3
Seite 1 von 3 Pressekonferenz zum Krankenhaus-Report 2016 AOK-Bundesverband und Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) 7. März 2016, Berlin Statement von Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes Es hat einen guten Grund, dass der Pflege-Report 2016 sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit der Gruppe der pflegenden Angehörigen beschäftigt. Pflegende Angehörige sind essentiell für die pflegerische Versorgung in Deutschland. Mit ihrem Engagement leisten sie einen herausragenden Beitrag für unsere Gesellschaft, der viel zu selten gesehen und gewürdigt wird. Damit Sie eine Vor- stellung davon bekommen, welchen Umfang dieses Engagement mittlerweile hat, möchte ich Ihnen noch ein paar Zahlen liefern: Von den rund zwei Millionen Pflegebedürftigen, die heute zuhause gepflegt werden, werden rund 65 Prozent ausschließlich von Angehörigen betreut. Aber auch bei den restlichen 35 Prozent sind neben den professionellen Pflegediensten meist noch Angehörige als Pflegende gefordert. Noch beeindruckender ist vielleicht folgende Hochrechnung: Aus der aktuellen Befragung kennen wir die Stundenzahl, die pflegende Angehörige für die Pflege und Betreuung auf- wenden. Wenn Sie diesen Wert mit dem heutigen Mindestlohn von 8,50 Euro multiplizieren, dann liegt die Wertschöpfung bei rund 37 Milliarden Euro pro Jahr. Das nur zur Veranschaulichung der Arbeitsleistung von pflegenden Angehörigen! Damit uns dieses Engagement auch in Zukunft zur Verfügung steht, ist es wichtig, diesen Personen- kreis zu fördern und dessen Bedürfnisse noch stärker zu berücksichtigen. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch von Zuwendung, Vertrautheit und Sicherheit. Deshalb haben wir uns frühzeitig für einen eigenen Anspruch auf Beratung für pflegende Angehörige stark gemacht, den es nun auch seit diesem Jahr gibt. Gleichzeitig muss man wissen, was pflegende Angehörige wirklich umtreibt, wo sie der Schuh drückt, was aus ihrer Sicht besser laufen könnte. Die AOK ist die größte Pflegekasse Deutschlands und versichert die Hälfte aller 2,7 Millionen Pflegebedürftigen. Deshalb setzen wir auf Erkenntnisgewinn durch Studien wie den Pflege-Report. Zwar zeigen die neuen Umfra- geergebnisse, dass die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, wie die Unterstützung durch am- bulante Pflegedienste oder Kurzzeit- sowie Verhinderungspflege, den meisten Angehörigen bekannt sind. Aber trotz dieser Kenntnis werden die Leistungen häufig nicht in Anspruch genommen. Und das, obwohl Bedarf besteht, denn 27 Prozent der Nichtnutzer von ambulanten Pflegedienstleistungen geben ja an, dass sie eigentlich Unterstützung nötig hätten. Warum werden diese Angebote und Hilfestellungen also nicht oder nur teilweise genutzt? Ein Grund liegt ganz sicher in der Komplexität der Pflegeleistungen. Nicht nur, dass es eine Vielzahl verschiede- ner Leistungsformen gibt, oft sind auch deren Bezeichnungen unverständlich bis irreführend. Auch ich als ehemaliger Chef einer Pflegekasse habe längere Zeit gebraucht, um zu verstehen, was sich hinter einem Begriff wie „Verhinderungspflege“ verbirgt. Wie soll es dann der Laie schaffen? www.aok-bv.de I www.wido.de

Statement von Martin Litsch - AOK-Bundesverbandaok-bv.de/imperia/md/aokbv/presse/pressemitteilungen/archiv/2016/... · Statement von Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Embed Size (px)

Citation preview

Seite 1 von 3

Pressekonferenz zum Krankenhaus-Report 2016 AOK-Bundesverband und Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) 7. März 2016, Berlin

Statement von Martin LitschVorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Es hat einen guten Grund, dass der Pflege-Report 2016 sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit der Gruppe der pflegenden Angehörigen beschäftigt. Pflegende Angehörige sind essentiell für die pflegerische Versorgung in Deutschland. Mit ihrem Engagement leisten sie einen herausragenden Beitrag für unsere Gesellschaft, der viel zu selten gesehen und gewürdigt wird. Damit Sie eine Vor-stellung davon bekommen, welchen Umfang dieses Engagement mittlerweile hat, möchte ich Ihnen noch ein paar Zahlen liefern: Von den rund zwei Millionen Pflegebedürftigen, die heute zuhause gepflegt werden, werden rund 65 Prozent ausschließlich von Angehörigen betreut. Aber auch bei den restlichen 35 Prozent sind neben den professionellen Pflegediensten meist noch Angehörige als Pflegende gefordert. Noch beeindruckender ist vielleicht folgende Hochrechnung: Aus der aktuellen Befragung kennen wir die Stundenzahl, die pflegende Angehörige für die Pflege und Betreuung auf-wenden. Wenn Sie diesen Wert mit dem heutigen Mindestlohn von 8,50 Euro multiplizieren, dann liegt die Wertschöpfung bei rund 37 Milliarden Euro pro Jahr. Das nur zur Veranschaulichung der Arbeitsleistung von pflegenden Angehörigen!

Damit uns dieses Engagement auch in Zukunft zur Verfügung steht, ist es wichtig, diesen Personen-kreis zu fördern und dessen Bedürfnisse noch stärker zu berücksichtigen. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch von Zuwendung, Vertrautheit und Sicherheit. Deshalb haben wir uns frühzeitig für einen eigenen Anspruch auf Beratung für pflegende Angehörige stark gemacht, den es nun auch seit diesem Jahr gibt. Gleichzeitig muss man wissen, was pflegende Angehörige wirklich umtreibt, wo sie der Schuh drückt, was aus ihrer Sicht besser laufen könnte. Die AOK ist die größte Pflegekasse Deutschlands und versichert die Hälfte aller 2,7 Millionen Pflegebedürftigen. Deshalb setzen wir auf Erkenntnisgewinn durch Studien wie den Pflege-Report. Zwar zeigen die neuen Umfra-geergebnisse, dass die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, wie die Unterstützung durch am-bulante Pflegedienste oder Kurzzeit- sowie Verhinderungspflege, den meisten Angehörigen bekannt sind. Aber trotz dieser Kenntnis werden die Leistungen häufig nicht in Anspruch genommen. Und das, obwohl Bedarf besteht, denn 27 Prozent der Nichtnutzer von ambulanten Pflegedienstleistungen geben ja an, dass sie eigentlich Unterstützung nötig hätten.

Warum werden diese Angebote und Hilfestellungen also nicht oder nur teilweise genutzt? Ein Grund liegt ganz sicher in der Komplexität der Pflegeleistungen. Nicht nur, dass es eine Vielzahl verschiede-ner Leistungsformen gibt, oft sind auch deren Bezeichnungen unverständlich bis irreführend. Auch ich als ehemaliger Chef einer Pflegekasse habe längere Zeit gebraucht, um zu verstehen, was sich hinter einem Begriff wie „Verhinderungspflege“ verbirgt. Wie soll es dann der Laie schaffen?

www.aok-bv.de I www.wido.de

Die Pflegeversicherung hat eine Menge zu bieten. Zuletzt wurden ihre Mittel kräftig aufgestockt, ab 2017 fließen dann rund fünf Milliarden pro Jahr mehr in Pflege. Dieses Geld muss natürlich in der pflegerischen Versorgung ankommen. Um die Leistungsinanspruchnahme zu erleichtern, müssen wir auch die Leistungen flexibler und einfacher gestalten. Ein Beispiel, das in diese Richtung zielt und das aus unserer Sicht auch ganz leicht umsetzbar wäre, ist die Zusammenlegung der „Verhin-derungspflege“ und „Kurzzeitpflege“. Statt hier zwei verschiedene Regelungen und Budgets für die kurzzeitige Heimversorgung und ambulante Pflege vorzusehen, sprechen wir uns für die Bündelung zu einem Gesamtbudget aus. Wie der Pflegebedürftige während einer notwendigen Auszeit seines Angehörigen betreut wird, ob im Heim, durch den Pflegedienst oder das private Umfeld, darüber sollten pflegende Angehörige auf Basis eines zusätzlichen Budgets von 3.224 Euro für 14 Wochen je Kalenderjahr selbst entscheiden können. Das wäre ein wichtiger Schritt zu mehr Transparenz im Dickicht der Pflegeleistungen. Und es erhöht die Wahlmöglichkeiten der Angehörigen.

Aber nicht nur Unübersichtlichkeit und Komplexität schrecken ab. Viele pflegende Angehörige nehmen auch aus ganz persönlichen Gründen die Hilfen der sozialen Pflegeversicherung nicht in Anspruch. Oft sind es Schamgefühle sowohl bei den pflegenden Angehörigen als auch bei Pflegebe-dürftigen. Die einen sehen darin häufig ein Zeichen von Schwäche, wenn sie auf Dritte zurückgreifen würden. Und andere wollen oft prinzipiell nicht von Fremden gepflegt werden. All diese Gründe sind mehr als verständlich. Dennoch darf man nicht einfach über sie hinwegsehen.

Aus diesem Grund hat die AOK, lange bevor es entsprechende Gesetzesinitiativen gab, ein flächende-ckendes Netzwerk aus Pflegeberatern geknüpft. Bundesweit sind mittlerweile rund 700 AOK-Pflege-berater im Einsatz. Sie besuchen Pflegebedürftige und deren pflegende Angehörige auf Wunsch auch in der häuslichen Umgebung. Dabei klären sie in persönlichen Gesprächen den konkreten Hilfebedarf und erstellen gemeinsam einen individuellen Versorgungsplan. Auch aus den Gesprächen unserer Mitarbeiter wissen wir, was die Menschen beschäftigt. Ausführliche Informationen zu Sozialleistun-gen, gemeinsame Wohnungsbegehungen, um Stolperfallen ausfindig zu machen oder die Prüfung, welche Hilfsmittel noch fehlen, all das ist ebenfalls Bestandteil der AOK-Pflegeberatung.

Zwei Drittel der Hauptpflegepersonen haben schon einmal eine Beratung durch die Kranken- oder Pflegekasse, einen Pflegedienst oder Ärzte genutzt. Es gibt also noch Luft nach oben. Denn wie wichtig solche Gespräche sein können, auch das belegen die Ergebnisse des Pflegereports. Dreiviertel der Personen, die Pflegeberatung in Anspruch genommen haben, sagen, dass ihnen diese geholfen hat. Oft sind es wohl auch Zeitgründe, warum solche Angebote nicht genutzt werden. Aber auch für Betroffene, die sich die Zeit nicht frei schaufeln können, gibt es mittlerweile ergänzende Informa-tionsalternativen. Im Internet gibt es ab Donnerstag die AOK-Faktenbox zur Pflegeberatung. Diese informiert darüber, was unter Pflegeberatung zu verstehen ist und wie man sie nutzen kann.

Sehr geehrte Damen und Herren, wie groß die Anstrengungen der informellen Pflege sind, zeigt auch die Tatsache, dass laut Umfrage rund 71 Prozent der befragten Hauptpflegepersonen mindestens eine weitere Person in die Betreuung des Angehörigen einbeziehen – in vielen Fällen unterstützen professionell Pflegende. Auch sie leisten hervorragende Arbeit bei der Sicherstellung der Pflege. Entsprechend zufrieden äußern sich die pflegenden Angehörigen. 88 Prozent der Befragten beschei-nigen den Pflegeprofis, dass sie kompetent sind. 84 Prozent geben an, dass die Pflegepersonen gut mit den Mitarbeitern des Pflegedienstes zurechtkommen. Das sind sehr erfreuliche Ergebnisse. Sie machen noch etwas klar: wie wichtig ein gutes Team-Play zwischen allen an der Pflege Beteiligten ist.

Seite 2 von 3

www.aok-bv.de I www.wido.de

Bei den Zufriedenheitswerten gibt es aber auch einen Dämpfer: Denn bei befragten Personen, die sich als hochbelastet einschätzen, sackt die Zufriedenheit in einigen Bereichen deutlich ab. Während sich 65 Prozent der Pflegepersonen insgesamt gut unterstützt fühlen, sagt das bei den „Hochbelas-teten“ nicht mal jeder Zweite. Ähnlich große Differenzen zeigen sich zum Beispiel für Befragte, die noch keine Verhinderungspflege genutzt haben. Während im Durchschnitt 22 Prozent der Befragten nicht wissen, wie man diese Leistung beantragt, liegt dieser Wert bei den stark belasteten Personen bei knapp 44 Prozent. Diese Unterschiede werfen die Frage auf, inwieweit wir den Bedürfnissen der hochbelasteten Angehörigen bisher gerecht werden. Sind unsere Angebote für stark belastete Pflegepersonen zielgruppengerecht aufbereitet und erreichen wir diese Menschen überhaupt? Das müssen auch wir als Pflegekasse selbstkritisch hinterfragen.

Noch mehr Erkenntnisse über die Befindlichkeiten pflegender Angehöriger und Anregungen für unsere Arbeit erhoffen wir uns durch den Austausch mit Betroffenen auf dem Deutschen Pflegetag, der diese Woche in Berlin stattfindet und zu dem ich Sie herzlich einlade. Einer unserer Programm-punkte dort wird sich speziell den Anliegen der pflegenden Angehörigen widmen. Dabei werden wir auch über wichtige Änderungen durch die jüngsten Pflegereformen informieren. Als Mitbegründer des Pflegetages werfen wir einen ganzheitlichen Blick auf das Thema. Unter dem Motto „Vergesst die Heime nicht“ werden wir dort außerdem eine Podiumsdiskussion zur Zukunft der stationären Pflege veranstalten. Denn eines ist auch klar: So zentral die Angehörigen-Pflege für die pflegerische Versorgung weiterhin bleiben wird, auch die professionell stationäre Pflege wird nicht an Bedeutung verlieren. Dafür sorgen ein rasant steigender Pflegebedarf und das abnehmende Potential pflegender Angehöriger. Auch hier müssen wir uns um passgenaue Lösungen kümmern.

ANSPRECHPARTNERDr. Kai Behrens | Pressesprecher | 030 346 46-23 09 | [email protected]

Seite 3 von 3

www.aok-bv.de I www.wido.de