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147 STATION VII HANS-GEORG GADAMER Station VII Hans-Georg Gadamer Biographie Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg an der Lahn geboren und starb am 13. März 2002 in Heidelberg. Er studierte seit 1918 Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Phi- losophie in Breslau, Marburg und München. In seiner Marburger Zeit von 1923 1928 war Hans-Georg Gadamer Schüler Martin Heideggers, ein Um- stand, der seinen eigenen Denkansatz stark prägte. Nach seiner Habilitati- on 1929 in Marburg schloss sich eine Lehrtätigkeit für Gadamer an, die unterbrochen von einem Jahr in Kiel bis 1939 andauerte. In Folge seiner Berufung 1939 nach Leipzig, erlebte er dort nach eigenem Bekunden zu- rückgezogen das Ende des Nationalsozialismus. Als unkompromitiert gel- tend, nahm er nach dem Krieg das Amt des Rektors an der Leipziger Uni- versität ein, bis er 1947 nach Frankfurt und 1949 als Nachfolger von Karl Jaspers nach Heidelberg berufen wurde. Sein Interesse galt insbesondere Hegel, aber auch Husserl und Heidegger sowie den Hermeneutikern Schleiermacher und Dilthey was sich in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode von 1960 niederschlug. Sein Versuch der Rehabilitation der Be- griffe Vorurteil, Tradition und Autorität als geschichtliche Bedingungen des Verstehens provozierte in den sechziger Jahren eine rege Debatte um Hermeneutik und Ideologiekritik, welche Gadamer vordringlich mit Jürgen Habermas führte. 1968 nahm er, schon emeritiert, nochmals eine Lehr- tätigkeit in den USA auf. Später, im Jahre 1981, suchte Gadamer das Ge- spräch mit Jaques Derrida, um sich mit dessen Poststrukturalismus aus- einandersetzen zu können.

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STATION VII – HANS-GEORG GADAMER

Station VII – Hans-Georg Gadamer

Biographie

Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg an der Lahngeboren und starb am 13. März 2002 in Heidelberg.Er studierte seit 1918 Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Phi-losophie in Breslau, Marburg und München. In seiner Marburger Zeit von1923 – 1928 war Hans-Georg Gadamer Schüler Martin Heideggers, ein Um-stand, der seinen eigenen Denkansatz stark prägte. Nach seiner Habilitati-on 1929 in Marburg schloss sich eine Lehrtätigkeit für Gadamer an, die –unterbrochen von einem Jahr in Kiel – bis 1939 andauerte. In Folge seinerBerufung 1939 nach Leipzig, erlebte er dort – nach eigenem Bekunden zu-rückgezogen – das Ende des Nationalsozialismus. Als unkompromitiert gel-tend, nahm er nach dem Krieg das Amt des Rektors an der Leipziger Uni-versität ein, bis er 1947 nach Frankfurt und 1949 als Nachfolger von KarlJaspers nach Heidelberg berufen wurde. Sein Interesse galt insbesondereHegel, aber auch Husserl und Heidegger sowie den HermeneutikernSchleiermacher und Dilthey was sich in seinem Hauptwerk Wahrheit undMethode von 1960 niederschlug. Sein Versuch der Rehabilitation der Be-griffe Vorurteil, Tradition und Autorität als geschichtliche Bedingungendes Verstehens provozierte in den sechziger Jahren eine rege Debatte umHermeneutik und Ideologiekritik, welche Gadamer vordringlich mit JürgenHabermas führte. 1968 nahm er, schon emeritiert, nochmals eine Lehr-tätigkeit in den USA auf. Später, im Jahre 1981, suchte Gadamer das Ge-spräch mit Jaques Derrida, um sich mit dessen Poststrukturalismus aus-einandersetzen zu können.

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

Grondin, Jean: HANS-GEORG GADAMER. EINE BIOGRAPHIE.Tübingen: Mohr 1999.

Hammermeister, Kai: HANS-GEORG GADAMER.München: Beck 1999.

Przylebski, Andrzej (Hrsg.): DAS ERBE GADAMERS.F./M.: Lang 2006.

Stanley, John Wrae: DIE GEBROCHENE TRADITION: ZUR GENESE DER PHI-LOSOPHISCHEN HERMENEUTIK HANS-GEORG GADAMERS.Würzburg: Königshausen und Neumann 2005.

Tietz, Udo: HANS-GEORG GADAMER ZUR EINFÜHRUNG.Hamburg: Junius, 32005.

Vetter, Helmuth: PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK: UNTERWEGS ZU

HEIDEGGER UND GADAMER.F./M.: Lang 2007.

Literatur zu Leben und Werk

Die Kurzbiographie stützt sich auf folgende Artikel:

Lang, Peter Christian: GADAMER, HANS-GEORG.In: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den NeuenPhilosophen. Stuttgart: Metzler 32003. S. 236–238.

Veraart, Albert: GADAMER, HANS-GEORG.In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß.Mannheim: Bibliographisches Institut 1980 (Bd.1) S. 698–699.

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Die Kontinuität der Geschichteund der Augenblick der Existenz

Die folgenden Passagen sind entnommen aus: Hans-Georg Gadamer: Die Kon-tinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz. In: Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register. Gesammelte Werke Band2. Tübingen: Mohr 21993, S. 133–145.

Die Kontinuität der Geschichte weist zurück auf das Rätsel der verfließen-den Zeit. Daß die Zeit kein Stehen kennt, ist ja das alte Problem der aristo-telischen und der augustinischen Zeitanalyse. Insbesondere die letztereführt uns die ontologische Verlegenheit vor, die das griechische, das anti-ke Denken überfällt, wenn es aussagen soll, was die Zeit ist. Was ist das,was in keinem Augenblick wahrhaft als das, was da ist, mit sich selberidentifiziert werden kann? Denn selbst das Jetzt ist in dem Augenblick, indem ich es als Jetzt identifiziere, schon nicht mehr jetzt. Das Abrollen derJetzte in eine unendliche Vergangenheit, das Heranrollen aus einer unend-lichen Zukunft, läßt die Frage nach dem, was jetzt ist und was dieser Flußder vergehenden, der kommenden und vergehenden Zeit eigentlich ist, rat-los. […]

Es gibt so etwas wie Diskontinuität im Geschehen. Wir kennen Diskonti-nuität im Geschehen in der Weise der Epochenerfahrung. Daß es so etwaswirklich gibt, d.h. daß das nicht nur unserem nachträglich ordnenden, klas-sifizierenden und auf Beherrschung gerichteten Erkenntnisinteresse ent-springt, sondern eine echte Wirklichkeit der Geschichte selber meint, läßtsich mit phänomenologischen Mitteln erweisen. […]Selbstverständlich können wir niemals mit Sicherheit wissen, ob wir ei-nem Ereignis mit Recht eine wirklich epochemachende Bedeutung zuspre-chen. Es genügt, daß aller Unsicherheit zum Trotz, die in jeder Zukunfts-aussage liegt, mit diesem Ereignis selber und seinem unmittelbaren

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

Sichauswirken die Überzeugung gegeben ist: es war epochemachend. Ana-loge Erfahrungen machen wir auch außerhalb der großen Schicksals-erfahrungen der Geschichte, und ich möchte drei Formen solcher Epochen-erfahrungen entfalten.Das eine ist die Alterserfahrung. Es ist eine Erfahrung, die, wie ich meine,als Diskontinuität unmittelbar einem jeden begegnet. Zwar haben wir alleunser Geburtsdatum und leben nach derselben Zeitrechnung, nach der wirgenau auf Tag und Stunde angeben können, wie alt wir sind, und doch istdas Reifen, etwa das Erwachsenwerden eines Kindes, kein Vorgang, denman mit dem Mittel des Messens der verfließenden Zeit irgendwie verfol-gen könnte. Denn plötzlich ist das Kind kein Kind mehr, plötzlich ist alldas unwiederholbar vorbei und nicht mehr da, was ehedem das Ganze die-ses vertrauten Wesens ausmachte. Oder ein anderes Beispiel, das uns Äl-teren nahe liegt: daß man, wenn man jemanden wiedersieht, das Gefühlhat: ach, der ist aber alt geworden. Diese Erfahrung meint auch nicht, daßer im Kontinuum der verfließenden Zeit nun einen bestimmten Punkt er-reicht hat, sondern für sich selbst und für die, die mit ihm in Berührungwaren, ist er anders geworden. Das Frühere, die Jugend, die Spannkraftfrüherer Jahre ist vorbei, mag auch vielleicht etwas sehr Schönes, vielleichtetwas sehr Reiches daraus geworden sein, was im Drang der drangvolle-ren Jahre so nicht in Erscheinung getreten war.Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns durch die älteren Zeitrech-nungen besonders vertraut ist. Der Übergang von einer Generation zuranderen, etwa der Tod eines Herrschers und der Herrschaftsantritt seinesNachfolgers, sei es in gebundenen Dynastien oder auch in revolutionä-ren Formen, bedeutet einen Epocheneinschnitt. Daß von einem solchenEreignis aus datiert wird, geschieht nicht deshalb, weil es besonders be-quem und für alle sichtbar ist wie ein Sternenstand, sondern weil es fürdas Leben der Menschen eines Volkes in der Tat etwas derart gemeinsamBedeutendes ist, daß alles von nun an anders ist, und das, was vorherwar, nicht mehr ist. Die Epochenerfahrung erfährt also eine innere Diskon-tinuität des Geschehens selber, die nicht erst nachträglich durch historio-

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graphische Klassifizierung registriert wird und legitimationsbedürftig wäre.Ja mehr noch, ich würde sagen, gerade so erfährt man die Wirklichkeit derGeschichte. Denn was da erfahren wird, ist nicht mehr nur ein in völligeVergegenwärtigung zu hebendes und anzueignendes Gewesenes, sondernetwas, was dadurch, daß es geschehen ist, da ist und nie ungeschehengemacht werden kann.Das dritte Beispiel, das ich im Auge habe, ist die ›absolute Epoche‹ derZeitenwende, jene Epochenerfahrung, die durch Christi Geburt in das an-tike Geschichtsbewußtsein getreten ist. Wenn ich von dieser Erfahrungetwas sage, so deswegen, weil sie nicht nur aus Gründen religiöser Wahr-heit, sondern aus begriffsgeschichtlichen Gründen eine absolute Epochen-erfahrung heißen muß. Denn mit dieser Erfahrung des neuen Bundes undmit der christlichen Heilsbotschaft ist die Geschichte als Geschichte in ei-nem neuen Sinn entdeckt worden. Daß Geschichte eine menschlicheSchicksalserfahrung ist, als das Auf und Ab von Glück und Unglück, alsdas Sich-Fügen und Sich-Sperren der Umstände für ein glückliches undgedeihliches Tun oder für ein schmerzvolles Scheitern – das alles istselbstverständlich eine ursprüngliche Erfahrung des Menschen. Nur dar-um kann es gehen, welche Bedeutungsaspekte für die Deutung dieser Er-fahrungen möglich sind und welchen neuen Deutungsaspekt die absoluteEpochenerfahrung des Christentums da gebracht haben könnte. […]Damit rühre ich an einen Aspekt des Ganzen, der mir aus meinen eigenenArbeiten besonders wesentlich geworden ist. Was erhebt den tragischenHelden zu einer solchen Schicksalsfigur, daß in seinem Untergang das Le-ben sich erneuert? Was ist die Katharsis, diese neue Furchtlosigkeit, mitder der Zuschauer die tragische Katastrophe aufnimmt? Was ist es eigent-lich, das in dieser Erfahrung Wahrheit ausmacht?Was wir dabei Wahrheit nennen, ist, daß es erinnerte Wirklichkeit ist. Nichtalles, was geschieht, halten wir ja erinnernd als wahr, als bedeutsam fest.Nicht nur der tragische Dichter, auch die unermüdliche Idealisierungskraftunseres eigenen Gemüts vollzieht ständig Erhebung ins Idealische, Erhe-bung des Gewesenen und Vergehenden in ein Bleibendes und Wahres.

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

Als die tiefste Erfahrung dessen, was ich hier beschreibe, ist mir immererschienen, wenn wir von dem Tode eines uns bekannten Menschen er-fahren: wie sich da plötzlich die Seinsweise dieses Menschen verändert,wie er bleibend geworden ist, reiner, nicht notwendig besser in einem mo-ralischen liebevollen Sinne, aber in seinen bleibenden Umriß geschlossenund sichtbar geworden – offenbar allein dadurch, daß wir nichts mehr vonihm erwarten können, nichts mehr von ihm zu erfahren haben und nichtsLiebes mehr ihm tun dürfen. Die Erfahrung, die ich an diesem extremenBeispiel beschreibe, scheint mir eine Art Erkenntnis zu sein. Was da her-auskommt, ist Wahrheit. Es ist nicht die übliche oder sogenannte Beschö-nigung, von der hier die Rede ist, sondern es ist dieses Sich-Erheben überdas beständig Variierende und alle festen Grenzsetzungen, alle festen Kon-turen Verfließende des geschichtlichen Zeitenstromes. Daß hier plötzlichetwas steht und stehen bleibt, das scheint einer Wahrheit zu Worte zuverhelfen.Von dieser Seite her ist nun nicht nur die eigentliche Erfahrung der Dis-kontinuität, sondern ebenso die der Kontinuität der Geschichte zu machen.Was ich eben beschrieb, läßt sich in dem Kierkegaardschen Begriff des›Augenblickes‹ wiederfinden, in jenem erfüllten Blick des Auges, der nichtmehr eine bloße Marke im gleichmäßigen Verfließen der Veränderung meint,sondern der zur Wahl nötigt und einmalig ist dadurch, daß er jetzt ist undnie wiederkommt. Von diesem Punkte her wird die Kontinuität der Ge-schichte nicht mehr als jenes vergegenwärtigte Kontinuum des ablaufen-den Zeitgeschehens gedacht, sondern es wird die Frage an die Erfahrungder Diskontinuität gestellt, wie sie Kontinuität und in welchem Sinne sieKontinuität enthält.Ich habe in meinen eigenen Versuchen etwa so formuliert: Wenn uns et-was in der Überlieferung begegnet, so daß wir es verstehen, ist das selberimmer Geschehen. Auch dann geschieht einem etwas, wenn man aus derÜberlieferung ein Wort sozusagen annimmt, ein Wort sich sagen läßt. Dasist gewiß nicht ein Verstehen der Geschichte als eines Verlaufs, sondernein Verstehen dessen, was uns in der Geschichte als uns ansprechend undangehend begegnet.

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Ich habe dafür den vielleicht etwas zu vieldeutigen Ausdruck gewählt, daßall unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtlichesBewußtsein bestimmt ist.Was ich damit sagen will, ist zunächst, daß wir uns nicht aus dem Ge-schehen selber herausheben und sozusagen ihm gegenübertreten mit derFolge, daß etwa die Vergangenheit uns so zum Objekt würde. Wenn wirso denken, kommen wir viel zu spät, um die eigentliche Erfahrung der Ge-schichte überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Wir sind immer schonmitten in der Geschichte darin. Wir sind selber nicht nur ein Glied dieserfortrollenden Kette, um mit Herder zu sprechen, sondern wir sind in jedemAugenblick in der Möglichkeit, uns mit diesem aus der Vergangenheit zuuns Kommenden und Überlieferten zu verstehen. Ich nenne das ›wirkungs-geschichtliches Bewußtsein‹, weil ich damit einerseits sagen will, daß un-ser Bewußtsein wirkungsgeschichtlich bestimmt ist, d.h. durch ein wirkli-ches Geschehen bestimmt ist, das unser Bewußtsein nicht frei sein läßt imSinne eines Gegenübertretens gegenüber der Vergangenheit. Und ich mei-ne andererseits auch, daß es gilt, ein Bewußtsein dieses Bewirktseinsimmer wieder in uns zu erzeugen – so wie ja alle Vergangenheit, die unszur Erfahrung kommt, uns nötigt, mit ihr fertig zu werden, in gewisser Weiseihre Wahrheit auf uns zu übernehmen. […]Daß ich Sprache als die Weise der Vermittlung ansehe, in der Kontinuitätder Geschichte über alle Abstände und Diskontinuitäten zustandekommt,scheint mir durch die angedeuteten Phänomene wohlbegründet. Darin liegtaber als die eigentliche Wahrheit: Sprache ist immer nur im Gespräch. Spra-che vollzieht sich selbst und hat ihre eigentliche Erfüllung nur in dem Hinund Her des Sprechens, in dem ein Wort das andere gibt und in dem sichdie Sprache, die wir miteinander führen, die Sprache, die wir zueinanderfinden, auslebt. Jeder Begriff von Sprache, der sie ablöst von der unmit-telbaren Situation derer, die sich im Reden und Antworten verstehen, ver-kürzt sie um eine wesentliche Dimension. Die Unmittelbarkeit des Sprach-vollzugs enthält eine Antwort auf die Frage, wie sich die Kontinuität derGeschichte all den Scheidungen und Entscheidungen zum Trotz, die fürjeden von uns in jedem Augenblick fallen, dennoch bewegt und ermöglicht.

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

[…] Aus dem Gedankengang, den ich entwickelt habe, ergibt sich, daß dieAntithese von Kontinuität der Geschichte und Augenblick der Existenz,wie sie im Thema zunächst anklingt, eine falsche Zuspitzung ist. Ich zeig-te, daß gerade in der Auszeichnung des Augenblicks, Diskontinuität imFortgang des Geschehens zu sein, die Möglichkeit begründet liegt, ge-schichtliche Kontinuität zu wahren und zu erfahren. Kontinuität ist nichtdie beruhigte Gewißheit, die dem Extrem des perfekten Historismus ein-wohnt, daß überall, wo etwas untergeht, das Geschehen ebenso als einNeuanfang artikuliert werden kann, weil Werden und Vergehen die eigent-liche Wirklichkeit jedes Augenblicks sind und als Übergang die Kontinui-tät des Geschehens verbürgen. Das ist durchaus nicht eine fragloseGewißheit, sondern im Gegenteil eine jedem menschlichen Erfahrungs-bewußtsein gestellte Aufgabe. Sie erfüllt sich in Überlieferung und Tradi-tion. Aber darin ist nichts von der beruhigenden Sicherheit, die all dashat, was sich von selbst vollzieht. Überlieferung und Tradition haben nichtdie Unschuld dos organischen Lebens. Sie können auch mit revolutionä-rer Leidenschaft bekämpft werden, wo sie als unlebendig und starr emp-funden werden. Ihren wahren Sinn bewähren Tradition und Überlieferungnicht im beharrlichen Festhalten am Hergebrachten, sondern darin, daß sieeinen erfahrenen und beständigen Partner in dem Gespräch darstellen, daswir sind. Indem sie uns antworten und soweit sie damit neue Fragen auf-geben, beweisen sie ihre eigene Wirklichkeit und ihre fortwirkende Leben-digkeit.

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197. Differenzieren Sie die Begriffe Kontinuität und Diskontinuität!

a) Setzen Sie dabei Gadamers Zeitverständnis anhand der drei Epochen-erfahrungen demjenigen des Rätsels der verfließenden Zeit gegenüber!

b) Worin unterscheiden sich die Epochenerfahrungen, worin finden sie ihreGemeinsamkeit?

198. Gehen Sie auf das Verhältnis von Sprache und Wirkungsgeschichte einund erklären Sie daraus den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Be-wusstseins in seinen zwei Dimensionen!

199. Inwiefern finden der Augenblick der Existenz und die Kontinuität derGeschichte Ausdruck in dem Gespräch, das wir sind? Diskutieren Siein diesem Zusammenhang die Vorzüge der Begrifflichkeiten des Dia-logs und der Dialektik!

200. Erörtern Sie, ob sich im wirkungsgeschichtlichen Prinzip Gadamers re-lativistische oder positivistische Tendenzen aufzeigen lassen. Problema-tisieren Sie in dieser Hinsicht Gadamers Begriff der Tradition!

201. Wenn Verstehen im Sinne Gadamers ein kathartisches Moment aufweist,würden Sie dann so weit gehen, dass Gadamers Begriff der Wahrheitnicht ohne den Anderen auskommt? Begründen Sie …

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Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe

Die folgenden Passagen sind entnommen aus: Hans-Georg Gadamer: Hermeneutikals theoretische und praktische Aufgabe. In: Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit undMethode. Ergänzungen. Register. Gesammelte Werke Band 2. Tübingen: Mohr21993, S. 301–318.

So ist Hermeneutik mehr als nur eine Methode der Wissenschaften odergar die Auszeichnung einer bestimmten Gruppe von Wissenschaften. Siemeint vor allem eine natürliche Fähigkeit des Menschen. […]Gerade was die Hermeneutik betrifft, so liegt es offenbar nahe, die Abson-derung der Theorie von der Praxis, die dem neuzeitlichen Begriff der theo-retischen Wissenschaft und ihrer praktisch-technischen Anwendungentspricht, mit einem Wissensgedanken zu konfrontieren, der den umge-kehrten Weg von der Praxis zu ihrer theoretischen Bewußtmachung ge-gangen ist. […]

Praktische Philosophie setzt eben voraus, daß wir durch die normativenVorstellungen immer schon vorgeformt sind in denen wir erzogen wurdenund die der Ordnung des ganzen Sozialen zugrundeliegen. Das bedeutetkeineswegs, daß diese normativen Gesichtspunkte unveränderlich festste-hen und unkritisierbar wären. Gesellschaftliches Leben besteht in einembeständigen Prozeß der Umbildung des bisher Geltenden. Doch wäre eseine Illusion, Normvorstellungen in abstracto ableiten zu wollen und mitdem Anspruch wissenschaftlicher Richtigkeit in Geltung zu setzen. Es gehtalso um einen Wissenschaftsbegriff, der das Ideal des unbeteiligten Beo-bachters nicht gelten läßt, sondern stattdessen die Bewußtmachung desGemeinsamen betreibt, das alle verbindet. Ich habe diesen Punkt in mei-nen Arbeiten auf die hermeneutischen Wissenschaften angewandt und dieZugehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum betont. Wer etwas ver-stehen will, bringt immer schon etwas mit, das ihn vorgreiflich mit dem

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verbindet, was er verstehen will, ein tragendes Einverständnis. So mußder Redner immer an ein solches anknüpfen, wenn ihm in strittigen Fra-gen Überreden und Überzeugen gelingen will. So ist auch jedes Verste-hen der Meinung eines anderen oder eines Textes allen möglichen Miss-verständnissen zum Trotz von einem Verständigungszusammenhangumgriffen und sucht durch allen Dissens hindurch Verständigung. Dasschließt sogar noch die Praxis lebendiger Wissenschaft ein. Sie ist auchnicht einfach Anwendung von Wissen und Methoden auf einen beliebi-gen Gegenstand. Nur wer in einer Wissenschaft steht, nur dem stellen sichdie Fragen.

202. Worin sieht Gadamer die Universalität der Hermeneutik begründet? Er-läutern Sie das Verhältnis von Theorie und Praxis in Bezug auf denneuzeitlichen Begriff theoretischer Wissenschaften einerseits und die Her-meneutik andererseits!

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung

Die folgenden Passagen sind entnommen aus Hans-Georg Gadamer: Wahrheitund Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Wer-ke Band 1. Tübingen: Mohr 61990. Die Teilüberschriften entsprechen dabei nichtunbedingt der Originalschrift.

Das Vorurteil

Die Zitate sind den Seiten 270–281 entnommen.

Heidegger ging auf die Problematik der historischen Hermeneutik und Kri-tik nur ein, um von da aus in ontologischer Absicht die Vorstruktur desVerstehens zu entfalten. Wir gehen umgekehrt der Frage nach, wie die Her-meneutik, von den ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegriffsder Wissenschaft einmal befreit, der Geschichtlichkeit des Verstehens ge-recht zu werden vermöchte. Das traditionelle Selbstverständnis der Her-meneutik beruhte auf ihrem Charakter als Kunstlehre. […]

Eine begriffsgeschichtliche Analyse zeigt, daß erst durch die Aufklärungder Begriff des Vorurteils die uns gewohnte negative Akzentuierung fin-det. An sich heißt Vorurteil ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfungaller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird. Im Verfahren derRechtssprechung hieß ein Vorurteil eine rechtliche Vorentscheidung vorder Fällung des eigentlichen Endurteils. Für den im Rechtsstreit Stehen-den bedeutete das Ergehen eines solchen Vorurteils gegen ihn freilich eineBeeinträchtigung seiner Chancen. So heißt préjudice wie praeiudiciumauch einfach Beeinträchtigung, Nachteil, Schaden. Doch ist dieseNegativität nur eine konsekutive. Es ist gerade die positive Gültigkeit, der

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präjudizielle Wert der Vorentscheidung, – ebenso wie der eines jedenPräzedensfalles –, auf dem die negative Konsequenz beruht.›Vorurteil‹ heißt also durchaus nicht notwendig falsches Urteil. In seinemBegriff liegt, daß es positiv und negativ gewertet werden kann. Offenbarist die Anlehnung an das lateinische praeiudicium darin wirksam, so daßneben dem negativen auch ein positiver Akzent auf dem Worte liegen kann.Es gibt préjugés légitimes. Das liegt unserem heutigen Sprachgefühl sehrfern. Das deutsche Wort ›Vorurteil‹ scheint – wie das französische préjuge,aber noch entschiedener – durch die Aufklärung und ihre Religionskritikauf die Bedeutung ›unbegründetes Urteil‹ beschränkt worden zu sein. DieBegründung, die methodische Sicherung erst (und nicht das sachliche Zu-treffen als solches), gibt dem Urteil seine Dignität. Das Fehlen der Begrün-dung läßt in den Augen der Aufklärung nicht anderen Weisen der Gültig-keit Raum, sondern bedeutet, daß das Urteil keinen in der Sache liegendenGrund hat, ›ungegründet‹ ist. Das ist ein echter Schluß im Geist des Ratio-nalismus. Auf ihm beruht die Diskreditierung der Vorurteile überhaupt undder Anspruch der wissenschaftlichen Erkenntnis, sie völlig auszuschalten.Die moderne Wissenschaft, die diese Parole gewählt hat, folgt damit demPrinzip des cartesianischen Zweifels, nichts für gewiß anzunehmen, wor-an sich überhaupt zweifeln läßt, und der Idee der Methode, die dieser For-derung Rechnung trägt. Wir haben schon in unseren einleitenden Betrach-tungen darauf hingewiesen, wie wenig die historische Erkenntnis, die unsergeschichtliches Bewußtsein mitformt, mit einem solchen Ideal in Einklanggesetzt werden kann und wie wenig sie daher von dem modernenMethodenbegriff aus in ihrem wirklichen Wesen erfaßbar ist. Hier ist nunder Ort, diese negativen Aussagen ins Positive zu wenden. Der Begriffdes Vorurteils bietet dazu einen ersten Ansatzpunkt. […]Die erkenntnistheoretische Frage ist hier von Grund auf anders zu stellen.Wir haben oben gezeigt, daß Dilthey das wohl gesehen hat, daß er aberseine Befangenheit in die traditionelle Erkenntnistheorie nicht zu überwin-den vermochte. Sein Ausgangspunkt, das Innesein der ›Erlebnisse‹, konntedie Brücke zu den geschichtlichen Realitäten nicht schlagen, weil die gro-

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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK

ßen geschichtlichen Wirklichkeiten, Gesellschaft und Staat, in Wahrheitschon immer vorgängig für jedes ›Erlebnis‹ bestimmend sind. Die Selbst-besinnung und die Autobiographie – Diltheys Ausgangspunkte – sindnichts Primäres und reichen als Basis für das hermeneutische Problem nichtaus, weil durch sie die Geschichte reprivatisiert wird. In Wahrheit gehörtdie Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns inder Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständ-liche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fo-kus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Indivi-duums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschicht-lichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als sei-ne Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.

203. Inwiefern erweitert Gadamer Heideggers „Vorstruktur des Verstehensin ontologischer Absicht“, indem er das Vorverständnis zur Strukturdes Verstehens selbst erklärt?

204. Wodurch zeichnet sich der Begriff des Vorurteils, wie er durch die Auf-klärung geprägt wurde, aus? Setzen Sie dagegen Gadamers Verständ-nis des Vorurteils!

205. Worin könnte für Gadamer ein gemeinsames Defizit an Heideggers‚Fundamentalontologie‘ und Diltheys Konzept der ‚Selbstbesinnung undAutobiographie‘ bestehen?

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Das Klassische

Die Zitate sind den Seiten 290–295 entnommen.

Gewiß ist es eine Zumutung an das Selbstverständnis der Geisteswissen-schaften, sich dergestalt im ganzen ihres Tuns von dem Vorbild der Natur-wissenschaften abzulösen und die geschichtliche Bewegtheit dessen, wo-mit sie es zu tun hat, nicht nur als eine Beeinträchtigung ihrer Objektivitätanzusehen, sondern positiv anzuerkennen. Indessen gibt es in der neuerenEntwicklung der Geisteswissenschaften selbst doch Ansatzpunkte für eineBesinnung, die der Problemlage wirklich gerecht zu werden vermag. Dernaive Methodologismus der historischen Forschung beherrscht das Feldnicht mehr allein. Nicht überall mehr wird der Fortgang der Forschung imSchema der Erweiterung und des Eindringens in neue Gebiete oder Mate-rialien verstanden, sondern statt dessen in der Erreichung einer höherenReflexionsstufe der Fragestellung. Auch wo das geschieht, wird freilichweiterhin ideologisch unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts der For-schung gedacht, wie das dem Forscher ansteht. Aber es bahnt sich darinzugleich ein hermeneutisches Bewußtsein an, das die Forschung mit Selbst-besinnung durchdringt. Das gilt vor allem von denjenigen Geisteswissen-schaften, die über die älteste Tradition verfügen. So hat die klassischeAltertumswissenschaft sich, nachdem sie den weitesten Umkreis ihrer Über-lieferung allmählich aufgearbeitet hat, immer wieder den alten Vorzugs-gegenständen ihrer Wissenschaft mit verfeinerten Fragestellungen zuge-wendet. Damit hat sie so etwas wie eine Selbstkritik eingeleitet, indem siesich darauf besann, was eigentlich den Vorzug ihrer vorzüglichsten Ge-genstände ausmacht. Der Begriff des Klassischen, den das historischeDenken seit Droysens Entdeckung des Hellenismus auf einen bloßen Stil-begriff reduziert hatte, erhielt nun in der Wissenschaft ein neues Heimat-recht. […]Das Klassische ist gerade dadurch eine wahrhaft geschichtliche Katego-rie, daß es mehr ist als ein Epochenbegriff oder ein historischer Stilbegriff

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und daß es dennoch nicht ein übergeschichtlicher Wertgedanke sein will.Es bezeichnet nicht eine Qualität, die bestimmten geschichtlichen Erschei-nungen zuzusprechen ist, sondern eine ausgezeichnete Weise des Ge-schichtlichseins selbst, den geschichtlichen Vorzug der Bewahrung, die –in immer erneuerter Bewährung – ein Wahres sein läßt. Es ist durchausnicht so, wie die historische Denkweise glauben machen wollte, daß dasWerturteil, durch das etwas als klassisch ausgezeichnet wird, von der his-torischen Reflexion und ihrer an allen teleologischen Konstruktionen desGeschichtsganges geübten Kritik wirklich zersetzt würde. Das Werturteil,das im Begriff des Klassischen impliziert ist, gewinnt vielmehr an solcherKritik eine neue, seine eigentliche Legitimation: Klassisch ist, was der his-torischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft,die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Gel-tung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durch-hält. […]Eben das sagt das Wort ›klassisch‹, daß die Fortdauer der unmittelbarenSagkraft eines Werkes grundsätzlich unbegrenzt ist. So sehr der Begriffdes Klassischen Abstand und Unerreichbarkeit aussagt und der Be-wußtseinsgestalt der Bildung zugehört, so behält doch auch die ›klassi-sche Bildung‹ noch immer etwas von der fortdauernden Geltung des Klas-sischen. Selbst die Bewußtseinsgestalt der Bildung bezeugt noch eine letzteGemeinsamkeit und Zugehörigkeit zu der Welt, aus der ein klassisches Werkspricht.Diese Erörterung des Begriffs des Klassischen beansprucht keine selb-ständige Bedeutung, sondern möchte eine allgemeine Frage wecken. Sielautet: Liegt am Ende solche geschichtliche Vermittlung der Vergangen-heit mit der Gegenwart, wie sie den Begriff des Klassischen prägt, allemhistorischen Verhalten als wirksames Substrat zugrunde? Während die ro-mantische Hermeneutik in der Gleichartigkeit der Menschennatur einungeschichtliches Substrat für ihre Theorie des Verstehens in Anspruchgenommen und damit den kongenial Verstehenden aus aller geschichtli-chen Bedingtheit herausgelöst hatte, führt die Selbstkritik des historischen

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Bewußtseins am Ende dazu, nicht nur im Geschehen, sondern ebenso nochim Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen. Das Verstehen istselber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, son-dern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehehen, in dem sich Ver-gangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Das ist es, was in derhermeneutischen Theorie zur Geltung kommen muß, die viel zu sehr vonder Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist.

206. Erklären Sie, weshalb Gadamer das ‚Klassische‘ als wahrhaft geschicht-liche Kategorie bzw. als das, was in der hermeneutischen Theorie zumAusdruck kommen muss, versteht!

207. Wie unterscheidet sich Gadamers Begriff des Klassischen von demSchleiermachers?

208. Wie wird hier das Verhältnis zwischen Mensch und Geschichte verstan-den?

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Vorgriff der Vollkommenheit

Das Zitat entstammt Seite 299.

Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eineweitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ›Vorgriff der Vollkommen-heit‹ nennen möchte. Auch das ist offenbar eine formale Voraussetzung,die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, waswirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. So machen wir denndiese Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text le-sen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung undsuchen zu erraten, wie sie zu heilen ist. Die Regeln, die wir bei solchentextkritischen Überlegungen befolgen, können hier beiseite bleiben. Wor-auf es ankommt, ist auch hier, daß ihre rechte Anwendung nicht von deminhaltlichen Verständnis ablösbar ist.Der Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet, erweist sichmithin selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eineimmanente Sinneinheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt,sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzenden-ten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Ge-meinten entspringen. So wie der Empfänger eines Briefes die Nachrichtenversteht, die er enthält, und zunächst die Dinge mit den Augen des Brief-schreibers sieht, d.h. für wahr hält, was dieser schreibt – und nicht etwadie sonderbaren Meinungen des Briefschreibers als solche zu verstehensucht –, so verstehen wir auch überlieferte Texte auf Grund von Sinner-wartungen, die aus unserem eigenen vorgängigen Sachverhältnis ge-schöpft sind. Und wie wir Nachrichten eines Korrespondenten glauben,weil er dabei war oder es sonst besser weiß, so sind wir grundsätzlich derMöglichkeit offen, daß ein überlieferter Text es besser weiß, als die eigeneVormeinung gelten lassen will. Erst das Scheitern des Versuchs, das Ge-sagte als wahr gelten zu lassen, führt zu dem Bestreben, den Text als die

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Meinung eines anderen – psychologisch oder historisch – ›zu verstehen‹.Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daßein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daßdas, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist.

209. Welche Funktion nimmt die hermeneutische Konsequenz des ‚Vorgriffsder Vollkommenheit‘ im Verstehen ein?

a) Warum geht der ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ nicht bloß im Begriff derTechnik auf? In welchem Gedanken Gadamers zeigt sich die passiveTendenz dieses Begriffes?

b) Warum kann Gadamer im Zusammenhang des ‚Vorgriffs der Vollkom-menheit‘ von einer vollkommenen Wahrheit sprechen, obwohl er in An-betracht der wirkungsgeschichtlichen Bestimmtheit des menschlichenVerstehens eine solche negiert?

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Der wahre Ort der Hermeneutik

Die Zitate sind den Seiten 299–307 entnommen.

Auch hier bewährt sich, daß Verstehen primär heißt, sich in der Sache zuverstehen, und erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abhe-ben und verstehen. Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibtsomit das Vorverständnis, das im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache ent-springt.Von ihr her bestimmt sich, was als einheitlicher Sinn vollziehbar wird, unddamit die Anwendung des Vorgriffs der Vollkommenheit.So erfüllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. das Moment der Traditionim historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die Gemeinsamkeit grund-legender und tragender Vorurteile. Die Hermeneutik muß davon ausgehen,daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Spra-che kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oderAnschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht. Auf der anderen Seiteweiß das hermeneutische Bewußtsein, daß es mit dieser Sache nicht inder Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden seinkann, wie es für das ungebrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es be-steht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sichdie Aufgabe der Hermeneutik gründet. Nur daß diese nicht mit Schleier-macher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Indivi-dualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d. h. imHinblick auf ein Gesagtes, die Sprache, mit der die Überlieferung uns an-redet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben.Sie spielt zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung füruns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlich-keit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist derwahre Ort der Hermeneutik. […]In der vermeintlichen Naivität unseres Verstehens, in der wir dem Maß-stab der Verständlichkeit folgen, zeigt sich das Andere so sehr vom Eige-

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nen her, daß es gar nicht mehr als Eigenes und Anderes zur Aussagekommt. Der historische Objektivismus, indem er sich auf seine kritischeMethodik beruft, verdeckt die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in derdas historische Bewußtsein selber steht. Er entzieht zwar der Willkür undBeliebigkeit aktualisierender Anbiederungen mit der Vergangenheit durchdie Methode seiner Kritik den Boden, aber er schafft sich selbst damit dasgute Gewissen, die unwillkürlichen und nicht beliebigen, sondern alles tra-genden Voraussetzungen, die sein eigenes Verstehen leiten, zu verleug-nen und damit die Wahrheit zu verfehlen, die bei aller Endlichkeit unseresVerstehens erreichbar wäre. Der historische Objektivismus gleicht darinder Statistik, die eben deshalb ein so hervorragendes Propagandamittelist, weil sie die Sprache der ›Tatsachen‹ sprechen läßt und damit eine Ob-jektivität vortäuscht, die in Wahrheit von der Legitimität ihrer Fragestel-lungen abhängt.Es wird also nicht gefordert, daß man die Wirkungsgeschichte als eineneue selbständige Hilfsdisziplin der Geisteswissenschaften entwickeln sol-le, sondern daß man sich selber richtiger verstehen lerne und anerkenne,daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrücklich bewußt ist odernicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist. Wo sie inder Naivität des Methodenglaubens verleugnet wird, kann übrigens aucheine tatsächliche Deformation der Erkenntnis die Folge sein. Wir kennensie aus der Wissenschaftsgeschichte als die unwiderlegliche Beweisfüh-rung für etwas evident Falsches. Aber aufs Ganze gesehen, hängt dieMacht der Wirkungsgeschichte nicht von ihrer Anerkennung ab. Das ge-rade ist die Macht der Geschichte über das endliche menschlicheBewußtsein, daß sie sich auch dort durchsetzt, wo man im Glauben an dieMethode die eigene Geschichtlichkeit verleugnet. Die Forderung, sich die-ser Wirkungsgeschichte bewußt zu werden, hat gerade darin ihre Dring-lichkeit – sie ist eine notwendige Forderung für das wissenschaftlicheBewußtsein. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie in einem schlechthin-nigen Sinne erfüllbar wäre. Daß Wirkungsgeschichte je vollendet gewußtwerde, ist eine ebenso hybride Behauptung wie Hegels Anspruch auf ab-

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solutes Wissen, in dem die Geschichte zur vollendeten Selbstdurch-sichtigkeit gekommen und daher auf den Standpunkt des Begriffs erho-ben sei. Vielmehr ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ein Momentdes Vollzugs des Verstehens selbst, und wir werden sehen, wie es schonim Gewinnen der rechten Frage wirksam ist.Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der herme-neutischen Situation. Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situation istaber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der Begriffder Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenü-ber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann.Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, derenErhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das gilt auch für diehermeneutische Situation, d. h. die Situation, in der wir uns gegenüberder Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben. Auch die Erhellungdieser Situation, d.h. die wirkungsgeschichtliche Reflexion, ist nicht vollend-bar, aber diese Unvollendbarkeit ist nicht Mangel an Reflexion, sondernliegt im Wesen des geschichtlichen Seins, das wir sind. Geschichtlich seinheißt, nie im Sichwissen Aufgehen.

210. Was ist für Gadamer das Wahre am ‚wahren Ort der Hermeneutik‘?

211. Warum lautet der Titel des Hauptwerks Gadamers nicht ‚Wahrheit oderMethode‘? Beziehen sie sich in diesem Zusammenhang auf den Vor-wurf an den historischen Objektivismus!

212. Wie bezieht sich für Gadamer der historische Objektivismus auf den‚wahren Ort der Hermeneutik‘. Erläutern Sie in diesem Zusammenhangdie Begriffe des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘!

213. Wohin führt die ‚wirkungsgeschichtliche Reflexion‘ das wirkungs-geschichtliche Bewusstsein?

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Horizont

Die Zitate sind den Seiten 307–312 entnommen.

Alle endliche Gegenwart hat ihre Schranken. Wir bestimmen den BegriffSituation eben dadurch, daß sie einen Standort darstellt, der die Möglich-keiten des Sehens beschränkt. Zum Begriff der Situation gehört daher we-senhaft der Begriff des Horizontes. Horizont ist der Gesichtskreis, der alldas umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist. In derAnwendung auf das denkende Bewußtsein reden wir dann von Enge desHorizontes, von möglicher Erweiterung des Horizontes, von Erschließungneuer Horizonte usw. Insbesondere hat der philosophische Sprachge-brauch seit Nietzsche und Husserl das Wort verwendet, um die Gebun-denheit des Denkens an seine endliche Bestimmtheit und das Schrittgesetzder Erweiterung des Gesichtskreises dadurch zu charakterisieren. Wer kei-nen Horizont hat, ist ein Mensch, der nicht weit genug sieht und deshalbdas ihm Naheliegende überschätzt. Umgekehrt heißt ›Horizont haben‹,Nicht-auf-das-Nächste-Eingeschränktsein, sondern über es Hinaussehenkönnen. Wer Horizont hat, weiß die Bedeutung aller Dinge innerhalb die-ses Horizontes richtig einzuschätzen nach Nähe und Ferne, Größe undKleinheit. Entsprechend bedeutet die Ausarbeitung der hermeneutischenSituation die Gewinnung des rechten Fragehorizontes für die Fragen, diesich uns angesichts der Überlieferung stellen. […]Wir waren davon ausgegangen, daß eine hermeneutische Situation durchdie Vorurteile bestimmt wird, die wir mitbringen. Insofern bilden sie denHorizont einer Gegenwart. Sie stellen das dar, über das hinaus man nichtzu sehen vermag. Nun gilt es aber, den Irrtum fernzuhalten, als wäre es einBestand von Meinungen und Wertungen, die den Horizont der Gegen-wart bestimmen und begrenzen, und als höbe sich die Andersheit der Ver-gangenheit dagegen wie gegen einen festen Grund ab.In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen,sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Er-

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probung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit unddas Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont derGegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt sowenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt,die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgangder Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. Wirkennen die Kraft solcher Verschmelzung vor allem aus älteren Zeiten undihrem naiven Verhalten zu sich selbst und zu ihrer Herkunft. Im Waltender Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächstAltes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne daßsich überhaupt das eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben.Wenn es nun diese voneinander abgehobenen Horizonte gar nicht gibt,warum reden wir dann überhaupt von ›Horizontverschmelzung‹ und nichteinfach von der Bildung des einen Horizontes, der seine Grenze in die Tiefeder Überlieferung zurückschiebt? Die Frage stellen heißt, sich die Beson-derheit der Situation eingestehen, in der Verstehen zur wissenschaftlichenAufgabe wird, und daß es gilt, diese Situation als hermeneutische Situati-on erst einmal auszuarbeiten. Jede Begegnung mit der Überlieferung, diemit historischem Bewußtsein vollzogen wird, erfährt an sich das Span-nungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart. Die hermeneutische Auf-gabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzude-cken, sondern bewußt zu entfalten. Aus diesem Grunde gehört notwendigzum hermeneutischen Verhalten der Entwurf eines historischen Horizon-tes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. Das historischeBewußtsein ist sich seiner eigenen Andersheit bewußt und hebt daher denHorizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab. Andererseits aberist es selbst nur, wie wir zu zeigen versuchen, wie eine Überlagerung übereiner fortwirkenden Tradition und daher nimmt es das voneinander Abge-hobene sogleich wieder zusammen, um in der Einheit des geschichtlichenHorizontes, den es sich so erwirbt, sich mit sich selbst zu vermitteln.Der Entwurf des historischen Horizontes ist also nur ein Phasenmomentim Vollzug des Verstehens und verfestigt sich nicht zu der Selbst-

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entfremdung eines vergangenen Bewußtseins, sondern wird von dem ei-genen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt. Im Vollzug desVerstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die mit demEntwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt.Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug solcher Verschmelzung als dieWachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. Während von demästhetisch-historischen Positivismus im Gefolge der romantischen Herme-neutik diese Aufgabe verdeckt worden war, liegt hier in Wahrheit das zen-trale Problem der Hermeneutik überhaupt. Es ist das Problem der Anwen-dung, die in allem Verstehen gelegen ist.

214. Erläutern Sie den Begriff der Horizontverschmelzung im Spannungs-feld von ‚Situation‘ und ‚Ewigkeit‘!

215. Warum ist in der Strenge der philosophischen Hermeneutik Gadamersder Horizont nicht ohne die Horizontverschmelzung zu denken?

216. Was könnte der Grund dafür sein, dass dies trotzdem getan wird, dasssich nämlich ein Horizont im Anspruch seiner absoluten Geltung zurIdeologie verfestigt?

217. Problematisieren Sie in diesem Zusammenhang Heideggers ‚Dasein zumTode‘ und den damit verbundenen Horizont! Wäre im ‚Gerede‘ und‚Man‘ Gadamers Horizontverschmelzung Genüge getan worden?

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218. ‚Gerade was die Hermeneutik betrifft, so liegt es offenbar nahe, die Ab-sonderung der Theorie von der Praxis […] mit einem Wissensgedankenzu konfrontieren, der den umgekehrten Weg von der Praxis zu ihrertheoretischen Bewußtmachung gegangen ist.‘Beziehen sie diesen Gedanken Gadamers auf die Entwicklung der Her-meneutik von ihren Ursprüngen her!

219. Diskutieren Sie, ob man Gadamer den Vorwurf des Traditionalismusmachen kann?

220. Zeigen Sie Kontinuität und Diskontinuität der folgenden Begriffe inwirkungsgeschichtlicher und systematischer Hinsicht: ‚Kongenialität derGeister‘, ‚Objektivation‘, ‚Gerede‘ und ‚Horizontverschmelzung‘!

221. Klären Sie die Bedeutung der ‚Wachheit des wirkungsgeschichtlichenBewusstseins‘ im Bezug seiner zwei Dimensionen!

222. Gerede – Gespräch: Welche Dimensionen für die Ethik entwickelt dieHermeneutik mit dem Schritt von Heidegger zu Gadamer?

223. These: Gadamer versöhnt die Ontologie mit der geisteswissenschaftli-chen Hermeneutik, ohne die ontologische Wende zu ignorieren. Erör-tern Sie die Aussage!

Rückblick – Ausblick