-schen Prozess nur schwach vertreten sind,bedeutet ein zusätzliches Hindernis. Diesresultiert oft aus der geringen politischenPartizipation, denn ein Drittel der Wahlbe-rechtigten mag nur ein Zehntel der Erwach-senen sein. Man wird so leicht übersehen,wenn organisierter Protest unwahrschein-lich ist.

Soziale Netzwerke und Vertrauen –Quellen des Humanvermögens in derStadtgesellschaftGestaltungspessimismus und eine resigna-tiv-apathische Grundhaltung sind imArmutsmilieu rational (Tobias/Böttner1992). In einer vertrauten Umgebung istVertrauen der »Kitt« der Sozialwelt. In einerstetig wechselnden, unberechenbarenUmwelt, umgeben von »Fremden«, ist dage-gen Misstrauen eine rationale Option. Weranderen misstraut, kann nicht verlieren,andererseits gewinnt er aber auch nichts.Entgegen einem verkürzten und populärenVertrauensverständnis, das nur »intensives«Vertrauen in nahestehende Personen in denBlick nimmt, ist anonymes Vertrauen inunbekannte oder nur wenig bekannte Per-sonen beziehungsweise in deren regelkon-formes Handeln oder in technische Systeme,deren Funktion und Risiken man keines-wegs durchschauen kann, eine notwendigeVoraussetzung des Lebens in modernen dif-ferenzierten Gesellschaften. Entscheidun-gen, die Vertrauen voraussetzen, sindimmer Entscheidungen unter Risiko. Cha-rakteristisch ist immer, dass der Verlust beienttäuschtem Vertrauen wesentlich höherist als der Gewinn bei gerechtfertigtem Ver-trauen. Eine Bedingung der Möglichkeit vonVertrauen in andere Menschen beziehungs-weise darauf, dass sie tatsächlich das tun,was von ihnen erwartet wird, ist deshalb»Vertrautheit«. In differenzierten Gesell-schaften ist dies nur im Spezialfall vonFamilien oder Primärgruppen »persönlicheVertrautheit«. Vertrautheit ist gewisser-maßen eine Begleiterscheinung des Lebensin Gesellschaft. Vertrautheit ist als »sozialkonstruierte Typizität« immer auf die Ver-gangenheit bezogen (Luhmann 1968; Schütz1971). Sie sichert verlässliche Orientie-rungsleistungen, wenn wahrgenommeneGegenstände »hinsichtlich ihrer unver-gleichlichen Identität zwar unvertraut sind,aber einer vertrauten Gattung subsumiertwerden können, […] wenn sie zu einem ver-trauten Typus gehören« (Schütz 1971).

Abbildung 22: Kindergesundheit und Wahl-beteiligung im Stadtteil

Quelle: Strohmeier (Eigene Darstellung)

Stadtteile in Essen

40

30

20

70

60

50

10

0

Deutsche ohne Befund in %

20 807060504030Wahlbeteiligung Kommunalwahl 1999 in %

Swald

Bred

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SchuiHaarz

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Solche Typisierungen machen das Alltags-wissen aus, das wir mit den anderen teilen,und sie werden bereits in der frühen Kind-heit als Lebenserfahrung erworben. Objek-tiv mögen sie zwar den Charakter »unvoll-ständiger Information« haben, für den all-täglich Handelnden stellen sie jedoch eineverlässliche Grundlage seiner Orientierungin der Welt dar. Indem Neues, Unerwartetesfortlaufend in Begriffen des Vertrauteninterpretiert wird, verändern sich ständigauch die Bestände des Alltagswissens. »Ver-trauen ist keine Folgerung aus der Vergan-genheit, sondern es überzieht die Informa-tion, die es aus der Vergangenheit besitzt,und riskiert eine Bestimmung der Zukunft[…]. Der vertrauensvoll Handelnde engagiertsich so, als ob es in der Zukunft nurbestimmte Möglichkeiten gäbe. Er legt seinegegenwärtige Zukunft auf eine künftigeGegenwart fest« (Luhmann 1968). Im Nor-malfall des Handelns nimmt Vertrauen auseiner Zahl von Möglichkeiten eine vorweg.Es gewährleistet, dass nicht jedes im alltäg-lichen Handlungsverlauf auftretende Pro-blem Gegenstand von Definitions- und Aus-handlungsprozessen sein muss, dass nichtin jeder Entscheidungssituation zunächstumfangreiche Aktivitäten zur Informations-beschaffung einsetzen.

Auf der einen Seite sind Menschen, diepositive Erfahrung gemacht haben, durch-aus motiviert, sich auf Risiken einzulassen,die häufig nicht in Relation zu dem bei ver-trauensvollem Handeln zu erwartendenNutzen stehen. Dies gilt nicht nur in sehr»vertrauensvollen« Primärbeziehungen wiein der Familie. Auf der anderen Seite aberwissen Akteure in der Regel, unter welchenBedingungen sie wem besser nicht ver-trauen sollten. Charakteristisch für Vertrau-enshandeln in modernen Gesellschaften istalso, dass es sich um bedingtes Vertrauen(beziehungsweise bedingtes Misstrauen)handelt (vgl. Luhmann 1988). Die Beherr-schung der Regeln bedingten Vertrauens istein Merkmal sozialer Kompetenz und ein

Ergebnis erfolgreicher Sozialisation. Denen,»die keinen Anteil am Alltagswissen(›Common Sense‹) haben, vertraut niemand,aber sie selbst vertrauen auch nicht« (Gar-finkel 1963).

Vertrauen, auch wenn es in der Regel kon-kreten Akteuren entgegengebracht wird, istalso nicht auf diese als bestimmte Personenbezogen, sondern bezieht sich auf vertrauteSituationen und vertraute soziale Typen.Vertrauen ist Entscheidung unter Risiko undunter Ungewissheit. Die Entscheidungsele-mente sind dieselben wie bei einer Wette:»Wenn die Chance zu gewinnen, in Relationzur Chance zu verlieren, größer ist als derVerlust im Verhältnis zum Gewinn, kanneine Wette mit Aussicht auf Erfolg eingegan-gen werden. Als rationaler Akteur sollteman sie eingehen« (Coleman 1990). DieseEntscheidungsregel lässt sich folgenderma-ßen formalisieren:

P: (subjektive) Wahrscheinlichkeit, dass der»Trustee«, dem vertraut wird, vertrauens-würdig ist, entspricht der Wahrscheinlich-keit, zu »gewinnen«

L: potentieller Verlust, wenn der »Trustee«nicht vertrauenswürdig ist

G: potentieller Gewinn, wenn der »Trustee«vertrauenswürdig ist

Die Entscheidungsregel lautet: Vertrauen ja,wenn:

P/(1–P) > L/G

Gleichheit beider Seiten ist der Indifferenz-punkt. Wenn der Quotient aus Wahrschein-lichkeit und Gegenwahrscheinlichkeit klei-ner ist als die Relation von Verlust zuGewinn, wäre Misstrauen angebracht. Dieobige Ungleichung lautet nach einigenUmformungen wie folgt:

P > L/(G+L)

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164 165 Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wandel – Wiedergewinnung von Solidarpotential

Vertrauen ja, wenn die subjektive Wahr-scheinlichkeit, dass der »Trustee« das in ihngesetzte Vertrauen rechtfertigt, größer istals die Relation des zu befürchtenden Ver-lustes zur Summe von Gewinn und Verlust.

Die genauen Werte von L und G sind in derRegel nicht zu spezifizieren, ihre Relation inannähernder Weise hingegen schon. Fürunterschiedliche Akteure und vor allem inunterschiedlichen Handlungskontexten gibtes deshalb unterschiedliche »kritischeWerte« von P. Dies gilt z. B. für einen Ban-kier, der ein hohes Darlehen bei nur gerin-gen Zinsen an einen Kunden mit entspre-chenden Sicherheiten vergibt, oder füreinen Kredithai, der ein niedriges Darlehenan einen Kunden ohne Sicherheiten zuhohen Zinsen vergibt. Diese kritischenWerte sind aber nur zum Teil abhängig vonder Gewinnerwartung und dem Verlustri-siko. Die individuelle VertrauensbereitschaftP ist nach Coleman (1989) nämlich erstensein Ergebnis des vom vertrauenden »Trus-tor« selbst in der Vergangenheit erfahrenenVertrauens (denn wem vertraut worden ist,der ist auch eher bereit zu vertrauen) undvon vorangegangener Interaktion und Kom-munikation mit dem »Trustee«. Dieser istnur in Fällen »dicken« persönlichen Ver-trauens als Person vertraut, in allen ande-ren Fällen genügt es, dass er als Typus ein-schätzbar ist (Hardin 1992).

Vertrauensfähigkeit hängt zweitens vonvorgängigen Sozialisationsprozessen ab, diedie Akzeptanz von allgemeinen »Moral Con-straints« sicherstellen (dazu unten mehr).Drittens wird sie erhöht von Garantiendurch Dritte. Beispiele hierfür sind dieGarantie protestantischer Sekten in denUSA für ihre Mitglieder, wie sie Max Weberbeschrieben hat, oder die Gewährleistungvon Sicherheit durch den Staat bei ThomasHobbes. Erst viertens hängt P von der Rela-tion von Gewinn und Verlust ab.

Die Bereitschaft zu vertrauen ist also erst anletzter Stelle eine Frage der Bilanz vonGewinn und Verlust. Sie ist in erster Linieeine Funktion der subjektiven Erwartung,dass der, dem man vertraut, sich als ver-trauenswürdig erweist. Diese Wahrschein-lichkeit ist im Regelfall alltäglichen Han-delns eine Frage typischer Elemente derSituation und nicht so sehr des konkretenInteraktionspartners.

Was nun haben diese modelltheoretischenÜberlegungen mit der Lebenswirklichkeit insegregierten Armutsquartieren zu tun? Kin-der in diesen Stadtteilen erfahren wiegesagt eine andere, eine abweichendegesellschaftliche Normalität. »Normal« sindsolche sozialen Verhältnisse, die wir alsnicht außergewöhnlich erleben und die demalltäglichen Handeln ohne großen Orientie-rungsaufwand des Handelnden als verläss-liche Grundlage dienen können. Die »nor-male« Familie in den Armutsvierteln ist diealleinerziehende geschiedene, in zunehmen-dem Maße auch die ledige Mutter. »Normal«ist, dass Väter nicht in der Familie leben.Das Regeleinkommen ist die Sozialhilfe.Kinder erfahren, dass »normalerweise« dasGeld vom Sozialamt oder vom Arbeitsamtkommt und dass man dafür »normaler-weise« nicht arbeitet.

Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und per-sönlicher Perspektivlosigkeit ist »normal«,ebenso wie vielfach die Erfahrung vonGewalt und Unsicherheit im öffentlichenRaum. Die »natürliche« Einstellung der Men-schen zur Welt ist unter diesen Vorausset-zungen Misstrauen und ein geringes Selbst-wertgefühl. Unter den gegebenen Umstän-den sind Rückzug und Apathie eine durch-aus »rationale«, d. h. vernünftige und ver-stehbare Haltung. Die Mehrheit der Kinderin großen Städten wird künftig unter sol-chen Voraussetzungen aufwachsen. Demehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carterwird die Äußerung zugeschrieben, dass ihreLebensperspektive »hopelessness based on

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sound judgement« sei. Sie werden, wenn esgut geht, vielleicht Fähigkeiten erwerben,die ihnen das Überleben im Milieu ermögli-chen. Sie haben jedoch kaum eine Chance,die Nützlichkeit jener Kompetenzen, die das»Humanvermögen« ausmachen – Solidarität,Empathie, Vertrauensfähigkeit und Vertrau-enswürdigkeit –, zu erfahren. Diese stellenjedoch gewissermaßen als Ergebnis einererfolgreichen Sozialisation in einem partizi-pationsfreundlichen Umfeld die »Grundaus-bildung« für erfolgreiches Handeln in allengesellschaftlichen Handlungsfeldern und fürsoziale Zugehörigkeit dar. In der Verfügungüber dieses »kulturelle« Kapital und in derVerfügung über das »soziale Kapital« beiBedarf hilfreicher sozialer Beziehungen –und weniger im Mehrbesitz an ökonomi-schem Kapital – liegt der entscheidendeStartvorteil von Kindern der bürgerlichenMittelschichten, die in mittelschichtsgepräg-ten oder gemischten Nachbarschaften auf-wachsen.

Ein Wirkungsmodell sozial integrativerlokaler PolitikSozialarbeit und Sozialplanung (»Gemein-wesenarbeit«) haben sich seit den 1970erJahren einigermaßen widerstandsfähiggegenüber Enttäuschungen um die Aktivie-rung, Aufklärung und Bewusstseinsbildungbemüht. Immer in der Erwartung, dass»Menschen, die ihre Lage bewusst wahrge-nommen und ihre objektiven Interessenerkannt haben, auch für deren Durchset-zung eintreten«. In den großstädtischenArmutsinseln wird diese Erwartung vehe-ment enttäuscht. Die Inaktivität armer Leuteberuht auf bewussten Entscheidungen.Menschen engagieren sich dann in Projek-ten und Programmen im Wohnbereich odersie beteiligen sich an Formen des politi-schen Protestes, wenn sie nach einem Ver-gleich der zu erwartenden Kosten und Nut-zen von Handlungsalternativen zum Schlusskommen, dass das Engagement ausreichen-den Gewinn verspricht. Dabei steht auf derKostenseite die nicht selten aus Erfahrun-

gen gewonnene Angst vor Misserfolgen undSanktionen oder dass ohnehin über ihreKöpfe hinweg entschieden werde. Auf derNutzenseite steht – oft ebenfalls erfahrungs-gestützt – der zu erwartende Erfolg, dasGefühl der Zugehörigkeit zu einer aktivenGruppe, die Anerkennung von Menschen,die für sie bedeutend sind (vgl. Tobias/Bött-ner 1992). Die Umwelt, in der sie leben, istüberdies den meisten so vertraut, dass siesie als selbstverständlich hinnehmen undkaum alternative Vorstellungen entwickeln.In dieser Lebenswelt haben sie effizienteRoutinen entwickelt, deren Störung Angstauslösen kann.

Besondere Aktivierungspotentiale habennach den Erfahrungen der sozialen Stadt»kleine Projekte eher unspektakulären Cha-rakters, die jedoch in hohem Maße zur Ver-trauens- und auch Selbstvertrauensbildungim Stadtteil beitragen und so Schritt fürSchritt eine Verbesserung der Situationerbringen« (ILS 1995). Was aber sind dasfür Projekte? Welche taugen etwas und wel-che nicht? Und wie wird in solchen Veran-staltungen Vertrauen und Selbstvertrauenaufgebaut?

Vertrauen ist eine Voraussetzung jedesGemeinschaftslebens. Es ist eine unverzicht-bare Funktions- und Stabilitätsbedingungmoderner differenzierter Gesellschaften, indenen Kontrolle unmöglich und deshalbeben nicht »besser« ist. Die Frage ist, obund wie es gelingen kann, notorisch miss-trauische Menschen mit dem nötigen Ver-trauen auszustatten, das sie in die Lage ver-setzt, sich auf Formen der Partizipation ein-zulassen, die für sie auf den ersten Blick ris-kant und insgesamt wenig nützlich erschei-nen. Wie also kann Vertrauen unter Armuts-bedingungen entstehen und erhalten wer-den? Vertrauensfähigkeit und Vertrauens-würdigkeit sind die Kennzeichen sozialerIntegration im Sinne sozialer Mitgliedschaft.Für Menschen, die »dazugehören«, ist esrational – im Sinne von »vernünftig« –, ande-

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ren, auch solchen, die sie nicht oder kaumpersönlich kennen, bei Vorliegen bestimm-ter (typischer, allgemein bekannter) Anzei-chen (bedingt) zu vertrauen. Vertrauensfä-higkeit und Vertrauenswürdigkeit sindErgebnis erfolgreicher Sozialisationspro-zesse, in denen Menschen soziale Nützlich-keit und individuelle Zweckmäßigkeit vonVertrauen erfahren haben. Die kollektiveRationalität von Vertrauen in dieser Lesartliegt in der Reduktion von Transaktionskos-ten. Vertrauen erspart zeit- und kostenauf-wendige Aushandlungsprozesse und Kon-trolloperationen.

Vertrauen ist zugleich Voraussetzung undFolge sozialer Ordnung. Menschen, die ver-trauen, erwarten nicht ernsthaft, dass sieverlieren oder enttäuscht werden. Sie ver-trauen auf Vertrauen. Sie vertrauen darauf,dass man gewinnt, wenn man anderenvertraut, und dass sie wissen, wem man ver-trauen kann. Die Kinder der gestaltungs-optimistischen und partizipationsfreundli-chen Mittelschichten erwerben früher einensozialen Bonus, der sie in Situationen mit»objektiv« vielleicht nur geringen Gewinn-chancen die subjektive Gewinnchanceoptimistisch einschätzen lässt. Das Ver-trauen aller Akteure zahlt sich auf langeSicht aus. Solche Vertrauensfähigkeit istdeshalb unmittelbar verknüpft mit Selbst-vertrauen.

Unter Armutsbedingungen verhalten Men-schen sich am ehesten im Sinne des miss-trauisch Gewinn und Verlust abwägenden,rational kalkulierenden »homo oeconomi-cus«. Sie werden nur dann bereit sein, eineVertrauen erfordernde Beziehung einzuge-hen, wenn der erwartbare Nutzen deutlichgrößer ist als der zu riskierende Verlustund wenn Erfolg kurzfristig absehbar ist.Solche Situationen sind in der sozialen Weltaber extrem selten, und enttäuschte, habitu-ell misstrauische Akteure haben deshalb inder Welt, in der sie leben, eigentlich kaumeine Chance, anderen vertrauen zu können.

Ihnen fehlt »Vertrauen in Vertrauen«, das siedie Risiken vertrauensvollen Handelnsgeringschätzen lässt. Damit überschätzensie aber im Verhältnis zu ihren sozial inte-grierten Zeitgenossen notorisch ihr Ver-lustrisiko. Dies führt dazu, dass sie sichzurückziehen und kaum freiwillig Inter-aktionen eingehen.

Es ist die kostenminimierende Strategie desarmen »homo oeconomicus«, sich in dieeigenen vier Wände zurückzuziehen, nichtszu riskieren, was Verlust bringen könnte,aber damit auch zugleich die Chance aufGewinn auf Null zu setzen. Wer in dieserWeise prinzipiell misstraut, riskiert zwarnichts, aber er kann auch nichts gewinnen.Die Vertrauensvollen und die Miss-trauischen bleiben jeweils unter sich. Auchdas ist ein folgenreicher Aspekt sozialerAusgrenzung.

Selbst wenn sie über ihren Schatten sprin-gen, also riskante Interaktionen eingehenund dabei Erfolg haben, benötigen habituellmisstrauische Personen, deren individuelleVertrauensfähigkeit gleich oder nahe Nullist, eine große Zahl von erfolgreichen Inter-aktionen, um ihre Vertrauensfähigkeit undihr Selbstvertrauen zu steigern. Angesichtsder reduzierten Bereitschaft der miss-trauischen Akteure, überhaupt Interaktio-nen einzugehen, sind deshalb sehr langeZeiträume zu veranschlagen, das heißt, manbraucht Geduld, bis es zu einer Steigerungder Vertrauens- und Partizipationsbereit-schaft kommt. Es ist deshalb zumindestzweifelhaft, ob die grundsätzlich befristetenlokalen Programme zur Erneuerung armerViertel überhaupt lange genug laufen, umnachhaltige Wirkungen in den sozialenBeziehungen der Bewohner erwarten zukönnen. Stadtteilprojekte laufen in derRegel nach zehn Jahren aus. Eine andereFrage ist es, ob angesichts der hohen Fluk-tuation gerade in Quartieren der innerenStadt die Menschen dort überhaupt langegenug wohnen, um von sozial integrativen

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Projekten, etwa Bildungsprogrammen oderNachbarschaftsprojekten, erreicht zu wer-den. Im Essener Stadtzentrum und im West-viertel fluktuiert beispielsweise die Hälfteder Bevölkerung pro Jahr.

Man muss die verschiedenen Aspekte vonVertrauen kennen, die unterschieden wer-den müssen, damit sie in ein Wirkungsmo-dell sozial-integrativer Politik im Armutsmi-lieu eingebaut werden können. Die deutscheSprache kennt nur einen Begriff für Ver-trauen. In einem kleineren englischen Bei-trag nutzt Luhmann (1988) die größerenDifferenzierungsmöglichkeiten, die die eng-lische Sprache bietet, und unterscheidet alsDimensionen von Vertrauen »Confidence«und »Trust«. Im Deutschen sind dieseBegriffe nicht so trennscharf abzugrenzen.»Confidence« ist in etwa identisch mit dem,was im Text oben »Vertrauen in Vertrauen«genannt wurde. »Confidence« soll hier mit»Sozialvertrauen« übersetzt werden. Sozial-vertrauen also ist das Vertrauen derAkteure in die eigene soziale Kompetenzund in die der anderen. Sozialvertrauen istdie Voraussetzung jedes sozialen Handelnsund auch jeder politischen Partizipation.Es schließt Selbstvertrauen ein. Sozialver-trauen ist die Haltung, die es uns erlaubt,dass wir uns ohne Angst in die soziale Weltbegeben, die wir mit den anderen gemein-sam teilen. So wie man die zumeist unaus-gesprochenen Regeln der sozialen Weltkennt, erwartet man selbstverständlich,dass auch die anderen sie kennen undanwenden.

Sozialvertrauen basiert auf Vertrautheit(»Familiarity«), die, wie bereits erwähnt,quasi eine unvermeidliche Begleiterschei-nung des Lebens in Gemeinschaft mit ande-ren ist. Sozial isolierten Menschen, die sichin ihre eigenen vier Wände zurückziehen,fehlt es.

»Trust« bezeichnet demgegenüber »Person-vertrauen«. Personvertrauen ist die riskante

Handlung, von der zuvor die Rede war. Esstellt eine rationale Strategie der optimalenAusnutzung von Chancen in einer gegebe-nen Situation unter der Voraussetzung vonSozialvertrauen in einer geteilten sozialenOrdnung dar. Aber auch wenn diese Voraus-setzung fehlt, mag »Trust« eine rationaleOption sein.

Beide Begriffe – Sozialvertrauen und Per-sonvertrauen – bezeichnen analytisch unter-scheidbare Phänomene, die allerdings inder Realität miteinander verwoben sind undeinander wechselseitig bedingen: Sozial-vertrauen, das aus Vertrautheit entsteht, istdie Voraussetzung von Personvertrauen.Personvertrauen ist dort rational, das heißteine vernünftige Handlungsoption, wo Sozi-alvertrauen möglich ist. Vertrautheit wie-derum ist ein Nebenprodukt von bestätig-tem Personvertrauen und somit eine Frageder Lebenserfahrung.

Damit ist ein zirkuläres Wirkungsmodellbeschrieben, eine Aufwärtsspirale, in derVertrauen (beide Arten) und Vertrautheit invertrauensvollem Handeln wachsen. Injedem Fall aber, das heißt auch ohne Ver-trautheit und bei fehlendem Sozialver-trauen, ist Personvertrauen der Anfangbeziehungsweise der »Einstieg« in diesenZirkel: Man versetze sich in die Lage einesFremden, der an einem völlig fremden Ortunter Menschen gerät, deren Sprache und

Abbildung 23: Vertrauensspirale und dasWirkungsmodell der »sozialen Stadt«

Quelle: Strohmeier (Eigene Darstellung)

Personvertrauen Vertrautheit

Integration

Sozialvertrauen

Partizipation

Identifikation

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Kultur er nicht kennt. Ihm fehlt Vertrautheitmit den Menschen in seiner Umgebung.Ebenso mangelt es ihm an Sozialvertrauenals Vertrauen in eine soziale Ordnung, die ermit anderen teilt. Nach allgemein bekanntenRegeln des Zusammenlebens kann er sichnicht richten, denn er kennt sie nicht. Selbstin dieser Situation aber wäre es prinzipiellrational, zunächst blanko Personvertrauenals Vertrauensvorschuss zu investieren. Diesubjektive Wahrscheinlichkeit, dabei zu ver-lieren, mag zwar relativ hoch sein. Insge-samt und auf lange Sicht werden aber dieGewinne die Verluste übersteigen – freilichunter der Bedingung, dass auch an diesemfremden Ort eine soziale Ordnung existiert,auch wenn der Fremde sie nicht kennt. Ver-trauen zu zeigen ist also eine Investitionrationaler Akteure in ihre soziale Umwelt.Der Fremde, dem Vertrautheit fehlt unddem in der ihm fremden Umgebung Sozial-vertrauen als Handlungsgrundlage zweifel-haft erscheint, handelt also dennoch ratio-nal, wenn er quasi »blanko« Personver-trauen in einen beliebigen Menschen inves-tiert. Denn in der so entstehenden persönli-chen Beziehung ergibt sich die Chance, dassVertrautheit entsteht und sich aus dieserlängerfristig Sozialvertrauen entwickelt. DerVollständigkeit halber sei angemerkt, dasshier natürlich implizite Aussagen über die»Natur« des Menschen gemacht werden, dienicht weiter bewiesen werden können. Hiersei vor allem auf William James (1927) undsein Konzept des »Will To Believe« verwie-sen, das Menschen sich vertrauensvoll aufandere einlassen lässt.

Die Vertrauensspirale im oberen Teil desModells setzt entweder voraus, dass zumin-dest Ansätze einer sozialen Ordnung exis-tieren, die die Handelnden bindet, dasheißt, dass alle Beteiligten über Sozialver-trauen verfügen. Sie formuliert zugleichaber auch ein Modell der Entstehung sozia-ler Ordnung in Vertrauensprozessen. Derzirkuläre Zusammenhang von Vertrautheit,Sozialvertrauen und Personvertrauen wird

dann zu einem sich selbst verstärkendenMechanismus mit einer Einstiegsmöglichkeitbei Personvertrauen. Personvertrauen (auchblanko investiert) schafft Vertrautheit, aufdie sich Sozialvertrauen gründen kann, dasweiteres Personvertrauen möglich macht.

Im unteren Teil des Modells findet sich das(quasi »amtliche«) Wirkungsmodell desBund-Länder-Programms »soziale Stadt«beziehungsweise »Stadtteile mit besonderemEntwicklungsbedarf«. Es geht darum, dieBewohner benachteiligter Quartiere zu akti-vieren, die Qualität der Bewohnerbeteili-gung zu steigern, indem man ihnen unter-schiedliche Beteiligungsangebote macht.Das Wirkungsmodell ist denkbar einfach:Erfolgreiche Partizipation etwa im Rahmeneines breiten Spektrums von Angeboten derBürgerbeteiligung vermittelt Erfolgserleb-nisse, steigert die Identifikation mit demStadtteil und seinen Bewohnern, verbessertden sozialen Zusammenhang und den sozia-len Zusammenhalt, die soziale Integrationdes Quartiers, die – wie eingangs erläutert –die Grundlage lokaler Solidarpotentiale ist.Mit wachsender Integration und Identifika-tion steigt die Bereitschaft zu weiterer Betei-ligung. Auch das ist also auf den ersten Blickeine Aufwärtsspirale. Partizipationsbereit-schaft und Identifikationsintegration wach-sen mit zunehmender Bürgerbeteiligung.

Die Verknüpfung beider Modelle verdeut-licht das Paradoxon der Partizipation, vondem zuvor schon die Rede war. In denQuartieren, in denen angesichts des Ausma-ßes von Entsolidarisierung und fehlenderlokaler Integration Partizipation besondersdringend wäre, ist sie besonders unwahr-scheinlich. Den Akteuren fehlt Sozialver-trauen. Das Wirkungsmodell der sozialenStadt wirkt also faktisch als Mechanismusder Exklusion, der sozial integrierte, mitSozialvertrauen ausgestattete Akteure vonnicht integrierten, misstrauischen »Außen-seitern« trennt (vergleiche Abbildung 23).In der Terminologie von Norbert Elias

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wären das die »Etablierten« (Elias/Scotson1965). Für den, der nicht dazugehört, ist dieHürde zur Partizipation kaum zu überwin-den. Er geht nicht zu Bürgerversammlun-gen, er nimmt an keiner Planungswerkstattteil und er geht auch nicht zum Straßenfestin der Siedlung.

Mit geringem Sozialvertrauen und wenigSelbstvertrauen ausgestattete Personenkalkulieren den Nutzen sozialer und politi-scher Partizipation in der Logik des kosten-und nutzenabwägenden »homo oeconomi-cus«. Sie vertrauen bzw. vertrauen in derRegel nicht, nachdem sie eine Bilanz ihrerim Vergleich zu anderen, gestaltungs-optimistischeren Akteuren notorisch unter-triebenen Gewinnerwartungen und ihrernotorisch übertriebenen Verlusterwartun-gen angestellt haben.

In diesem Entscheidungsumfeld bieteneigentlich nur solche Veranstaltungen einehinreichende Chance der Partizipation, dieden Menschen einen unmittelbaren, kurz-fristig erwartbaren Nutzen versprechen unddas Risiko, enttäuscht zu werden, denkbargering halten. Dabei ist nach den dargeleg-ten theoretischen Überlegungen auch eingeringer Nutzen durchaus motivierend,wenn das Risiko des Scheiterns (L) nurklein genug und am besten nahe Null odergleich Null ist.

Was den Bewohnern so nützlich erscheint,dass es sie zur Beteiligung motivieren kann,ergibt sich aus der Liste der von ihnen emp-fundenen Mängel und Engpässe in ihrerLebenslage. Die primären Engpässe sindpersönliche Armut und schlechte Qualitätder Wohnung und des Wohnumfeldes. EinBürgerzentrum oder ein Stadtteilladen sindzwar Einrichtungen, die für die Beseitigungdieser Engpässe primär nützliche Aktivitä-ten moderieren und koordinieren können,selbst unmittelbar nützlich für die »Außen-seiter« sind sie aber nicht. Es gibt kein pri-märes Bedürfnis nach Kontakt zu Fremden

im Armutsmilieu. Kontakte wünscht nur,wer sozial integriert ist. Offene Angeboteder Partizipation eröffnen den ausgegrenz-ten Akteuren keinen primären, unmittelbarund kurzfristig erreichbaren Nutzen undwerden deshalb von ihnen nicht angenom-men. Das Gleiche gilt für Beratungs- undBildungsangebote, die auf eher langfristigeintretende Verbesserungen setzen unddamit den Planungshorizont und die Per-spektive von Menschen, die vielfach »vonder Hand in den Mund leben«, falsch ein-schätzen (Tobias/Böttner 1992).

Auch wenn das zunächst paradox klingt:Eine Förderung der sozialen Partizipationund damit in Verbindung stehend eine Ver-besserung der sozialen Beziehungen derBewohner armer Viertel, die Steigerung derIdentifikation mit dem Stadtteil und seinerMenschen, die Schöpfung sozialer Netz-werke, aus denen neue Solidarpotentialeerwachsen können, erreicht man vielmehrdurch Maßnahmen und Veranstaltungen,die den Menschen einen kurzfristig eintre-tenden persönlichen Nutzen bringen. Pro-jekte mit dem Ziel der Verbesserung derindividuellen wirtschaftlichen Lage, derVerbesserung der Wohnverhältnisse oderder Wohnumfeldbedingungen setzen amwenigsten soziale Integration voraus. Siesind gleichzeitig geeignet, sowohl individu-elle Erfolgserlebnisse zu vermitteln als auchnebenbei soziale Vernetzungen der Bewoh-ner zu schaffen, die Voraussetzung jedwe-der weiteren öffentlichen und politischenPartizipation sind. Hier kann in der Tat derpostulierte Dreischritt von Vertrautheit,Sozialvertrauen und Personvertrauen ein-setzen. Bei geringem Risiko und relativsicher zu erwartendem (auch geringem)Nutzen investieren auch misstrauische undapathische Akteure zunächst blanko Per-sonvertrauen. In den damit einsetzendensozialen Beziehungen entsteht quasinebenbei – und nicht nur im Erfolgsfall –Vertrautheit mit den Menschen in derUmgebung, aus der sich eine gesteigerte,

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schon auf Erfahrung gegründete Bereit-schaft ergibt, erneut Personvertrauen zuinvestieren. Im Fall wiederholt erfolgreicherInvestition von Personvertrauen entstehensoziale Netzwerke zunehmend vertrauterMenschen und es entsteht allmählich Sozial-vertrauen.

Damit wäre abstrakt ein Wirkungsmodellsozialer Kommunalpolitik im Hinblick aufdie Etablierung örtlicher sozialer Netzwerkein Armutsstadtteilen skizziert. Die meistenörtlichen Handlungsansätze gehen immernoch von einer Art partizipatorischem»Selbstläufermechanismus« aus, wenn eserst einmal gelungen ist, Bürgerzentren,Stadtteilbüros o. Ä. als multifunktionale,niedrigschwellige Beteiligungsangebote zuetablieren. Die Hoffnung, dass Beteiligungs-angebote auch Beteiligung schaffen, dasszum Beispiel Bürgerversammlungen auchAußenseiter ansprechen, ist auch bei »auf-suchender Beteiligung« und »niedrigschwel-ligen Angeboten«, wie Straßen- oder Stadt-teilfesten, sehr optimistisch.

Veranstaltungen dieses Typus, die (wie dasStraßenfest) als »Mach-mit«- oder (wie diePlanungswerkstatt) »Entscheide-mit«-Pro-jekte benannt werden sollen, haben bei allerangestrebten Bürgernähe nur ein geringesAktivierungspotential für gestaltungspessi-mistische, marginalisierte Akteure. Die über-all implementierten Stadtteilkonferenzenund Gesprächskreise sind in erster LiniePartizipationsangebote für sozial integrierteund mit Sozialvertrauen und Selbstver-trauen ausgestattete Personen. Solche An-gebote der Beteiligung der Bürger an orts-bezogenen politischen Planungs- und Ent-scheidungsprozessen erweitern in ersterLinie den Handlungsspielraum von sozialintegrierten Bürgern, die schon die konven-tionellen Beteiligungsangebote, von derStimmabgabe bei der Wahl bis zumGespräch mit dem Abgeordneten oder demBesuch der Parteiversammlung, nutzen.Sozial desintegrierten und habituell miss-

trauischen Personen bieten sie jedoch kaumeinen erwartbaren Nutzen und deshalbkaum einen Beteiligungsanreiz.

Vertrauen statt Misstrauen:»Selbermacherprojekte« als Chance fürlokale PartizipationDie Durchsicht der Handlungsprogrammeder Ruhrgebietsstädte im NRW-Landespro-gramm »Stadtteile mit besonderem Entwick-lungsbedarf« hat ergeben, dass neben die-sen »Entscheide-mit«- und »Mach-mit«-Pro-jekten mit begrenztem Aktivierungspoten-tial noch zwei Typen vorkommen, die aufden ersten Blick überhaupt nichts mit »Bür-gerbeteiligung« (zumindest nicht im Sinnevon politischem Mitbestimmen und Mitge-stalten) zu tun haben (Soziale Stadt NRW2009). Es handelt sich in unterschiedlichenVarianten um Projekte eines Typus, der als»Selbermacherprojekte« bezeichnet werdensoll, sowie um Arbeitsbeschaffungs- undQualifizierungsmaßnahmen. Vor allem Letz-tere werden üblicherweise nicht im Kontextpolitischer und planerischer Bürgerbeteili-gung angesprochen. Sie sind vor dem Hin-tergrund der dargelegten Überlegungen zurBedeutung von Sozialvertrauen für die Akti-vierung armer Bevölkerungen benachteilig-ter Stadtteile jedoch besonders interessant,wenn sie geschickt eingesetzt werden.

In den »Selbermacherprojekten« werdenBürger in einer Weise an der kommunalenAufgabenerfüllung beziehungsweise derProduktion »öffentlicher Güter« beteiligt,bei der für sie selbst ein unmittelbarer, per-sönlich zurechenbarer und kurzfristigabsehbarer Nutzen entsteht. Die Bedeutungerfolgreicher Partizipation in diesen Projek-ten, nicht nur für die Stadt und den Stadt-teil, sondern für die Mitwirkenden selbst,für ihr Selbstvertrauen, für die Gewinnungvon Vertrauen in die soziale Umwelt und fürdie Entstehung elementarer sozialer Vernet-zungen, wird in den meisten Handlungskon-zepten gar nicht gesehen. Lediglich dieStadt Essen entwickelt in ihren Grundsätzen

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»sozialer Kommunalpolitik« ein Modell desNutzens von Stadtteilarbeit für die Stadt-gesellschaft.

»Selbermacherprojekte« vernetzen Men-schen und sparen zugleich Kosten, weil dieBürger Leistungen in Eigenarbeit erbringen,die eigentlich Aufgaben der Gemeinde bzw.der Wohnungswirtschaft sind, wie z. B. eineBegrünung des Schulhofs im Essener Nor-den oder verschiedene Maßnahmen zurVerbesserung des Wohnumfeldes.

Eine Qualifizierungsmaßnahme alleinerzie-hender Mütter mit Sozialhilfebezug in einerRuhrgebietsstadt hat ihre Klientel aus demWohnbereich und nicht nach dem Buchsta-benprinzip rekrutiert. Auf diese Weise ent-stand nach weniger als einem Jahr ein loka-les Netzwerk von Frauen in ähnlicherLebenssituation, die noch vor Beginn derMaßnahme ihre soziale Isolation beklagthatten.

In Hochhäusern eines großen kommunalenWohnungsunternehmens in Hamburg miterheblichen Fluktuationsproblemen habendie Mieter, unterstützt durch vom Unter-nehmen bezahlte Fachkräfte, die Häuserrenoviert und die Eingangsbereiche um-gestaltet. Hierbei wurden unter anderemToiletten und Conciergelogen mit Kiosk undGemeinschaftsräumen eingebaut. Im Er-gebnis sind Fluktuation und Leerstände indiesen Gebäuden deutlich gesunken. Diesoziale Integration der Bewohner hat sichüberdies verbessert.

Im Gelsenkirchener Stadtteil Bismarck hatdie evangelische Kirche von Westfalen alsLeuchtturmprojekt im Bund-Länder-Pro-gramm »Soziale Stadt« nach dem Konzeptdes Architekten Peter Hübner eine Gesamt-schule errichtet, die in ökologischer Bau-weise unter aktiver Beteiligung der Kinderund ihrer Eltern erstellt worden ist. DieSchule ist ein soziales Zentrum des ehemali-gen Bergarbeiterstadtteils Bismarck gewor-

den. Sie ist »Integrationsschleuse« mit40 Prozent muslimischen Schülern.Ausweislich der Schulstatistik machen alleKinder einen Schulabschluss. Vor einigenJahren wurde die Oberstufe eröffnet.

»Selbermacherprojekte« sind auch für miss-trauische und desintegrierte Personen»niedrigschwellige« Partizipationsangebote,wenn sie im erwartbaren Aufwand und hin-sichtlich des zu erzielenden Nutzens für dieBürger kalkulierbar sind. Die Menschenwerden bei ihren unmittelbaren Nutzen-erwartungen »abgeholt«. Sie sehen, dassetwas besser wird, wenn sie es selbst tun.Die zunächst eigennützig motivierte Beteili-gung am Projekt schafft als Sekundäreffektsoziale Vernetzungen und Integration derBürger. Auf diese Weise entstehen selbsthel-fende Strukturen und Mechanismen sozialerKontrolle sowie eine Identifikation mit demViertel und seinen Menschen, die längerfris-tig wiederum weitere administrative Inter-vention im Stadtteil entbehrlich machenkann und deshalb auch wirksame Präven-tion darstellt. Partizipation und »Selberma-chen« schaffen auf diese Weise womöglichauch eine Voraussetzung weitergehenderpolitischer Partizipation in Stadtteilen, diewegen ihrer geringen politischen Repräsen-tation in der lokalen Politik heute in vielenStädten »demokratiefreie Zonen« darstellen.

Die Liste solcher Projekte ließe sich fort-führen. Eine Dokumentation von Beispielenguter Praxis findet sich in einer Handrei-chung, die 2008 von der Bertelsmann Stif-tung publiziert wurde (Strohmeier et al.2008a). Diskurse über solche Beispiele guterPraxis, ebenso wie über gescheiterte Pro-jekte, über die kaum jemand spricht, sindbislang ausgesprochen selten. Zuweilen ent-steht der Eindruck, dass immer noch allent-halben Räder neu erfunden werden, die ananderer Stelle schon gut gelaufen oder auchnicht gelaufen sind.

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Volker Hassemer:Für eine familienorientierteStadtpolitik

Die oft totgesagte Stadt scheint heute attraktiver denn je. Dabei entstehen neue Anforderungenan die langfristige und übergreifende Stadtentwicklungsplanung, weil die Menschen selbstihre Stadt lebenswerter gestalten wollen. Volker Hassemer argumentiert gegen das negativeZerrbild der angeblich »schrumpfenden Stadt« und plädiert für eine flexible und dynamischeRahmensetzung, die die dezentralen und individuellen Energien der Bürger aufgreift undbefördert. Denn eine beschleunigte Bewegung ist das wichtigste Merkmal der zukünftigeneuropäischen Stadt.

Städte sind ungeheuer reich. Städte sindreich an Fläche, an Gebäuden und Infra-struktur. Das Spezifikum des städtischenReichtums aber sind die Menschen. Dasmacht ihren Unterschied aus gegenüberdem »flachen Land«: Städtische Gesellschaf-ten verfügen über die größte Menge, überdie größte Vielfalt und über die größteQualität an Akteuren, die eine Gesellschaftvoranbringen können. Das ist ihr Schatz,den sie verwalten und zur Wirkung bringenmüssen.

Stadtentwicklungsplanung hat diese großeAufgabe zu leisten. Dabei geht es nichtalleine um die Planung und Festlegung vonGebieten für Verkehr, Wohnen, Wirtschaft,Bildungseinrichtungen usw. – wirklichestädtische Entwicklung umfasst viel mehr.

Begreifen wir unsere Städte als Energie-quelle, als Schutz und Anregung und alsUnterstützung unserer Aktivitäten, unseresindividuellen und gemeinschaftlichenLebens. Sie erbringen städtische Funktionenim Dienste der Bürger. Kurz gesagt: Städtesind wie Bildung. Sie befähigen, wenn siedazu entwickelt werden. Sie verursachenReparaturbedarf, wo dies nicht geschieht.

Klare Zielvorgaben sind für die Stadtent-wicklungsplanung entscheidend. Bereitsjetzt setzen sich Städte Ziele wie z. B. einenungehinderten Verkehrsfluss und dieAnsiedlung von Unternehmen, die Arbeits-plätze und Steuereinnahmen versprechen,die Schaffung von ausreichendem Wohn-raum und einer gut ausgebauten Infrastruk-tur. Das sind sehr ehrenwerte Ziele, aberdienen sie wirklich dem übergeordneten

Ziel, das man erreichen möchte? Stadtent-wicklungsplanung wird nicht erfolgreichsein, wenn die Städte lediglich als Verwal-tungseinheiten verstanden und geordnetwerden.

Lamentieren ist eine höchst beliebte Übung.Das gilt insbesondere hinsichtlich der Lageder Städte. So wie Städte sich ihnen anbie-ten, ist keiner so recht mit ihnen zufrieden:Die Autofahrer ebenso wenig wie die Fahr-radfahrer, schon gar nicht die Wirtschafts-politiker. Die Politiker der Grünen mögensich einige Inseln erkämpft haben – imZweifel sind sie mürrisch aufgrund derenschlechten Zustands. Gerade Familienpoliti-ker kommen mit der Stadt schwer zurecht,auch die Jugendpolitiker, die Kulturpolitikerhaben das Städtische oft schon lange auf-gegeben.

Das ist letztlich eine Lieblosigkeit gegen-über der Stadt, die man nicht tolerierendarf. Denn die Stadt ist das Zuhause allerund muss daher diese unterschiedlichenBedarfe bestmöglichst befriedigen. Sie istzugleich nicht in der Lage, sich jedem, derso lamentiert, ideal darzubieten. Ja – Stadtdarf ihren jeweiligen Ansprüchen nochnicht einmal maximal zu Diensten sein.Denn sie ist im Ergebnis die Quersumme,die Optimierung all dessen, was qualitativvon ihr erwartet wird.

Gleichwohl: Diese qualitativen Erwartungenallein sind ihre Daseinsberechtigung. Es gibtnichts anderes, woran die Stadt sich orien-tieren darf.

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Und das bedeutet auch, dass sich all dieseKritiker als Städtebauer herausgefordertfühlen müssen. Sie müssen ihre Ansprücheeinbringen, ihre Ideen, ihre Ideale auf denTisch legen, damit daraus das große ganzeGemeinsame und Geglückte werden kann.Stadtplanung ist nichts anderes als dieWerkstatt, in der diese Rohstoffe in der hof-fentlich besten Weise zu einem Ganzenzusammengefügt werden.

Stuttgart beispielsweise hat dieses Verständ-nis bereits übernommen – schon deshalb,weil es sich die Kinderfreundlichkeit zumobersten Ziel gemacht hat. Dies ist ein guterEinstieg, weil ein inhaltliches Ziel nach obengestellt wurde; wobei die Absolutheitsicherlich nicht so gemeint wie gesprochenist. Wenn das – nehmen wir es einmal ernst– gutgeht, werden nach diesem Oberziel alleanderen Ziele von der Verkehrsführungüber den Arbeitsmarkt bis hin zum Woh-nungsangebot neu eingeordnet und qualita-tiv abgestimmt. Man wird sehen.

Stadtentwicklungsplanung sollte man aufdiese Weise ernst nehmen: Von inhaltlichenZielen ausgehend, müssen die einzelnenBausteine der räumlichen Entwicklung undihre Vernetzung bestimmt werden – Stadt-entwicklungsplanung verstanden als einestrategische Planung, die sich nach denGrundsatzzielen der Stadt richtet. In diesemVerständnis dient die räumliche Stadtpla-nung dem Aufbau eines Leistungsgefüges,das den Zielen der Stadt dienen soll; mitLeistungen, die die Stadt für ihre Zukunfts-planung für wertvoll hält. Ohne dies ist dieArbeit der Stadtplaner blutleer, bestenfallsdie Herstellung funktionaler Ordnung.

Zielorientierte Stadtentwicklungsplanung istnötig für die Gesamtstadt, aber auch dezen-tral für die Orte und Stadtteile. Die Men-schen leben und entfalten sich ja nicht ein-fach in »der Stadt«. Sie finden vielmehr das,was sie für sich selbst, für ihre Kinder undihre Familien benötigen, in bestimmten

Umgebungen, deren Radius die ganze Stadtumfassen kann, im Normalfall aber auchsehr eng auf den Raum vor der eigenenHaustür konzentriert ist.

Diesem Verständnis nach müsste die Stadt-entwicklungsplanung die Königsdisziplinder städtischen Ressorts sein. Hier müssten:

:: die Ziele festgelegt werden, mit denen diespezifische Stadt zum Blühen gebrachtwerden soll;

:: die Beiträge definiert werden, die die ein-zelnen städtischen Ressorts zu liefernbzw. zu betreuen haben, damit diese ZieleRealität werden können;

:: die Implementierung dieser Ziele verant-wortet werden einschließlich der dazuge-hörigen Beiträge für das gesamte Stadtge-biet, insbesondere aber auch für die Teil-regionen der Stadt (und ihr Zusammen-spiel).

Welche Ziele sich eine Stadt setzt, hängtvon ihrer Vision ab. Dies sind durchausnicht nur die Ziele der wirtschaftlichen Pro-duktivität. Das Spektrum ist viel breiter.Alles betrifft am Ende die oben definierteHauptaufgabe: Welche Rahmenbedingungendie Stadt ihren Bürgerinnen und Bürgernzur Verfügung stellen will, um bestimmteAktivitäten zu ermöglichen bzw. zu erleich-tern. Inwieweit und in welcher Form kön-nen Rahmenbedingungen zum persönlichenGlück und zur Zufriedenheit der Bewohnerbeitragen?

Damit ist auch gesagt, dass die »Herstel-lung« von persönlichem Glück und Zufrie-denheit weder Sache noch Vermögen städti-scher Planung sein kann. Dass aber ande-rerseits das Ziel städtischer Entwicklungkein anderes ist, als dafür die Rahmenbe-dingungen zu erarbeiten.

Das Leitkriterium ist also, Städte zu bauen,die die zunehmend nötige Leistungsfähig-keit der Gesellschaft unterstützen oder gar

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ermöglichen. Sie müssen einen optimalenAktionsort für ihre Bewohner anbieten, einmöglichst gutes Terrain zu ihrer Entfaltung.Die Aktivität der Bürger selbst ist Anlassund Ziel für den Stadtentwicklungsplan.

So groß und unübersichtlich die Stadt aufden ersten Blick erscheint: Sie fußt auf indi-viduellen und dezentralen Energien. Sieerlangt ihre Kraft zunächst nicht aus demGanzen, sondern aus dem Einzelnen. Diesesvielfältige Einzelne ist sodann das Materialfür Kooperation und Vernetzung, schließlichdie »geballte« Kraft der Stadt.

Auch die alltägliche und sich entwickelndeLebendigkeit dieser geballten Kraft einerStadt speist sich aus der Leistung ihrerdezentralen Akteure. Das gilt sogar für dieVernetztheit der Stadt nach außen, ihreKooperationsfähigkeit und Wettbewerbs-leistung in der Welt. Der Einzelne mit seinerauch über die Stadt hinausreichendenAktivität und Erfahrung besorgt letztlich dieüberregionale und internationale Vernet-zung, über die die jeweilige Stadt verfügt.

Familienpolitik erweist sich in diesemZusammenhang nicht lediglich als eine Poli-tik »in« der gebauten Stadt, sondern auchals eine »für« die zu bauende und sich ent-wickelnde Stadt. Somit ist das Bauen derStadt, wovon die Stadtentwicklungsplanungein Teil ist, ein sehr fundamentaler Schrittz. B. auch der Familienpolitik.

Familienpolitik ist dann auch nicht nur einePolitikdisziplin »für die Familien«, die denAnsprüchen von Familien gerecht werdenwill, sondern eine Politik, die den Beitragder jeweiligen Stadt zur Zukunftsfähigkeiteiner Gesamtgesellschaft im Auge habenmuss. Eine Politik, die nach den Bemühun-gen und Aufwänden fragt, um Familien dasLeben in der Stadt möglich, erträglich,attraktiv zu machen. Familienpolitik istdann vielmehr – auch – ein Beitrag zurumfassenden Produktivität einer Stadt. Sie

hat Ansprüche zu stellen und Leitlinien zuliefern, wie eine Stadtentwicklungsplanungaussehen muss, die diese Produktivitätermöglicht und befördert.

Dazu ist Familienpolitik wichtig genug, denndie Familie ist der originäre Zusammenhaltder einzelnen Mitglieder der Stadtgesell-schaft. Sie steht für gegenseitige Unterstüt-zung, Solidarität und individuelle Heraus-forderung und ist ein von unten nach obenwirkendes Energiebündel der Stadtgesell-schaft. Sie verbindet obendrein in ihrergenerationsübergreifenden Zusammen-setzung (Vergangenheits-)Erfahrung mitGegenwartsbewältigung und Zukunfts-perspektive.

Diese Energiezentrale ist selbstverständlichheute nicht mehr gleichzusetzen mit dertraditionellen Familienkonstruktion. Es gibtneue Formen, die diese gegenseitige Ver-lässlichkeit, Solidarität und Betreuung orga-nisieren. Auch wenn diese Formen lockererund kurzfristiger sein mögen, sie erfüllendie gesellschaftliche Basisrolle, die früherganz überwiegend in der traditionellenFamilienstruktur bestand.

Stadtentwicklungsplanung muss diesengesellschaftlichen Grundformen in ihrerheutigen Fassung eine Umgebung bieten, inder sie zurechtkommen, in der sie Anre-gung und Unterstützung erfahren. Geht manin Berlin über den Prenzlauer Berg, kannman zahlreiche, sehr einfache Faktorenerkennen, die eine solche Umgebung aus-machen:

Es beginnt bei den für Kinder ausreichendgroßen Wohnungen. Es geht weiter übereinen öffentlichen Raum, der auch für Kin-der sicher ist und ihren Aufenthalt ermög-licht; wo sie sich wohlfühlen, wo sie ihreTreffpunkte haben können. Und: DieselbeGegend muss auch für die Eltern angenehmund attraktiv sein. Auch für sie muss dieUmgebung die gesuchte, die bevorzugte

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sein. Und all das hat dort gegenüber ande-ren Zielen hohe Priorität.

Nicht alle Ansprüche kann man gleichzeitigerfüllen. So sind es am Prenzlauer Berginsbesondere junge Eltern, die sich hier zuHause fühlen. Der Bezirk wird damit zurechnen haben (und sollte es auch tun undnicht als ein Problem empfinden), dass ältergewordene Eltern mit ihren Familien weg-ziehen, weil sie »ihre Stadt« besser an eineranderen Stelle in Berlin finden. Es allenrecht machen zu wollen, wäre falsch.Dafür sollte man in aller Konsequenz dasSegment bedienen, mit dem man sich iden-tifizieren und im guten Sinne »bereichern«will.

Es ist nicht nur eine reine Freude, es istunter mehreren Gesichtspunkten hochinte-ressant, diese Entwicklung am PrenzlauerBerg zu beobachten. Der »Kinderreichtum«dort ist nicht entstanden aus einer neuenKinder- oder Familienpolitik, er ist dasErgebnis einer neuen wirtschaftlichen Ent-wicklung: In dieser Gegend haben sich vielejunge, aufstrebende kleine Unternehmen imIT- und Medienbereich angesiedelt.

Diese Unternehmen bzw. die Menschen, diedort arbeiten, haben ganz offensichtlich einneues Interesse für Kinder und Familie ent-deckt. Auf diese Weise wird aus diesemBezirk geradezu plötzlich ein »Familienbe-zirk«.

Das wird begleitet von anderen interessan-ten Entwicklungen: Es sind eher die Männerals die Frauen, die morgens ihre Kinder indie Kindertagesstätten bringen. Das Famili-enleben spielt sich mehr als in der Vergan-genheit im öffentlichen Raum ab. Das zeigtsich nicht nur in den übervölkerten Spiel-plätzen (wobei die Übervölkerung durchauseher genossen als beklagt wird). Das ganzeStraßenbild prägt sich »familiär«. In denCafés und Restaurants ist man vor Kindernnicht sicher.

Ebenfalls am Prenzlauer Berg stellt sichnicht die »normale« Frage, ob einebestimmte Familiendichte linear bestimmtesoziale Einrichtungen und damit Aufwändeder öffentlichen Hand abfordert. Die »Rund-umversorgung« ist – anders als in anderenBereichen der Stadt – als Erwartung derFamilien nicht ohne weiteres anzunehmen.Es zeigt sich, dass sich die Frage traditionel-ler Stadtentwicklungsplanung, was kannsich eine Stadt an Dichte und damit auch anFolgeeinrichtungen leisten, nicht mehr ein-fach als quantitative Frage stellt. Vielmehrist es sehr gut möglich, dass ganz andereImpulse und Aktivitäten der Stadtentwick-lung erforderlich sind, um dieses unzweifel-haft wichtige Thema angemessen zu behan-deln.

Dies zu beachten, darf nicht nur zu einermöglichen Verringerung entsprechenderAufwände führen. Wichtiger noch ist es,dass solch eine Haltung andere stadtplane-rische Vorkehrungen erwartet. Vorkehrun-gen, die den Familien beispielsweise erlau-ben, Betreuung und Erziehung der Kindermit eigenem Aufwand und mit eigenen Leis-tungen zu betreiben. Dazu allerdings müs-sen sich dann Räume anbieten, müssenMöglichkeiten bestehen.

Die Kommune, in diesem Fall das Bezirks-amt, hat erhebliche Schwierigkeiten, hinterall dem herzukommen. Dabei ist noch nichteinmal eine gestaltende, ein bestimmtes Zielbegleitende und befördernde öffentlicheHand gefragt. Es geht nur darum, auf diesich ereignende Entwicklung fördernd stattbremsend zu reagieren. Aber tatsächlichtritt eher das Letztere ein. Das Bezirksamtneigt dazu, größere Wohnungen im Bezirknicht mehr zu befördern, weil dies dieUnterstützung oder gar den Zuzug vonFamilien Tür und Tor öffnen könnte.

Was bedeutet dann noch Familienpolitik?Wo ist da noch auch nur die Spur einer

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Beteiligung von Familienpolitik anstelle Ent-wicklungspolitik?

Nicht »die Städte« sind das Dilemma, son-dern ihr Management. Und nicht primär dieVerantwortung der bündelnden Stadtplanerist das Problem, sondern das Desinteresseund vielleicht auch die mangelnde Durch-setzungskraft der Fachpolitiken, hier derFamilienpolitik. Der Mangel an deren offen-siver und konstruktiver Beteiligung an derStadtentwicklungspolitik ist das Problem:der Mangel an ihrer Beteiligung an der Ent-wicklung ihrer Stadt.

Die den Prenzlauer Berg beherrschendeKlientel erwartet nicht den primär fürsorgli-chen Staat. Sie erwartet vielmehr den Staat,der zulässt, der sich nicht in den Weg stellt.Dies lässt sich bis hin zur Strategie dersozialen und schulischen Infrastruktur ver-folgen. Zukunftsweisende Infrastrukturpoli-tik in einer solchen Gegend muss die Eigen-verantwortlichkeit der Bewohner für dieErziehung der Kinder in Kindertagesstättenund Schulen ins Kalkül ziehen.

Die Städte sind von ihrem Raum und ihrerFläche her in der Lage, sich neue inhaltlicheZiele zu setzen: nämlich die Stadt inZukunft ganz anders aussehen zu lassen, alssie sich nach der Charta von Athen entwi-ckelt hat. Das muss man zunächst einmalerkennen und dann von den Fachpolitikenausgehend den eigenen Anspruch verfol-gende Beiträge leisten. Das wird auchdadurch befördert, dass alte Nutzungen(Industrien z. B.) die Stadt verlassen unddamit bisher genutzte Flächen brach liegen.Man sollte besser sagen: frei werden. Unterdem dramatisch fehlleitenden Begriff der»Schrumpfung« wurde diese Entwicklung inden vergangenen Jahren als ein Negativ-merkmal für die Stadt kommuniziert. Wie-der entstand so der Eindruck von einemstrukturellen Problem der Stadt. Die Stadtschien mit ihrer Attraktivität wieder einmal

am Ende. Das Ganze ließ sich übrigens auchkünstlerisch dramatisch überhöhen.

Heute erscheint dies wie eine Drücke-bergerei vor der Erörterung und dem Set-zen neuer Ziele. Es stand für das Versagen,die neuen Möglichkeiten der Stadtflächenicht offensiv und strategisch für neueZiele, für neue Urbanität zu nutzen undstattdessen das »Schrumpfen« zu beklagen.Eine aktive Stadtgesellschaft baut sich, stattzu klagen, das Haus, das sie will.

Die in der Stadt sich nicht mehr rentieren-den Nutzungen, die Ursache für das»Schrumpfungs«-Szenario, waren ja zueinem großen Teil gar nicht so sehr wün-schenswert. Jetzt machen sie Platz für neueNutzungen, die sehr viel städtischer sind alsdie alten. Die Stadt ist nun in der Lage, ihrInneres mit Nutzungen zu formen, die demMenschen sehr viel näherstehen in ihremWunsch, gut zu leben, als es die altenwaren.

Wenn Industrie und Gewerbe, verbundenmit den nicht unbedingt urbanen baulichenGroßformen, nicht mehr in den Innenstäd-ten stehen, dann schrumpfen also die Belas-tungen – und nicht die Städte selbst. Undwenn in diese Räume neue Formen vonWohnraum, von Unterhaltung, vielleichtwiederum von – wenn auch anderem –Gewerbe einziehen, dann kann die Stadtblühen, an Kraft gewinnen. Dann ist daskeine Schrumpfung, dann ist das Kraftent-faltung.

Natürlich ist mir bewusst, dass das Ver-schwinden von Gewerbe und Industrie(auch wenn es nur aus der Stadtmitte ver-schwinden sollte) mit Verlusten an Arbeits-plätzen, an Einkommen, an Lebensfähigkeitvon Städten verbunden ist. Dies zu erken-nen, hindert aber doch nicht daran, diebelebenden Vorteile der neuen Strukturenwahrzunehmen und zu entwickeln. Es giltsie »zu entwickeln«, denn sie kommen nicht

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immer und nicht ohne weiteres von selbst.Sie benötigen Energie, die durch dasSchrumpfungslamento verdeckt und ersticktzu werden droht.

Die neue Attraktivität solcher nicht mehrdurch alte Industrien belasteten Städte ziehtnämlich auch neue Berufe, neue Produk-tionsformen an – kann sie jedenfalls anzie-hen, und zwar solche, die sich in »Industrie-vierteln« nicht wohl fühlen würden. Sehr oftsind es solche Berufs- und Arbeitsformen,die mit der Zukunft mehr zu tun haben alsdie, die einmal früher die Innenstädte mit-geprägt haben.

Wir haben in Berlin nach der Wende vollauf die Stadt gesetzt und der Innenstadtabsolute Priorität gegeben. Wir taten diessogar zu einem Zeitpunkt, wo uns zum ers-ten Mal das Ausweichen in das nicht mehrvon Grenzen verschlossene Umland möglichwar. Denn wir waren davon überzeugt, dassdie heutige Stadt die sich gegenseitigbekämpfende Segmentierung städtischerFunktionen überwinden kann. Dass es Wegegibt, im Zentrum der Stadt gerade durch dieZusammenführung der Funktionen neueLebendigkeit und neue Gemeinschaft zueröffnen.

Auch wir haben dabei keine Wunder voll-bracht. So wurde zum Beispiel die rigideVorgabe, überall in den neuen innerstädti-schen Entwicklungsgebieten mindestens20 Prozent Wohnanteil vorzusehen, man-cherorts unterlaufen. Aber an vielen Stellenhat es doch zu wirklicher Stadt geführt.Auch die Mischung von Freizeit, Grünanla-gen, Wohnungen, Büros unterschiedlicherArt und bedeutenden Einrichtungenbewährte sich. Auch das Prinzip des – woimmer möglich – zurückhaltenden Eingriffsin das gewachsene Stadtviertel (wie etwa amPrenzlauer Berg) erwies sich als richtig.

All dies waren nicht umwälzende, sonderneher zurückhaltende, aber eben doch kon-

sequente Eingriffe. Vor allem waren diesEingriffe, die mit aller Entschiedenheitdavon ausgingen, dass Innenstädte attraktivfür ihre Bewohner sein können.

Auch wir entschlossen uns hierzu nichtohne Zögern. Schon gar nicht machten wir»tabula rasa«. Dort, wo es möglich war,Gewerbeflächen oder traditionelle Produk-tion für die Innenstadt rückzugewinnenoder zu erhalten, haben wir bevorzugt dieFlächen dazu zur Verfügung gestellt. In derPraxis zeigte sich allerdings, dass diese Nut-zungen sich im innerstädtischen Bereich zubeengt fühlten. Sie haben gewissermaßentreffender als die Stadtplaner eingeschätzt,dass sie dort am falschen Platz waren.Und sie waren im Übrigen nur dann für dieStadt verloren, wenn es nicht vorausschau-end gelang, sie an anderen Stellen desStadtgebietes zu reintegrieren.

Auf diesem Weg haben wir in Berlin Schrittfür Schritt Erkenntnisse gesammelt, »fürwas die Stadt da ist«. Wir haben versucht,aus den Problemen die Chancen herauszu-finden. Wir wollten die Stärken, die derStadt wirklich zuzurechnen sind, ermitteln,mit denen sie wuchern kann. So kam dieStadt in gewisser Weise zu sich selbst.

Heute füllt sich diese Stadt. Nicht nur mitTouristen, auch mit Bewohnern. Auf siewartet ein Angebot ganz unterschiedlicherInnenstädte. Ihre städtische Freiheitbeginnt, sehr typisch für funktionierendeGroßstädte, bereits in der Freiheit der Aus-wahl der jeweils individuell bevorzugtenStädtigkeit.

Wir wissen sehr genau, dass dies nur einAnfang sein kann. Gerade die ökonomischeSubstanz Berlins ist noch bei weitem nichtausreichend. Die städtische Attraktivitätjedoch hat sich zu einer sehr gesunden,eben typisch urbanen Stärke verfestigt,auf die sich aufbauen lässt. Denn angesichtsder vergangenen Jahrzehnte war diese

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Stadt Berlin ohnehin ökonomisch entleertund entkräftet. Krampfhaftes Festhalten anübertragenen funktionalen »Potentialen«hätte die Entwicklung, die jetzt und inZukunft ansteht, eher behindert alsgestützt.

So könnte Berlin ein Modell für eine neuequalitative Stadtentwicklung werden. Unsblieb gar nichts anderes übrig, als die Stadt-qualität zum ersten Anspruch unserer Akti-vitäten zu machen. So haben wir eine Start-bahn geschaffen, von der aus die Stadt gutin die Zukunft hinein fortzuentwickeln ist.Diese Fortentwicklung aber ist existentiell.Dass sie noch aussteht, ist kein Vorwurfgegen die bisherige Arbeit für mehr Stadt-qualität. Diese ist im Gegenteil die Voraus-setzung.

Es lohnt sich also, die Städte zu modernisie-ren. Es lohnt sich, die Städte zum besten Ortfür das Leben und Zusammenleben derMenschen zu entwickeln. Es lohnt sich abernur dann, wenn die Stadt genau weiß, wel-che Entwicklung sie nehmen will, unddanach ihre Planung ausrichtet.

Lassen wir uns dabei von diesem Verständ-nis der Stadt anspornen: ein Verständnis,das die Stadt nicht lediglich als Platz zumArbeiten und zum Wohnen ihrer Bürgeransieht. Diesem Verständnis nach hat dieStadtplanung nicht nur die Aufgabe, dieStadt möglichst gut funktionieren zu lassenim Hinblick auf die diversen Anforderungender Bürger. Das Verständnis besteht viel-mehr darin, die Stadt als das Eigene dieserBürger zu begreifen. Sie, die Bürger, sinddie Stadt, bilden die Stadt.

Die Stadt ist nicht nur ihr äußeres Zuhausein dem Sinne, dass sie sich in ihr behaglichund wohl fühlen. Die Stadt ist vielmehr auchdas Gebilde, das ihren Wunsch nach Zu-sammenleben mit anderen organisiert undabbildet. Die Stadt ist dazu da, für ihreBürger ganz unterschiedliche Formen der

Zusammenarbeit zu ermöglichen und zuerleichtern.

So wird die Tradition der »europäischenStadt« fortgesetzt. Dies ist eine Kulturleis-tung, auf die wir international stolz seinkönnen. Sieht man andere Entwicklungenin der Welt, so ist es nicht überheblich,sondern geradezu notwendig, dies als einModell auch außerhalb Europas anzubietenund die Erfahrungen der europäischenTradition anderen zur Verfügung zu stellen.

Die »Europäische Stadt« ist nichts Stati-sches, etwas von gestern; sie war es nie.Es geht vielmehr darum, die Erfahrungenzugrunde zu legen, die sich aus derGeschichte Europas ergeben, und darausnun eine neue, aktuelle, auf die heutigenBedürfnisse ausgerichtete Stadtstruktur undStadtgestaltung zu entwickeln.

Die europäische Stadt ist also kein Themader Rekonstruktion und des Wiederaufbaus.Sie ist ein Thema der Modernisierung, derIndienststellung der Stadt und damit derStadtentwicklungsstrategie angesichts neuerAnsprüche und Erkenntnisse. Es handeltsich um ein Thema der Neuentdeckung undder Erfindung.

Man kann dann in ihr kleine oder größereWunder erleben. Denn die Faszination derStadt besteht auch darin, dass sie eineReaktion auf neues Wissen ist, dass sie aufdie Werte und Ziele unserer aktuellen Kul-tur reagiert. Sie gibt davon Kenntnis, waswir in unserer heutigen Verantwortung ausder Welt machen und zu was wir uns in derWelt verpflichten wollen. Die Stadt istunsere äußere Behausung.

Spreche ich von »europäischer Stadt«, dannmeine ich durchaus zunächst die Städte inEuropa, wie sie heute existieren und sichüber die Zeiten entwickelt haben. Nochmehr meine ich allerdings damit, dass dieStädte in Europa über lange Jahrhunderte

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hinweg auf der permanenten Suche ihrerStadtgesellschaften nach der immer huma-neren, immer hilfreicheren Form desZusammenlebens die Kultur ihres Gemein-wesens immer weiter fortentwickelt haben.Europäische Städte sind, wenn sie gelungensind, das Ergebnis der permanenten Sucheihrer Bewohner nach der immer angemesse-neren äußeren Form für ihr Zusammenle-ben.

Und damit plädiere ich wieder für dieinhaltliche, auf die Bewohner und ihrGemeinschafts- und Individualverständnisbezogene Aufgabe der Stadtentwicklungs-planung. Politisch formuliert, spreche ichvon den Verantwortungen der städtischenFachplanungen für das Ganze der sich ent-wickelnden, zu formenden und mit inhaltli-chen Herausforderungen zu füllenden Stadt.

Wie wir mit der Stadt umgehen, sagt auchetwas über uns selbst aus. Haben wir dieKraft, Neues zu versuchen und auchWagnisse einzugehen und uns damit mitunseren Leistungen auf den Prüfstand zustellen? Oder resignieren wir vor solchenHerausforderungen und lehnen wir uns lie-ber an das an, was uns vertraut ist?

So wie unsere Städte aussehen, sind sieZeugnis unseres Selbstbewusstseins undunseres Charakters. Sie geben Zeugnisdavon ab, was uns wichtig ist, wo wirunsere Werte sehen, für was und für wenwir uns einsetzen wollen. Hier geht eswieder um die inhaltlichen Ziele der Stadt-gesellschaft. Hier geht es darum, zu wassich die Stadtbewohner zusammentun, umgemeinsam voranzukommen und Ziele zuerreichen.

Natürlich zeugt die Stadt auch davon, obsich ihre Bewohner wirklich als Stadtgesell-schaft empfinden und nicht nur als gegebe-nenfalls temporäre Bewohner. Ich bin davonüberzeugt, dass die Globalisierung, diezunehmende Nähe früher weit entfernter

Orte in der Welt, weniger zu Letzterem bei-trägt. Gerade das Zuhausesein in der Weltlässt die Menschen spüren, dass sie ihreVerortung in einer überschaubaren unddoch eher stabilen Gemeinschaft – der derStadt – benötigen.

Dabei zeigt sich, dass solche neuen Stadt-bürger durchaus nicht die althergebrachtedeutsche Bürgerschaft sein müssen. Gera-dezu das Gegenteil ist richtig: In internatio-nal ausgerichteten und offenen Städten istdie Welt immer mehr bereits zu Hause.Menschen aus aller Herren Länder sindBürger solcher Städte geworden, und dieStädte selbst wurden zum Ergebnis ihrerAuffassungen und Ziele, ihres Verständnis-ses von Stadtgemeinschaft.

Dies muss durchaus nicht zu zentrifugalen,gesichtslosen, identitätslosen Städten füh-ren. Zu kritikwürdigen Städten habenandere Kräfte als die Weltbürger geführt,die sich die jeweilige Stadt zum Wohnortausgewählt haben. Gerade die Attraktivität,die Gravitationskraft der gewachseneneuropäischen Stadt ist in der Lage, sichdiese ganz unterschiedlichen und von über-all her gekommen Stadtbürger »anzueignen«und sie zu aktiven, konstruktiven Mitglie-dern ihrer Stadtbürgerschaft zu machen.

Das Erscheinungsbild der Stadt ist auchdafür Zeugnis, ob sich ihre Bewohner wohlfühlen und ob sie ihre Stadtgesellschaft sowertschätzen, dass sie sich für sie und darinengagieren. Dass sie das tun, ist wiederumdas, was den Charakter der »europäischenStadt« ausmacht. Wer sie für die Zukunftgewinnen will, muss sich um dieses Stadt-bürgertum kümmern, muss ihm Raum beider Entwicklungsplanung der Stadt geben.

Das bedeutet auch, dass Städte und ihreBezirke »sich bewegen«. Das taten sie zwarschon immer, die Geschwindigkeit derBewegungen jedoch nimmt zu. Das bedeu-tet, dass Stadtpolitik und Stadtplanungs-

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arbeit immer mehr zu einer permanentenBetreuung und Beförderung dieser Bewe-gung aufgerufen sind. Die Zeit, sich für einePlanung zu entscheiden und sie dann überJahrzehnte hinweg mit Projekten »zu fül-len«, ist vorbei.

Dies ist eine Herausforderung, aber ebenauch eine große Chance für die Fachpoliti-ken, die sich den Entwicklungschancen derStadtgesellschaft widmen, und damit auchfür die Familienpolitik. Es eröffnet sich fürdie Familienpolitik die Chance, Stadtent-wicklungspolitik in ihren Dienst zu stellen.Gleichzeitig erbringt sie für die Stadt eineunverzichtbare Qualifizierungsleistung,indem sie den Bau der lebenswerten Stadtunterstützt.

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182 183 Heinz Buschkowsky im Interviewmit Elisabeth Niejahr: Intervention fürFamilie

Heinz Buschkowsky, SPD-Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln, plädiert nicht für weniger,sondern für mehr Staat, um Familien und Nachbarschaften zu stärken. Ein Gespräch.

Elisabeth Niejahr: Herr Buschkowsky, Siesind seit mehr als sieben Jahren Bezirks-bürgermeister in Berlin-Neukölln, einemStadtteil mit über 300.000 Einwohnern.Welchen Typ Familie gibt es dort?

Heinz Buschkowsky: »Die« NeuköllnerFamilie gibt es nicht. Der Bezirk hat ganzunterschiedliche Gesichter. Im Süden rechtbürgerlich geprägt von Einfamilienhäusern.Scherzhaft formuliert ist das Haus auch oftvon der Bank gemietet. Um der Innenstadtund den dortigen Verhältnissen zu ent-gehen, zogen und ziehen viele auch in Neu-kölln an den Rand. Daneben gibt es dieFamilien in den Neubauvierteln, etwa derGropiusstadt, wo die Sozialstruktur durch-mischter ist. Dort leben vor allem die-jenigen, die einmal aus der Innenstadt weg-gezogen sind, weil sie ein eigenes Bad mitWC und einen eigenen Balkon haben woll-ten, auf dem sie den Sonnenschein genießenkönnen. Damals Facharbeiter, Angestellteund Beamte, die heute Rentner sind, aberauch Neuzugezogene mit und ohneErwerbstätigkeit.

Und es gibt Neukölln-Nord, den dicht-besiedelsten, ärmsten und schwierigstenTeil des Bezirks. Dort leben die Menschenmeistens in Häusern aus der Gründerzeit.Berlin ist 1920 ja aus den sechs StädtenCharlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg,Spandau, Lichtenberg und Neukölln ent-standen. Neukölln ist also eines der altenZentren Berlins. In den Gründerzeit-quartieren entwickelte sich Leerstand, alsab 1960 die Binnenwanderung in die Gropi-usstadt einsetzte. Diese Quartiere wurdendurch die damaligen Gastarbeiter in Besitzgenommen. So ist die heutige Migrations-stadt Neukölln-Nord entstanden. In diesemBallungsgebiet leben immerhin 160.000Menschen – eine Großstadt für sich – in der

noch immer viele Wohnungen kein eigenesBad und WC haben.

Niejahr: Wie viele Menschen mit Migrati-onshintergrund leben in ganz Neukölln?

Buschkowsky: 117.000 Gemeldete; das wis-sen wir ziemlich genau. Hinzu kommt eineunbekannte Größe an Illegalen und »Besu-chern«. Rund 40 Prozent der Menschen inNeukölln haben einen Migrationshinter-grund. In Neukölln-Nord beträgt der Anteil55 Prozent, in den Schulen sind es 80 bis100 Prozent. In den Grundschulen im Nor-den dominieren die Migrantenkinder, ineinzelnen Schulen gibt es so gut wie keinedeutschstämmigen Schüler. Hier stellt sichdie Frage, wer wen wohin integriert, schonlange nicht mehr.

Neukölln ist ein Schmelztiegel, in dem Men-schen aus über 160 Nationen leben. DieLebensbedingungen in diesem Brennpunkt,der für eine Großstadt nicht untypisch ist,verändern sich mit der Migration nicht nurethnisch-kulturell, sondern auch sozio-strukturell.

Und so sind wir ein Symbol geworden fürStärken, Schwächen, Erfolge und Versäum-nisse der deutschen Integrationspolitik mitall dem, was daran hängt: positive kulturelleVielfalt, unzählige Erfolgskarrieren, aberauch Verarmung, Arbeitslosigkeit, Bildungs-ferne, Jugendkriminalität und ein reformier-bedürftiges Bildungssystem. Hinzu kommteine Renaissance starker Religiosität bis hinzur Orthodoxie und zum Fanatismus. Fürdie Medien sind wir ein Eldorado, denn beijedem Thema, das damit zusammenhängt,können sich Journalisten an Neukölln abar-beiten. Seit einigen Jahren beobachten wirdie harten Fakten sehr akribisch, und wirfragen vieles ab. Das hat man über Jahr-zehnte nicht getan. Es wurde alles nur

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»gefühlt«. Je nach politischer Neigung wares gefühlt schön bei uns – oder man hattedas Gefühl, dass das Boot voll ist. Derrenommierte Stadtsoziologe Prof. Häusser-mann hat in zwei Gutachten beeindrucken-des Datenmaterial über Neukölln für unszusammengetragen. Diese Gutachten oderauch die Werte aus dem »Monitoring SozialeStadtentwicklung« des Senats der Stadt Ber-lin sowie der Sozialstrukturatlas sind dieGrundlagen unserer Arbeit. Wir verwendennie eigene bezirkliche Daten, die glaubt unssowieso keiner, und dann gibt es nur Streit.

Die Ergebnisse der Studien sind katastro-phal. Insbesondere die Prognose, dass dieEntwicklung dynamisch ist und keinerleiAnzeichen für eine Verbesserung erkennbarsind. Fachleute nennen Neukölln-Nord einGebiet mit Ausgrenzungstendenz, das heißt,eine Großstadt mit 160.000 Einwohnern istdabei, sich von mitteleuropäischen Lebens-und Wertestandards zu verabschieden. Esist nur vom Straßenzug abhängig, ob dreiViertel oder zwei Drittel der Kinder unter15 Jahren von Transferleistungen leben.In manchen Schulen sind 90 Prozent derEltern von den Zuzahlungen für die Lern-mittel befreit. Das sind Parameter, ausdenen sich viel ableiten lässt.

Was bedeutet es denn, wenn in einer Schule90 Prozent der Eltern von den Zuzahlungenfür die Lernmittel befreit sind? Es bedeutet,dass so gut wie kein Elternteil aller Kinderdieser Schule mehr in einem regelmäßigenErwerbsleben steht. Die Kinder kennen teil-weise niemanden mehr, der morgens auf-steht und arbeiten geht. Das schlägt sich imSchulalltag nieder: Teilweise kommen dieKinder pünktlich oder auch schon einmaleine halbe oder eine ganze Stunde zu spätbzw. auch gar nicht zur Schule. Sie kommenmit einem braunen und einem schwarzenSchuh. Die Jeans über die Schlafanzughosegezogen. Die Haare sind nicht gekämmt,und im Winter haben sie bei minus 15 Gradauch schon einmal Sandalen und ein T-Shirt

an. Zu essen haben sie oft gar nichts, maxi-mal eine Tüte von Burger King; denn dasEinzige, was die Mutter oder der Vater amVorabend noch geschafft haben, war, einenFünf-Euro-Schein hinzulegen. Es hat aberniemand das Kind geweckt, und es hat ihmauch niemand ein Schulbrot gemacht. Vomin den Arm nehmen ganz zu schweigen.

Das sind die Realitäten dort. Es gibt garnicht diese Diskussionen unter den Kindern,dass sie einmal so werden möchten wie ihrPapa, der Feuerwehrmann ist und Men-schen rettet. Diese Kinder haben zu Hausekeine Eltern, die ein Vorbild sind. Damitentwickelt sich oft auch kein Ehrgeiz; dennder Vater sitzt den ganzen Tag irgendwoherum: vor dem Fernseher, im Teehaus, aufder Bank vor dem Rathaus oder im Park.

Niejahr: Im Gespräch mit unserer Kommis-sion haben Sie erklärt, der Ansatz, Nachbar-schaften und kleine Lebenskreise zu stär-ken, sei für Viertel wie Neukölln völligfalsch. Dort sei vor allem der Staat gefor-dert, weil die Nachbarschaften eher dasProblem als die Lösung des Problems sind …

Buschkowsky: … sofern überhaupt eineNachbarschaft existiert. Wie gesagt: Esleben bei uns über 160 Ethnien, die sichzum großen Teil strikt voneinander abgren-zen. Die Behauptung, dass es nur eine Pro-blemlinie zwischen »den« Migranten undder deutschen Mehrheitsgesellschaft gibt,ist ein Märchen. Die größten Konfliktlinienverlaufen zwischen den einzelnen Ethniender Migranten.

Niejahr: Hilft man sich beispielsweise ineiner homogenen türkischen Nachbarschafteher?

Buschkowsky: Ja, aber auch dort oft nur,wenn Menschen aus der gleichen Gegend,aus dem gleichen Tal oder aus dem gleichenDorf kommen und wenn die religiöse Aus-richtung übereinstimmt. Aleviten und Sun-

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184 185 Heinz Buschkowsky im Interview mit Elisabeth Niejahr: Intervention für Familie

niten – das sind schon wieder zwei verschie-dene Welten. Das gilt auch, wenn Türkenmit Arabern, Türken mit Kurden, Russenmit Sinti und Roma zusammenleben.

Im Programm »Soziale Stadt« des BerlinerSenats gibt es das Instrument Quartiers-management, mit dem wir versuchen, Nach-barschaft zu organisieren. Wir wollen denMenschen klarmachen, dass die Atmo-sphäre, in der sie leben, von ihnen selbstbestimmt wird. Sie ist also davon abhängig,ob sie sich einen guten Tag wünschen, wennsie sich im Hausflur begegnen, oder zurSeite schauen und die Straßenseite wech-seln, wenn sie sich auf dem Bürgersteigbegegnen.

Oft gibt es persönliche nachbarschaftlicheBeziehungen überhaupt nicht und auchkeine Grundsolidarität. Das ist anders als imDorf in Rheinland-Pfalz, das es seit 500 Jah-ren gibt. In unseren Quartieren lebt einevom Zufall zusammengeführte Bevölkerungmit unterschiedlichsten Kulturen und Tem-peramenten auf engstem Raum miteinander.Wir versuchen, aus den Bewohnern einerStraße wirklich Nachbarn zu machen.

Niejahr: Es würde also zum Beispiel nie-mand dem Nachbarn Geld leihen?

Buschkowsky: Ich weiß nicht, ob das nie-mand tun würde, aber auf jeden Fall ist derandere weit weg. Wir reden hier über Stadt-Communities, die erst einmal beziehungslosnebeneinander leben. Im günstigsten Fallentsteht durch Begegnungen im Hausauf-gang etwas. Wir haben aber auch die böseErfahrung gemacht, dass sich die Bewohnereines Hauses homogenisieren. Da geht dannzum Beispiel jemand zur russischen Familieund sagt: Wir alle sind türkischstämmigeMenschen und leben nach einer anderenKultur. Wäre es nicht toll, wenn Ihr Eucheine andere Wohnung suchen würdet? Esgibt Häuserblocks, in denen nur Menschenaus einem bestimmten Gebiet wohnen. In

diesen Fällen existiert dort natürlich einBeziehungsgeflecht, aber ein ganz anderes,als es die Robert Bosch Stiftung im Sinn hat.Es kommt dort dann sicherlich auch zurNachbarschaftshilfe. Aber ich nenne dasParallelgesellschaft, weil diese Menscheneigene Normen haben, nach denen sie lebenund die jeder zu respektieren hat. Das sindaber die Normen ihrer Heimat, ihres Dorfesoder ihrer Sippe und nicht die des mitteleu-ropäischen Staatsgebildes BundesrepublikDeutschland.

Ich verspreche Ihnen, unser Polizeipräsi-dent und mein Innensenator werden vehe-ment bestreiten, was ich jetzt sage: Wennwir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dasswir nicht wirklich wissen, was in diesenQuartieren passiert. Der Friedensrichter hatdort einen stärkeren Einfluss als die Besat-zung eines Funkstreifenwagens.

Niejahr: Erklären Sie bitte einmal, was einFriedensrichter genau tut.

Buschkowsky: Ein Friedensrichter ist eineArt Schiedsmann. Er versucht, bei Streitig-keiten zwischen Familien zu einem Aus-gleich zu kommen, und er legt Bußgeld-zahlungen oder Wiedergutmachungen fest.Es geht ja meist um die Verletzung der Ehreeiner Familie. Dies kann viele Gründehaben, etwa, dass eine Tochter entehrtwurde oder es zu Betrügereien gekommenist. Der Friedensrichter ist eine Autorität,die Recht spricht.

Bis vor wenigen Jahren ist die Existenz vonFriedensrichtern bestritten worden. Wennich sie auf Podiumsdiskussionen erwähnthabe, dann fiel mir garantiert einer insWort. Heute schmücken sich Friedensrich-ter, indem sie sich im Boulevardfernsehenvon Kamerateams begleiten lassen oderZeitungsinterviews geben und erklären, wasihre Aufgabe ist. Sie sind Teil eines eigenenRechtssystems und eines eigenen Bezie-hungsgeflechts zwischen den Menschen.

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Wenn wir über den Ärmelkanal schauen,dann stellen wir fest, dass es in Englandbereits Scharia-Gerichte gibt, die offiziellRecht sprechen, Urteile fällen und in dasbritische Rechtssystem eingebettet sind.Das ist für mich zumindest gewöhnungs-bedürftig.

Zu der Frage, welches Wertesystem in die-sen Parallelgesellschaften gilt, will ich einweiteres Beispiel nennen: Während einesZugriffs in einer Wohnung kam ein Polizei-beamter des Spezialeinsatzkommandos umsLeben, weil ein junger Mann den ersten dieWohnung betretenden Polizeibeamtenerschoss. Er sagte später vor Gericht aus,dass es ihm sehr leid täte, dass er den Poli-zeibeamten erschossen hatte. Er wollte ihnnicht erschießen, und er wusste auch nicht,dass er Polizist ist. Er saß im Wohnzimmer,hörte, dass jemand gewaltsam in die Woh-nung kam, und dachte, es sei jemand vomverfeindeten Clan, der ihn umbringenwollte.

Das lehrt uns zweierlei, nämlich erstens,dass es in einer bestimmten Szene normalist, zu Hause mit einer durchgeladenenWaffe zu sitzen. Zweitens lehrt es, dass esoffensichtlich ein System gibt, in dem mandavon ausgehen muss, dass jemand einenmit dem Tode bestraft. Das ist zumindest inMitteleuropa ungewöhnlich. Wenn ich zuHause sitze, erwarte ich nicht, dass jemanddurch die Tür kommt, der mich umbringenwill.

Wenn man über solche Zustände vor nochnicht allzu langer Zeit offen gesprochen hat,wurden sie vehement bestritten. Ich erin-nere mich, wie ich bei Diskussionen ange-gangen wurde, wenn ich Wörter wie»Zwangsheirat« und »Parallelgesellschaft«nur in den Mund genommen habe.

Niejahr: Von wem?

Buschkowsky: Von denen, die einen eherromantischen Blick auf die Migrationspro-bleme haben.

Ich glaube, heute sind wir ein Stück weiter,weil die von Terre de Femmes erhobenenZahlen, laut denen sich jede zweite türki-sche Frau ihren Mann nicht aussuchenkonnte und etwa 15 Prozent der türkischenFrauen eine Zwangsehe eingehen mussten,heute nicht mehr ernsthaft bestritten wer-den.

Niejahr: Sie haben gesagt, Multikulti seigescheitert. Was folgt daraus? Man kann dasRad ja nicht zurückdrehen.

Buschkowsky: Ich meinte einen bestimmtenMultikulti-Begriff. Ich bestreite die romanti-sche Vorstellung, Menschen aus aller Her-ren Länder kommen zusammen, und ausihrer Begegnung ergibt sich eine Symbiosealler guten Teile ihrer Herkunftskulturen,also die Schöpfung einer neuen multikultu-rellen Gesellschaft, in der sich alle Men-schen wohl fühlen und sich offen vollerRespekt, Toleranz und Zugewandtheitbegegnen.

Die Erfahrungen im täglichen Leben zeigen,dass solche Multikulti-Ideen reine Kopfge-burten sind. Ich denke, dass jeder Menschdas Bedürfnis hat, seine Wurzeln zu kennenund auch stolz darauf zu sein. Ich bin nichtstolz auf Goethe, aber ich habe schon einengehörigen Respekt für die kulturellen undgesellschaftlichen Leistungen unserer Vor-fahren und unseres Volkes. Ich empfindeauch Stolz, zu dieser Gemeinschaft in derjetzigen Epoche zu gehören, auch wenn ichder Verantwortung für historische Ereig-nisse nicht ausweichen kann und will.Ich denke, dass es den meisten anderengenauso geht und eigentlich jeder wissenwill, wohin er gehört. Kein Mensch willbeliebig, also multikulturell sein.

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Warum sollte der Mensch das auch sein?Ich finde es völlig in Ordnung, wennjemand, der die deutsche Staatsangehörig-keit in zweiter oder dritter Generationbesitzt, sagt, dass er in seinem HerzenTürke sei, und dabei bleibt, dass er dasZuckerfest feiert und dass ihm Döner nuneinmal besser als Currywurst schmeckt.Mir schmeckt Currywurst übrigens auchbesser als Weißwurst.

Aber Sie haben Recht: Die Menschen, umdie es geht, sind da und werden bleiben. Dieerwachsenen Bürger des Stadtteils Neu-kölln-Nord des Jahres 2019 gehen heuteschon zur Grundschule. Neukölln-Nord wirdin zehn Jahren eine Migrantenstadt sein.Heute haben 55 Prozent der Menschen inNeukölln-Nord einen Migrationshinter-grund. In den Grundschulen beträgt derAnteil, wie gesagt, bis zu 100 Prozent. Wenndiese jungen Menschen erwachsen sind,werden mindestens drei von vier Bürgern inNeukölln-Nord einen Migrationshintergrundhaben.

Niejahr: Können Sie auch für ganz Berlineine Zahl nennen?

Buschkowsky: Nein, aber ich glaube, dasssich unsere Situation der von Rotterdamannähern wird. Dort gibt es keine Mehr-heitsgesellschaft mehr.

Niejahr: Wie in Kalifornien, wo inzwischenmehr Hispanics als englischsprachige Men-schen leben.

Buschkowsky: Für sich allein genommen istdas auch kein Problem. Die Frage ist nur,ob es uns gelingt, diese nachwachsendenmultiethnischen Bevölkerungsschichten indas mitteleuropäische Zivilisations- undWertesystem einzubinden. Es gibt dort einProblem, wo die tradierten Riten weiterge-pflegt werden und zum Beispiel die Mäd-chen gemäß dem Kulturbild »keusch, sexu-ell rein, dem Mann und der Schwiegermut-

ter gehorsam« und die »Jungen zumBeschützer, zur Tapferkeit, zum Kämpferund zum Bewahrer der Ehre der Familie«erzogen werden. Die einen sagen denKindern, dass es Sünde sei, Kontakt zuDeutschen zu haben, die anderen sagenihnen: »Deutsche sind Schweine, und dieHummeln sollen in Eure Zungen stechen,wenn Ihr Deutsch redet.«

In solchen Familien erleben wir Folgendes:Wenn der Sozialarbeiter wegen des unregel-mäßigen Schulbesuchs eines Kindes zudessen Eltern kommt, antworten diese ihm:Meine Tochter soll eine gute Frau undMutter werden. Was braucht sie dafür dieSchule?

Die Gefahr ist, dass die eigentlich berei-chernde Vielfalt in der Realität in Wirklich-keit oft Rückschritt bedeutet.

Niejahr: Sprechen wir über die Antwortendes Staates auf solche Probleme. Sie sagen,dass nicht unsere Gesetze das Problem sind,sondern deren mangelhafte Anwendung.

Buschkowsky: Wir haben in Deutschlandkeinen Erkenntnismangel, sondern einHandlungsdefizit. Es gibt Normen, die vonder Gesellschaft recht repressiv durchge-setzt werden. Wenn Sie den Sicherheitsgurtbeim Autofahren nicht anlegen, dann wer-den Sie mit einer Geldbuße in Höhe von30 Euro belegt. Wenn Sie das rote Ampel-licht missachten, obwohl niemand IhrenWeg kreuzt, dann droht man Ihnen miteiner Geldbuße in Höhe von 200 Euro, dreiPunkten in Flensburg und vielleicht sogareinem Fahrverbot. Beim Straßenverkehrgeht unsere Gesellschaft also schon bei klei-nen Verstößen ziemlich rigide vor. Das istauch in Ordnung, aber da, wo es um unsereKinder geht, sind wir sehr viel nachsichtigerund behandeln beispielsweise die Schul-pflicht wie eine unverbindliche Empfehlung.

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Niejahr: Was kann man tun, damit dieSchulpflicht ernster genommen wird?

Buschkowsky: Man muss sie durchsetzen.

Niejahr: Wie?

Buschkowsky: Wenn Ansprachen nichthelfen, mit Sanktionen. Der Staat hat dadurchaus Möglichkeiten: Es gibt die Schul-versäumnisanzeige, es gibt Bußgeldbe-scheide, es gibt die Zwangsvorführungdurch die Polizei.

Niejahr: Das alles scheint nicht sehr vielWirkung zu haben.

Buschkowsky: Der einzige Bezirk in Berlin,der das Instrument der polizeilichenZwangsvorführung von Schülern nutzt, istNeukölln. Alle anderen Bezirke tun dasnicht. Wir haben in Neukölln im letzten Jahr150 Bußgeldbescheide gegen Eltern erlas-sen, was ich angesichts der Realitäten alsviel zu wenig empfinde. In anderen Bezir-ken werden gar keine erlassen.

Niejahr: Besteht das Problem nicht eherdarin, dass man zum Beispiel bei Hartz-IV-Empfängern mit Bußgeldbescheiden nichtsehr weit kommt?

Buschkowsky: Auch ein Hartz-IV-Empfän-ger kann dazu angehalten werden, das Buß-geld ratenweise zu zahlen. Man kann ihndas Bußgeld auch durch gemeinnützigeArbeit abarbeiten lassen. Und man kanndirekt auf Sozialleistungen des Staateszugreifen.

Bis vor ganz kurzer Zeit sind Schulver-säumnisangelegenheiten und die entspre-chenden Bußgeldverfahren in Berlin vonden Verkehrsrichtern bearbeitet worden.Für diese war das eine Last. Jetzt bearbei-ten diese Angelegenheiten die Jugendrich-ter. Es gibt in Berlin eine sehr engagierteJugendrichterin, die Haftbefehle verhängt,

wenn Eltern Bußgelder nicht bezahlen. Wasmeinen Sie, wie schnell dann bezahlt wird!Ich sage gerne den Satz: Kommt das Kindnicht in die Schule, kommt das Kindergeldnicht auf das Konto. Das ist angeblich inder Bundesrepublik rechtlich nicht möglich.Warum eigentlich nicht? Die Familienrichterin Berlin fordern seit Jahren die Möglich-keit des Eingriffsrechts auch in Transfer-leistungen bei unkooperativen Eltern. Ausmeiner Sicht beruht das Kindergeld aufeiner Art Vertrag. Es ist der monetäre Aus-gleich für Belastungen, die mit Kindern undihrer Erziehung verbunden sind. Dafürerwartet die Gesellschaft aber, dass dieEltern ihre Kinder gemäß den Normen undWerten der Gesellschaft erziehen. DiesePflicht leitet sich schon aus Artikel 6 desGrundgesetzes ab.

Laut Schulversäumnisstatistik fehlen inNeukölln 25 Prozent aller Hauptschülermehr als 21 Tage im Jahr unentschuldigt.Bei Gymnasiasten sind es nur 2,5 Prozent.Es ist also eine Frage der Bildungsorientie-rung oder Bildungsferne, insbesondere imElternhaus. Oft heißt es: Gott sei Dankbesteht bei den Grundschulen das Problemmit den Fehlzeiten nicht. Das stimmt abernicht. In der Grundschule gibt es nämlichein ganz anderes Problem. Das Kind kommtam Montag in die Schule, am Dienstagkommt es nicht. Am Mittwoch und am Don-nerstag kommt es, am Freitag kommt esnicht. Am Mittwoch kommt das Kind um8.00 Uhr, am Donnerstag um 10.00 Uhr. Dassteht im Klassenbuch, aber in keiner Schul-versäumnisstatistik. Dabei fängt so die Ent-wicklung der Schuldistanz an.

Niejahr: Die Kinder lernen so, dass man denSchulbesuch nicht ernst nehmen muss?

Buschkowsky: Richtig. Wir versuchen, die-ser Entwicklung mit Schulstationen zubegegnen, in denen türkische und arabischeSozialarbeiter tätig sind. Neukölln ist dereinzige Bezirk, der allen Grundschulen im

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Norden aus Bezirksmitteln eine Schulstationfinanziert.

Darüber hinaus brauchen wir aber auchVerbindlichkeit. Das habe ich gerade hin-sichtlich des Schulbesuchs gelernt, als ichvor kurzem in London und in Rotterdamwar. In beiden Städten wird in der Migrati-onspolitik ein ganz starker Fokus auf denSchulbesuch der Kinder gerichtet. Den Nie-derländern wirft man eine gewisse Schul-apartheid vor: weiße Schulen, schwarzeSchulen. Das stimmt, es gibt diese Tren-nung. Die Tatsache, dass die »schwarzenSchulen« wegen der Zusammensetzung derSchülerschaft fast doppelt so viele Mittelbekommen wie die »weißen Schulen«, wirdbei diesem Vorwurf meist übersehen. Ichhätte im Vergleich zu Schulen in großbür-gerlichen Gebieten gerne doppelt so vieleLehrer und Sachmittel für meine NeuköllnerSchulen. Die Realität bei uns ist, dass dieKlassengrößen in Brennpunktschulen inBerlin gerade um 20 Prozent erhöht werdenund dass wir einen Belastungsausgleich beiden Lehrerstunden von etwa 5 Prozenterhalten. Aufgrund der bestehenden Ver-werfungen ist das völlig unzureichend.

Niejahr: Das heißt aber, dass die Niederlän-der das Geld nicht für die Durchsetzung derSchulpflicht, sondern für den Unterrichtausgeben. Oder wie wird dieses Geld inves-tiert?

Buschkowsky: Ich habe das Hilfs- undAngebotssystem in Rotterdam bei meinemBesuch dort als viel effektiver und umfang-reicher als bei uns erlebt. Man kümmertsich dort sehr intensiv um sozial schwierigeFamilien. Das gilt gleichzeitig aber auch fürdie staatlichen Interventionen. Dort sagtman: keine Prävention ohne Repression. Esgibt dort also immer folgende Drohkulisse:Die Gesellschaft hilft Dir, aber wir erwartenvon Dir, dass Du die Möglichkeiten, die wirDir bieten, auch nutzt und Deine Kompeten-zen, die Du hast, einbringst. Wenn Du Dich

verweigerst, dann entziehen wir Dir unsereUnterstützung, also die Sozialleistungen.

Das gilt auch für die Schule. Ein Beispiel: InRotterdam werden die Zeugnisse nur an dieEltern ausgegeben. Aufgrund des dortigenTrimestersystems erzwingt man dadurchalso drei Mal im Jahr einen persönlichenKontakt und ein Gespräch über das Kindzwischen der Lehrerschaft und den Eltern.

Wenn man fragt, wie vielen Kindern dasZeugnis doch mit nach Hause gegeben oderzugeschickt wird, erhält man die Antwort:Keinen, es kommen alle Eltern. Wieso istdas so? Wenn sie nicht kommen, dannerhalten sie im nächsten Monat keine Sozi-alhilfe, und das wissen die Leute. Ichglaube, dass eine ähnliche Regelung bei unsdie gleiche Wirkung haben würde.

Niejahr: Haben Sie der Regierung das ein-mal vorgeschlagen?

Buschkowsky: Bisher hatte ich dazu keineGelegenheit. Und es liegt leider nicht in derKompetenz eines Bezirksbürgermeisters, soetwas umzusetzen. Wenn ich könnte, würdeich die direkte Zeugnisausgabe an die Elternfür die Neuköllner Schulen sofort einführen.Die Lehrerschaft wäre von dieser Ideebestimmt nicht so begeistert.

In Rotterdam spricht das Lehrerkollegiumalle Sprachen, die auch die Kinder spre-chen. Das heißt, das Kollegium kann sichauch mit den Eltern verständigen. Von die-sem Zustand träumen wir. Was macht dennein Lehrer mit Eltern, die nur rudimentärDeutsch sprechen?

Niejahr: Türkisch ginge vielleicht noch, daes zum Teil türkische Lehrer gibt.

Buschkowsky: Wir haben kaum türkischeLehrer. Es gibt vielleicht drei bis fünf Vor-zeigelehrer in einem Bezirk von 2500 Leh-rern. Verbale Kommunikation ist teilweise

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also überhaupt nicht möglich. In den Nie-derlanden ist das anders, das Lehrerkolle-gium weiß, wie die Leute ticken. Das heißt,dort herrscht eine ganz andere Form desUmgangs miteinander. Davon sind wir nichtnur hier in Berlin, sondern in ganz Deutsch-land meilenweit entfernt.

Wir sind auch weit davon entfernt, zuakzeptieren, dass es Stadtgebiete gibt, indenen die Menschen im Vergleich zu einertraditionellen deutschen Klein- oder mittel-großen Stadt intensivere Betreuung brau-chen. Irgendwann einmal muss man vondem Grundsatz wegkommen, wonach dieSchüler-Lehrer-Relation überall gleich seinmuss.

Wie zu Beginn der Industrialisierung vor150 Jahren gibt es heute wieder eine bil-dungsferne Schicht, die sich über die nor-male Strukturierung einer Gesellschafthinaus dynamisch entwickelt. Es gibt wiederEltern, die überhaupt nicht begreifen, wiediese Gesellschaft funktioniert und welcheKompetenzen ihre Kinder haben müssen,um ein erfolgreiches Leben führen zu kön-nen. Diese Eltern sind die größte Gefahr fürihre Kinder, und die Kinder tragen schweran den Defiziten, die sie von zu Hause mit-bringen. Da das so ist, hilft es nichts, vonden Eltern Dinge zu verlangen, die sie nichterfüllen können. Eltern können nur dieKompetenzen an ihre Kinder weitergeben,die sie selbst haben. Aber der Staat mussdann sicherstellen, dass er die Defizite derElternhäuser ausgleicht. Die Gesellschaftmuss intervenieren, damit die Kinder nachihrem Wertekanon erzogen werden.

Aus diesem Grund bin ich auch für die Kin-dergartenpflicht und für Ganztagsschulen,die helfen, eine konstruktive Freizeitbe-schäftigung sicherzustellen. Mit den Kin-dern, über die wir reden, spielt zu Hauseniemand »Mensch ärgere Dich nicht« oder»Halma«. Das sind aber wichtige Bausteine,um die Frustrationsschwelle zu heben und

die Konzentrationsfähigkeit zu stärken. Eshilft, wenn ein Kind im Spiel lernt, nicht dasganze Brett an die Decke zu schmeißen, nurweil es es zum dritten Mal hintereinanderkurz vor dem Ziel rausfliegt.

Heute gibt es junge Menschen im Alter von14, 15 Jahren, die sich nur 20 Minuten langkonzentrieren können. Manche Kinder wer-den eingeschult und können – saloppgesprochen – kaum unfallfrei geradeaus lau-fen.

Die Gesellschaft muss daher mitunter dieStelle der Eltern einnehmen, weil die Kinderdas Kapital der Gesellschaft sind. Ich binfür eine intervenierende Gesellschaft. SozialSchwache brauchen eine starke Gesell-schaft. Sie brauchen aktivierende und füh-rende Leitlinien, aber auch Grenzen undeine klare Sprache.

Niejahr: Sie sprechen nicht vom starkenStaat, sondern von der starken Gesellschaft.Warum?

Buschkowsky: Es gibt Aufgaben, die Vertre-ter des Staates allein nicht bewältigen. Des-halb haben wir zum Beispiel die Stadtteil-mütter entwickelt. Ich nenne sie liebevollunser »Kopftuchgeschwader«. Es handeltsich um Mütter mit einem Migrationshinter-grund, die teilweise noch nie einen festenJob oder eine regelmäßige Tätigkeit hatten,aber Lust haben, sich zu engagieren. Wirwerben sie an und bilden sie sechs Monatelang in zehn Feldern aus zu Themen wieKindergarten, Sprachkurse, gesunde Ernäh-rung, Sexualerziehung, gewaltlose Erzie-hung und Schulsystem.

Wir versuchen, über diese Frauen an Fami-lien heranzukommen, die hinter verschlos-senen Türen leben. Es gibt eben Familien,bei denen die Tür auch dann nicht aufgeht,wenn der Bürgermeister mit der Amtskettehundertmal klingelt. Wenn aber die Schwes-ter davorsteht, ist das manchmal anders. So

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versuchen wir, die Gutwilligen zu erreichen,die oft einfach nicht wissen, wie die Weltfunktioniert, in die sie hier in Deutschlandgekommen sind.

Niejahr: Wie finden Sie solche Frauen?

Buschkowsky: Das geschieht im Kiez durchdie Anwerbung der Frauen untereinander.Die Keimzelle war ein Projekt im Rahmendes Quartiersmanagements. Dieses Minipro-jekt wurde mit 10.000 Euro aus Mitteln desEuropäischen Fonds für Regionale Entwick-lung finanziert. Es hat sich so bewährt, dasswir es auf den ganzen Bezirk ausgedehnthaben.

Heute gibt es 130 Stadtteilmütter unter-schiedlichster Ethnien: Araberinnen, Kur-dinnen, Türkinnen, Russinnen und vieleandere. Sie sind Eisbrecherinnen. Sie sollenkeine Bildung vermitteln. Das können sienicht. Sie sind auch keine Sozialarbeiterin-nen. Das können sie auch nicht. Sie sollenaber versuchen, für bestimmte Menschendie Tür zur Gesellschaft zu öffnen, was oftnur nach dem Motto funktioniert: »Schwes-ter, ich weiß, wer Dir bei Deinem Problemhelfen kann. Ich nehme Dich an die Hand,komm mit und vertraue mir.«

Niejahr: Was tun Sie noch in Neukölln, umverschlossene Türen zu öffnen oder Nach-barschaften zu unterstützen?

Buschkowsky: Ein ganz anderer Versuchist unser Campus Rütli, ein großer Feld-versuch, der eine neue urbane Stadtkulturschaffen soll. Wir wollen auf 50.000 Qua-dratmetern die gesamte öffentlicheInfrastruktur unterbringen, so dass alleMenschen, die in diesem Gebiet aufwach-sen, sich dort immer wieder begegnen –egal, ob sie zum Sportverein oder zur Volks-hochschule gehen. Auf dem Gelände befin-den sich Krippe, Grundschule, Oberschulemit Oberstufe, Berufsfindungswerkstätten,Jugendclub, Sporthalle, Musikschule, Volks-

hochschule, Kinder- und Jugendgesund-heitsdienst und eine Wiese zum Grillen undStreetballspielen.

Wir wollen dort die soziale Kompetenzeines ganzen Stadtquartiers mit 5.000 Ein-wohnern zusammenführen. Wir wollennicht, dass – wie bisher – Mohammed mor-gens nach links zur Hauptschule geht, wäh-rend Ahmed zum Ernst-Abbe-Gymnasiumnach rechts verschwindet, obwohl beide imgleichen Haus wohnen. Der Campus soll dergesellschaftliche Mittelpunkt dieses Wohn-gebiets sein. Der Starke soll das Vorbild fürden Schwachen sein, aber auch Verantwor-tungsbewusstsein gegenüber dem Schwa-chen entwickeln. Die Menschen sollen sichweniger voneinander abschotten.

Wir haben nämlich das Problem der bereitsganz früh einsetzenden Segregation schonbei den Kleinsten. Von den Kindern, die imNeuköllner Norden geboren werden, kommtein weitaus geringerer Teil auch in dieSchulen. Der andere Teil der Kinder ist imAlter von fünf oder sechs Jahren weggezo-gen. Bildungsorientierte Eltern verlassenvor der Einschulung das Quartier, weil sieihre Kinder dort nicht zur Schule schickenwollen. Das wiederum bedeutet, dass sich inden Klassen die normale soziale Spreizungnicht mehr widerspiegelt, weil der Anteilder Kinder aus schwierigen Verhältnissenüberwiegt.

Niejahr: Ihre Zielgruppe, die Sie zum Blei-ben bewegen wollen, sind also junge Fami-lien mit sehr kleinen Kindern?

Buschkowsky: Ja, und das gelingt nur, wenndiese Familien mir glauben, dass die Sorgeum ihren Nachwuchs unbegründet ist. InBerlin gab es gerade im letzten Jahr einestarke bürgerliche Bewegung für eine evan-gelische Privatschule in Kreuzberg. DerSpitzenmann dieser Initiative war der stell-vertretende Chefredakteur einer linkenTageszeitung. Viele drohten mit dem Weg-

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zug, wenn die Privatschule nicht errichtetwird. Daran sehen Sie, welche Bedeutungdas Thema hat.

Niejahr: Was würden Sie sagen, wenn dasGanze in Neukölln passieren würde?

Buschkowsky: Das Neuköllner Bezirksamthätte sich vermutlich anders als die Kreuz-berger Kollegen verhalten. Die Kreuzbergersagen: Das leistet der Segregation in denSchulen noch mehr Vorschub. Wir sortierendamit die sozial Starken aus. Deswegen wol-len wir die Privatschule nicht. Wir wollendie Durchmischung.

Ich sage: Die Folge davon ist, dass die Elternfortziehen. Mit jedem Möbelwagen verlas-sen nicht nur Möbel das Quartier, sondernauch soziale Kompetenz. Der ständige Ader-lass an sozialer Kompetenz führt zum Nie-dergang. Ich würde ihnen die Privatschulegeben; denn wenn ich das Kind des Philhar-monikers schon nicht in der Schule haltenkann, dann würde ich wenigstens wollen,dass es mit seiner Familie im Quartier bleibtund dass damit im Sportverein, auf demSpielplatz und im Hausaufgang vielleichtdoch noch so etwas wie eine Beziehung undnicht die alleinige Abbildung eines Unter-schichtenmilieus entsteht.

Nach der erwähnten Studie der Humboldt-Universität wohnt in Neukölln-Nord einehomogene Gruppe von Menschen, die größ-tenteils sozial ausgegrenzt ist. Und es gibtkeine Anzeichen einer positiven Entwick-lung, sondern eher eine dynamische Ent-wicklung nach unten. Wenn ich nicht will,dass die sozialen Kompetenzen der Bewoh-ner dieses Stadtteils immer schlechter wer-den, dann muss ich den Menschen die Mög-lichkeit des Wählens und Bleibens geben.

Die Sorge um den Nachwuchs ist die größteSorge, die Eltern haben. Neukölln ist seitvielen Jahren sehr beliebt bei jungen Leu-ten, die nach Berlin ziehen, weil die Mieten

hier so niedrig sind. Junge Menschen habeneine hohe Frustrationsschwelle hinsichtlichLärm, sozialer Verwerfungen und Dreck aufder Straße. Sie brauchen auch keine Gar-dine mit Goldkante am Fenster. Wenn diejungen Leute aber Familien gründen undKinder haben, dann ziehen sie weg – spätes-tens mit dem Schuleintritt der Kinder. Fürdie bildungsorientierten Migranten gilt dasübrigens in besonderem Maße. Gerade sietelefonieren vorher die Schulen ab, in dieihre Kinder eingeschult werden können,und fragen, wie hoch der Migrantenanteilist.

In London sind Privatschulen ein Mas-senphänomen, in den Niederlanden gibt esdie Teilung in »schwarze« und »weiße«Schulen. Die Sorge um die Schulbildungihrer Kinder ist ein zentrales Anliegen allerEltern, nicht nur in Neukölln.

Die Menschen möchten, dass ihre Kinderentsprechend ihrer Anlagen gefördert wer-den. Das ist nicht der Fall, wenn in einerKlasse 50 Prozent der Kinder das Tempo sosehr verlangsamen, dass daraus für dieanderen 50 Prozent Stillstand folgt. Es gibtden augenzwinkernden Satz: Kinder lernennicht durch die Schule, sondern trotz derSchule – weil die Schule nur auf den Funda-menten aufbauen kann, die die Eltern gelegthaben.

Das Elternhaus muss übrigens nicht ausAkademikern bestehen. Im Elternhaus mussnur Motivation vermittelt werden. Es reichtoft schon, wenn die Eltern sagen: »Kind, wirhatten keine Möglichkeit, lesen und schrei-ben zu lernen. Das ist nicht gut für unserLeben gewesen. Du sollst es besser haben.Lies, geh zur Schule und mach Deine Haus-aufgaben.« Meine Oma hat immer gesagt:»Arm kann man ruhig sein, aber man musskeine dreckigen Socken anhaben.« Genausogilt: Man muss nicht lesen und schreibenkönnen, um sein Kind zum Lesen undSchreiben zu motivieren.

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Niejahr: Wie binden Sie engagierte Bürgeroder Organisationen in Ihre Stadtteilpolitikein?

Buschkowsky: Ich glaube, dass wir in Berlinein sehr gutes System entwickelt haben,nämlich das Quartiersmanagement, bei demdie Bürger- und Nachbarschaftsbeteiligungein wesentlicher Bestandteil sind. Das Quar-tiersmanagement gibt es in verschiedenenBerliner Bezirken mit sozial schwierigenGebieten. Es ist ein Instrument der »Sozia-len Stadt«. Mit aus öffentlichen Zuwendun-gen finanzierten verwaltungsfernen Bürosversuchen Quartiersmanager unter Einbe-ziehung der Bürgerschaft die Lebensqualitätim Stadtteil zu verbessern und die Teilhabeder Bürger an ihrem Stadtteil nachhaltig zustimulieren. Das geschieht über die üblichenInstrumente aus Beiräten, Stadtteilzeitun-gen, Straßenfesten, Wettbewerben oderKommunikationszentren für Alte und Junge.Gestaltend können die Quartiersmanagerüber Projektmittel wirken. Sie verfügenaber über keine Steuerungs- oder gar Ein-griffskompetenzen. So können sie zum Bei-spiel nicht einfach alle wichtigen Akteureeines Sozialraums an einen Tisch zwingenund regeln, wie man mit der Entwicklung ineiner Straße oder einem Block umgeht.Ich halte das für falsch.

Ich bin dafür, mehr Verbindlichkeit in dasQuartiersmanagement zu bringen, damit diebeteiligten Bürger dabeibleiben. Bisher sagtman zum Beispiel dem Bürger A, dass seineBeschwerde zwar richtig ist, man aber lei-der nichts tun kann, weil das Sache derPolizei ist. Den Bürger B schickt man zumJugendamt, den Bürger C zur Schule.Irgendwann fragen die Leute: »Weswegensitze ich hier eigentlich und mache mit beimQuartiersmanagement, wenn wir dochnichts zu sagen haben?« Ich rede einem ver-bindlichen Quartiersmanagement das Wort.Die Quartiersmanager sollten Kompetenzenerhalten, die Beteiligung von einzelnenBehörden durchzusetzen, einen Datenaus-

tausch zu entwickeln oder auch konzer-tierte Aktionen koordinieren und durchfüh-ren zu können. Die momentane Struktur,dass das Quartiersmanagement vom »Good-will« der Behörden abhängig ist, halte ichfür nicht ausreichend. Auch an dieser Stellekönnen wir von den Niederlanden lernen,wo die Vernetzung und operative Zusam-menarbeit aller beteiligten hoheitlichenKräfte außerhalb des normalen Aufgaben-spektrums inzwischen gang und gäbe ist.

Aus meiner Sicht ist ein durchgängigesPhänomen unserer Gesellschaft, dass Ver-bindlichkeit fehlt oder sogar abgebaut wird.Wir hängen noch immer ein wenig denSlogans der 68er-Revolution nach. Damalsrief man: »Unter den Talaren – Muff von1.000 Jahren«. Ein Synonym dafür, dass allesbeseitigt werden sollte, was nach Reglemen-tierung, Zwang und überkommener Strukturroch.

Nach der Wiedervereinigung sagten dieehemaligen DDR-Bürger: »Staat und Bevor-mundung hatten wir lange genug. Wir wol-len endlich frei sein.« Beides zusammen hatdazu geführt, dass unsere Gesellschaftinzwischen fast eine beobachtende Gesell-schaft geworden ist, die nur nochbeschreibt, aber nicht mehr bereit ist,Normen, die wir uns im Interesse von allengesetzt haben, auch durchzusetzen. DasSelbstbewusstsein hierfür ist einfach verlo-rengegangen. Heute werden verpflichtendeGesetze verabschiedet, die keine Sanktions-klauseln enthalten, womit die Durchsetzungvöllig zahnlos wird.

Gerade die gesellschaftliche Linke muss sichengagieren; denn wenn das rechte Ratten-fänger tun, wird es gefährlich. Ich habe inRotterdam einen Satz gehört, der mir nichtmehr aus dem Kopf geht. Er lautet:»Wir haben unseren Pim Fortuyn gelernt.«Fortuyn war der niederländische Rechts-populist, der sehr einflussreich war, bevorer erschossen wurde.

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Niejahr: Mit solchen Thesen tun sich vielein Ihrer Partei, der SPD, eher schwer. StörtSie das eigentlich?

Buschkowsky: Ich werde häufig gefragt, obich nicht in der falschen Partei bin. Ich sagedann immer: Ich finde, dass ich in genauder richtigen Partei bin. Für die Chancen-gleichheit aller einzutreten, also auch derer,die nicht mit dem goldenen Löffel im Mundgeboren wurden und bei denen sonntagskeine Hausmusik gemacht wird, ist sozialde-mokratische Politik. Teile meiner Parteihaben nur ein wenig vergessen, dass derIdealzustand einer Gesellschaft, in der alleMenschen gut und alle Bürger mündig sind,derzeit noch eine Baustelle ist, die wirirgendwann vollenden werden. Im Momentjedoch gibt es nun einmal Menschen, dieHilfe und Führung brauchen.

Niejahr: Sie plädieren für einen stärkerenStaat. Können Sie trotzdem mit dem Prinzipder Subsidiarität etwas anfangen?

Buschkowsky: Natürlich. Wir brauchenbeides. Subsidiarität heißt ja nur, dass sichdie Gesellschaft verschiedener Erfüllungs-gehilfen bedient. Das ist etwas anderes als»Laisser-faire«. Unter Subsidiarität versteheich, dass der Staat nur dort eintritt, woandere die Dinge nicht besser regeln kön-nen. »Andere« können zum Beispiel karita-tive oder religiöse Organisationen sein, auchmuslimische Gemeinden.

Niejahr: Die scheinen Ihnen aber keinegroße Hilfe zu sein.

Buschkowsky: Derzeit nicht. Derzeit sindmuslimische Gemeinden bei uns eher rück-wärtsgewandt, obwohl einzelne Imamedabei sind, das zu ändern. Ich kenneImame, die in ihren Predigten gegen dieZwangsverheiratung zu Felde ziehen undfür Bildung, Schulbesuch und ein selbst-bestimmtes Leben der Mädchen predigen.Das gibt es und diese Gemeinden sind wich-

tige Partner, ganz im Sinne des Subsidiari-tätsgedankens, aber sie stehen nach mei-nem Erleben zurzeit noch nicht für den»Mainstream« der muslimischen Gesell-schaft.

Niejahr: Wie sieht Ihr Austausch mit denmuslimischen Gemeinden ganz konkret aus?Wo und wie trifft ein Bezirksbürgermeistereinen Imam zum Gespräch?

Buschkowsky: Ich gehe hin und wieder inMoscheen und stelle mich der Diskussionmit den Mitgliedern der Gemeinde. Ich dis-kutiere auch mit Frauen, die Kopftuch oderandere Verhüllungen tragen, und sage ihnenklar, dass ich es nicht für richtig halte, dasseine Frau in dieser traditionellen Beklei-dung bei uns eine hoheitliche Tätigkeit aus-üben sollte. Sie ist eine Botschafterin einerKultur, die nicht die Kultur dieses Landesist.

Abgesehen davon gehe ich zu Veranstaltun-gen, zum Beispiel zur Arabischen Kulturwo-che oder auf Straßenfeste, die nach einemGrußwort des Bürgermeisters auch heuteschon gemeinsam von der evangelischenPfarrerin und dem türkischen Imam eröff-net werden. Dort sitzt man beim Tee zusam-men und unterhält sich.

Natürlich erhalte ich auch Berichte, wie zumBeispiel von meinem Migrationsbeauftrag-ten, der mir sagt, welcher Imam sich wodurch welche Predigten ausgezeichnet hat.Es gibt allerdings keine strukturierten, insti-tutionalisierten Kontakte zu den einzelnenMoscheevereinen, von denen in Neuköllnüber 20 existieren.

Niejahr: Und wie funktioniert die Zusam-menarbeit mit den muslimischen Organisa-tionen, die Sie als Partner sehen?

Buschkowsky: Wir haben viel zu tun mitder größten türkischen Organisation in Ber-lin, dem Türkisch-Deutschen Zentrum mit

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Sitz in Neukölln und 2.500 Mitgliedern.Die Zusammenarbeit ist, wenn man so will,ein weiteres Beispiel für die Anwendungdes Subsidiaritätsprinzips in Neukölln. EinBeispiel: Das Albert-Schweitzer-Gymnasiumwar vor einigen Jahren eine sterbendeSchule. In der unmittelbaren Nachbarschaftgab es viele »Dealer« und »Junkies«, nie-mand meldete sein Kind dort noch an.Wir haben gesagt: »Das Schließen einesGymnasiums im Neuköllner Norden ist dasschlechteste Signal, das wir als Stadt über-haupt aussenden können. Wir müssengemeinsam mit der Schule etwas unter-nehmen.«

Gestartet sind wir dann mit dem Türkisch-Deutschen Zentrum, das die Freizeit- unddie Hausaufgabenbetreuung der Schülerübernommen hat. So haben wir aus derSchule ein Ganztagsgymnasium gemacht.Mittlerweile ist es erblüht. Die Schülerzahlwurde fast verdoppelt. Heute steht es beiden Grundschülern, denen der Besuch einesGymnasiums empfohlen wird, auf Platz 2der Wunschgymnasien in Neukölln. Die Zahlder Abiturienten wird sich in diesem Jahrvervierfacht haben. Bei einem Anteil von90 Prozent an Schülern mit Migrationshin-tergrund liegt die Abiturnote der Schule imüblichen Landesdurchschnitt. Es geht also,wenn man die Probleme und die Schwä-chen, die es im Sozialgefüge gibt, gezieltaufgreift und ihnen entgegenwirkt.Das erfordert ein konkretes praktischesEngagement des Staates und der Gesell-schaft, jedoch keine Sonntagsreden.

Niejahr: Alle reden über Bildung und Inte-gration als große Herausforderungen derZukunft. Rennen Ihnen gemeinnützige Orga-nisationen und andere zivilgesellschaftlicheHelfer nicht längst die Türen ein?

Buschkowsky: Einerseits ja, das Interesseist groß. Andererseits: An unserem Rathaussteht eine riesengroße Kiste, auf der »Soli-darität« steht. Deren Deckel ist nicht mehr

zu schließen. Für die Kiste, auf der »Geld«steht, gilt das aber nicht.

Wir haben für alle Nord-Neuköllner Grund-schulen Schulstationen eingerichtet. Das hät-ten wir auch für die Oberschulen machenmüssen. Wir haben aber nicht genug Gelddafür. Eine Schulstation kostet 75.000 Euroim Jahr. Das ist übrigens weniger, als fürzwei Plätze im Jugendgefängnis pro Jahrausgegeben wird.

Niejahr: Was genau macht eine Schulsta-tion?

Buschkowsky: Meistens ist sie mit zweiSozialarbeitern besetzt. Sie sind Ansprech-partner für die Schüler und werden beiKonflikten zwischen den Schülern einge-schaltet. Sie helfen bei den Hausaufgaben.Manchmal werden sie auch als Pausenauf-sicht missbraucht. Das sage ich bewusst so,da die Schulstation dafür nicht da ist. Siesollen eigentlich Helfer für die Schüler undMittler zwischen der Elternschaft und derSchule sein, ein Hilfsorgan der Schule. DieseOrganisation ist nicht starr an die Riten derSchulen gebunden, gleichwohl ist sie aberTeil der Schule, und sie soll der Schulezuarbeiten. Es gibt auch Schulstationen, diesich im Konfliktfall als Anwälte der Schüleroder Eltern gegen die Schule verstehen. Dasist natürlich auch nicht im Sinne des Erfin-ders.

Niejahr: Bei Ihrer Idee von der intervenie-renden Gesellschaft gibt es ein grundsätzli-ches Problem: Wenn der Staat tut, was Siefordern, und strenge Regeln für bildungs-ferne Schichten durchsetzt, kommt damitoft auch eine große Mehrheit unter Druck,die solche Regeln nicht will und oft auchnicht braucht. Mit der Kindergartenpflichtund der obligatorischen Ganztagsschulenehmen Sie beispielsweise dem Bildungs-bürger im wohlhabenden Berlin-Zehlendorfdie Möglichkeit des nachmittäglichen

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Musikunterrichts für seine Kinder. Ist Ihnendas egal?

Buschkowsky: Herzlich willkommen imalten Preußen mit dem Dreiklassenwahl-recht! Nichts anderes ist das, was Sie geradevorgetragen haben! Sie haben gerade sinn-gemäß gesagt, dass es Menschen gibt, dieschlau sind und wissen, was richtig ist. Daswusste das Bürgertum schon immer – auchim alten Preußen. Daneben gibt es die»Dummen«, und um die muss sich der Staatkümmern. Die »Schlauen« brauchen keinenStaat. Die Hauptsache ist, dass die Dummenweit weg genug wohnen. Ich halte das fürsehr kurz gegriffen, obwohl mir diese Argu-mente natürlich ständig begegnen.

Ich will nur einmal an etwas erinnern:Friedrich Wilhelm I. hat die Schulpflichtgegen den erbitterten Widerstand derBevölkerung eingeführt. Sie ist mit Waffen-gewalt durchgesetzt worden, weil die dum-men Massen nicht begriffen haben, dassSchule wichtiger ist als Kinderarbeit, auchwenn man gerade Hunger hat und das Geldbraucht, das ein Kind verdient. Unsereheutige Wissensgesellschaft und der hoheStandard der Bildung in unserem Land sindaber darauf zurückzuführen, dass Bildungdamals zum Allgemeingut für alle gewordenist.

Im Übrigen bestreite ich, dass Verwahrlo-sung ein Minderheitenproblem ist. 17 Mil-lionen Menschen haben einen Migrations-hintergrund. Von denen befindet sich eingehöriger Anteil – ich denke aber nicht,dass es die Mehrheit ist – in einem Status,in dem man sie an die Hand nehmen muss.Vergessen Sie aber bitte auch die deutscheUnterschicht nicht. Es gab schon die Polizei,Gefängnisse und Staatsanwaltschaften,bevor es den ersten Gastarbeiter inDeutschland gab. Im Übrigen: Der Vorläuferdes Kinder- und Jugendhilfegesetzes stammtaus der Weimarer Republik und wurde zumSchutz der Kinder erlassen. Es gab also

schon in der Weimarer Republik Eltern, dieeine Gefahr für ihre Kinder waren.

Niejahr: Glauben Sie, dass am Ende die Kin-dergartenpflicht für alle ein Segen ist, auchfür die Wohlhabenden in Berlin-Zehlendorf?

Buschkowsky: Es hat noch niemandemgeschadet, Kontakt zu Menschen zu haben,die sich in anderen Lebenslagen befinden.Das Bildungsbürgertum sagt, es brauchtkeine Kindergartenpflicht, während es seineKinder in die Kindergruppe der Kirchenge-meinde oder die Initiativ-Kita schickt. DieVerlogenheit ist doch grenzenlos.

Niejahr: Wahrscheinlich wollen solche Bür-ger Angebote, die sie sich selber aussuchenkönnen.

Buschkowsky: Na klar, spiel nicht mit den»Schmuddelkindern« – das steckt dahinter.Natürlich ist es angenehmer, wenn bei denElternversammlungen alle den gleichenintellektuellen Horizont besitzen.

Niejahr: Jetzt lernen wir doch noch den Lin-ken in Ihnen kennen.

Buschkowsky: Ich verstehe ja Ihre Frage,ob es wirklich sein muss, dass eine kleineMinderheit der Mehrheit Entscheidungenaufzwingt. Ich bestreite allerdings, dass dasbei der Kindergartenpflicht der Fall wäre.

Wir in Deutschland neigen im Übrigen zusehr zur Gleichmacherei. Das ist ein richti-ger Wahn. Der Staat sollte mehr Möglichkei-ten haben, auf Problemlagen adäquat zureagieren. Muss das, was in Berlin-Neuköllnrichtig ist, wirklich auch in Bad Bevensenoder in Hamburg an der Elbchaussee richtigsein?

Niejahr: Wollen Sie, dass die Kindergarten-pflicht von Stadtteil zu Stadtteil unter-schiedlich geregelt wird?

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196 197 Heinz Buschkowsky im Interview mit Elisabeth Niejahr: Intervention für Familie

Buschkowsky: Vielleicht nicht in verschie-denen Stadtteilen, aber warum soll nichteine Stadt entscheiden können, dass alleKinder ihrer Bürger in den Kindergartengehen müssen? Ich wehre mich nur gegenden Gedanken, dass man etwas nicht tunkann, weil es nur einen Teil der Bevölke-rung betrifft. Mit diesem Argument dürftenwir vieles nicht machen. Strafbestimmungenwerden auch nur für eine bestimmte Artvon Straftätern eingeführt.

Niejahr: Davon bleibt die Mehrheit im All-tag aber unbehelligt. Mit einer Kindergar-tenpflicht intervenieren Sie viel stärker indas Leben der Menschen.

Buschkowsky: Der Staat interveniert häufigin das Privatleben seiner Bürger, etwa mitder Steuergesetzgebung oder den Bauvor-schriften für das Einfamilienhaus. Ich weiß,wie emotional über die Kindergartenpflichtgestritten wird. Manche sagen: Ich kannmein Kind besser großziehen als eine 22-jährige Erzieherin. Andere klagen: Ich brau-che nicht die Läuse von anderen Kindergar-tenkindern.

Niejahr: Sie haben beschrieben, wie schwie-rig Solidarität in einer multiethnischenNachbarschaft ist. Glauben Sie, dass auchfür eine Gesellschaft das Prinzip gilt »Jebunter, desto unsolidarischer«?

Buschkowsky: Zugespitzt formuliert lautetIhre Frage, ob man für den deutschen Straf-täter mit Springerstiefeln seine Steuernlieber ausgibt als für den arabischen»Streetfighter«, weil man sich bei dem fragt:Was geht mich eigentlich dieser Fremde an?Diese Denkart gibt es sicherlich; sie ist eineAusdrucksform von Rassismus. Dazu kannich nur sagen: Wer so denkt, wird sich nochwundern; denn die Zeit der homogenenNationalstaaten ist als Folge der Globalisie-rung vorbei.

Um in die USA auszuwandern, musste mansich früher in ein Schiff setzen und einelange Überfahrt hinter sich bringen. Daswar beschwerlich und gefährlich. Heutesetzt man sich für ein paar Euro in ein Flug-zeug und steigt wenige Stunden später aneinem beliebigen Punkt auf der Welt wiederaus. Wer möchte, dass der Staat nur demetwas gibt, der blond und blauäugig ist undweiße Kniestrümpfe trägt, aber nicht demmit schwarzem Haar und anderer Haut-farbe, sollte bedenken: Es ist künftig wahr-scheinlicher, dass der Migrant seine Rentemitfinanziert als dass er selbst zum Sozial-transfer des Ausländers etwas beisteuert.

Grund dafür ist, dass die Geburtenraten vonMigranten höher sind als vom Rest derGesellschaft. Daher werden auch Menschenmit Migrationshintergrund in zunehmendemMaße zur Elite dieses Landes gehören undnatürlich auch zum Wohlstand diesesLandes sowie zur geistigen Prosperität bei-tragen. Das ist heute teilweise schon so,denken Sie zum Beispiel an die vielen türki-schen Schriftstellerinnen, deren Bücher aufdem Markt sind.

Niejahr: Gibt es wirklich nur ein Rassismus-problem oder wird es generell weniger soli-darisch zugehen, wenn sich herumspricht,dass Armut in Deutschland vor allem einMigrantenproblem ist?

Buschkowsky: Armut gibt es nicht nur beiMigranten, aber durch die Verknüpfung mitzusätzlichen Faktoren tritt sie dort stärkerauf als bei der deutschstämmigen Bevölke-rung. Ich denke, es gibt auf Dauer nichtunbedingt weniger Solidarität, aber immerweniger Bereitschaft, für die falschen DingeGeld zu bezahlen. Wenn man den Menschenimmer weismacht, dass alles in Ordnung istund man eigentlich nur ein paar Sozialar-beiter mehr braucht, dann wird man schei-tern. Die Menschen erleben im Alltag näm-lich, dass nicht alles in Ordnung ist. Siesehen den Anstieg der Gewaltkriminalität

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unter jungen Männern mit Migrationshin-tergrund. Sie sehen, was in den Schulen losist. Gleichzeitig erkennen sie aber, dassunsere Gesellschaft zahnlos ist und die Pro-bleme nicht angeht. Sie sagen: »Dafür sollich investieren?«

Durch die permanente und erlernte Abhän-gigkeit von öffentlicher Wohlfahrt werdender Überlebenswille, die Kreativität und derEhrgeiz von Menschen gelähmt. Wir müssenaber die Menschen motivieren, ihre Fähig-keiten zu nutzen, ihr Leben in die eigenenHände zu nehmen und selbstbestimmt zugestalten. Wir müssen aktivieren und nichtdurch Vollversorgung sedieren. Gerade jun-gen Menschen müssen wir vermitteln, dassdie Gesellschaft auch für sie gute Chancenbereithält. Dann werden sie auch kein Inte-resse an Parallelwelten und den Dorfritenvon Opa haben. Im Moment jedoch ist ausmeiner Sicht das »Unsozialste« an der Bun-desrepublik Deutschland ihr Sozialsystem.Unser Sozialsystem ist ein moderner Ablass-handel. Der Staat sagt: »Hier hast Du DeinenScheck, geh nach Hause, setz Dich hin,schau fern, kauf Dir ein ›Sixpack‹ Bier, odergeh ins Teehaus. Aber sei ruhig!« Und dasfunktioniert bisher auch. Unruhen wie inEngland und Frankreich sind uns erspartgeblieben, weil wir die Menschen mit Geldruhigstellen. Ich habe allerdings meineZweifel daran – damit bin ich bei IhrerFrage –, ob das für immer finanzierbar seinwird.

Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt: »Jedepolitische Aktion beginnt mit dem Ausspre-chen dessen, was ist.« Darum muss mansagen, wo die Probleme liegen und wie siezu lösen sind. Dass wir gerade bei den Kin-dern und Jugendlichen mit Migrationshin-tergrund auf ein riesiges Bildungsproblemzusteuern, hat übrigens Heinz Kühn, derehemalige NRW-Ministerpräsident und ersteAusländerbeauftragte der BundesrepublikDeutschland, schon 1979 erkannt. In seinem

ersten Bericht hat er auf die Bildungsmiserehingewiesen. Er schreibt:

»Die schulische Situation der ausländischenKinder und Jugendlichen ist durch einenunzureichenden Schulbesuch, eine extremniedrige Erfolgsquote bereits im Haupt-schulbereich und eine erhebliche Unter-repräsentation ausländischer Schüler anweiterführenden Schulen gekennzeichnet.Eine von der Schule zu übernehmendeHypothek sind die Lücken in der vorschuli-schen Erziehung. Beachtlich sind fernerauch hier die bei den ausländischen Elternbestehenden Hemmnisse, die Bedeutungdes Schulbesuchs für die Zukunftsentwick-lung ihrer Kinder richtig einzuschätzen.«

Das könnte im Jahre 2008 geschrieben wor-den sein. Und was hat unsere Gesellschaftmit solchen Denkschriften gemacht? Nichts.

Niejahr: Was haben Sie selbst in Ihren Jah-ren als Bezirksbürgermeister dazugelernt?Oft heißt es: »Der Buschkowsky hat als›Multikulti-Kritiker‹ angefangen und machtmit dem Campus Rütli jetzt selbst ein›Multikulti-Projekt‹.«

Buschkowsky: Ich bin nach wie vor einGegner jedweder Sozialromantik undglaube, dass unsere Gesellschaft und auchunsere Parlamentarier immer noch nichthinreichend bereit sind, die Realität alsRealität zu akzeptieren. Vielfach bestimmtSozialromantik und das Prinzip, dass nichtsein kann, was nicht sein darf, das Handeln.Es herrscht immer noch viel Wunschdenkenvor.

Ich vergleiche das immer mit dem Zentral-komitee der SED. Es ist letztendlich auchdaran gescheitert, dass dort niemand mehrwusste, was in der Kaufhalle wirklichgesprochen wurde. Man hat geglaubt,die DDR sei ein blühender Staat, weil dieHäuser bis zum ersten Stock angepinselt

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wurden, bevor die Politiker mit ihrem Wolgadurch die Ortschaften gefahren sind.

Ich bin vor allem Realpolitiker. Ich sehe dieArmutsproblematik, die soziale Entwicklungund meine Verantwortung als Kommunalpo-litiker, den nächsten Generationen ein Neu-kölln zu hinterlassen, in dem die Menschenfriedlich in einer Werteordnung leben, dieunsere Vorväter entwickelt haben, nämlichin einer demokratischen Gesellschaftsord-nung.

Demokratie ist nicht die Anleitung zurBeliebigkeit. Gerade in der Demokratiebraucht man feste Regeln. Deshalb trete ichimmer wieder für einen intervenierendenStaat ein. Wir müssen die Menschen errei-chen und mit ihnen die Gesellschaft vonmorgen formen. Wir dürfen nicht zusehen,wie bei uns Kinder geschlagen, Mädchenzwangsverheiratet und aus der Schulegenommen werden und Frauen in Rollennach tradierten Riten leben müssen. Wirdürfen es nicht zulassen, dass Kinder nichtzur Schule gehen, weil sie zu Hause angeb-lich wichtigere Dinge erledigen müssen. ZurNot müssen wir den Schulbesuch, wie Fried-rich Wilhelm I., mit harter Konsequenzdurchsetzen. Die Kinder und nicht dieEltern sind das Kapital der Gesellschaft.

Natürlich habe ich in vielen Gesprächenund auf Reisen dazugelernt. Ich habe vieleEinsichten gewonnen, die ich vor 15 Jahrennicht hatte. Ich bin da wie eine Leimrute: Esbleibt immer etwas hängen. Aber noch mehrhat sich um mich herum verändert. Denkensie nur an Cem Özdemir.

Niejahr: … den Bundesvorsitzenden derGrünen …

Buschkowsky: … der übrigens ein BürgerKreuzbergs ist. Auch er plädiert für denintervenierenden Staat. Das war in seinerPartei lange nicht üblich.

Ich sage immer: Je bunter die Mischung,desto klarer und fester müssen die Regelnsein. Regeln, die für alle gelten, nicht nurfür Migranten. Integrationspolitik muss ver-ständlich sein – es muss also eine klareSprache gesprochen werden. Sie muss ope-rativ sein – also vor Ort erlebbar. Und manmuss einen langen Atem haben. Das heißt inder Konsequenz: Integrationspolitik kannkeine Projektpolitik sein. Die Regelsystememüssen an die neuen Realitäten der Gesell-schaft angepasst werden. Vor allen Dingenin der Bildungspolitik. Das Geld, was wirdort sparen, werden wir in den Strafvollzuginvestieren. Falls jemand auf die Idee käme,zu sagen: »Wenn der Buschkowsky wiederein bisschen herumschreit, dann geben wirihm einfach noch 25.000 Euro für ein Stra-ßenfest«, dann wäre es mir nicht gelungen,deutlich zu machen, worum es geht. Es gibtviele Neuköllns in unseren Großstädten. Siesind Vorreiter der Integration, und deswe-gen sollten wir sie gut beobachten und bes-ser behandeln als bisher. Integration istkein Naturgesetz, was sich von allein voll-zieht, sondern ein Prozess, der gesteuertwerden muss. Voraussetzung dafür ist abereine Gesellschaft, die nicht nur offen ist,sondern auch bereit, Konflikte auszuhaltenund auszutragen.

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Herzenswärme für starke FamilienBeispiele subsidiärer Unterstützungsformen aus einer Rechercheder Prognos AG im Auftrag der Robert Bosch Stiftung

Das Prinzip der Subsidiarität, das heißt des Vorranges kleiner Lebenskreise, ist eine macht-volle Idee mit weitreichenden praktischen Folgen für das Zusammenleben der Bürger. In allenvon der Prognos AG vorgestellten Initiativen, die nachfolgend aufgeführt werden, übernehmenBürger Verantwortung und erbringen soziale Leistungen, die nicht vom Staat übernommenwerden. Bürger kümmern sich umeinander, um Nachbarn, Familien, Jugendliche und ältere,hilfebedürftige Mitmenschen. Zahl und Vielfalt der hier aufgeführten Beispiele vermittelneinen Eindruck von der Fülle der bestehenden innovativen Unterstützungsmodelle.

Schon heute ist es dem Staat nicht möglich, Fürsorge und Unterstützung passgenau undbedarfsgerecht zu vermitteln. In einer alternden Gesellschaft mit steigender Mobilität, zuneh-mender Frauenerwerbstätigkeit und flexiblen Arbeitszeiten wird es daher in naher Zukunftunvermeidlich sein, dieser gesamtgesellschaftlichen Idee größere Entfaltungsmöglichkeiten zugeben. Hierfür ist die Teilnahme von Staat und engagierten Bürgern gleichermaßen gefragt.Staatliche und bürgerschaftlich erbrachte Fürsorgeleistungen schließen sich nicht aus – imGegenteil, sie ergänzen einander. Professionell geführte Institutionen – beispielsweise in kom-munaler Trägerschaft – können dazu beitragen, dass Angebot und Nachfrage zueinander fin-den. Sie können aber auch den Bedarf für bürgerschaftliches Engagement ermitteln – bei-spielsweise Sozialarbeiter, die erleben, wo der Sozialstaat als Dienstleister überfordert ist. Siekönnen mitunter auch Anlaufkosten für nachbarschaftliche Hilfemodelle übernehmen – oderdafür sorgen, dass sinnvolle Initiativen nachgeahmt werden.

Subsidiarität ist allumfassend zu verstehen, bürgerschaftliches Engagement ist nichtmilieuspezifisch. Denn so unterschiedlich Nachbarschaft in Migrantenstädten mit hohemArbeitslosenanteil oder in bürgerlich-wohlhabenden Stadtteilen aussieht, so sinnvoll sind sub-sidiäre Hilfsstrukturen in allen Milieus. Bürgerschaftliches Engagement und kleine Lebens-kreise sind kein Luxusthema für Wohlhabende, sondern eine für die gesamte Gesellschaft zuleistende Aufgabe.

Die im Folgenden aufgeführten Beispiele sind wie folgt gegliedert:

1 Subsidiäre Formen der Kinderbetreuung1.1 Elternnetzwerke1.2 Elterninitiativen1.3 Betreuung in Notfällen und Familienkrisen1.4 Großelterndienste1.5 Praktische Hilfe für Familien: Herzenswärme der Wellcome-Hilfen

2 Organisierte Nachbarschaftshilfe und haushaltsnahe Dienstleistungen2.1 Mehrgenerationenhäuser als Drehscheibe für Dienstleistung, Beratung, Förderung und Krisenintervention2.2 Tauschsysteme2.3 Neuartige Haushaltsgemeinschaft in Wohnpartnerschaften2.4 Seniorengenossenschaften2.5 Transport- und Mobilitätsdienste2.6 Förderung aktiver Nachbarschaften

3 Informelle Elternbildung3.1 Kommunikationsräume und subsidiäre Vermittlungsformen

4 Bildungspatenschaften, Familienpaten und Mentoren

5 Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche

6 Pflegedienstleistung und Unterstützung der Angehörigenpflege

7 Übersicht der recherchierten Beispiele

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200 201 Herzenswärme für starke Familien

1 Subsidiäre Formen der Kinderbetreuung

1.1 ElternnetzwerkeAls Elternnetzwerke werden informelleZusammenschlüsse mehrerer Familien zurwechselseitigen Betreuung ihrer Kinderbezeichnet. Hier werden Freiräume fürEltern geschaffen, die je nach konkretemArrangement, Größe und Verbindlichkeitdes Elternnetzwerkes Teilzeiterwerbstätig-keiten in unterschiedlichem Umfang und/oder zu atypischen Arbeitszeiten oder etwaauch Freizeitaktivitäten ermöglichen, dieansonsten nicht realisierbar wären. Beson-deres Merkmal der Elternnetzwerke ist dieumfassende Einbindung der Familien,sowohl was deren Engagement als auch dieBerücksichtigung ihrer spezifischen Betreu-ungsbedarfe betrifft.

Typischerweise entstehen Kontakte fürwechselseitige Betreuungsarrangements imRahmen von Kursen der Elternbildung,Eltern-Kind-Gruppen oder der Elternarbeitin Schule und Hort. »Betreuungs-Tandems«werden auch durch das professionelle Per-sonal in Kindertagesstätten oder Schulenangeregt. An den Netzwerken sind in derRegel Familien mit gleichaltrigen Kindernbeteiligt. Die Art der konkreten gegenseiti-gen Unterstützung wird dem sich mitzunehmendem Kindesalter veränderndenBetreuungsbedarf angepasst, weshalb dieNetzwerke oft dauerhaft bis zur Selbstän-digkeit der Kinder bestehen.

Voraussetzungen für das Gelingen derwechselseitigen Betreuung sind vor allemgegenseitige Sympathie und Vertrauen zwi-schen den Eltern und die Gewissheit hoherVerbindlichkeiten und Verlässlichkeit.Solcherart informelle Elternnetzwerke ent-halten das Potential, auch über die reineBetreuung hinaus aktiv zu werden, bei-spielsweise durch gemeinsames Engagementim öffentlichen Nahraum, bei der Spielplatz-gestaltung oder durch Aktivitäten in denjeweils besuchten Schulen. Angaben zum

Verbreitungsgrad von Elternnetzwerkenkönnen aufgrund ihres informellen Charak-ters nur schwerlich gemacht werden.

1.2 ElterninitiativenElterninitiativen sind Zusammenschlüssevon Eltern zur selbstorganisierten außer-familiären Betreuung ihrer Kinder. Zumeisthandelt es sich um kleine, eingruppige Pro-jekte, in denen die Kinder von pädagogischgeschulten Fachkräften betreut werden,wobei auch die kostensenkende Mitwirkungder Eltern an der Betreuung üblich ist. DieGröße der Initiative, die Öffnungszeiten unddie Gruppenstruktur werden von denBedürfnissen und pädagogischen Vorstel-lungen der Elterngruppe bestimmt. Entspre-chend vielfältig und unterschiedlich sinddie pädagogischen Angebote und Konzepteder einzelnen Gruppen, entsprechend varia-bel die Altersstrukturen und Gruppengrö-ßen.

Elterninitiativen sind keine Innovation derletzten Jahre: Die ersten Elterninitiativenwurden vor etwa 30 Jahren gegründet, ihrUrsprung liegt in der Kinderladenbewegungder späten 1960er Jahre. Die üblicheRechtsform ist heute die des eingetragenenVereins. Elterninitiativen unterliegen recht-lich dem Kinder- und Jugendhilfegesetz.Beratung, Unterstützung und Begleitungerhalten die Initiativen in der Regel durchJugendämter und durch die 1986 gegrün-dete Bundesarbeitsgemeinschaft Elternini-tiativen e. V. mit ihren 21 Kontakt- undBeratungsstellen auf kommunaler bzw. Lan-desebene. Die Gesamtzahl der Elterninitiati-ven wird deutschlandweit auf etwa 9.000geschätzt.

Eigenverantwortliche Gestaltung desBetreuungsangebotsWenn sich auch seit den Anfängen der Kin-derladenbewegung die Struktur der Eltern-initiativen gewandelt hat und statt derBetreuung durch die Eltern nun professio-nelles Erziehungspersonal beschäftigt wird,

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bleiben das Engagement der Eltern in denElternvereinen als Träger der Einrichtung,die eigenverantwortliche Gestaltung derpädagogischen Leitlinien und Öffnungszei-ten sowie die intensive Elternarbeit imBetreuungsalltag zentrale Merkmale der Ini-tiativen. Es existiert eine direkte Beziehungzwischen den Eltern und dem professionel-len Erziehungspersonal. Eine direkte Mitge-staltung ist bereits dadurch gesichert, dassdie Eltern selbst die Personalauswahl tref-fen. Elterninitiativen stellen daher auch wei-terhin eine innovative subsidiäre Strukturdar. Sie entsprechen einerseits mit ihremdem Bedarf der Familien zeitlich angepass-ten Betreuungsangebot den Anforderungennach Zeitflexibilität in der heutigen Arbeits-welt, andererseits stellen sie durch beson-dere Ausstattungsmerkmale und Räumlich-keiten, durch die Beschäftigung einerKöchin beispielsweise, günstige Bedingun-gen für eine Sozialisation dar.

Lernfeld für Mitsprache und VerantwortungMit Blick auf die Kinder sind Elterninitiati-ven zugleich ein Lernfeld für die Einübungvon Mitsprache und Übernahme von Ver-antwortung, mit Blick auf die gesamte Fami-lie fördern sie die Vergemeinschaftung.Neben der Bildung, Erziehung und Betreu-ung ihrer Kinder organisieren sich dieEltern – als gemeinsam Verantwortliche fürdie Elterninitiative – typischerweise auch inanderen Bereichen des täglichen Lebens zurEntlastung und gegenseitigen Unterstützungin allen Lebenslagen. Dies erfolgt je nachindividuellem Bedarf ohne allgemeine Kon-zepte, ohne definierte Leistungen als Nach-barschaftshilfe im ursprünglichen Sinne.

Die Elterninitiativen verdeutlichen, dasssubsidiäre Unterstützungsformen Innovati-onsmotor für Institutionen der Regelstruk-tur sein können: Kindertagesstätten profitie-ren von der in den Elterninitiativen vorge-lebten Zusammenarbeit zwischen Erziehe-rinnen und Eltern. Die Elterninitiativengeben den pädagogischen Konzepten der

Kindertageseinrichtungen wichtige Impulse.Allerdings zeigen die Elterninitiativen auchauf, dass eine Übernahme der innovativenStruktur in eine Regelfinanzierung mit derGefahr des partiellen Verlustes der innovati-ven Merkmale verbunden sein kann. Diesgilt u. a. für die mit der öffentlichen Finan-zierung verbundenen Anforderungen an dieformalen Qualifikationen des angestelltenErziehungspersonals und die damit einge-schränkte eigene Entscheidungsmöglichkeitbei der Personalauswahl.

1.3 Betreuung in Notfällen undFamilienkrisenDie kurzfristige Betreuung von Kindern ineiner akuten familiären Not- oder Krisensi-tuation kann nicht als Regelangebot miteinem entsprechenden fachlichen Personalvorgehalten werden. Zudem besteht in einerderartigen Bedarfssituation die Notwendig-keit der individuellen Zuwendung an diebetroffenen Familien und insbesondere dieKinder. Bei den entsprechenden innovativensubsidiären Unterstützungsmodellen stehtdaher die zeitliche Flexibilität gemeinsammit dem Einsatz spezifischer Kompetenzenim Vordergrund. Die in der Betreuung täti-gen Ehrenamtlichen sehen aufgrund ihrerLebenserfahrung erstens sehr schnell, woder praktische Bedarf der Hilfesuchendenliegt. Zweitens können sie »Herzenswärme«vermitteln und eine intensive Form des Bei-stands geben. Beides führt zu einer Stär-kung der Hilfesuchenden, auf deren BasisSelbsthilfe oder professionelle Hilfe möglichwird. Die konkrete Unterstützungsleistungmacht, sofern es sich nicht um einen singu-lären Fall der persönlichen Nachbarschafts-hilfe handelt, die Ankoppelung an eineinstitutionelle Struktur, z. B. an einen ver-bandlichen Träger der sozialen Arbeit, anein Freiwilligen-Zentrum oder auch an eineprofessionelle Familienhilfe oder einJugendamt, notwendig.

In einem der recherchierten und untersuch-ten Modelle innovativer subsidiärer Betreu-

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ung und Unterstützung in Notfallsituationen(Familienfeuerwehr Aachen, s. u.) gingen derImpuls und die Initiative von einem ver-bandlichen Träger aus, an den seitens desJugendamtes der Bedarf nach niedrig-schwelligen Hilfen der Familienbetreuungherangetragen worden war. Der Verbandinitiierte daraufhin das subsidiär zumRegelangebot der Heimunterbringung ste-hende und ehrenamtlich ausgerichteteUnterstützungsangebot, sorgte für die Koor-dination der Einsätze der ehrenamtlichenHelfer und unterstützte diese auch bei derOrganisation weiterer Hilfestellungen fürdie betroffenen Familien bis hin zur Ver-mittlung entsprechender Angebote der pro-fessionellen Infrastruktur. Die besonderenInhalte der ehrenamtlich erbrachten Unter-stützungsleistung machten eine Schulungund eine inhaltliche Betreuung der laufen-den Einsätze erforderlich.

»Familienfeuerwehr Aachen«: Entlastung vonFamilien in Krisensituationen durchehrenamtliches EngagementEin Beispiel für diesen Typ innovativer sub-sidiärer Unterstützung ist die an ein Freiwil-ligen-Zentrum angebundene »Familienfeuer-wehr Aachen«. Die Familienfeuerwehr ent-lastet Eltern bei akutem Bedarf (schwereKrankheit, psychische Probleme, schwer-wiegende Ehekrise), indem eine Betreuungund Versorgung ihres Kindes außer Hausermöglicht wird. Heute werden in der Initia-tive insbesondere Einelternfamilien unter-stützt. Die Einsätze Ehrenamtlicher sinddabei zeitlich auf längstens drei Tagebegrenzt. In dieser Zeit werden die Familienbei der Organisation verwandtschaftlicheroder nachbarschaftlicher Hilfen unterstützt.Die Einsätze werden vom Freiwilligen-Zen-trum koordiniert, bei längerfristigem Bedarfwird an einen professionellen Betreuungs-dienst weitervermittelt. Der 2006 ins Lebengerufene Dienst ist für die Betroffenen mitkeinen Kosten verbunden, allerdings sindSpenden erwünscht. Die Familienfeuerwehrbesteht zurzeit aus einer Gruppe von sechs

Frauen, die selbst Familie haben und zumTeil aus medizinischen oder pädagogischenBerufen kommen. Die Familienfeuerwehr istbeim Regionalen Caritasverband fürAachen-Stadt und Aachen-Land angebun-den, finanziert sich aber ausschließlichdurch Spenden. Die ehrenamtlichen Mitar-beiterinnen stehen in regelmäßigem Aus-tausch mit den Fachdiensten der Caritas, fürihre Aufgaben werden sie vor ihrem erstenEinsatz umfassend geschult und fortlaufendfachlich begleitet und weitergebildet.

1.4 GroßelterndiensteAusgangspunkt für die ersten Großeltern-dienste waren persönliche Erfahrungen derGründer und die Beobachtung vielfältigerzeitlicher Engpässe bei jungen Familien.Hinzu kam ein Mangel an Alltagsbeziehun-gen vieler Kinder zu ihren Großeltern undvon Letzteren zum einen ein Bedürfnis nacheiner sinnvollen Beschäftigung und zum an-deren ein Zeitüberfluss. Heute gibt es bun-desweit eine beträchtliche und ständigwachsende Anzahl an Vermittlungsbüros fürdiese aktiven Großelterndienste. Adressenund Zugänge liegen gebündelt in einer Da-tenbank beim Förderverein »Patenschaftenaktiv e. V.« vor. Der Verein kümmert sichauch um Öffentlichkeitsarbeit und die Ge-winnung weiterer Leih-Großeltern. Mittler-weile kommen vielerorts die Vermittlungs-büros nicht mehr ohne eine festangestelltekoordinierende Kraft aus. Alle örtlichen Ini-tiativen eint die Grundausrichtung, dass essich bei den Großelterndiensten nicht umein Dienstleistungsangebot, sondern um das»Zueinanderbringen« des Bedarfes von Fa-milien und von Leih-Großeltern handelt. ImRahmen des Großelterndienstes werdenWunsch-Großeltern (meistens Großmütter)an junge Familien vermittelt, die selbstkeine Großeltern haben bzw. die nicht imUmkreis wohnen oder beruflich so einge-spannt sind, dass sie nicht unterstützendtätig werden können.

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Die Wunsch-Großeltern betreuen Kinder imAlter von eins bis 14 Jahren, der Schwer-punkt liegt auf dem Krippen-/Kindergarten-alter. Der zeitliche Umfang der Betreuungbeträgt ca. sechs Stunden bzw. liegt bei einbis zwei Treffen pro Woche. Neben derbeschriebenen zeitlichen Intensität ist ins-besondere die Regelmäßigkeit der Betreu-ung für das Funktionieren der Kind-Wunschgroßeltern-Beziehung entscheidend.

Verlässlicher Charakter der Beziehung alsGarant kindlicher EntwicklungEs handelt sich dabei um eine Betreuung,die in der regulären professionellen Infra-struktur nicht erbracht werden kann –sowohl im Hinblick auf den individuellenZeitbedarf als auch insbesondere in qualita-tiver Hinsicht. Das Besondere der Betreu-ung ist, dass die Wunsch-Großeltern unddie Kinder eine längerfristige, verlässlicheund verbindliche Beziehung aufbauen undZeit miteinander teilen. Die Wunsch-Großel-tern stellen für die Kinder eine Bezugsper-son dar, die besonders in emotionaler Hin-sicht die kindliche Entwicklung unterstützt.Den Wunsch-Großeltern ist hier möglich,was weder formelle Regelinstitutionen nochoftmals Eltern leisten können: Sie habenZeit, die sie für die Kinder in Form vonemotionaler Zuwendung und individuellerFörderung verwenden können. Wunsch-Großeltern bekommen im Gegenzug Selbst-bestätigung und emotionale Zuwendungdurch »neue Familienmitglieder«. Sie erle-ben es als für ihr Leben sinnstiftend, alsWunsch-Großeltern aktiv zu sein. Um diesevielfältigen Wechsel- und Tauschbeziehun-gen gewährleisten zu können, wird vielSorgfalt darauf verwendet, dass Familienund Wunsch-Großeltern auch tatsächlichzusammenpassen. Hier hat sich ein speziel-les Auswahlverfahren bewährt. Viele Ver-mittlungsbüros bieten den aktiven Leih-Großeltern einen Erfahrungsaustausch bei-spielsweise in Form eines Frühstücks, dabeiwerden teilweise auch Experten zu ver-schiedenen pädagogischen Themen eingela-

den. Neben dem Aspekt der Vergemein-schaftung implizieren diese Anlässe immerauch eine Aufwertung der Tätigkeit als Leih-Großeltern.

Teilweise avancieren Leih-Großeltern auf-grund der emotionalen Bindung zu denKindern auch zu Familienpaten. Auch kanndie Familienbetreuung direkt mit dem Groß-elterndienst gekoppelt sein, beispielsweisebei jungen Migrantenfamilien mit wenigErfahrung in administrativen oder aucherzieherischen Dingen. Ein Beispiel fürdiese innovative subsidiäre Unterstützungs-struktur der Leih-Großeltern ist der Groß-elterndienst der SEFA Leipzig. Die Senioren-und Familienselbsthilfe Leipzig e. V. ist eineder Vermittlungsstellen für Wunsch-Groß-eltern. Die Paten-Großeltern treffen sichinnerhalb einer längerfristig angelegtenBeziehung in der Regel zweimal wöchent-lich mit ihren Wunsch-Enkeln und gehenmit ihnen z. B. auf den Spielplatz, lesenihnen vor, erzählen Geschichten oderbetreuen die Kinder abends. Üblich sindauch weitere Hilfestellungen, beispielsweisegemeinsames Einkaufen oder die Begleitungvon Eltern bei Behördengängen. Ziel derGroßelterndienste ist es, Eltern Freiräumezu schaffen und Kindern zusätzlicheBezugspersonen und Möglichkeiten zurFörderung zu geben. Nachgefragt werdendie Großeltern überwiegend durch Allein-erziehende.

Gegenwärtig gibt es etwa 60 Großeltern-Enkel-Paare, zwischen denen von der SEFALeipzig nach individuellen Wünschen undAnforderungen der Kontakt vermittelt wor-den ist. Die Tätigkeit der Wunsch-Großel-tern wird Familien mit vier Euro in derStunde berechnet, wobei Familien mit gerin-gem Einkommen nichts oder nur ein gerin-gerer Betrag in Rechnung gestellt wird. DieVermittlungsstelle finanziert sich über einenTeil der Entlohnung der Großeltern.

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1.5 Praktische Hilfe für Familien:Herzenswärme der Wellcome-HilfenMit den Wellcome-Unterstützungshilfen istein innovatives subsidiäres Modell gegeben,das dort ansetzt, wo originäre, sehr persön-liche und emotionale Unterstützungsfunk-tionen im Familienverband nicht gegebensind und bereitstehende Angebote derRegelstruktur die notwendige Niedrig-schwelligkeit und Offenheit für viele Be-darfsgruppen vermissen lassen.

Ausgangspunkt des Modells ist die Beob-achtung einer sozialen Isolation vieler jun-ger Familien, verbunden mit oft tabuisier-ten, quer durch alle Gesellschaftsschichtenauftretenden Problemen junger Eltern nachder Geburt eines Kindes. Beobachtet wurdevon der Gründerin der Initiative, aufbauendauf eigenen Erfahrungen, dass die Pro-bleme, die nach der Geburt eines Kindesauftreten können, in der Gesellschaft nichtthematisiert werden und es praktisch keineUnterstützungsangebote gibt. So existierenzwar professionelle Unterstützungsange-bote, diese werden aber von vielen Familienaus unterschiedlichen Gründen nicht ge-nutzt. Zum einen ist es aus logistischenGründen für Alleinerziehende oft nichtmöglich, zu den Angeboten zu gelangen.Von zentraler Bedeutung ist aber zum ande-ren auch die systemimmanente Zweiteilungin »sehr hilfebedürftig« (= anspruchsberech-tigt, oft verbunden mit einem Stigma) und»nicht hilfebedürftig« (= nicht anspruchsbe-rechtigt, »geordnete Verhältnisse«). Für dieGrauzone dazwischen, die früher von fami-liären Netzwerken abgedeckt wurde, gibt eskeine Unterstützungsangebote, da der Sozi-alstaat noch immer auf diesen familiärenNetzwerken aufbaut und diese voraussetzt.Im Rahmen des Modells werden praktischeHilfen (z. B. Kinderbetreuung, Einkaufeno. Ä.) erbracht, die früher stets durch das fa-miliäre Netzwerk abgedeckt wurden, dasheute aufgrund gesellschaftlicher Verände-rungen (z. B. gestiegene berufliche Mobilität,

gestiegene Trennungsraten) oft nicht mehrexistiert.

Emotionale Unterstützung undErfahrungswissen stehen im VordergrundSpezifisch für das Modell ist, dass nicht sosehr die angebotenen Hilfen im Vorder-grund stehen, sondern dass »Herzens-wärme« und Erfahrungswissen vermitteltwerden und junge Eltern in der relativ kur-zen Phase bis zum ersten Geburtstag desKindes dazu befähigt werden, sich entwederselbst um es zu kümmern oder professio-nelle Hilfen in Anspruch nehmen zu kön-nen. Das Modell verfolgt einen universalenAnsatz, es müssen keine Voraussetzungenfür Bedürftigkeit o. Ä. erfüllt werden. Ange-sprochen werden sollen bewusst alle Fami-lien, da soziale Isolation und die Problemenach der Geburt alle Familien treffen kön-nen. Von den Ehrenamtlichen werden keinevor- oder semiprofessionellen Unterstüt-zungsdienstleistungen erwartet. Sie nehmensich vielmehr für eine junge Familie zwei-bis dreimal pro Woche für einige StundenZeit und erfüllen eher die Funktion einesFamilienmitglieds, welches in einer schwie-rigen Zeit Beistand leistet, die Familie inkleinen praktischen Dingen unterstützt undden Eltern kleinere zeitliche Auszeitenermöglicht. Ziel ist es, auf diese Weise denEltern die nötige Kraft zu ermöglichen, ihreProbleme selbst zu lösen oder professio-nelle Unterstützungsleistungen in Anspruchzu nehmen. Das Modell soll positiv präven-tiv wirken, z. B. im Hinblick auf eine Verbes-serung der Eltern-Kind-Bindung undGewaltvermeidung.

In der Unterstützung und Hilfestellungkommt eine »Beziehung von Mensch zuMensch« und »Herz zu Herz« zustande. Mitden jungen Eltern wird ein Stück unver-fälschte, unprofessionelle positive »Normali-tät« geteilt. Die jungen Eltern fühlen sichnicht als Klienten und sind weniger kontrol-liert, was das Erkennen von Unterstützungs-bedarf mitunter einfacher macht.

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Professionelle Koordination persönlicherUnterstützungSpezifisch an dem Modell ist zudem diesehr professionelle Struktur, die eher»unverfälschte« ehrenamtliche Unterstüt-zungsdienstleistungen ermöglicht. Bei»Wellcome« handelt es sich mittlerweile umeine gGmbH, die ähnlich wie ein Franchise-Unternehmen arbeitet. Alleingesellschafterder Wellcome-gGmbH ist der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Niendorf. Im Rah-men der gGmbH sind lokale Träger zusam-mengeschlossen, die für die Koordinationder ehrenamtlichen Teams verantwortlichsind und die eine jährliche »Kooperations-gebühr« an die gGmbH entrichten. Dafürbekommen sie im Gegenzug Informationenund Weiterbildungen zu einer Vielzahl anThemen wie z. B. Öffentlichkeitsarbeit,Fundraising, Arbeit mit Ehrenamtlichen etc.Ein Vorteil in der Kooperation mit lokalenTrägern (z. B. Hebammen, Geburtskliniken,Familienberatungsstellen, Mehrgeneratio-nenhäuser) liegt darin, dass auf bestehendeNetzwerke zurückgegriffen und deshalb aufUnterstützungsbedarfe gut reagiert werdenkann. Gleichzeitig werden Synergieeffektegenutzt. Die Wellcome-Teams sind einge-bunden in Familien-Bildungsstätten, Bera-tungsstellen und vergleichbare Einrichtun-gen. Die 2002 gegründete Initiative umfasstderzeit mehr als 87 Stützpunkte in zwölfBundesländern, an denen rund 1.000 Ehren-amtliche aktiv sind. Fast 90 Teamkoordina-toren organisieren und begleiten die Aktivi-täten. Gegenwärtig wird eine regionale»Unternehmensebene« aufgebaut, um dieTeams besser unterstützen zu können. Fürdie Hilfe wird eine Gebühr von vier Europro Stunde berechnet. Die aktiven Ehren-amtlichen erhalten keine Entschädigung.

Anders als die Teamkoordinatoren erhaltendie in der direkten Unterstützung aktivenEhrenamtlichen keine Qualifizierung, wohlaber eine Begleitung durch die Teamkoordi-natoren. Da »Zeit haben« und »Normalität imUmgang mit den jungen Familien« genau die

natürlich vorhandenen Ressourcen undKompetenzen sind, auf die es ankommt,wird bewusst auf eine Qualifizierung ver-zichtet. Im Gegenzug für ihr Engagementerhalten die Ehrenamtlichen das Gefühl,eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Sie füh-len sich gebraucht und empfinden Freudeund Anerkennung durch das Geben von Zeitund Zuwendung.

2 Organisierte Nachbarschaftshilfe undhaushaltsnahe DienstleistungenEntsprechende Unterstützungsleistungenkönnen im Rahmen auf Gegenseitigkeitberuhender Nachbarschaftshilfe sowie orga-nisierter Börsen und Tauschringe, aber auchauf Entgeltbasis durch die Nutzung von Ver-mittlungsagenturen erbracht werden. Typi-sche Bedarfe im Bereich haushaltsnaherDienstleistungen sind:

:: Einkäufe: Besorgungen/Botendienste,Abhol- und Bringdienste (Reinigung,Wäscherei), Essenslieferung

:: Hilfen im Haushalt: Kochen, Putzen,Waschen, Bügeln, Haushaltsführung;Gardinen-, Matratzen-, Teppichreinigung

:: Haus-/Gartenarbeiten: Hausmeisterdienste(z. B. Reparieren, Winterdienst), Gartenar-beit, -gestaltung, -pflege, Kfz-Pflege

:: Schriftverkehr:: PC- und Internet-Hilfe:: Bei Abwesenheit: Tierbetreuung, Haus-

hüten

Im Folgenden wird auf Mehrgenerationen-häuser und verschiedene Formen der orga-nisierten Nachbarschaftshilfe (Tauschsys-teme, Seniorengenossenschaften, aktiveNachbarschaften in genossenschaftlicherForm) eingegangen. Die Beispiele zeigenauf, welche Bedarfe den Impuls gegebenhaben und worin die innovativen subsidiä-ren Spezifika der Unterstützungsformenbestehen, welche Motivationen mit denUnterstützungs- und Hilfeleistungen ver-bunden sind und in welcher Beziehung die

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Akteure zu den Angeboten der regulärenprofessionellen Infrastruktur stehen.

2.1 Mehrgenerationenhäuser alsDrehscheibe für Dienstleistung, Beratung,Förderung und KriseninterventionIm Rahmen des BundesmodellprogrammsMehrgenerationenhäuser soll in jedemLandkreis und in jeder kreisfreien Stadt einMehrgenerationenhaus geschaffen werden.Seit Start des Bundesmodellprogrammes2006 wurden 500 Mehrgenerationenhäusereröffnet. Mehrgenerationenhäuser sindsozialraumbezogene Kristallisationspunkte,die fördernde Angebote für Familien undGenerationen unter einem Dach und auseiner Hand ermöglichen. Die Häuser entwi-ckeln dabei zum einen eigene Angebote derFrühförderung, Betreuung, Bildung undLebenshilfe. Zum anderen sind sie Anlauf-stelle, Netzwerk und Drehscheibe für famili-enorientierte Dienstleistungen, Erziehungs-und Familienberatung, Gesundheitsförde-rung, Krisenintervention und Hilfeplanungsowie zunehmend auch für ehrenamtlichesEngagement.

Mehrgenerationenhäuser fördern haushalts-nahe Dienstleistungen je nach Schwerpunkt-setzung auf unterschiedliche Weise:

:: Sie bieten als Unternehmen familienunter-stützende Dienstleistungen selbst an.

:: Sie fungieren als Drehscheibe und Ver-mittlungsplattform für familienunterstüt-zende Dienstleistungen.

:: Sie wirken aktiv an der Etablierung eineslokalen Marktes für familienunterstüt-zende Dienstleistungen mit und unterstüt-zen Personen bei dem Schritt in die Selb-ständigkeit als Anbieter.

Mehrgenerationenhäuser bieten aber nichtnur Leistungen an, sie erweisen sich auchzunehmend als Motoren für familienunter-stützendes ehrenamtliches Engagement. DasSpektrum der Aktivitäten reicht von Nach-hilfe über Sprachkurse bis hin zu Paten-

schaften und Einkaufsservices. Dieses Enga-gement ist eingebunden in die professionel-len Strukturen der Mehrgenerationenhäu-ser: Freiwillige werden von Fachkräftenangeleitet.

Das »SOS Mütterzentrum Salzgitter«:niedrigschwellig und tauschorientiertAls Beispiel eines in seinen Aktivitäten undder sozialen Wertschöpfung sehr weit ent-wickelten Modells soll das »SOS Mütterzen-trum Salzgitter. Mehrgenerationenhaus«näher betrachtet werden.

Das Haus wurde 1980 mit dem Ziel gegrün-det, bildungsferne Familien im Stadtteil zuerreichen. Deshalb wurde bewusst ein offe-nes Konzept, zunächst nur für Mütter,gewählt. Aufbauend auf der Erkenntnis,dass viele Angebote z. B. der Familienbil-dungsstätten von einer ganzen Gesell-schaftsschicht nicht genutzt werden, wurdebewusst versucht, den Bedarf gemeinsammit den Müttern zu ermitteln. Das Haussollte offen sein für alle Mütter, diese konn-ten ihre Vorstellungen und Ideen einbrin-gen, Konzepte wurden gemeinsam entwi-ckelt. Dieser offene Charakter des Hauseswurde beibehalten, die Angebote aberschrittweise erweitert und weiterentwickelt,stets orientiert am Bedarf, der durch denUmgang mit den Menschen deutlich wurde.Auch heute, nach der Umwandlung in einMehrgenerationenhaus, stehen die Ange-bote allen Menschen offen, auch älterenFrauen und Männern. Der generationen-übergreifende Aspekt steht im Vordergrund.Es wird bewusst und erfolgreich angestrebt,auch Menschen aus bildungsnahen Bevölke-rungsschichten zu erreichen, damit sozialesLernen möglich bleibt.

Das Spezifische an diesem Modell ist dersehr »offene« und »aktivierende« Charakterder Angebote. Der offene Bereich hat werk-tags von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet,danach findet eine Reihe von Kursen statt.Des Weiteren wird individuell und pragma-

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tisch auf die Bedarfe der Hilfesuchendeneingegangen. Ziel ist es nicht, große Unter-stützungsleistungen zu erbringen, sondernin erster Linie Menschen eine Art »Ersatz-Familie«/»Ersatz-Nachbarschaft« in Formeines »öffentlichen Wohnzimmers« zugeben, als Ansprechpartner zur Verfügungzu stehen, Hilfe zur Selbsthilfe anzubietenund Möglichkeiten der Aktivität und desErkennens der eigenen Stärken zu schaffen.Im Mittelpunkt des Tages stehen z. B.gemeinsame Mahlzeiten. Es kommen nichtnur bedürftige Menschen, sondern dieAngebote sind bewusst universal ausgestal-tet, um soziales Lernen zu ermöglichen. ImRahmen des Modells werden die Angebotedes offenen Bereichs und spezielle, auchvorrangig professionell erbrachte Dienst-leistungen im Rahmen des Regelsystemsunter einem Dach erbracht (z. B. Kita, teil-stationäre Angebote für Demenzkranke,Wohnbereich für Kinder mit besonderemBetreuungsbedarf, Beschäftigungsmaßnah-men). Alle Angebote haben einen generatio-nenübergreifenden Charakter. Darüberhinaus gibt es auch kommerziell erbrachteDienstleistungen. Die Aktivitäten werdenvon 35 hauptamtlichen Kräften und rund100 Ehrenamtlichen getragen.

Die Unterstützungsleistungen, die wechsel-seitig oder für jeweils andere erbracht wer-den, sind gekennzeichnet durch die sechsPrinzipien:

1. Offenheit und Zugewandtheit

2. Lernen im Alltag

3. Generationenübergreifende Angebote

4. Individualität

5. Ressourcenorientierung und Wertschät-zung

6. Persönliche Beziehungsqualität undsoziales Lernen

Diese Prinzipien gelten gleichermaßen fürdie professionell wie für die ehrenamtlichTätigen.

Die Unterstützungsleistungen, die außerhalbder professionellen Struktur erbracht wer-den, finden im Tausch von Dienstleistungengegen Dienstleistungen statt. Eine ganzbesondere Bedeutung hat der hohe Gradder Vergemeinschaftung, der sich in einerstarken Identifikation mit dem Haus nieder-schlägt.

Interessant ist, dass die ehrenamtlichen unddie professionell erbrachten Angebote inwesentlichen Aspekten einer gemeinsamen»Produktionsweise« folgen, denn dieTauschorientierung gilt grundsätzlich auchfür die im Rahmen des Regelsystemserbrachten Angebote. Hier wird z. B. fürfinanziell schwache Familien nach Lösungengesucht: Sie müssen weniger oder keineTagessätze zahlen, im Gegenzug hierfürerbringen sie regelmäßig z. B. Garten- oderReparaturarbeiten.

Eine zentrale Voraussetzung, weshalb dasModell so erfolgreich betrieben werdenkann, stellt die Anbindung an den SOS-Kin-derdorfverein als Träger dar. Auf dieseWeise werden finanzielle Freiräume mög-lich, z. B. hinsichtlich der Finanzierung voninnovativen Angeboten, die über das Regel-system nicht möglich wären. Darüber hinaushandelt es sich um eine langfristige, stabileUnterstützungsbeziehung. Schließlich profi-tiert das SOS-Mütterzentrum/Mehrgenera-tionenhaus von der hohen öffentlichenReputation seines Trägers, was das Fundrai-sing erheblich erleichtert. Das Zentrum istkontinuierlich damit beschäftigt, neueFinanzmittel (z. B. Stiftungen, Unternehmen,Bundesmittel, Landesmittel) einzuwerben.Darüber hinaus bekommt es für die Ange-bote, welche im Regelsystem erbracht wer-den, reguläre Zuschüsse von der Kommune(z. B. für die Kita).

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2.2 TauschsystemeTauschsysteme als eine Variante der organi-sierten Nachbarschaftshilfe bringen Talente,Fähigkeiten, Fertigkeiten und persönlicheStärken der Bewohner eines Stadtteils odereiner Gemeinde zusammen, um ein Systemder erweiterten Nachbarschaftshilfe zuetablieren. Tauschsysteme sind offen, Men-schen mit unterschiedlicher Biographiekönnen partizipieren, es sind gerade dieUnterschiedlichkeiten und die damit ver-bundene Vielfalt der Fähigkeiten, die dieLebendigkeit und Funktionalität einesTauschsystems ausmachen. Neben der För-derung des sozialen Zusammenlebens undder Etablierung einer Stadtteilkultur stehtoftmals die Integration von arbeitslosenoder sozialhilfebeziehenden Mitbürgern imZentrum dieser Projekte. In diesen Tausch-systemen werden die Einzelnen befähigt,Akteure in ihrem Lebenszusammenhang zusein und zugleich verantwortlich in derGemeinschaft zu handeln. Menschen kön-nen brachliegende individuelle Ressourcenzum Tausch anbieten und im Gegenzugindividuelle Bedürfnisse über das Tausch-system befriedigen. Tauschsysteme ermögli-chen auch die Befriedigung solcher Bedürf-nisse, die auf dem klassischen Markt nurmit Geld oder nur zu hohen Marktpreisengestillt werden können.

In diesem Sinne stellen Tauschsysteme einden einzelnen Haushalt ergänzendes Ver-sorgungssystem dar. Indem Eigenverant-wortlichkeit und Selbsthilfe eingebrachtwerden, fördern Tauschsysteme implizit dieHerausbildung von sozialer Kompetenz.Indem Fertigkeiten und Talente eingebrachtwerden, schließen sie die Erfahrung ein,»etwas zu können« und einen Beitrag fürandere zu leisten. Indem sie bei dem Prin-zip der Wechselseitigkeit ansetzen, unter-stützen sie die Entwicklung von Vertrauenund Sicherheit. Tauschsysteme fördernintakte Nachbarschaften, neue Beziehungs-geflechte und leisten damit einen Beitragzur Vergemeinschaftung. Sie haben unter-

schiedliche Organisationsformen, entspre-chend den jeweiligen konkreten Bedürfnis-sen der in ihnen zusammengeschlossenMenschen. In Deutschland existieren gegen-wärtig etwa 350 Tauschsysteme.

Die geleisteten Tätigkeiten umfassen einbreites Spektrum: Erledigungen von Einkäu-fen, Arztbegleitung mit einem Auto, Hilfe inHaus und Garten, Schreiben von amtlichenBriefen oder Bewerbungen und auch Nach-hilfe für Kinder. Üblicherweise erstellenTauschsysteme ein nach Rubriken geordne-tes Verzeichnis mit allen Angeboten undGesuchen der Mitglieder, das regelmäßigaktualisiert wird. Wann, wo und auf welcheWeise eine angebotene Tätigkeit ausgeführtwird, vereinbaren die jeweils Beteiligten.Häufig arbeiten Tauschsysteme in Deutsch-land als Zeitbörsen: Getauscht werdengeleistete Zeiten, wobei jede Tätigkeit alsgleichwertig gilt; eine Stunde Babysittenwird genauso bewertet wie eine StundeComputerhilfe oder Gartenarbeit.

Taschengeldbörse Stutensee-Weingarten:Preiswerte Hilfe durch generationenübergrei-fende UnterstützungEin Beispiel für einen sehr speziellenTauschring ist die Taschengeldbörse Stuten-see-Weingarten. Hier sind Jugendliche dieAkteure, die Leistungen für andere erbrin-gen. Das Mehrgenerationenhaus und dieBürgerwerkstatt Stutensee-Weingarten orga-nisieren zur Vermittlung von Nachbar-schaftshilfeleistungen durch Jugendlichezwischen 14 und 18 Jahren eine »Taschen-geldbörse«. Zu den angebotenen Leistungenzählen einfache Tätigkeiten wie Rasenmä-hen, Post abholen, Getränkekisten tragen,Babysitten, Pflanzen gießen, Straße kehren,sich um Haustiere kümmern, die Fahrradre-paratur oder die Erteilung von Nachhilfe-stunden für Schüler. Angeregt wurde dievor drei Jahren gegründete Initiative durchdie Tauschbörse Stutensee-Weingarten, dieals Form der nachbarschaftlichen Hilfe fürJugendliche nicht geeignet war. Gleichzeitig

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wollte man sowohl im FamilienzentrumWeingarten, dazu gehört die Taschengeld-börse, als auch in der Bürgerwerkstatt Stu-tensee den Kontakt zwischen Jung und Altstärken. In Absprache mit den Eltern kön-nen sich Jugendliche aus dem örtlichenUmfeld des Familienzentrums bei derTaschengeldbörse bewerben und ihre Fähig-keiten und Tätigkeitswünsche hinterlegen.Nutzer bekommen telefonisch passendeJugendliche vermittelt, die mit Blick auf dieoft geringfügigen Tätigkeiten aus der Nach-barschaft der Anfragenden gewählt werden.Die Taschengeldbörse vermittelt in Abspra-che mit einer örtlichen Schule auch Haus-aufgaben und Nachhilfe durch Jugendliche.

2.3 Neuartige Haushaltsgemeinschaft inWohnpartnerschaftenNeben den Tauschsystemen, die sich aufeine breite Palette von Fertigkeiten undBedarfe beziehen, sind Tauschsysteme zunennen, in denen sich die neue Kultur deswechselseitigen Gebens und Nehmens aufeinen Anlass konzentriert. Ein Tauschsys-tem der besonderen Art stellt die Initiative»Wohnen für Hilfe – Wohnpartnerschaftenzwischen Jung und Alt in Frankfurt« dar.Das vom Bürgerinstitut Frankfurt e. V. orga-nisierte, seit 2004 bestehende Projekt ver-sucht, gegenseitige Hilfe zwischen älterenund jüngeren Menschen zu organisieren.Auf der einen Seite leben ältere Menschennach Wegzug der Kinder oder Tod des Part-ners häufig allein in größeren Wohnungen,auf der anderen Seite suchen vor allem Stu-dierende und Auszubildende dringendbezahlbaren Wohnraum in Frankfurt. Indem Projekt vermieten ältere Menschen, dieüber ausreichend Wohnraum verfügen undUnterstützung im Alltag brauchen, jüngerenMenschen, die über wenig Geld verfügen,ein Zimmer in ihrer Wohnung. Das Beson-dere dabei ist, dass die Miete nicht mitGeld, sondern in Form von Hilfsleistungenabgegolten wird, z. B. im Haushalt, beimEinkaufen, im Garten, bei der Begleitungaußer Haus oder einfach in Form von

Gesellschaft. In der Regel entspricht eineStunde Hilfe im Monat einem QuadratmeterKaltmiete. Das Bürgerinstitut bietet persön-liche Beratung für Interessierte an und ver-mittelt und begleitet die Wohnpartnerschaf-ten. Entsprechend individuellen Wünschenund Angeboten werden passende Wohn-partner ausgesucht, Kontakte vermittelt undMietverträge formuliert. Bei eventuell auf-tretenden Konflikten steht das Bürgerinsti-tut für die Wohnpartner beratend und ver-mittelnd zur Verfügung. Das Projekt »Woh-nen für Hilfe« wird in mehreren Universi-tätsstädten angeboten und häufig von Hoch-schul- oder Studentenwerksstellen organi-siert. Das erste dieser Projekte entstand1992 in Darmstadt.

»NeNa – Nette Nachbarn«: Ein Beispiel fürorganisierte NachbarschaftshilfenOrganisierte Nachbarschaftshilfe kann sichauch spezifisch an den Bedürfnissen vonPersonengruppen ausrichten, die innerhalbder Institutionen des Regelsystems nichtaufgefangen werden können. Ein Beispiel istdie Initiative »NeNa – Nette Nachbarn imLandkreis Rhein-Lahn«. »NeNa – NetteNachbarn« geht initiativ auf das örtlicheSeniorenbüro zurück, das ein Angebot fürdie vielfältigen, in anderen Hilfestrukturennicht zu befriedigenden Bedarfe von hilfe-bedürftigen, v. a. älteren Menschen schaffenwollte. Es handelt sich somit um eine subsi-diäre Unterstützungsform, die aus derRegelstruktur heraus als Antwort auf dienicht vorhandenen Ressourcen zur Befriedi-gung eines sichtbar gewordenen Bedarfsgefunden worden ist.

»NeNa – Nette Nachbarn« als neue, organi-sierte Form der Nachbarschaftshilfe istdamit komplementär zu den kommerziellenAngeboten der Altenhilfe wie auch denAngeboten des Regelsystems. Die Unterstüt-zungsdienstleistungen sind dabei »klein«und nicht so umfassend. Im Vordergrundstehen Zuwendung und »nachbarschaftli-ches Kümmern«. Die »Netten Nachbarn«

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sind eine Gruppe aktiver, älterer und jungerMenschen, die hilfebedürftige ältere Men-schen und deren Angehörige durch einenSeniorenhilfsdienst unterstützen bzw. ent-lasten. Das Angebot umfasst die Betreuungälterer Menschen, Besuche bei Älteren oderKranken, Einkaufsservice, Arztbegleitung,Unterstützung beim Spazierengehen, Hilfebeim Ausfüllen von Anträgen und beiBehördengängen bis hin zu Handwerker-diensten.

Die wichtigste Ressource, die die ehrenamt-lich Aktiven einbringen, ist Zeit. Die Motiva-tionen aktiver Ehrenamtlicher erinnern inden persönlichen Berichten an den traditio-nellen Begriff der Zuwendung. »NeNa« istorganisatorisch an das Seniorenbüro »DieBrücke« des Rhein-Lahn-Kreises angebun-den, das auch seine Gründung initiierte.Sowohl »Anfrager« als auch »Anbieter« vonLeistungen melden sich bei einem ehren-amtlichen Mitarbeiter des Seniorenbürosaus der Verbandsgemeinde. Diese Personversucht Angebot und Nachfrage zu koordi-nieren und setzt die »Netten Nachbarn« ein.Die ehrenamtlichen »NeNa«-Mitarbeiterbestimmen Art, Zeit, Ort und Umfang ihrerTätigkeit selbst. Sie engagieren sich freiwil-lig und erhalten als »Entgelt« lediglich denErsatz ihrer Auslagen, den sie zum Teil wie-derum als Spenden an »NeNa« zurückgeben.

Das Modell »NeNa« existiert mittlerweile anvier Standorten, jeweils angebunden an einSeniorenbüro bzw. eine entsprechendeBeratungs- und Koordinierungsstelle. Insge-samt engagieren sich 80 Ehrenamtliche. DieFinanzierung erfolgt schwerpunktmäßig ausHaushaltsmitteln der Kommunen und ausSpenden. Es handelt sich hier in der Ten-denz um die Ausdifferenzierung einer sub-sidiären Dienstleistung unter dem Einsatzvon Ehrenamtlichen bzw. von Helferinnen,wie es in dem untenstehenden Beispiel derorganisierten Nachbarschaftshilfe in derDiözese Rottenburg-Stuttgart heißt. Typi-scherweise findet eine enge Zusammenar-

beit mit dem verbandlichen Träger und sei-nen Einrichtungen statt. Die Motivationender aktiven Ehrenamtlichen sind stark kari-tativ ausgerichtet, zusätzlich geht es aberauch hier um die Erfahrung von Selbstbe-stätigung in einer als sinnvoll empfundenenAufgabe.

Die »Organisierte Nachbarschaftshilfe desZukunft Familie e. V.-Fachverbands Famili-enpflege und Nachbarschaftshilfe in derDiözese Rottenburg-Stuttgart« ist ein pflege-ergänzender und alltagsunterstützenderDienst, der von 3.900 ehrenamtlich tätigenFrauen, die in 255 Gruppen organisiert sind,erbracht wird. Die Nachbarschaftshilfe ver-fügt damit über das größte Netzwerk pflege-ergänzender Dienste mit ehrenamtlich enga-gierten Bürgerinnen. Dieser ehrenamtlichtätige Dienst hat zum Ziel, alte, behinderteund alleinstehende Menschen darin zuunterstützen, so lange wie möglich in ihrerprivaten häuslichen Umgebung zu leben.Zudem sollen Hilfe und Unterstützunggeleistet werden, wenn infolge von Krank-heit, Gebrechlichkeit oder anderen Notstän-den eine ausreichende Selbstversorgung,d. h. Tätigkeiten im Haushalt bzw. zur tägli-chen Lebensführung, nicht mehr möglichist. Das Besondere der Unterstützung liegtin der persönlichen Nähe, die zu den unter-stützungsbedürftigen Menschen aufgebautwird. Unterstützung und Hilfe »nicht imStundentakt« und »sich kümmern, wie essonst die Kinder machten« sind wichtigeMerkmale. Um das Angebot der Nachbar-schaftshilfe verlässlich bereitstellen zu kön-nen, wird ein Eigenbeitrag erhoben. DieHöhe der Gebühren liegt bei maximal neunEuro pro Stunde. Mit dieser Kostenerstat-tung werden anteilmäßig der Verwaltungs-aufwand der Träger sowie Aufwandsent-schädigungen und Fortbildungsmaßnahmenfür die Helferinnen gedeckt.

2.4 SeniorengenossenschaftenNeben Mehrgenerationenhäusern und denTauschsystemen haben sich Seniorengenos-

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senschaften zu einem der bekanntestenModelle organisierter Nachbarschaftshilfeherausgebildet. Am Beispiel der Senioren-genossenschaft Riedlingen e. V. lassen sichzentrale Merkmale dieses Typs innovativersubsidiärer Unterstützungsformen veran-schaulichen. Die SeniorengenossenschaftRiedlingen wurde 1991 als Selbsthilfeein-richtung gegründet. Hintergrund war dieBeobachtung einer starken und dauerhaftenausbildungsbedingten AbwanderungJugendlicher aus der Region. Eine Versor-gung Älterer im Rahmen des familiärenNetzwerks war nicht mehr wie früher gege-ben. Die Initialzündung für die Seniorenge-nossenschaft ging von einer Gruppe vonrund 20 Personen aus, die in Kontakt mitder Kommune, einer Sozialstation sowieanderen regionalen Akteuren ein Konzeptausarbeitete. Es folgte eine Ausschreibungdes Landes Baden-Württemberg zur Bildungvon Seniorengenossenschaften und imAnschluss daran die Startfinanzierung derSeniorengenossenschaft Riedlingen in Formeines Projektes.

Heute ist die Seniorengenossenschaft finan-ziell unabhängig, sie finanziert sich überMitgliedsbeiträge und die Differenz zwi-schen den Beträgen, die den Leistungs-nehmern in Höhe von 8,20 Euro je Stundein Rechnung gestellt werden, sowie den Ent-gelten für die Mitarbeiter in Höhe von6,15 Euro je Stunde. Für größere Anschaf-fungen ist die Seniorengenossenschaft aufSpenden angewiesen. Die Seniorengenos-senschaft hat sich zum Ziel gesetzt, in derRegion Riedlingen den Herausforderungeneiner Überalterung der Gesellschaft undmangelnder familiärer Unterstützungsnetz-werke ebenso wie den Tendenzen sozialerIsolation vieler Menschen zu begegnen.Insbesondere soll älteren Menschen, derenAngehörige zumeist nicht mehr in derRegion wohnen, ermöglicht werden, inihrem Wohnumfeld bleiben zu können.Dazu wird eine Vielzahl an Unterstützungs-

dienstleistungen angeboten, die regelmäßigdem Bedarf angepasst werden.

Die Unterstützungsleistungen werden vonca. 100 nicht mehr berufstätigen Freiwilli-gen, vier hauptamtlich Tätigen und einigenStellen auf 400-Euro-Basis erbracht. DasAngebot der Seniorengenossenschaftumfasst alle erforderlichen Hilfen, um esden Mitgliedern zu ermöglichen, bis zumLebensende in ihrem Wohnumfeld verblei-ben zu können. Hierzu zählen betreutesWohnen, Hilfen rund ums Haus, Essen aufRädern, Beratung bei Problemen im Alltag,Begleitung bei Behördengängen und Hilfebeim Umgang mit Computer und Internet.Zudem werden Fahrdienste für die Tages-pflege, aber auch für Mitglieder angeboten,wenn diese z. B. zum Arzt müssen oderBesuche machen wollen. Das Besondere andiesem Dienstleistungsangebot ist, dass vomSchneeräumen bis zur Pflege fast allesdurch Freiwillige abgedeckt wird, die ent-weder die Möglichkeit haben, eine Auf-wandsentschädigung im Rahmen der soge-nannten Übungsleiterpauschale zu bekom-men, oder ihre geleistete Zeit in Form einesGuthabens ansparen können, welches beiEintritt von eigener Hilfebedürftigkeit ineiner späteren Lebensphase verwendet wer-den kann. Die Freiwilligen erbringen dieDienstleistungen auf eine sehr persönlicheund im Vergleich mit professionellen Fach-kräften sehr zeitintensive und individuelleWeise. So werden die Dienstleistungsemp-fänger umfassend betreut. Darüber hinauswerden mögliche weitere Bedarfe, z. B. auf-grund gesundheitlicher Veränderungen,frühzeitig erkannt.

Des Weiteren fungiert die Seniorengenos-senschaft als erster Ansprechpartner fürältere Menschen in der Region, die zahlrei-che Bedarfe selbst flexibel abdecken kann.Sofern dies nicht möglich ist, vermittelt siedie Hilfebedürftigen an andere Stellen wei-ter. Erfolgsfaktoren der Seniorengenossen-schaft sind, dass jüngere Senioren durch

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freiwillige Mitarbeiter gegen Entgelt und alsAnsparmöglichkeit eine attraktive, eigen-ständige Betätigungsmöglichkeit erhalten.Überdies kann so ein breites Spektrum anLeistungen günstig angeboten werden. DasSpezifische der Seniorengenossenschaft istdiese Kostengünstigkeit, verbunden miteiner sehr hohen Qualität, die insbesondereüber die zur Verfügung stehende Zeit derFreiwilligen zustande kommt. Neben derMöglichkeit des Zuverdienstes bzw. derAnsparmöglichkeit – also dem Tauschaspekt– trägt als weiteres Motiv zum Engagementder freiwilligen Helfer bei, eine sinnvolleAufgabe zu erfüllen und damit etwas zumgesellschaftlichen Zusammenhalt in einersich tendenziell entvölkernden Region bei-zutragen.

2.5 Transport- und MobilitätsdiensteEin weiterer Fall organisierter Nachbar-schaftshilfe ist die subsidiäre Hilfeleistungin einem ganz speziellen und eingegrenztenLeistungsbereich. Ein Beispiel sind hier dieehrenamtlich erbrachten Transport- undMobilitätsdienste. Kinder und zu einem Teilauch Senioren verfügen über eine einge-schränkte Mobilität und sind im Alltag aufFahrdienste angewiesen. Bei kleineren Kin-dern ist selbst bei einer geeigneten Infra-struktur des öffentlichen Personennahver-kehrs eine Beaufsichtigung notwendig.Marktgängige Angebote wie Taxi- undTransportunternehmen sind in aller Regelfür die tägliche Nutzung zu teuer. NehmenAngehörige diese Aufgabe wahr, bedeutetdies oft einen erheblichen Zeitaufwand. Alskostengünstige und flexible Alternative bie-ten sich daher subsidiär erbrachte Mobili-tätsdienstleistungen für Kinder wie fürSenioren an.

Hierzu zählen::: Hol- und Bringdienste für Kinder z. B. zu

Schule, Sportverein, Musikstunden oderFeiern/Veranstaltungen

:: Fahrdienste für Senioren z. B. zum Einkau-fen, zu Veranstaltungen oder Arzttermi-nen

Allein in Nordrhein-Westfalen existierenknapp 70 Bürgerbus-Vereine, die ehrenamt-liche Fahrdienste anbieten und dabei öffent-lich gefördert werden. Die ersten Vereineentstanden in den 1980er Jahren.

Preiswerte Fahrgastbeförderung durch denehrenamtlichen »Stör-Express«Ein Beispiel für die Bürgerbus-Vereine istder »Stör-Express Ehrenamtlicher Fahr-dienst e. V.«. Der Fahrdienst stellt zwischenmehreren Gemeinden im dünnbesiedeltenLandkreis Steinburg in Schleswig-Holsteineine preiswerte und regelmäßige Fahrgast-beförderung sicher. Der Verein wurde imJahr 2000 als Reaktion auf die unzurei-chende regionale Versorgung des öffentli-chen Personennahverkehrs an Wochenen-den gegründet. Der Bus fährt auf Anforde-rung und hält bei Bedarf auch zwischen denHaltestellen.

Ein spezielles Angebot stellt der »Disco-NightLineBus« dar, der Jugendliche sams-tags zu den Diskotheken im Umkreis bringtund abholt. Durch den Einsatz von ehren-amtlichen Fahrern entstehen keine Perso-nalkosten, die einen großen Teil derBetriebskosten im öffentlichen Personen-nahverkehr darstellen. Dadurch könnengünstige Fahrpreise angeboten werden.

Der »Stör-Express« erhält keine öffentlichenZuschüsse, sondern finanziert sich alleinaus eigenen Mitteln. Der Verein hat derzeit34 Mitglieder und beförderte im vergange-nen Jahr über 5.700 Passagiere. Für Mitglie-der des Vereins sind die Fahrten kostenlos.

2.6 Förderung aktiver NachbarschaftenEin unmittelbarer Weg, subsidiäre Unter-stützung von Familien und Privathaushaltenzu ermöglichen oder zu begünstigen,besteht in der Förderung aktiver Nachbar-

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schaften. Möglich sind hierbei Ansätze, dieNachbarn miteinander in engeren Kontaktbringen und damit den Nährboden fürNachbarschaftshilfe bilden, aber auchbewusst gewählte nachbarschaftliche Wohn-formen wie Wohngenossenschaften undBaugruppen. Durch öffentlich finanzierteQuartierfonds werden in Stadtvierteln mitsozial schwacher Bewohnerstruktur gemein-schaftlich organisierte Aktivitäten undAktionen gezielt gefördert. Unterstützt wer-den Aktionen und die Umsetzung neuerNutzungskonzepte im öffentlichen Raumwie z. B. Mal-, Pflanz- oder Säuberungsak-tionen, die Aufstellung von Spielgerätenoder Bänken, aber auch Nachbarschaftsakti-vitäten wie Straßenfeste.

Voraussetzung für die Bewilligung von Gel-dern ist die selbstorganisierte, eigene Betei-ligung von Kindern, Jugendlichen undBewohnern sowie die Übernahme dergemeinsamen Verantwortung für die Durch-führung der Aktionen. Die geförderten Akti-vitäten sollen das öffentliche Erscheinungs-bild des Quartiers verbessern, die Aneig-nungs- und Nutzungsmöglichkeiten durchBewohner erhöhen und das soziale Klima inder Nachbarschaft sowie das Selbsthilfepo-tential durch gemeinschaftliche Aktivitätenpositiv beeinflussen. Die Entscheidung fürden Wohnungsbau in selbstverwaltetenGenossenschaften oder Baugruppen liegtneben dem preisgünstigen Miet- und Eigen-tumswohnraum oft in dem Wunsch nachintensiven Kontakten innerhalb der Nach-barschaft. Das enge nachbarschaftliche Ver-hältnis, das in der Regel zu einer umfassen-den Nachbarschaftshilfe führt, entstehtdurch die gemeinsame Planung und Verwal-tung der Gebäude. Durch die günstigerenPreise ermöglichen die Wohnprojekte auchFamilien ein erschwingliches Bauen undWohnen in zentrumsnahen Lagen mit guterInfrastrukturanbindung.

Wohnungsbaugenossenschaften und Bau-gruppen sind in der Regel auf ein Entgegen-

kommen und eine Unterstützung durch diekommunale Verwaltung angewiesen. Diesekann in der Veräußerung von stadteigenenBauflächen gegebenenfalls zu einem redu-zierten Preis an die Initiativen, in derAnpassung von Planungsrechten, in Hilfenbei der Vor- oder Zwischenfinanzierung derLiegenschaften und auch in der Kommuni-kation der Bauvorhaben bestehen. Durchden hohen Organisations- und Abstim-mungsaufwand der Bauherren oder Genos-sen wird – verglichen mit kommerziellenBauträgern – oft erheblich mehr Zeit biszum Grundstückserwerb und zur Antrag-stellung benötigt.

»Amaryllis e.V. Bonn«: SelbstverantwortlicheNachbarschaft für solidarischesZusammenlebenEin Beispiel für diesen Typ innovativer sub-sidiärer Unterstützungsstruktur ist diegenossenschaftliche »Wohn- und Nachbar-schaftsgemeinschaft Amaryllis e. V.«. DieWohn- und NachbarschaftsgemeinschaftAmaryllis setzt sich aus 46 erwachsenenMitgliedern aus mehreren Generationenzusammen. Die Familienformen sind buntgemischt, in der Wohn- und Nachbar-schaftsgemeinschaft leben Alleinstehende,Alleinerziehende, Elternpaare mit Kindernund Familien ohne Kinder. Im Mai 1992begann der Verein mit der Suche nacheinem geeigneten Baugrundstück. Im März2005 fand sich schließlich auf dem Geländedes von der Stadt Bonn in Beuel, Vilich-Mül-dorf, geplanten Wohn- und Wissenschafts-parks ein geeignetes Grundstück. Nachmehreren Anläufen machte sich der Ama-ryllis e. V. an die Realisierung des Projekteseiner genossenschaftlichen Wohn- undNachbarschaftsgemeinschaft. Das Ziel desAnfang 2008 verwirklichten Wohnprojektesliegt in der selbstverantwortlich gestaltetenNachbarschaft. Menschen unterschiedlicherAlters- und Lebensphasen wohnen undleben miteinander in selbstbestimmter,sozial verantwortlicher und verbindlicherNachbarschaft. Die Mitglieder der Gemein-

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schaft bestimmen selbst, welche Formen dasgemeinschaftliche Leben annehmen soll. DieVorstellungen jedes Einzelnen hinsichtlichNähe und Distanz, Gemeinsamem und Pri-vatem werden respektiert. Gleichwohl exis-tiert ein Kanon von Vorstellungen zumgemeinschaftlichen Leben, der eine Orien-tierung geben soll. Dieser bezieht sich aufdas Interesse an einer verbindlichenGemeinschaft und der Mitgestaltung desZusammenlebens, die Respektierung derverschiedenen Lebensentwürfe der Mitglie-der, die gegenseitige Hilfe und Unterstüt-zung im Alltag und Mithilfe bei Krankheitund Pflegebedürftigkeit, die Bereitschaft zurÜbernahme von Verantwortung und zurgemeinsamen Bewältigung von Konfliktensowie die aktive Mitarbeit an der Planungund Umsetzung des Projektes. In diesemSinne ist das Wohnprojekt ein offenesForum mit dem Ziel des solidarischenZusammenlebens. Das setzt auf Seiten derMitglieder und Bewohner ein hohes Maß anVerantwortung und Bereitschaft zur Mitar-beit voraus. Auf der anderen Seite könnenauf diese Weise alle Beteiligten mitreden,mitgestalten und sich gegenseitig unterstüt-zen. Neben den Wohnungen, auf drei Häu-ser verteilt, wurde auch eine Seniorenetageerrichtet, der ein Wohn-/Essraum und eingroßer Balkon angegliedert sind. Diegemeinsam genutzten Außenanlagen unddie Gemeinschaftsräume bilden Orte derBegegnung und des Miteinanders, auch imHinblick auf die übrigen Bewohner des neuentstehenden Viertels.

3 Informelle Elternbildung

3.1 Kommunikationsräume und subsidiäreVermittlungsformenÜber Angebote der Eltern-/Familienbildungund der Stärkung der Erziehungskompetenzhinaus besteht ein Bedarf an Gelegenheitenzum informellen Austausch unter Eltern zuFamilienfragen und zur gegenseitigen Hilfeund Beratung im Alltag, der idealerweiseinnerhalb persönlicher Netzwerke gedeckt

werden kann. Als weitverbreitetes Erfolgs-modell für die informelle Familienbildungwie auch für einen niedrigschwelligenZugang zu formellen Bildungsangebotenhaben sich seit Beginn der 1980er Jahre dieMütterzentren und zahlreiche daran ange-lehnte Modelle etabliert, die neben einemals offenes Café organisierten TreffpunktRaum für selbstorganisierte Spiel- undKrabbelgruppen und weitere Aktivitätenund Bildungsangebote bieten. Derzeit exis-tieren in Deutschland über 400 Mütterzen-tren, die im Schnitt jeden Tag von 30 bis 40Müttern mit etwa doppelt so vielen Kindernbesucht werden. Zahlreiche Mütterzentrenhaben sich im Rahmen des Bundesmodell-programmes zu Mehrgenerationenhäusernweiterentwickelt wie z. B. das weiter vornedargestellte »SOS Mütterzentrum Salzgitter.Mehrgenerationenhaus«. Neben den Mütter-zentren haben sich vielerorts von Ehren-amtlichen betriebene Frühstückstreffs etab-liert. Zumeist sind diese Angebote an einQuartiersmanagement oder eine Stadtteilini-tiative angebunden. Mit Angeboten dieserArt verbindet sich neben der Gelegenheits-struktur für einen Austausch die Zielset-zung, frühzeitig die Probleme der Eltern imWohngebiet kennenzulernen und entspre-chende Unterstützungsangebote im Rahmender Quartiersarbeit bereitzustellen.

Insbesondere im Kontext der Unterstützungvon Integrationsprozessen der hier leben-den Zuwandererfamilien sind zahlreicheInitiativen zur Elternbildung entstanden. ImFokus steht die Stärkung der Erziehungs-kompetenz. Das Beispiel der Stadtteilmütterin Neukölln zeigt die produktive Nutzungund die gesellschaftliche Wertschätzungganz spezifischer Kompetenzen, die Zuwan-derer mitbringen: Kenntnisse andererSprachen und interkulturelle Kompetenz.Für die Stadtteilmütter selbst verbindet sichmit ihrem Einsatz die spezifische Erfahrungdes »Empowerment«.

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»Stadtteilmütter Neukölln«: Elternbildung inder eigenen ethnischen GemeinschaftAusgangspunkt der »Stadtteilmütter in Neu-kölln« war die Erfahrung, dass zwar vieleUnterstützungsangebote für Familien mitMigrationshintergrund existieren, dass dieEltern aber nicht erreicht wurden. Diesführte zur Gründung einer Arbeitsgruppe,bestehend aus Vertretern von Kitas, Schulensowie von Bewohnern des Stadtteiles. Dieersten Ziele des zunächst an einem Eltern-zentrum angesiedelten Projektes waren, fürden Kita-Besuch der Kinder zu werben, dieEltern über ihre Rechte und Pflichten zuinformieren und die bestehenden Angebotebekanntzumachen. Aufbauend auf einerProjektidee aus Rotterdam wurde das Pro-jekt bis zur heutigen Form weiterentwickelt.Das Projekt wurde dabei von Anfang ansozialräumlich ausgestaltet und eine engeVerbindung zum vorhandenen Quartiersma-nagement hergestellt. Im Rahmen des Pro-jektes werden arbeitssuchende Frauen zuStadtteilmüttern ausgebildet. Die Stadtteil-mütter besuchen Familien ihrer eigenenethnischen Gemeinschaft im Stadtteil, ummit ihnen diverse Themen der Erziehung inder jeweiligen Muttersprache zu diskutie-ren, um die Eltern differenziert zu informie-ren sowie sie zu bestärken und zu motivie-ren, ihre Kinder aktiv zu fördern. Im Rah-men von zehn Besuchen in den Familienstellen die Stadtteilmütter den Inhalt ihresmitgebrachten »Rucksacks« vor, der eineVielzahl muttersprachlicher Materialien ent-hält, die Eltern Anregungen für Aktivitätenzur spielerischen Förderung geben und dieMütter zu Hause mit ihren Kindern in derMuttersprache durchführen können. Zudementhält der Rucksack Adressen von Bera-tungsstellen und Behörden aus dem Bezirk.

Die Besuche sind getragen von einer ganzspeziellen Beziehung: Meistens wird in der-selben Sprache gesprochen, Familie undStadtteilmutter kommen aus demselben Kul-turkreis, sie haben beide Migrationserfah-rungen, haben beide Kinder. Für die Stadt-

teilmütter ergibt sich daraus eine sinnvolleBeschäftigung, die mit gesellschaftlicherAnerkennung verbunden ist. Sie lernen fürsich und ihre Familien und sie wollen etwasim Stadtteil bewegen. Die Stadtteilmütterarbeiten 30 Stunden in der Woche undbetreuen ein bis fünf Familien, je nach zeit-licher Besuchsdichte. Diejenigen, die vorherHartz-IV-Leistungen bezogen haben,bekommen einen Beschäftigungszuschussvon 1.080 Euro im Monat, der auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird. Diejenigen,die vorher kein Hartz IV bezogen haben,bekommen 180 Euro im Monat. Für dieFamilien ist die Inanspruchnahme derDienstleistungen kostenfrei. Gegenwärtigsind in Neukölln 115 Stadtteilmütter mittürkischem, arabischem oder anderem aus-ländischen Hintergrund aktiv. Das Projektwird gemeinsam von Senatsverwaltung, Job-center, Bezirksamt und Diakonischem WerkNeukölln-Oberspree getragen.

4 Bildungspatenschaften, Familienpatenund Mentoren

Initiativen zur Förderung vonBildungspatenschaften für Kinder undJugendliche mit MigrationshintergrundIm Zentrum des aktuellen Bundespro-gramms »Aktion zusammen wachsen – Bil-dungspatenschaften stärken, Integrationfördern« stehen Bildungspatenschaften fürKinder und Jugendliche mit Migrationshin-tergrund, die als eine Form des bürger-schaftlichen Engagements die Phasen dervorschulischen bis Primar-Bildung, desÜbergangs von der Schule in den Beruf undder betrieblichen Ausbildung begleiten. Mitder Aktion sollen zivilgesellschaftliche Res-sourcen in einem Bereich mobilisiert wer-den, den vorschulische Einrichtungen,Schule und Ausbilder bzw. Ausbildungsbe-triebe nur teilweise abdecken können.Zugleich sind in den genannten Passagenauch Eltern häufig überfordert, insbeson-dere dann, wenn sie selber keine persönli-chen Erfahrungen mit den Bildungs- und

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Ausbildungsoptionen in Deutschlandgemacht haben.

Die Aktion fördert daher das ehrenamtlicheEngagement von Personen, die ihr Wissenund ihre Erfahrungen an Kinder undJugendliche weitergeben, sei es, indem siebeim Schulabschluss helfen, sei es, indemsie die Bewerbung um einen Ausbildungs-oder Arbeitsplatz unterstützen und Jugend-liche in der Startphase und darüber hinausbegleiten.

Mit ihrem spezifischen Potential, individu-elle Förderbedarfe zu erkennen und eineflexible und erreichbare persönliche Hilfevor Ort einzubringen, sind Patenschaftsmo-delle gerade im frühkindlichen Bereichwertvoll. Sie vermögen präventive Arbeit zuleisten, indem frühzeitig die Weichengestellt werden, um eine negative Bildungs-karriere zu vermeiden. Einem ganzheitli-chen Ansatz folgend, bringen Patenschafts-modelle besonderen Nutzen, wenn siezugleich die Erziehungskompetenz derEltern fördern und etwaige Barrieren gegen-über den Bildungsinstitutionen abbauen. ImBereich des Übergangs von der Schule indie Ausbildung können Patenschaftsmodelleihren Nutzen in verschiedener Hinsicht ent-falten: Über Paten sind Zugänge und Ver-bindungen in Betriebe und potentielle Aus-bildungsstätten herstellbar, Paten könnenbei den inhaltlichen und sozialen Anforde-rungen zur Seite stehen und insgesamt dazubeitragen, Ausbildungsabbrüche zu verhin-dern.

Neben der Unterstützung von Kindern undJugendlichen stellt die Patenschaft für Aus-bildungsbetriebe eine weitere Facette derWirkungsbereiche dar. Speziell Unterneh-men, die von einem Betriebsinhaber mitMigrationshintergrund geführt werden, stel-len dabei ein quantitativ bedeutsames, abernoch bei weitem nicht ausgeschöpftesPotential beruflicher Ausbildungsmöglich-keiten dar. Patenschaften können dazu bei-

tragen, dieses Potential zu erschließen,indem dem Betriebsinhaber in praktischenFragen der Ausbildung beratend zur Seitegestanden wird oder auch eine beruflicheAusbildung in einer Verbundform unter-stützt wird.

Derzeit sind zahlreiche Gründungen vonPatenschafts-Initiativen zu beobachten. VorOrt findet sich inzwischen eine Vielzahl vonInitiativen und Projekten, die ehrenamtli-che Lese-, Bildungs- und Ausbildungspaten-schaften organisieren und so individuelleUnterstützung und Begleitung von Kindernund Jugendlichen gewährleisten. Ehrenamt-lich engagierte Bürger kommen beispiels-weise in den Kindergarten und wenden sicheinzelnen Kindern aus Zuwandererfamilienzu. Der Vorteil ist, dass sie in Absprachemit den Erziehern ganz individuell auf dieKinder eingehen können. Sie unterhaltensich mit ihnen auf Deutsch, lesen ihnen voroder spielen mit ihnen und bauen so einVertrauensverhältnis auf. Die Paten könnenauf diese Weise gezielt Defizite im Sprach-gebrauch der Kinder angehen, sich mitihrer Lebens- und Berufserfahrung einbrin-gen und sich so für eine gute Sache enga-gieren.

Bildungspatenschaften bieten aber auch denSchulen eine Unterstützung. Ehrenamtlichengagierte Bürger helfen Kindern undJugendlichen dabei, ihre Deutschkenntnissezu verbessern. Sie unterstützen sie bei denHausaufgaben und stehen ihnen auch beiAlltagsproblemen mit Rat und Tat zur Seite.Besonders für Schüler der höheren Klassenist eine Patenschaft auch interessant für dieBerufsfindung. Sie können von der oft lang-jährigen Berufserfahrung der Paten profitie-ren. Mit der Zeit bauen diese ein Vertrau-ensverhältnis zu den Jugendlichen auf, sodass sich die Schüler für Ratschläge undFördermaßnahmen öffnen.

Ein anderes Beispiel für ein weiteres Paten-schaftsmodell sind die »Sorgenden Netze

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Bürgerschaftlichen Engagements«. Das Netz-werk ist Bestandteil eines größeren, sozial-räumlich ausgerichteten Projektes des Zen-trums »Aktive Bürger« in Nürnberg. DieFinanzierung erfolgt durch EU-, Bundes-und Landesmittel, durch Eigenleistungen,Sponsoring und Spenden.

In den »Sorgenden Netzen Bürgerschaftli-chen Engagements« engagieren sich Men-schen entweder direkt für Familien oder sieunterstützen Institutionen, die sich um Kin-der kümmern, z. B. als Lesepaten oder inder Nachhilfe an Schulen. Die Ehrenamtli-chen sorgen durch ihre Tätigkeit dafür, dasssich eine positive »Kultur des Aufwachsens«entwickelt und etabliert. Ziel ist, fürbestimmte Sozialräume der Stadt Nürnberg,die einen hohen Entwicklungsbedarf haben,ein tragfähiges Konzept bürgerschaftlicherUnterstützung zu implementieren, das vorallem die von den Institutionen belassenenLücken zu schließen vermag. Es geht hierinsbesondere um die individuelle Unterstüt-zung und Begleitung von Familien, Kindernund Jugendlichen. Kennzeichen ist dieKooperation zwischen professionellenDiensten und ehrenamtlichen Mitarbeitern.Etwa 200 Ehrenamtliche sind in Projektentätig, die explizit Familien unterstützen.Die Tätigkeiten erstrecken sich auf dieÜbernahme von Patenschaften in Kinder-tagesstätten und Grundschulen sowie Fami-lienpatenschaften.

Mentoring für Jugendliche: »JAZz – Seniorenbegleiten Hauptschüler«»JAZz« geht zurück auf ein Seminar zurSeniorenfortbildung des Zentrums für Allge-meine Wissenschaftliche Weiterbildung(ZAWiW) der Universität Ulm in Koopera-tion mit Ulmer Hauptschulen. Ausgangs-punkt der Initiative war die Perspektivlosig-keit vieler Jugendlicher und der Wunschvon Teilnehmern der Seniorenfortbildung,etwas gegen diese Aussichtslosigkeit zuunternehmen und damit zugleich selbst einesinnvolle Aufgabe wahrzunehmen. Das

Modellprojekt startete 1998, 2001 erfolgtedie Gründung des Vereins »JAZz e. V.«. DerVerein wird heute durch eine Vielzahl anSponsoren finanziell gefördert, die teilneh-menden Jugendlichen müssen pro Schuljahrein Entgelt von zehn Euro zahlen. Zielset-zung des Zusammenschlusses der Seniorenist es, Hauptschüler bei der persönlichenEntwicklung im Hinblick auf ihre Berufs-wahl und Bewerbung ehrenamtlich zuunterstützen. Bei den Patenschaften handeltes sich oft um Jugendliche, die aus sozialschwachen Elternhäusern kommen unddaher externe Unterstützung bei derBerufs- und Lebensplanung benötigen.

Über einen Zeitraum von zwei Jahren wer-den Seminare für Hauptschüler am Endeihrer Schulzeit in der achten und neuntenKlasse angeboten. Die Seminarmoduleumfassen sowohl Themen zur Entwicklungsozialer Kompetenzen (z. B. Konfliktmanage-ment) ebenso wie zur späteren Berufswahlund ein Bewerbungstraining. Während dergesamten Seminare wird in Kleingruppengearbeitet, die sich aus zwei Senioren undca. sechs Hauptschülern zusammensetzen.Es wird mit den Lehrern und den Schulsozi-alarbeitern kooperiert. Die Seminare bietengleichzeitig Gelegenheit, zu den Hauptschü-lern persönlichen Kontakt aufzubauen undVertrauen zu schaffen, denn als Vorausset-zung für die eigentlichen Seminarinhaltemüssen zunächst Selbstbewusstsein und derGlaube an eigene Stärken sowie Grundvo-raussetzungen wie z. B. »normale Umgangs-formen« (Auftreten, Kleidung, Begrüßung,Telefonieren etc.) vermittelt werden. DieSenioren besitzen hierbei eine spezielleGlaubwürdigkeit und dienen als Vorbilder.Alle Senioren kommen aus der Region undhaben selbst die Hauptschule besucht undsich aufbauend darauf beruflich weiterent-wickelt.

Seitens der Senioren wird eine Vielzahl anRessourcen eingebracht. Die Seniorenwaren Personalleiter, Sekretärinnnen, Ver-

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waltungsangestellte, Krankenschwestern,Maurer, andere Handwerker, Ingenieure. Siebringen auf dieser Basis eine ganze Band-breite beruflicher Erfahrungen ein.Die Senioren verfügen ferner über Kontaktein der Region, die für die berufliche Ein-mündung der Jugendlichen genutzt werdenkönnen. Darüber hinaus bringen sie persön-liche Erfahrungen ihres eigenen Werdegan-ges ein. Dies schafft eine besondere Authen-tizität bei der Hilfestellung.

Das Angebot des Vereins wird mit regiona-len Kammern, einzelnen Unternehmen unddem regionalen Ausbildungszentrum abge-stimmt. Die aktiven Senioren erhaltenanlassbezogen Beratungen und Schulungenz. B. von Sozialpädagogen. Sie erleben sichselbst als »nachberuflich Aktive«, die einenBeitrag zur Integration von Jugendlichenleisten. Gegenwärtig sind rund 25 Seniorenehrenamtlich bei »JAZz« tätig. Pro Schuljahrwerden rund 50 Begleitungen an siebenSchulen in Ulm und Neu-Ulm durchgeführt.Das Know-how wurde mittlerweile erfolg-reich an mehrere Senioreninitiativen inBaden-Württemberg weitergegeben.

Während »JAZz« als eigener Verein inKooperation mit verschiedenen Schulenarbeitet, sind andere Mentoreninitiativen»Ausgründungen« einzelner Schulen. So z. B.das Mentorenprojekt an der Kepler-Schule,das 2006 von der Bürgerstiftung Neuköllnins Leben gerufen wurde. Träger des Pro-jektes ist der Förderverein dieser Haupt-schule in Neukölln. Hier unterstützenehrenamtliche Mentoren Hauptschülerdabei, einen Ausbildungsplatz zu finden.Gegenwärtig werden etwa 20 Jugendlichevon den Mentoren persönlich und intensivbei der Wahl eines Ausbildungsberufes undbei den Bewerbungen betreut. Die Jugendli-chen müssen sich zunächst als Menteesbewerben, um am Programm teilnehmen zukönnen. Die Finanzierung erfolgt gegenwär-tig im Rahmen des Programms »LokalesKapital für soziale Zwecke«.

Paten für Kinder und Jugendliche: »Balu undDu« – fördernde Freundschaften mit Kindern»Balu und Du« ist ein ehrenamtliches Men-torenprojekt, das Grundschulkindern, diebesonderer Unterstützung auf der Schwellezum Jugendalter bedürfen, Hilfe gebenmöchte. Das Projekt wurde 2002 an derUniversität Osnabrück und im ErzbistumKöln gestartet. Träger ist heute der gemein-nützige Verein »Balu und Du e. V.« mit Sitz inOsnabrück und Geschäftsstelle in Köln. Erkooperiert eng mit der Universität Osna-brück und dem Diözesan-Caritasverband fürdas Erzbistum Köln e. V. Junge Mentoren imAlter zwischen 18 und 30 Jahren begleitenjeweils ein Jahr lang ein Kind im Grund-schulalter. Die Kinder werden von ihrenLehrern vorgeschlagen. Dabei gibt es keinexaktes Auswahlkriterium wie etwaschlechte Schulnoten. Vielmehr werden dieLehrkräfte gebeten, Kinder auszuwählen,um die sie sich »Sorgen machen«. Dieses»Sorgen machen« kann unterschiedlichsteHintergründe haben: Isolation in der Klasse,Konzentrationsschwächen, aggressives Ver-halten, Vernachlässigung zu Hause oderauch geringe Förderung durch die Familie.

Die Mentoren – die »Balus« – treffen sich mitihrem Paten – ihrem »Mowgli« – einmal inder Woche für zwei bis drei Stunden. DieseTreffen sind spielerisch gestaltet, nur in sel-tenen Ausnahmen wird auch einmal Haus-aufgabenhilfe gegeben. Die Erfahrung zeigt,dass viele Kinder zunächst erst Interessenentdecken müssen; es ist dabei die Aufgabeder Mentoren, die Probleme, Schwächenund Stärken ihres Patenkinds herauszufin-den. In wenigen Wochen bildet sich einesehr persönlich geprägte Beziehung undInteraktion zwischen Kind und Mentorheraus. Der besondere Vorteil des Mento-renprojektes ist genau diese persönlicheBeziehung im Verhältnis »eins zu eins«. Diewöchentlichen Treffen sind für die Kindernicht durch das Thema »Lernen« bestimmt,sondern durch »Freizeit« und »Spaß«. Siekönnen beispielsweise in der Schule von

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den Unternehmungen mit ihrem Mentorberichten und damit auf eigene Erfahrungenverweisen.

Die Mentoren sind junge Erwachsene, diesich meist selbst noch in der Ausbildungbefinden. Das Projekt ist verschiedentlicheingebettet in Ausbildungsgänge an Fach-hochschulen und Hochschulen, hier bestehtdie Möglichkeit der Reflexion der Erfahrun-gen aus der Patenschaft. Während die Refle-xion wichtiger Bestandteil der Konzeptionist, spielt eine etwaige Qualifizierung für dieAufgabe als Mentor keine Rolle. Ganz imGegenteil wird auf die Laienkompetenzgesetzt. Es geht darum, HilfebedürftigenUnterstützung zu geben, damit sie Selbst-sicherheit erhalten. Die Mentoren sind ininstitutionelle Bezüge eingebunden, esbesteht Kontakt zur Schule, die das Kindbesucht, oder zu den Lehrkräften, die dasKind unterrichten, und auch zu den Elterndes Kindes. Die spezifische Unterstützungs-leistung liegt in der Ermöglichung voninformellem Lernen, was in der Schule nichtgeleistet werden kann.

Die Beobachtung ist, dass die Mentorenanfangs vor allem aus einer berufsbezoge-nen Motivation heraus eine Patenschaftübernehmen. Dieser instrumentelle Bezugverliert sich zugunsten des Beziehungs-aspektes. Die Initiatoren sprechen von einerbeidseitig befriedigenden Freundschaft, diesich zwischen Mentor und Kind aufbaut. DieRessourcen, die die Mentoren einbringen,sind Zeit und ein Gefühl von Normalität.

Durch neue Standorte hat sich inzwischenein Netzwerk »Balu und Du« gebildet. DieHauptförderung erfolgt durch die »AktionLichtblicke e. V.«. Die Auswahl der Mentorenund die Koordinierung der Patenschaftenwerden von Koordinierungskräften vor Ortvorgenommen. Die Weitergabe der Grund-idee von »Balu und Du« an andere Standorteerfolgt mittlerweile sehr systematisch. Esexistiert ein Dachverband mit einer kleinen

Personalfinanzierung. Neuen Standortenwird von hier aus ein Qualitätshandbuchzur Verfügung gestellt, in dem Checklisten,Kopiervorlagen und zahlreiche Anregungenenthalten sind. Projektinitiativen werdenferner durch eine sogenannte Starterboxunterstützt, die Spiel- und Lernmaterial ent-hält, welches sich bisher als didaktischsinnvoll erwiesen hat.

Familienpaten

»Familienpaten Augsburg« – offene undeffektive HilfsangeboteDie Initiative »Familienpaten im Rahmendes Lokalen Bündnisses für Familie Augs-burg« geht auf einen Impuls der Stadt Augs-burg zurück. Ehrenamtliche, so die Beob-achtung bis heute, sind »dichter an denFamilien dran«. Sie kommen als Gast, nichtals professioneller Leistungsträger, undmüssen keine Auflagen erfüllen. Ihnen wirdmehr Vertrauen entgegengebracht. Aufdiese Weise kann besser geholfen werden.Ein wichtiger Aspekt ist darüber hinaus,dass die Familien die Unterstützungsange-bote freiwillig in Anspruch nehmen unddeshalb verglichen mit Jugendhilfemaßnah-men in der Regel offener sind. Es hat sichgezeigt, dass oft »nur« kleine Unterstüt-zungsformen notwendig sind, die vielbewirken können.

Über das Projekt »Familienpaten« werdenergänzend zu den über das Regelsystemdurchgeführten Kinder- und Jugendhilfe-maßnahmen Unterstützungsdienstleistungenfür Familien ehrenamtlich angeboten. Spezi-fisch an diesem Modell ist, dass eine engeKooperation zwischen dem »AllgemeinenSozialdienst« und den Familienpaten in Trä-gerschaft des Kinderschutzbundes Augs-burg besteht. Das Angebot des »AllgemeinenSozialdienstes« wird mithin durch die Fami-lienpaten erweitert: So unterstützen dieFamilienpaten beispielsweise bei Beendi-gung einer Hilfsmaßnahme die Familienweiter, bis sie wieder sicher auf eigenen

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Füßen stehen können – eine Aufgabe, diesonst vom Amt nicht geleistet werden kann.

Die in Frage kommenden Familien werdenvom »Allgemeinen Sozialdienst« der StadtAugsburg vermittelt. Gleichzeitig ist aberauch sichergestellt, dass ab dem Zeitpunktdes Aktivwerdens der Familienpaten dieseeigenständig und vertraulich handeln undkeine Berichtspflicht gegenüber dem »Allge-meinen Sozialdienst« zu erfüllen haben.

Angeboten wird eine breite Palette ankleineren, nicht formalisierbaren Unterstüt-zungsdienstleistungen, z. B. Fahrdienste,Unterstützung von Jugendlichen beimZugang zu Sportvereinen, Hilfe bei derNeuausrichtung der Freizeitgestaltung vonJugendlichen, Unterstützung der Mutter beider Strukturierung des Alltags oder auchUnterstützung bei den Hausaufgaben. DieAufgabe wird klar umrissen an den Famili-enpaten übergeben. Auch die Bedarfslagewurde vorher durch professionelle Kräfteanalysiert, so dass die Ehrenamtlichen klareAufgaben haben und einer möglichen Über-forderung vorgebeugt wird. Je nach Auf-gabenschwerpunkt sowie zeitlicher Verfüg-barkeit und beruflichem Hintergrundwerden Ehrenamtliche in zeitlich unter-schiedlichem Umfang eingesetzt.

Mit Personen, die sich für eine Patenschaftinteressieren, wird in einem ausführlichenErstgespräch geklärt, für welche Art vonEinsatz sich der Bewerber interessiert undin welchem zeitlichen Umfang er sich ein-bringen kann. Aus den schriftlichen Fall-skizzen des »Allgemeinen Sozialdienstes«wählt der Pate eine Familie aus, mit der erarbeiten möchte. Die Mitarbeiter derAnlaufstelle für Kinderschutz begleiten dieFamilienpaten und stehen für Fragen undProbleme zur Verfügung. In regelmäßigenGruppentreffen können sich die Paten aus-tauschen und gegenseitig unterstützen. DesWeiteren werden Erstqualifizierungendurchgeführt.

Derzeit engagieren sich 15 – 20 Ehrenamtli-che. Ihre Erfahrungshintergründe und Moti-vationen sind unterschiedlich: Studierendeaus dem Bereich Sozialwesen, die auchberuflich verwertbare Erfahrungen sammelnmöchten; Menschen im Rentenstand, dieehemals in einem sozialen Beruf gearbeitethaben; Hausfrauen, die eine neue Heraus-forderung suchen; beruflich stark einge-spannte Menschen, die nebenher etwasSinnvolles machen möchten. Die Ressour-cen, die die Familienpaten einbringen, sind –neben Erfahrungswissen aus Beruf und Stu-dium und genereller Lebenserfahrung – Zeitund individuelle Zuwendung. Ganz wesent-lich ist der Charakter der informellen Hilfe.

»Netzwerke Gesunde Kinder Brandenburg«:Besserer Zugang für junge Mütter zuGesundheitsangebotenEbenfalls vor dem Hintergrund der Beob-achtung, dass die Inanspruchnahme vonLeistungen des Regelsystems nicht in demgewünschten Maße wahrgenommen wirdund junge Familien zudem immer häufigernicht auf Erfahrungen und Unterstützungaus familiären Zusammenhängen zurück-greifen können, sind die »NetzwerkeGesunde Kinder Brandenburg« entstanden.Bei den Netzwerken handelt es sich um einModellprogramm des Landes Brandenburg,in dem Paten beratende und gegebenenfallsauch vermittelnde Funktionen übernehmen.Sie bauen Alltagsnähe zu den jungen Fami-lien auf und senken damit die Hemm-schwelle zur Inanspruchnahme der vorhan-denen Angebote der Regelstruktur. DiePaten übernehmen dezidiert keine profes-sionell-therapeutischen Aufgaben, sondernvermitteln durch Fortbildungen ein Gespürfür vorliegende Beratungs- und Hilfebedarfein den Familien. Auf dieser Basis informie-ren und empfehlen sie geeignete regionaleHilfesysteme und passende Hilfsangebote.

Ziel des Brandenburger Netzwerkprogram-mes »Netzwerke Gesunde Kinder« ist dieFörderung der gesundheitlichen und sozia-

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len Entwicklung von Kindern in den erstenLebensjahren durch einen Besuchsdienstvon geschulten, ehrenamtlich tätigen Patenin der Familie des Kindes. Durch die Paten-schaften soll sichergestellt werden, dass dieMütter bzw. Familien bei Bedarf einen bes-seren Zugang zu Hilfsangeboten und För-derprogrammen bekommen, für Fragen undProbleme mit geringem Aufwand die richti-gen Ansprechpartner finden und mehrKompetenz als Eltern bekommen.

Jeder schwangeren Frau, die an einem derModellstandorte lebt, wird im Rahmen derVorsorgeuntersuchungen, der Geburtsvor-bereitung oder der Schwangerschaftskon-fliktberatung angeboten, in das Netzwerkeinzusteigen. Bei den »Netzwerken GesundeKinder« finden junge Familien Unterstüt-zung bei der Entwicklung ihrer Kindersowie im Umgang mit kleinen und großenAlltagssorgen. Dazu begleiten Ehrenamtli-che die Familien in den ersten Lebensjahrendes Kindes, wenn die Eltern dies wünschen.Jede Familie im Projekt hat einen eigenenPaten, der sie bis zum dritten Lebensjahrdes Kindes betreut. Mindestens elfmal, beiBedarf auch häufiger, schaut er bei denFamilien vorbei und berät bei allen Fragen,die die gesundheitliche Entwicklung derKinder betreffen. Der Pate ist Vertrauter,der der Schweigepflicht unterliegt. Er gibtHilfe zur Selbsthilfe und trägt zum Abbauvon Schwellenängsten vor Ämtern undBehörden bei.

Die Paten werden für ihre Tätigkeit umfas-send zu Themen wie frühkindlicher Ent-wicklung, Beziehung zwischen Mutter undKind in den ersten Lebensjahren, Kinder-krankheiten und Impfungen geschult. Siewerden zudem kontinuierlich über alleaktuellen Angebote für Schwangere, Mütterund Familien in der Region informiert,damit sie dieses Wissen an die Eltern wei-tergeben können. Die Paten haben selbstvielfältige Motivationen für ihr Engagementin dem Netzwerk. Die zurückliegende Erfah-

rung eigener Unsicherheit als junge Mutterspielt ebenso eine Rolle wie das Interessean der Wissenserweiterung durch die Quali-fizierungen. Motivierung wird zusätzlichauch daraus gezogen, Unterstützung zu leis-ten, Familien und Mütter zu stärken. DieSinnhaftigkeit des Engagements und dergemeinschaftliche Umgang mit anderen stel-len weitere Hintergründe für die Über-nahme von Patenschaften dar.

Die Teilnahme ist für die Familien kostenlos,die Netzwerke wenden sich ausdrücklich anEltern aller gesellschaftlicher Schichten.Derzeit existieren im Land Brandenburg 14dieser Netzwerke an insgesamt 16 Standor-ten. Bis Ende Oktober 2008 besuchten 292Paten ca. 1.400 Familien in regelmäßigenAbständen.

5 Freizeitangebote für Kinder undJugendliche

»Westkurve Potsdam«: GemeinschaftlicheErschließung von Sportmöglichkeiten imStadtteilDie »Initiative Westkurve« wurde im März2007 gegründet. Hintergrund war das ohne-hin begrenzte und dazu noch überwiegendhoch sanierungsbedürftige Flächenangebotfür Schul- und Breitensport sowie für Spiel-und Freizeitaktivitäten im Stadtteil Pots-dam-West. Seit vielen Jahren fanden keinegrundlegenden Instandsetzungs- und Sanie-rungsarbeiten mehr statt. Auch hatte dasAngebot an Spielplätzen nicht mit demanhaltend starken Zuzug von Familien mitKindern Schritt gehalten. Dieser Mangelund das mit dem baulichen Zustand verbun-dene Sicherheitsrisiko – nicht nur für dieKinder, sondern für alle Anwohner imStadtteil – gaben den Impuls für das Engage-ment zunächst einzelner Familien und spä-ter weiterer Anwohnerkreise im Stadtteil.Die Initiative versteht sich heute als eineoffene Gruppe, die interessierte Kinder,Jugendliche und Erwachsene im Stadtteileinlädt, sich an dem Prozess der Erschlie-

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ßung und Gestaltung des öffentlichenLebens zu beteiligen. Zentrales Anliegen derInitiative ist, sich aktiv an der Gestaltungdes Stadtteiles zu beteiligen und so zu einergelingenden Identifikation der Bewohnermit ihrem Wohnort beizutragen.

Zielsetzung der »Initiative Westkurve« ist es,in dem Stadtteil einen Ort zu schaffen, andem verschiedene Menschen zusammen-kommen und mit Spiel, Sport und Erholungihre Freizeit gestalten können. Es sollenSport- und Bewegungsmöglichkeiten fürKinder und Jugendliche innerhalb undaußerhalb der Schulzeit gesichert und ver-bessert werden. Das Engagement findet sei-nen Niederschlag in der Erarbeitung vonNutzungs- und Gestaltungskonzepten, inder Öffentlichkeitsarbeit, der Aktivierungund Zusammenarbeit mit verschiedenenkommunalen Entscheidungsträgern sowie inder Durchführung von selbstorganisiertenSport- und Freizeitangeboten. Es werdenregelmäßige Sportkurse von Eltern angebo-ten. Es handelt sich hier um Angebote miteinem offenen und persönlichen Charakter,die zu einer sozialen Einbindung der Kinderund der gesamten Familien beitragen sollen.Gleichzeitig unterstützt die »Westkurve« Ini-tiativen und Ideen anderer Bewohner imZusammenhang mit dem Sport- und Frei-zeittreffpunkt, aber auch andere Initiativen,die den sozialen Zusammenhalt und denAustausch von Familien untereinander imStadtteil fördern.

Für die engagierten Familien steht nebender inhaltlichen Zielsetzung der Initiativedie Freude am gemeinsamen Arbeiten mitanderen Eltern und Familien im Vorder-grund. Das Engagement selbst schafftbereits eine Vergemeinschaftung, die überdie inhaltlichen Zielsetzungen der Initiativein den gesamten Stadtteil hineingetragenwird. Die eingebrachten Ressourcen beste-hen neben der eingebrachten Zeit, demErfahrungswissen und den sozialen Kompe-tenzen auch in finanziellen Eigenleistungen.

Jede Familie, die sich in der Initiative enga-giert, bringt sich im Rahmen ihrer konkre-ten Möglichkeiten und speziellen Ressour-cen ein. Dabei erfolgt das Engagement nichtlosgelöst von zentralen Institutionen imStadtteil: Konkrete Angebote und Gestal-tungsvorhaben werden beispielsweise mitden lokalen Schulen und den kommunalenÄmtern abgesprochen.

»Kinderabenteuerhof Freiburg-Vauban«:Initiative für ein wohnortnahesfreizeitpädagogisches AngebotEin anderes Beispiel für ein von Eltern undanderen Interessierten initiiertes Freizeitan-gebot ist der »Kinderabenteuerhof e. V.« inFreiburg. Der »Kinderabenteuerhof« gehtauf die Initiative von Eltern und anderenInteressierten im Jahre 1996 zurück, die mitdiesem Angebot Kindern und Jugendlichenermöglichen wollten, den Umgang mit unddie Bearbeitung natürlicher Materialienkennenzulernen und dabei ihre eigenenFähigkeiten zu erkennen und weiterzuent-wickeln.

Auf dem Spielplatz werden Ferienpro-gramme und eine Ferienbetreuung für Kin-der angeboten. Außerdem nimmt der Spiel-platzverein eine Hortfunktion wahr: Schul-kinder haben die Möglichkeit, ihre Nachmit-tage unter Aufsicht und z. T. unter Anleitungauf dem Spielplatz zu verbringen. Angebotesind hierbei der Kontakt zu und die Pflegevon Tieren, verschiedene Werkbereiche, einGarten, Musikgruppen sowie ein öffentli-ches Backhaus. Der »Kinderabenteuerhof«verfolgt neben der freizeitpädagogischenFörderung der Kinder auch das Ziel, in dengesamten Stadtteil hineinzuwirken. Mit demerweiterten Konzept der »Stadtteilfarm«wollen die Initiatoren Menschen in denWohnquartieren, unabhängig von Alter undsozialem Hintergrund, Raum für Erholung,Spiel, Begegnung, Bildung und kreativesWirken bieten. Unter dem Titel »Vom Kin-derabenteuerhof zur Stadtteilfarm« wird

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derzeit u. a. über generationenübergreifendeProjekte nachgedacht.

Die fortlaufende Professionalisierung derAngebote ist ein zentrales Anliegen des Ver-eins. Heute ist der Verein anerkannter Trä-ger der Jugendhilfe und außerschulischerBildungsarbeit. Er richtet sein pädagogi-sches Programm an Schulen aus und arbei-tet projektbezogen mit anderen Einrichtun-gen zusammen.

Das in den Anfangsjahren wöchentlich statt-findende Angebot wurde durch die eigenenMittel des Vereins, Spenden sowie für einebegrenzte Anfangszeit durch die Jugendstif-tung Baden-Württemberg finanziert. NachAuslaufen dieser Finanzierung erfolgte einebreit angelegte Mitgliedskampagne mit demZiel, die Mitgliederzahlen des Vereins zuverdoppeln und damit die Beitragssummedeutlich zu erhöhen. Der »Kinderabenteuer-hof« finanziert sich heute über die Vereins-beiträge der rund 250 zahlenden Mitgliederund die Entgelte für spezielle kostenpflich-tige Angebote, beispielsweise Reitstunden.Zudem bietet er kostenpflichtige Projektefür Schulklassen an. Der Verein erhält desWeiteren verschiedene Stiftungsmittel.

Die Aufsicht des freizeitpädagogischenAngebots wird zum Teil ehrenamtlich, zumTeil durch Honorarkräfte geleistet. Des Wei-teren ist pädagogisches Fachpersonal undeine Koordinierungskraft angestellt. Dasehrenamtliche Engagement wird u. a. übersogenannte »Aktions-Samstage« eingebun-den. In regelmäßigem Turnus finden Plenenstatt, auf denen gemeinsam geplant undentschieden wird. Freiwillige und regelmä-ßige Elternarbeit ist nach wie vor Voraus-setzung für die Betreuung der Kinder anden Aktionstagen. Die Geschäftsführung desVereins, die Organisation und Durchführungöffentlicher Feste sowie die Weiterentwick-lung der Angebote basieren auch weiterhinauf dem Engagement der Mitglieder desVereins.

6 Pflegedienstleistung und Unterstützungder Angehörigenpflege

»Die Pflegebegleiter«: Unterstützung bei derhäuslichen PflegeDie »Pflegebegleiter« sind ein bundesweitesModellprojekt an etwa 100 Standorten, dasseit 2004 durch die Spitzenverbände derPflegekassen und das Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugendfinanziert wird. Ausgangspunkt des Modell-projektes ist die zentrale zahlenmäßigeBedeutung der häuslichen Pflege einerseitsund die enorme Belastung der pflegendenAngehörigen durch diese Aufgabe anderer-seits. Die langfristige Verantwortung, die dieAngehörigen mit der häuslichen Pflegeübernehmen, hat Folgen für das eigenesoziale Leben und die physische und psy-chische Gesundheit. Eine soziale Isolierungdurch den mit der Pflege verbundenen Zeit-aufwand, die Reduzierung eigener Frei-räume durch die enge dauerhafte Einbin-dung, körperliche Überanstrengung undBurn-Out-Symptome sind Anzeichen einerüberlastenden Pflege- und Betreuungssitua-tion der Angehörigen.

Das Projekt zielt auf eine Stärkung pflegen-der Angehöriger und ihrer Vernetzung mitUnterstützern vor Ort. Bürgerschaftlichengagierte, eigens qualifizierte Pflegebeglei-ter besuchen pflegende Angehörige und ste-hen ihnen für Gespräche zur Verfügung. DieGespräche sollen dazu beitragen, dass diepflegenden Angehörigen die eigenen Fragenund Bedürfnisse bei der Sorge um unter-stützungsbedürftige Angehörige ansprechenkönnen, dass sie Informationen bekommen,wie Hilfe organisiert werden kann, dass sielernen, über den Pflegeaufgaben die Selbst-sorge nicht zu vergessen, Gespräche mitden Erkrankten zu führen und auch Chan-cen wahrzunehmen, die in der Beziehungs-gestaltung mit zu Pflegenden liegen. DiePflegebegleiter sollen zudem auf geeigneteUnterstützungsangebote aufmerksammachen und den Kontakt zu diesen herstel-

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224 225 Herzenswärme für starke Familien

len. Die Pflegebegleiter nehmen damit selbstkeine pflegerischen Tätigkeiten wahr: Siewenden sich nicht an die Pflegebedürftigen,sondern an die pflegenden Angehörigenund unterstützen diese psychisch. Sie stel-len sich in nachbarschaftlicher Art zur Ver-fügung, orientieren sich am Wunsch derPflegenden nach Selbstbestimmung, stärkensie und wertschätzen ihren Einsatz.Dadurch stellen sie eine Neuerung dar undergänzen die herkömmlichen Besuchs- undHilfsdienste um einen wichtigen Aspekt.Mit dem Engagement sind positive Effektefür alle Beteiligten möglich: Pflegende Ange-hörige profitieren vom Einsatz der Pflege-begleiter, weil sie zur Selbstsorge angeregtwerden und ihre Arbeit gesellschaftlicheWertschätzung erfährt. Sie bekommen dieMöglichkeit, die Pflege passend zu arrangie-ren, um sich eigene Lebensräume zu erhal-ten oder wiederzuerlangen. Pflegebedürf-tige profitieren indirekt, weil ihre Angehöri-gen ihre Arbeit gestärkt und unterstütztleisten und zudem entlastet werden. Dieswirkt sich positiv auf die Beziehung und aufdie Pflegesituation insgesamt aus. Auf dieseWeise lässt sich der Heimaufenthalt hinaus-schieben.

Pflegebegleiter erleben ihre Tätigkeit alsanspruchsvoll und spannend. Sie empfindensich nicht als entmündigte Helfer, sondernvielmehr als kompetente Ratgeber, einfühl-same Zuhörer und kreative »Lösungsfinder«.Die neue subsidiäre Unterstützungsform isteingebunden in eine systematische Vorbe-reitung, Begleitung und Koordination, in derehrenamtliche und professionelle Kräftegemeinsam von- und miteinander lernen,wie neue Verantwortlichkeiten geschaffenwerden können. Nach einem 60-stündigenKurs auf Basis selbstbestimmten Lernensmit vertiefenden Exkursionen und Praxiser-kundungen erhalten die Absolventen einZertifikat als Pflegebegleiter. Fachlich quali-fizierte sogenannte Projekt-Initiatoren sor-gen dafür, dass die Absolventen-Gruppeweiter im Kontakt bleibt – sei es für den

wichtigen Erfahrungsaustausch oder fürweitere Fortbildungen. Die einzelnen Grup-pen werden in tragenden Institutionen vorOrt verankert und in deren Strukturen ein-gebunden.

Für die Kommunen und professionellenRegelangebote bedeutet die Unterstützungder Pflegebegleiter eine deutliche Verbesse-rung ihrer Hilfsangebote und Netzwerkeund eine qualitative Erweiterung des Hand-lungsspektrums vor Ort.

»SoWieDaheim«: Soziale Kontakte fürdemenzkranke MenschenAuch das Projekt »SoWieDaheim« im Main-Kinzig-Kreis unterstützt pflegende Angehö-rige dementiell erkrankter Menschen. Zen-trale Idee ist, dass hilfe- und pflegebedürf-tige Menschen in ausgewählten Privathaus-halten an einzelnen Wochentagen für etwafünfeinhalb Stunden in kleinen Gruppen infamiliärer Atmosphäre versorgt und betreutwerden. Ehrenamtliche »Gastgeber« über-nehmen diese Aufgabe. Auf diese Weisewird eine Entlastung der pflegenden Ange-hörigen erreicht, da sie in ihrer Pflegebe-reitschaft unterstützt werden. Den hilfe-und pflegebedürftigen Menschen wird einMehr an sozialen Kontakten und Anregun-gen ermöglicht, so dass sie so vor Isolationund Vereinsamung geschützt werden, waszur direkten Verbesserung ihrer Lebensqua-lität beiträgt. Die Unterstützungsleistung istwohnortnah angelegt, Gäste und Gastgeber»wohnen um die Ecke«, womit gewährleistetist, dass auf eine gemeinsame Lebensum-welt Bezug genommen werden kann. Dieeingebrachten Ressourcen der ehrenamtli-chen Gastgeber sind Sympathie für Ältere,zum Teil verwirrte Menschen und dieFreude am Umgang mit ihnen. WesentlichesKennzeichen ist auch in diesem Modell dieZusammenarbeit von Professionellen, Laien-helfern und Angehörigen.

Das im Auftrag der Spitzenverbände derPflegekassen durchgeführte Projekt ist am

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Sozialamt bzw. der Leitstelle für ältere Bür-ger angesiedelt. Es wird von Pflegefachkräf-ten begleitet und koordiniert. Die Freiwilli-gen werden vor dem Einsatz geschult undanschließend kontinuierlich professionellbegleitet. Für jeden Einsatz erhalten die»Gastgeber« 50 Euro, die zweite Betreuungs-person 30 Euro, hinzu kommt noch eineVerpflegungspauschale pro Gast. Für eineumfassende subsidiäre Unterstützungsform,die aus der Übernahme gesellschaftlicherVerantwortung für eine werteorientierteVersorgung demenzkranker Menschenaußerhalb von Institutionen entstanden ist,stehen die Wohngruppen für demenzkrankeMenschen in geteilter Verantwortung – dassogenannte »Freiburger Modell«. Der Werte-bezug ist hier zentral: Demenzkranken sol-len soziale Teilhabe und Selbstbestimmungermöglicht werden. Das »Freiburger Modell«zeichnet sich durch die Beteiligung und Ein-flussnahme bürgerschaftlich Engagierter inund auf Wohn- und Lebensformen außer-halb von Institutionen aus. Zur Weiterent-wicklung des »Freiburger Modells« und zurVernetzung und fachlichen Begleitung derangeschlossenen und zukünftigen Wohn-gruppeninitiativen wurde 2004 der Verein»Netzwerk Wohngruppen mit Demenz«gegründet. Bereits in der Vereinsstrukturspiegelt sich die Bedeutung des ehrenamtli-chen Engagements wider.

Das bürgerschaftliche Engagement wirdkonkret in verschiedenen Funktionen ein-gebracht. Freiwillige übernehmen zum TeilPflege- und Betreuungsdienste, sie wirkenals Mentoren oder Mediatoren, die bei kon-flikthaften Situationen den Interessensaus-gleich zwischen den Beteiligten – professio-nellen Kräfte, Angehörigen und demenz-kranken Menschen – vermitteln, und sieengagieren sich in den Trägervereinen derWohngruppen. Das »Freiburger Modell«impliziert eine ganze Palette an Einfluss-und Tätigkeitsbereichen, in denen das Spe-zifische des bürgerschaftlichen, nicht aber

des professionellen Engagements zum Tra-gen kommt.

Im Freiburger Memorandum »Wohngruppen– in geteilter Verantwortung«, das Grundlageder dem Netzwerk angeschlossenen Wohn-gruppen ist, ist die besondere Qualität undder besondere Beitrag des Engagementskonzeptioneller Bestandteil, wie folgenderAuszug verdeutlicht: »Wohngruppen gewin-nen eine besondere (kulturelle) Qualitätdurch ihren Bezug zur Bürgerschaft undzum bürgerschaftlichen Engagement. […]Wohngruppen, die das Konzept der geteil-ten Verantwortung als essentiell ansehen,zeichnen sich dadurch aus, dass sie ineinem verbindlichen Bezug zur Bürger-schaft und zu bürgerschaftlich Engagiertenstehen. Dieser ist deshalb von so großerBedeutung, da die Bürgerschaft neben denDiensten und den Angehörigen mit ihrenjeweils eigenen Interessen (professionelleLogik, bzw. emotionale Bindung) als Anwaltübergeordneter Werte agiert. Die Bürger-schaft ist dabei näher am Leben und am All-tag als die staatliche Verwaltung, weil siepraktisch mitarbeitet und gestaltet.«

Unterschiedliche Formen freiwilliger Arbeitsind denkbar: ein bürgerschaftlich getrage-ner Trägerverein, die Mitwirkung in einembürgerschaftlich getragenen Netzwerk vonWohngruppen, die konzeptionelle Einbezie-hung von bürgerschaftlichen Mentoren undMediatoren, aber auch Formen bürger-schaftlicher Qualitätssicherung und bürger-schaftlichen Engagements für die Wohn-gruppe. Dies stellt sicher, dass sich die Ver-antwortungsübernahme für die Pflege nichtals rein vertragliches Arrangement zwi-schen einem Pflegedienst, einem Vermieterund Vertretern von Pflegebedürftigen dar-stellt. Die Verantwortung für die Pflege undBetreuung wird – soweit sie nicht von demPflegebedürftigen wahrgenommen werdenkann – ausbalanciert zwischen Diensten,Familien und Bürgerschaft.

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Während für die »Wohngruppen in geteilterVerantwortung« die aus gesellschaftlicherVerantwortung motivierte Anwaltschaftdurch Ehrenamtliche bzw. bürgerschaftlichEngagierte konstitutiv ist, wird anschlie-ßend im letzten Beispiel in Kürze eineEigeninitiative potentiell Betroffener vor-gestellt.

»Seniorenwohn- und PflegegemeinschaftOLGA GbR Nürnberg«: Gegenseitige Pflegeim AlterDie »Seniorenwohn- und PflegegemeinschaftOLGA GbR Nürnberg« wurde als selbstorga-nisierte Wohn- und Pflegegemeinschaft alsAlternative zu betreutem Wohnen undAltenheim gegründet. OLGA steht für »Ol-dies leben gemeinsam aktiv«. Unter diesemMotto haben sich zunächst sieben Frauenzusammengeschlossen und nach einemgeeigneten Mietobjekt für ihr Vorhaben ge-sucht. Das mit Unterstützung der Kommunegefundene Objekt bietet Platz für elf Bewoh-ner. Der barrierefreie Umbau des Mietob-jektes wurde als Modellprojekt des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauenund Jugend gefördert.

Das gemeinsame Ziel der Mitglieder ist es,durch gegenseitige Unterstützung innerhalbder Wohngemeinschaft so lange wie möglichselbstbestimmt und selbstverantwortlichzu leben. Auf diese Weise sind sie von pro-fessioneller Pflege unabhängig und erhaltendurch gegenseitige Anregungen und ge-meinsame Unternehmungen lebendige Im-pulse. Um eine gute Qualität der gegenseiti-gen Betreuung zu gewährleisten, lassen sichdie Bewohner im Bereich der Pflegetätig-keiten fortbilden. Die gesamte Verwaltungund Organisation wird von der Gruppeselbst getragen. Auch die Entscheidungenüber Neuaufnahmen werden in der Gruppegetroffen. Eine wöchentliche Besprechungist fester Bestandteil des Zusammenlebensim gemeinsamen Haus. Bei Bedarf wirdSupervision herangezogen.

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7 Übersicht der recherchierten Beispiele

Kinderbetreuung

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

EingebrachteRessourcen undKompetenzen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

EIternnetzwerke familienähnliche,wechselseitigeUnterstützung inEigeninitiative

Flexibilität, per-sönliche, individu-elle Zuwendung

Flexibilität, per-sönliche, individu-elle Zuwendung

soziale Einbin-dung, Sicherheit

keine Eigeninitiative

Elterninitiativen konzeptionellselbstbestimmteKinderbetreuungin Eigeninitiative

an individuellepädagogische,örtliche und zeit-liche Wünscheangepasstes An-gebot

Zeit, Übernahmevon Verantwor-tung

passgenauesAngebot,Förderung derVergemeinschaf-tung

unterliegen selbstrechtlich demKinder- undJugendhilfege-setz (KJHG)

Eigeninitiative

Betreuungin Notfällen

kurzfristigepersönliche undindividuelle Unter-stützung inakuten familiärenKrisensituationen

individuelle,persönliche Zu-wendung (»Her-zenswärme«),vertrauensvollerBeistand aufGrundlage vonLebenserfahrung

»Herzens-wärme«, individu-elle Zuwendung,vertrauensvollBeistand geben,Lebenserfahrung,erworbenes be-rufliches Wissen

Selbstbestäti-gung und Sinn-stiftung

Freiwilligen-zentrum, Jugend-amt

verbandlicheInitiative

Großeltern-dienste

langfristige ver-lässliche Bezie-hung zur Unter-stützung derkindlichen Ent-wicklung

persönliche Zu-wendung durchfeste und ver-lässliche Bezugs-person

Zeit, persönlicheZuwendung

emotionale Zu-wendung, Sinn-stiftung undSelbstbestätigung

keine Eigeninitiative

Praktische Hilfennach der Geburt

Beistand undpraktische Hilfe-stellungen ineiner neuen undevtl. schwierigenLebensphase

persönliche Zu-wendung inner-halb eines Ver-trauensverhältnis-ses, emotionaleUnterstützung,Vermittlung vonErfahrungswissen

Zeit, persönlicheZuwendung

sich gebrauchtfühlen, Sinn-stiftung, Freudeund Anerkennung

Zusammenarbeitder örtlichen Ko-ordination mitdem gesamtenNetzwerk sozialer,gesundheitlicherund psychosozia-ler Hilfen

Eigeninitiative

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Organisierte Nachbarschaftshilfe und haushaltsnahe Dienstleistungen

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

EingebrachteRessourcen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

Mehrgenera-tionenhausSalzgitter

auf einem offenenTreffpunkt für Fa-milien aufbau-ende Drehscheibefür familienunter-stützende Dienst-leistungen undElternbildungs-bzw. Hilfsange-bote

Niedrigschwelli-ger, offener undaktivierenderCharakter derAngebote, Ersatz-Familie/Ersatz-Nachbarschaft

Offenheit,Zugewandtheit,Individualität,persönliche Be-ziehung

Vergemein-schaftung, sozialeEinbindung

viele Schnittstel-len, viele profes-sionelle Angebotewerden im Hauserbracht

Eigeninitiative/Initiativedes Bundes

Tauschsysteme organisierteUnterstützung imAlltag aufWechselseitigkeit

marktergänzendeAngebote, Er-schwinglichkeitfür ökonomischschwache Haus-halte

Talente,Fähigkeiten

Möglichkeit zumEinbringen brach-liegender indivi-dueller Ressour-cen und Talente,Erfahrung, »etwaszu können«

keine Eigeninitiative,verbandliche Ini-tiative, Initiativevon Einrichtun-gen

organisierte Nach-barschaftshilfeNeNa

nachbarschaftli-ches »Kümmern«durch Zuwendungund kleine Hilfe-leistungen

Zeit und Zuwen-dung, Unter-stützung in vomRegelangebotnicht abgedeck-ten Bereichen

Zeit, Zuwendung Freude am Helfen Seniorenbüro kommunaleInitiative

organisierte Nach-barschaftshilfe inderDiözese Rotten-burg-Stuttgart

pflegeergänzen-der Dienst aufehrenamtlicherBasis

Herstellung per-sönlicher Nähe,Zuwendungaußerhalb desStundentaktsprofessionellerAngebote

Herstellung per-sönlicher Nähe,Zuwendung

Freude am Hel-fen, Selbstbestä-tigung in einer alssinnvoll empfun-denen Aufgabe

FachverbandFamilienpflegeund Nachbar-schaftshilfe

verbandlicheInitiative

Senioren-genossenschaft

umfassendesHilfsangebot fürHochaltrige, Er-möglichung deslängeren Ver-bleibs in der eige-nen Wohnung

Zeitintensität,individuelle Zu-wendung

Zeit, individuelleZuwendung

Beitrag zum ge-sellschaftlichenZusammenhalt,Ansparung eige-ner Unterstüt-zungsansprücheim Alter

keine Eigeninitiative

Transport- undMobilitätsdienste

Ermöglichungvon Mobilität indünn besiedeltenRegionen

regelmäßiges underschwinglichesBeförderungsan-gebot

Zeit einen Beitrag fürdie Gemeinschaftleisten

keine Eigeninitiative

Förderung aktiverNachbarschaften

Begünstigungsubsidiärer Unter-stützungsformendurch gemein-same Übernahmevon Verantwor-tung für die Nach-barschaft

in einer verbind-lichen Gemein-schaft solidarischerbrachte Hilfe

Verantwortung selbstbestimmteForm des nach-barschaftlichenZusammenle-bens, Interessean einer verbind-lichen Gemein-schaft

kommunale Ver-waltung

Eigeninitiative/Bund-Länder-Programm

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Elternbildung

Familienpaten und Mentoren

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

EingebrachteRessourcen undKompetenzen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

Kommunikations-räume/Frühstückstreffs

Treffpunkte fürinformelle Eltern-bildung

Niedrigschwellig-keit, Austauschvon (Lebens-)Erfahrung

Lebenserfahrung soziale Einbin-dung

keine kommunaleoder Verbands-initiative

Stadtteilmütter aufsuchendeElternbildung beiMigrantenfami-lien, Beziehungs-aufbau zur Stär-kung der Erzie-hungskompetenz

sprachliche undinterkulturelleKompetenz derEngagierten, ef-fektive Erreichungder migrantischenZielgruppe

sprachliche undinterkulturelleKompetenzen,durch SchulungerworbenesWissen

gesellschaftlicheAnerkennung,Qualifizierung,Sinnstiftung,etwas bewegenkönnen

diverse Verknüp-fungen, Verbin-dung zum Quar-tiersmanagement

kommunaleInitiative(Verbund)

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

Eingebrachte Res-sourcen und Kom-petenzen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

Bildungspaten-schaften fürKinder undJugendliche mitMigrationshinter-grund

flexible und er-reichbare persön-liche Hilfe, Rat-schläge und Be-gleitung währenddes Aufwachsens,Begleitung vonStatuspassagen

individuelle Zu-wendung, emotio-nale Unterstüt-zung, Weitergabevon Wissen undLebenserfahrung

individuelle Zu-wendung, Wissenund Erfahrung

sich gebrauchtfühlen, gesell-schaftliche Aner-kennung, sozialeEinbindung

Kindergärten,Schulen, Ausbil-dungsbetriebe

Initiativedes Bundes

JAZz

BürgerstiftungNeukölln:Mentoring

ehrenamtliche Un-terstützung vonHauptschülernbei Berufswahlund Bewerbung

individuelle Zu-wendung, Weiter-gabe von beruf-licher Erfahrung,Vermittlung nütz-licher Kontakte inder Region

individuelle Zu-wendung, Wissenund Erfahrung,nutzbare Kontaktein der Region,Verantwortung

sich gebrauchtfühlen, gesell-schaftliche Aner-kennung, sozialeEinbindung

Schulen,Kammern

Initiative durchWeiterbil-dungs-Zentrum/Seniorenfort-bildung

Balu und Du Aufbau vonfreundschaftli-chen Beziehungenzwischen Mento-ren und auffälli-gen Kindern

freundschaftlicheZuwendung, emo-tionale Unterstüt-zung, informellesLernen

freundschaftlicheZuwendung

beidseitigbefriedigendeFreundschaften

indirekt: Schulen universitäre undVerbandsinitia-tive

Familienpaten inAugsburg

informelle Hilfe-stellungen undBegleitung vonFamilien inproblematischenLebenslagen

lebensweltnahe,ganzheitliche Be-gleitung und Be-ratung, individu-elle Zuwendung

Erfahrungen ausStudium und/oder Beruf,Lebenserfahrung,Zeit, individuelleZuwendung

Sammeln auchberuflich wertvol-ler Erfahrungen,Befriedigung übersinnvolle Aufgabe

allgemeinerSozialdienst

kommunaleInitiative

NetzwerkeGesunde KinderBrandenburg

ehrenamtliche Be-gleitung, Bera-tung und Vermitt-lung von Hilfen anSchwangere undjunge Mütter

Beratung und Hil-fevermittlung er-folgt aufbauendauf einer alltags-nahen, vertrau-ensvollen Bezie-hung, individuelleZuwendung

Vertrauen,spezielles, durchSchulung erwor-benes Wissen,Lebenserfahrung

Wissenserweite-rung durch Quali-fizierungen, Sinn-haftigkeit desEngagements,Vergemeinschaf-tung

diverseInstitutionen undprofessionelleDienstleistungen

Landesinitiative

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Freizeitgestaltung für Kinder

Pflegedienstleistung und Unterstützung der Angehörigenpflege

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

EingebrachteRessourcen undKompetenzen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

Westkurve Erschließung undGestaltung desöffentlichen Le-bens im Stadtteil,Schaffung vonSport- und Bewe-gungsmöglichkei-ten für Kinderund Jugendliche

Stärkung derIdentifikation derBewohner mitihrem Stadtteil

Zeit, Erfahrungs-wissen, sozialeKompetenzen,finanzielle Eigen-leistungen

soziale Einbin-dung der Kinderund der gesamtenFamilie

keine Eigeninitiative El-tern/Familien

Kinderabenteuer-hof

gemeinschaft-liche ErrichtungwohnortnaherFreizeit- undSpielmöglich-keiten

konzeptionellselbstbestimm-tes pädagogi-sches Spiel- undBetreuungs-angebot

Zeit,Verantwortung

soziale Einbin-dung der Kinderund der gesamtenFamilie

selbst anerkann-ter Träger derJugendhilfe undaußerschulischenBildungsarbeit

EigeninitiativeEltem/andereInteressierte

Modell Art derUnterstützung

Spezifische Quali-tät der subsidiä-ren Unterstützung

EingebrachteRessourcen undKompetenzen

Motivation undNutzen derEngagierten

Verknüpfung mitdem Regelsystem

Initiative

Pflegebegleiter psychische undmentale Stärkungpflegender An-gehöriger durchGespräche undInformationsver-mittlung

emotionale Unter-stützung, kreativeProblemlösungs-kompetenz

einfühlsames Zu-hören, kreativeProblemlösungs-kompetenz, durchSchulung erwor-benes Wissen

Befriedigung auseiner als an-spruchsvoll emp-fundenen Tätig-keit, Erwerb vonQualifikationen

Zusammenarbeitmit kommunalenInstanzen undprofessionellenPflegeangeboten

Initiative derPflegekassenund des Bundes

SoWieDaheim außerhäuslicheBesuchsmöglich-keiten fürdemenzkrankeMenschen beiehrenamtlichenGastgeberinnen

soziale Kontakteund Anregungenfür demenzkrankeMenschen, Entlas-tung der pflegen-den Angehörigen

Sympathie fürältere, auch ver-wirrte Menschen

soziale Einbin-dung der Kinderund der gesamtenFamilie

Sozialamt/Leit-stelle für ältereBürger

Initiative derSpitzenver-bände derPflegekassen

Seniorenwohn-und Pflegege-meinschaft OLGA

Zusammen-schluss zur ge-genseitigenPflege in einerWohngemein-schaft

Ermöglichung vonselbstbestimm-tem und selbst-verantwortlichemLeben trotz Pfle-gebedürftigkeit

wechselseitigeUnterstützung

Unterstützung aufWechselseitigkeit

keine Eigeninitiative

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Autorenverzeichnis

Die Kommission:

Prof. Dr. phil. Hans Bertram (*1946): seit1992 lehrt und forscht er an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat den Lehrstuhlfür Mikrosoziologie inne, seit 2004 Mitgliedder Expertenkommission »Familie unddemographischer Wandel« der RobertBosch Stiftung, Bertram ist in zahlreichenKommissionen, Beiräten, Ausschüssen undArbeitsgruppen tätig.

Prof. Dr. jur. Dr. h.c. mult. Kurt H. Bieden-kopf (*1930): von 1990 bis 2002 ersterMinisterpräsident des Freistaates Sachsen,seit 2003 Vorsitzender des Kuratoriums derHertie School of Governance, 2004 über-nahm er den Vorsitz der Expertenkommis-sion »Familie und demographischer Wan-del« der Robert Bosch Stiftung, Biedenkopfist Gründungs- und Ehrenpräsident derDresden International University.

Elisabeth Niejahr (*1965): seit Ende 1999bei der »ZEIT« im Berliner Hauptstadtbürozuständig für politische, sozial- und wirt-schaftspolitische Themen, davor Korrespon-dentin für den »Spiegel« in Bonn, Verfasse-rin zahlreicher Publikationen zum demogra-phischen Wandel, Niejahr studierte Volks-wirtschaft in Köln und Washington D. C.,Ausbildung an der Kölner Schule für Wirt-schaftsjournalisten.

Autoren der Gastbeiträge:

Heinz Buschkowsky (*1948): betreibt seit30 Jahren in Berlin-Neukölln Kommunalpo-litik, seit 2001 Bezirksbürgermeister (SPD),leitet die Abteilung Finanzen und Wirtschaftmit den Bereichen Integrationspolitik undQuartiersmanagement. Bekanntgewordendurch streitbare Thesen wie »Multikulti istgescheitert«, gilt als Verfechter einer hand-lungsorientierten Integrationspolitik wieeiner intervenierenden Gesellschaft. Initia-

tor zahlreicher Präventionsprojekte wie»Stadtteilmütter« und »Campus Rütli«.

Dr. jur. Volker Hassemer (*1944): 13 Jahrelang als Senator in Berlin zuständig für dasRessort »Stadtentwicklung und Umwelt-schutz« und für »kulturelle An-gelegenheiten«, Vorstand der StiftungZukunft Berlin, Mitinitiator und Sprecherder Initiative »Europa eine Seele geben«.

Prof. Dr. rer. pol. Hartmut Häussermann(*1943): 1993 bis 2008 Professor für Stadt-und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2002 bis 2006 Präsi-dent des Research Committee in Regionaland Urban Development der InternationalSociological Association (ISA), Mitbegründerund Sprecher des Georg-Simmel-Zentrumsfür Metropolenforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Prof. Dr. rer. pol. Dr. h.c. Claus Offe(*1940): Professor für Politische Soziologiean der Hertie School of Governance Berlin,davor Professor für Politikwissenschaft undSoziologie an der Humboldt-Universität zuBerlin, der Universität Bielefeld und derUniversität Bremen, Lehr- und Forschungs-aufenthalte u. a. in Princeton, Harvard, Ber-keley und Canberra.

Dr. Dipl.-Wirtsch.-Ing. M.Sc. Anja Ranscht(*1978): seit Oktober 2003 wissenschaftlicheMitarbeiterin des Fachgebiets Finanz- undWirtschaftspolitik der Technischen Univer-sität Darmstadt, davor Studium der Wirt-schafts- und Ingenieurwissenschaften inDarmstadt.

Prof. Dr. phil. Barbara Riedmüller (*1945):Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut und Dekanin des FachbereichsPolitik- und Sozialwissenschaften der FreienUniversität Berlin, Mitglied des Abgeordne-tenhauses von Berlin (1991 – 1996) undSenatorin für Wissenschaft und Forschungdes Landes Berlin (1989 – 1991).

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232 233 Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Adalbert Rürup(*1943): seit seiner Emeritierung an derTechnischen Universität in Darmstadt imJahr 2009 Chef-Ökonom des Finanzdienst-leisters AWD, langjähriger Berater mehrererBundesregierungen und ehemaliger Vorsit-zender des Sachverständigenrats zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung (»Rat der Weisen«).

PD Dr. Tine Stein (*1965): Heisenberg-Sti-pendiatin am Wissenschaftszentrum BerlinRule of Law Center, zahlreiche Lehrtätig-keiten an deutschen Universitäten und For-schungen an der New School for SocialResearch/New York.

Prof. Dr. rer. soc. Klaus Peter Strohmeier(*1948): seit 1994 Professor für Soziologie/Stadt und Region, Familie an der Ruhr-Uni-versität Bochum, seit 1998 geschäftsführen-der Direktor des Zentrums für interdiszipli-näre Regionalforschung (ZEFIR) der Ruhr-Universität Bochum.

Herausgegeben vonder Robert Bosch Stiftung

Robert Bosch Stiftung GmbHHeidehofstraße 3170184 Stuttgartwww.bosch-stiftung.de

Verantwortlich für die Recherche derPrognos AGDr. Heidrun CzockTilmann Knittel

MitarbeitRobert Bosch Stiftung:Dr. Ingrid Hamm, GeschäftsführerinGünter Gerstberger, Bereichsleiter Bildungund GesellschaftMiriam Schreuer, Projektleiterin Familieund demographischer Wandel

RedaktionRobert Bosch Stiftung GmbH

LektoratAlexander Cammann,Oliver Hebestreit

UmschlaggestaltungHesse Design, Erkrath

LayoutDörr + Schiller, Stuttgart

DruckF. +W. Schmidt, Renningen

Copyright 2009Robert Bosch Stiftung GmbH, StuttgartAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-939574-17-0