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Stefan Inniger Exegese zu Matthäus 14, 22-33

Stefan Inniger Exegese zu Matthäus 14, 22-33 Mt 14,22-33.pdf · - 1 - 1. ERFASSUNG DES TEXTES 1. 1. EIGENE ÜBERSETZUNG AUS DEM GRUNDTEXT (Mt 12,22) Und sogleich nötigte er die

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Stefan Inniger

Exegese zu Matthäus 14, 22-33

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INHALTSVERZEICHNIS

1. ERFASSUNG DES TEXTES....................................................................1

1. 1. Eigene Übersetzung aus dem Grundtext ...........................................................1

1. 2. Textkritik...........................................................................................................1

2. ANALYSE DES TEXTES.........................................................................3

2. 1. Literarische Eigenart .........................................................................................3

2. 2. Literarischer Kontext.........................................................................................4

2. 3. Historischer Kontext .........................................................................................5

2. 4. Grammatisch-stilistische Analyse .....................................................................7

2. 5. Gliederung des Textes.....................................................................................10

2. 6. Synoptischer Vergleich ...................................................................................11

2. 7. Vermutete Hauptintention ...............................................................................12

2. 8. Begriffsanalyse................................................................................................12

2. 8. 1. Wortstatistik ................................................................................................12

2. 8. 2. Paralleltexte.................................................................................................13

2. 8. 3. Begriffserklärung ........................................................................................15

2. 9. Klärung des Interpretationsrahmens................................................................19

3. INTERPRETATION DES TEXTES .....................................................20

3. 1. Historisch-theologische Interpretation ............................................................20

3. 2. systematisch-theologische Interpretation ........................................................26

LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................28

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1. ERFASSUNG DES TEXTES

1. 1. EIGENE ÜBERSETZUNG AUS DEM GRUNDTEXT

(Mt 12,22) Und sogleich nötigte er die Jünger, in das Schiff zu steigen und ihm vo-

rauszugehen an das jenseitige Ufer, währenddem er sich vom Volk verabschiedete.

(23) Und nachdem er das Volk verabschiedet hatte, ging er für sich alleine hinauf auf

den Berg, um zu beten. Nachdem es aber Abend geworden war, war er alleine. (24)

Das Schiff aber war schon viele Stadien1 vom Ufer entfernt und wurde bedrängt von

den Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen. (25) Aber in der vierten Nachtwa-

che kam er zu ihnen, indem er auf dem Meer wandelte. (26) Als aber die Jünger ihn

auf dem Meer wandeln sahen, gerieten sie in Aufregung und sagten: dies ist ein Ge-

spenst und aus Furcht schrien sie. (27) Sogleich aber redete Jesus zu ihnen und sagte:

seid guten Mutes, ich bin es! Fürchtet euch nicht. (28) Petrus aber antwortet ihm und

sagte: Herr, wenn du es bist, befiehl mir zu dir zu kommen auf dem Wasser. (29) Er

aber sagte: komm. Und nachdem Petrus aus dem Schiff gestiegen war, wandelte er

auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. (30) Als er aber den (starken) Wind sah,

fürchtete er sich und als er zu sinken begann schrie er und sagte: Herr, rette mich.

(31) Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus und fasste ihn und sagt zu ihm: Klein-

gläubiger, warum zweifelst du? (32) Und als sie in das Schiff gestiegen waren, liess

der Wind nach. (33) Aber die, die in dem Schiff waren, beteten ihn an und sagten:

wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.

1. 2. TEXTKRITIK

In Vers 22 wird von verschiedenen Textzeugen, darunter im Codex Sinaiticus (4.

Jh.), in der ursprünglichen Leseart das Adverb ε�θéω̋ weggelassen. In 22b wird im

Codex Vaticanus (4. Jh.) und anderen Zeugen hinter µαθητà̋ ein α�το� eingefügt.

Vor πλο�ον fehlt im Codex Vaticanus und anderen Textzeugen der Artikel τò. Der

Codex Bezae Cantabrigiensis (5. Jh.) und mehrere lateinische Handschriften lassen

hinter προáγεν das Pronomen α�τòν aus.

1 σταδíο̋ ist ein griechisches Längenmass von 600 griech. Fuß, entspricht ca. 190m.

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Vers 24 stellt das größte textkritische Problem dieser Perikope dar. Zu Beginn des

Verses wird das Wort �δη im Codex Bezae Cantabrigiensis und ein paar weiteren

Zeugen weggelassen. Anstelle von σταδíο̋ πολλοù̋ �πò τ�̋ γ�̋ �πε�χεν (Co-

dex Vaticanus u.a.) steht im Codex Koridethi (9. Jh.) und anderen Zeugen die Vari-

ante �πε�χεν �πò τ�̋ γ�̋ σταδíο̋ !κανοù̋. Im Codex Sinaiticus, Codex Eph-

raemi (5. Jh.) u.a. (mit ein paar kleinen Abweichungen auch im Codex Bezae Can-

tabrigiensis) findet sich die Variante µéσον τ#̋ θáλασσα̋ $ν. Während in Nestle-

Aland die Variante des Codex Vaticanus erscheint, findet sich im Textus Receptus

die Variante des Codex Sinaiticus.2

In Vers 25 steht an Stelle von $λθεν (Sinaiticus, Vaticanus u.a.) im Codex Ephraemi,

Mehrheitstext u.a. �π�λθεν. Ende des Verses wird an Stelle des Akkusativs

τ#ν θáλασσαν im Codex Ephraemi und auch im Mehrheitstext der Genitiv

τ#̋ θáλασσα̋ verwendet.

Der 26. Vers beginnt in der ursprünglichen Leseart des Sinaiticus, im Codex Kori-

dethi u.a. mit &δóντε̋ δè α�τòν. Einige Minuskeln verwenden die Variante

κα δοντε̋ ατον, Ephraemi und einige weitere Majuskeln beinhalten die Variante

κα &δóντε̋ α�τòν ο! δè µαθητà. Der erste Korrektor des Sinaiticus verwendet

die Variante ο! δè µαθητà &δóντε̋ α�τòν, welche in Nestle-Aland erscheint.

Anstatt επì τ�̋ θαλáσση̋ περπατο�ντα, bezeugt durch Sinaiticus, Vaticanus,

Ephraimi und weiteren wichtigen Zeugen verwenden einige Majuskeln und der

Mehrheitstext den Akkusativ +πì τ#ν θáλασσαν.

In Vers 27 wird im Codex Vaticanus und einer Korrektur des Sinaiticus

, Ιησο�̋ α�το�̋ verwendet. Im Codex Ephraemi, Regius und im Mehrheitstext

finden wir die Variante α�το�̋ , Ιησο�̋ und im Sinaiticus in der ursprünglichen

Leseart fehlt , Ιησο�̋.

2 Je nach Bibelübersetzung wird dieser Vers unterschiedlich übersetzt. Der Textus Receptus, der die

Grundlage für die Übersetzungsarbeit der Reformatoren bildete, ist zwar heute in den Hintergrund geraten und mehrheitlich durch Nestle-Aland abgelöst worden, aber es gibt nach wie vor Überset-zer, die ihn als Grundlage für ihre Arbeit verwenden (Schlachter 2000; New King James Version).

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In Vers 28 gibt es ebenfalls verschiedene Varianten der Wortreihenfolge von

α�τ/ , Πéτρο̋ ε1πεν. Ebenfalls geändert wird die Wortstellung in einigen Hand-

schriften in der Aussage +λθε�ν πρò̋ σè.

Im 29. Vers wird vor Πéτρο̋ der Artikel , im Codex Sinaiticus, Vaticanus u.a.

weggelassen. Anstelle von καì $λθεν (Vaticanus und ursprüngliche Leseart des Co-

dex Ephraemi) wird in den korrigierten Codex Sinaiticus und Ephraemi, im Mehr-

heitstext und anderen Zeugen der Infinitiv +λθε�ν verwendet. In der ursprünglichen

Leseart des Sinaiticus findet sich die Variante +λθε�ν $λθεν ο2ν.

In Vers 30 wird vom Sinaiticus, Vaticanus in der ursprünglichen Leseart und einigen

Minuskeln &σχρòν ausgelassen. &σχρòν findet sich im Vaticanus, Ephraemi u.a.

und im Codex Washingtonianus findet sich der Zusatz σφóδρα.

Vers 32 beginnt im Sinaiticus u.a. mit καì �ναβáντων α�τ5ν. Ephraemi, Mehr-

heitstext u.a. schreiben an dieser Stelle καì εµβáντων α�τ5ν, während einige Mi-

nuskeln und Übersetzungen die Variante +µβáντ α�τ/ enthalten.

In Vers 33 wird in einigen Handschriften eine Einfügung nach πλοí6 gemacht. Be-

zae Cantabrigiensis, Regius, Mehrheitstext u.a. fügen hier +λθóντε̋ ein. Codex Ko-

ridethi und einige Übersetzungen schreiben hier προσ+λθóντε̋ und einige Hand-

schriften verwenden 7ντε̋. Keine Einfügung findet sich im Codex Sinaiticus, Vati-

canus, Ephraemi u.a..

2. ANALYSE DES TEXTES

2. 1. LITERARISCHE EIGENART

Bei dieser Perikope Mt 14,22-33 handelt es sich um einen narrativen Evangelientext.

Im Mittelpunkt steht ein Wunder Jesu, doch ist diese Erzählung mehr als eine Wun-

dergeschichte, sie ist auch Erscheinungs- und Offenbarungsgeschichte. Sie zielt ab

auf die Offenbarung Jesu Göttlichkeit und endet mit dem grossen Bekenntnis der

Jünger: „du bist wahrhaftig Gottes Sohn“ (Mt 14,33).

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2. 2. LITERARISCHER KONTEXT

Das Matthäusevangelium fällt auf durch eine klare Ordnung und Struktur. Matthäus

hat in seinem Evangelium fünf Reden Jesu3 niedergeschrieben, dazwischen fügt er

Berichte und Erzählungen. Die Perikope Mt 14,22-33 ist Teil eines längeren Erzähl-

blockes und ist eingebettet zwischen der Gleichnisrede (Mt 13) und der Gemeindere-

de, in der Jesus Anweisungen an seine Jünger gibt (Mt 18).

Mt 13 ist die dritte Redeeinheit Jesu, in der er über das Himmelreich in Gleichnissen

lehrt. Diese Rede besteht aus sieben Gleichnissen4 und zwei Deutungen. In den ers-

ten vier Gleichnissen wendet sich Jesus an das Volk, während die Erklärung der

Gleichnisrede und die drei letzten Gleichnisse nur an die Jünger gerichtet sind. The-

men dieser Gleichnisse sind das Hören auf das Wort, das noch verborgene Himmel-

reich und das Endgericht. Als Reaktion auf diese Gleichnisrede finden wir Ende des

13. Kapitels die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth (Mt 13,53-58). Jesus

wird mit seiner Botschaft in der eigenen Heimat abgelehnt. Er wird nur als Sohn des

Zimmermanns und der Maria wahrgenommen. Und als so ein „Gewöhnlicher“ konn-

te er unmöglich der Messias sein. Folglich wird Jesus abgelehnt, ja die Menschen

ärgerten sich sogar an ihm (Mt 13,57). Welch ein Gegensatz zum Bekenntnis der

Jünger: „wahrhaftig du bist Gottes Sohn“ (Mt 14,33).

Die Ablehnung Jesu und seiner Botschaft zeigt sich auch in den folgenden Kapiteln.

Mt 14,1-12 berichtet von der Gefangennahme und dem Tod Johannes des Täufers,

des „Vorläufers“ Jesu, der somit zum ersten Märtyrer wird. Der Mord Herodes an

Johannes kann durchaus als Drohung an Jesus verstanden werden, denn Herodes

lehnte „mit dem Wegbereiter des Königs zugleich auch den König, der ihm folgte,

ab“5. Doch trotz dieser Ablehnung nimmt sich Jesus dem Volk an. Er predigt, heilt

und speist die Menschen. Im Wunder der Brot- und Fischvermehrung (Mt 14,13-21)

stellt Jesus einmal mehr unter Beweis, dass er mehr ist als „nur“ der Sohn des Zim-

3 Jede dieser fünf Reden beendet Matthäus mit fast identischen Redewendungen:

„Καì +γéνετο 9τε +τéλεσεν , Ιησο�̋ τοù̋ λóγο̋ τοúτο̋¨ <Mt 7,28= vgl. Mt 11,1; 13,53; 19,1; 26,1).

4 Je nach Ausleger wird Mt 13,51-52 als eigenständiges Gleichnis betrachtet. In diesem Falle ergeben sich acht Gleichnisse.

5 Walvoord, Das Neue Testament Bd. 4, 55.

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mermanns. Im Anschluss an die Perikope der Jünger auf dem See folgt ein weiterer

kurzer Bericht über Jesu Tätigkeit in der Region des Sees Genezareth (Mt 14,36-36).

In Mt 15 richtet Matthäus den Fokus dann wieder auf die Ablehnung Jesu. Im Zent-

rum stehen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 15,1-20), die schon früher ver-

schiedene Auseinandersetzungen mit Jesus hatten (z.B. Mt 9,34; 12,2; 12,14). Nach

dieser Auseinandersetzung zieht sich Jesus zurück ins Land der Kanaaniter (Mt

14,21ff). Jesus bringt Heil(ung) den Heiden. Es folgen weitere Wundergeschichten

im Land Galiläa.

Im 16. Kapitel beschreibt Matthäus noch einmal eine Auseinandersetzung Jesu mit

den Pharisäern und Schriftgelehrten und als Höhepunkt dieses Erzählbockes (Mt 14-

17) finden wir das Bekenntnis von Petrus: „du bist Christus, des lebendigen Gottes

Sohn“ (Mt 16,16), welches zugleich zur anschliessenden Belehrung der Jünger über-

leitet.

2. 3. HISTORISCHER KONTEXT

Die Verfasserschaft des Matthäusevangeliums ist umstritten. Eines der Hauptprob-

leme ist, dass im Evangelium keine direkten Angaben über Autor und Entstehungssi-

tuation gemacht werden. Historisch-kritische Ausleger identifizieren als Autor eine

namentlich nicht bekannte Person, die im 2. Jahrhundert n.Chr. mit Matthäus identi-

fiziert wurde. Evangelikale Ausleger sehen als Autor Matthäus Levi, einer der zwölf

Jünger. Ein wichtiges Argument für diese Annahme ist die altkirchliche Überliefe-

rung. Eusebius (um 325 n.Chr.) zitiert Papias von Hierapolis (um 100 n.Chr.) mit den

Worten: „Matthäus schrieb in hebräischer Sprache (in hebräischem Dialekt) die Re-

den auf; es übersetzte sie aber ein jeder, so gut er es vermochte“6. Ausser dem Na-

men und dem Beruf als Zöllner ist sehr wenig bekannt über Matthäus. Ort der Abfas-

sung könnte Antiochia gewesen sein irgendwann zwischen 50-70 n.Chr7. Was die

Empfänger betrifft ist davon auszugehen, dass Matthäus an Christen mit einem jüdi-

schen Hintergrund geschrieben hat. Matthäus erwähnt jüdische Bräuche und Gesetze,

6 Eusebius KG III, 39.16, zitiert nach Mauerhofer, Einleitung in die Schriften des NT 1, 54. 7 Auch hier sind die Angaben sehr unterschiedlich. Einige Ausleger datieren das Evangelium nach

70 n.Chr., andere vorher.

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ohne diese näher zu erklären. Das Evangelium enthält viele alttestamentliche Zitate

und 13-mal schreibt Matthäus „damit erfüllt würde…“ und fügt dann eine alttesta-

mentliche Prophezeiung hinzu. Es geht Matthäus scheinbar darum, anhand der

Schrift zu beweisen, dass sich in Christus die Prophezeiungen erfüllt haben und er

somit der Messias sein muss.

Der geografische Rahmen der Perikope Mt 14,22-33 bildet die Gegend um den See

Genezareth. Diese Gegend spielt in den Evangelien eine bedeutende Rolle. Nachdem

Jesus Nazareth verlassen hatte (Mt 4,13), wohnte er einige Zeit in Kapernaum am

See Genezareth, wirkte dort und berief dort auch seine ersten Jünger, die Fischer

Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes (Mt 4,18). Der See Genezareth, schon im

Alten Testament erwähnt8 und bei Matthäus und Markus auch als „Meer von Gali-

läa“ oder einfach als „Meer“ bezeichnet, ist der tiefstgelegene Süsswassersee der

Welt. Er ist 21 km lang und an seiner breitesten Stelle 12 km breit. Der See war zur

Zeit des Neuen Testamentes bekannt für seinen Fischreichtum und es existierte sogar

eine Exportindustrie. Rund um den See gab es mehrere Fischerdörfer, Kapernaum

galt als wichtiges Zentrum mit etwas über 1000 geschätzten Einwohnern. Die in die-

ser Gegend lebende Bevölkerung ist vor allem der Unter- und Mittelschicht zuzuord-

nen. Wie viele Bewohner Kapernaums waren auch einige der Jünger Fischer und

waren somit gewohnt im Umgang mit Booten. So erstaunt es nicht, dass Jesus seine

Jünger mit einem Schiff auf dem See vorgeschickt hat (Mt 14,22). Wo genau die

Speisung der Fünftausend stattgefunden und Jesus seine Jünger entlassen hat, be-

schreibt Matthäus nicht. Lukas aber erwähnt die Gegend um Betsaida (Lk 9,10), wel-

ches am nordöstlichen Ufer des Sees Genezareth liegt9. Das Ziel der Schiffsreise der

Jünger war das ca. 8 km entfernte Genezareth, welches südwestlich von Kapernaum

liegt (Mt 14,34). Starke Winde, wie sie Matthäus beschreibt, sind auf dem See Gene-

zareth keine Seltenheit. Durch die Sonneneinstrahlung entsteht eine starke Thermik,

die heute noch Surfer auf dem See Genezareth sich zum Nutzen machen. Die dabei

entstehenden Fallwinde können grosse Wellen hervorbringen; für kleinere Boote

können solche Wellen durchaus zur Gefahr werden.

8 Bezeichnet als See Kinneret (Num 34,11). 9 Einige Ausleger identifizieren Betsaida mit dem heutigen Tabgha, das südlich von Kapernaum liegt.

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2. 4. GRAMMATISCH-STILISTISCHE ANALYSE

Wie in einem narrativen Evangelientext üblich ist der vorherrschende Tempus der

Perikope Mt 14,22-33 der historische Aorist. Insgesamt 16-mal verwendet Matthäus

den Indikativ Aorist. Ebenfalls 16-mal werden Partizipien verwendet, je 8-mal ein

Partizip Aorist und 8-mal ein Partizip Präsens.

Die Perikope beginnt in Vers 22a mit der Konjunktion καì und dem Adverb ε�θéω̋.

Diese Wendung ist häufig bei Markus10 zu finden, Matthäus verwendet sie 8-mal.

Das Subjekt des Satzes, Jesus, ist im konjugierten Verb >νáγκασεν enthalten. In

Vers 22b befinden sich zwei Infinitive Aorist, welche den punktuellen Aspekt der

Handlungen hervorheben. Der Nebensatz in Vers 22c wird eingeleitet durch die tem-

porale Konjunktion ?ω̋ ο@, welcher der Konjunktiv Aorist �πολúσA folgt. Auffal-

lend in diesem Vers ist die zweifache Verwendung der Präposition ε&̋ τò.

Vers 23a wird ebenfalls durch die Konjunktion καì eingeleitet. Es folgt das Partizip

Aorist �πολúσα̋, welches im Verhältnis zum finiten Verb �νéβη, ein Indikativ Ao-

rist, auf ein vorzeitig in der Vergangenheit liegendes Ereignis hinweist und den nähe-

ren Umstand beschreibt. Die Sinnrichtung dieses Partizips ist temporal. Der Infinitiv

Aorist Medium προσεúξασθα weist auf den punktuellen Aspekt der Handlung des

Betens hin.

Der Partikel δè zu Beginn des 24. Verses hebt den Übergang der Erzählung hervor

und das Substantiv τò πλο�ον zeigt den Subjektwechsel an. Das finite Verb �πε�χε

in Vers 24a steht im Imperfekt und weist auf den durativen Aspekt hin. Das Partizip

Präsens im Passiv βασανζóµενον in 24b betont die Gleichzeitigkeit des „bedrängt-

werden“ des Schiffes mit dem Wind, der dem Schiff gegenüberstand.

In Vers 25 findet ein Subjektwechsel statt. Das Subjekt, wieder Jesus, ist im finiten

Verb $λθεν enthalten. Die Präposition πρò̋ zeigt an, wohin Jesus ging – zu den

Jüngern - und das Partizip Präsens περπατ5ν beschreibt den näheren Umstand des

Gehens Jesu. Zudem betont das Partizip Präsens die Gleichzeitigkeit der Tätigkeiten

10 Die Wendung καì ε�θù̋ findet sich bei Markus 26-mal.

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Jesu. Da das Partizip das Geschehen genauer beschreibt, ist hier eine modale Sinn-

richtung nahe liegend. Die Präposition +πì mit dem Akkusativ

τ#ν θáλασσαν könnte übersetzt werden mit „auf dem Meer“ oder auch „gegen das

Meer zu“11. Erst der folgende Vers, in dem die Präposition mit einem Genitiv ver-

wendet wird, schafft Klarheit, dass Jesus tatsächlich auf dem Meer gewandelt ist.

Das Substantiv mit dem Artikel ο! µαθηταì im Nominativ in Vers 26a zeigt wieder

den Subjektwechsel an. Das Partizip Aorist &δóντε̋ steht in Beziehung zum finiten

Verb im Aorist Passiv +ταρáχθησαν und betont den vorzeitig in der Vergangenheit

liegenden Aspekt: die Jünger sahen Jesus und erschraken auf Grund dessen, was sie

gesehen hatten. Beim Partizip Präsens περπατο�ντα handelt es sich um ein prädi-

katives Partizip (AcP), welches das Akkusativobjekt α�τòν ergänzt, indem es genau-

er beschreibt, was die Jünger sahen: Sie sahen ihn (Jesus), wie er auf dem Wasser

wandelte. In Vers 26b befindet sich ebenfalls ein Partizip, λéγοντε̋, und ein Verb,

Dκραξαν. Hier steht das Partizip nun im Präsens und im Verhältnis zum Indikativ

Aorist des Verbs betont es die Gleichzeitigkeit des Redens und Schreiens, was die

Dramatik der Situation besonders herausstreicht. Das 9τ recitativum in Vers 26b

leitet eine direkte Rede ein.

In Vers 27a wechselt das Subjekt wieder zu Jesus. Dieses befindet sich im finiten

Verb +λáλησεν. Das Partizip Präsens λéγων könnte in Beziehung zum Verb

+λáλησεν als pleonastisches Partizip12 bezeichnet werden. Die Antwort Jesu auf die

Situation folgt bestimmend: beide Verben in 26b stehen im Imperativ Präsens. Das

Präsens hebt den durativen Aspekt des guten Mutes sein und des sich nicht Fürchtens

hervor. Die Negation µ# φοβε�σθε verstärkt diese Aussage noch einmal: fürchtet

euch niemals! Auffallend ist auch das Personalpronomen +γẃ vor dem Verb

ε&µ. Das „Ich bin“ wird dadurch besonders hervorgehoben.

In Vers 28a wird nun der Jünger Petrus zum Subjekt. Auch in diesem Vers befindet

sich ein pleonastisches Partizip: das Partizip Aorist �ποκρθεì̋, welches im Ver-

11 Stoy,/Haag, Bibelgriechisch leichtgemacht, 51. 12 Hofmann, Kurzgrammatik, 129.

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hältnis zum finiten Verb ε1πεν, ein Aorist Indikativ, steht. Die Anrede Jesu als

Κúρε steht hier im Vokativ. Der folgende Konditional-Nebensatz, Vers 28b, wird

eingeleitet durch den Partikel ε&. Das finite Verb κéλεσóν steht im Imperativ Ao-

rist, welcher als normale Befehlsform gebraucht wird. Der Infinitiv Aorist betont den

punktuellen Aspekt der Handlung. Die Wendung +πì τà Fδατα findet sich nur in

dieser Perikope im NT. Auch hier wird die Präposition +πì mit Akkusativ

verwendet13. Auffallend ist, dass der Begriff Wasser im Plural verwendet wird; ver-

mutlich eine Anlehnung an die hebräische Sprache.

Vers 29a wird durch den Artikel , eingeleitet, der hier pronominal verwendet wird.

Er zeigt zugleich den Subjektwechsel zu Jesus an. Die Aufforderung Jesu, Ελθé ist

wiederum ein Imperativ Aorist. In 29b wechselt das Subjekt zu Petrus und das Parti-

zip Aorist καταβà̋ beschreibt den nähern Umstand der Szene. Der Kontext und das

finite Verb περεπáτησεν im Aorist Indikativ lässt auf eine temporale Sinnrichtung

des Partizips schliessen: nachdem Petrus aus dem Schiff gestiegen ist, wandelte er

auf dem Wasser. Vers 29c beschreibt das Ziel von Petrus: $λθεν πρò̋ τòν Ιησο�ν.

Die Präposition πρò̋ wird hier mit einem Akkusativ verwendet, welcher die Frage

des „wohin“ beantwortet.

Der 30. Vers beginnt mit einer Partizipialkonstruktion, welche den genaueren Um-

stand beschreibt. Das Partizip βλéπων in Vers 30a steht im Präsens und das finite

Verb φοβHθη ist ein Indikativ Aorist Passiv. Hier wird wiederum die Gleichzeitig-

keit betont: als (oder während) Petrus die Wellen sah, fürchtete er sich. Vers 30b

beinhaltet ebenfalls eine Partizipialkonstruktion mit mehreren Partizipien. Das finite

Verb Dκραξεν steht im Indikativ Aorist. Das Partizip Aorist Medium �ρξáµενο̋

wird normalerweise temporal übersetzt, an dieser Stelle wäre aber auch eine kausale

Sinnrichtung möglich und der Infinitiv καταποντíζεσθα steht hier ergänzend zum

Partizip �ρξáµενο̋. Der Imperativ Aorist σ5σóν zeigt die Not, in der sich Petrus

befunden hat und betont hier vermutlich den ingressiven Aspekt, den Beginn der

Handlung des Rettens.

13 Siehe Anmerkungen zu Vers 25.

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Im 31. Vers findet wieder ein Subjektwechsel statt, erkennbar im Nomen

, Ιησο�̋ im Nominativ. 31a beinhaltet das Partizip Aorist +κτεíνα̋. Da das finite

Verb +πελáβετο ebenfalls im Aorist steht, wird die Vorzeitigkeit des Ausstreckens

der Hand Jesu vor dem Erfassen des Petrus herausgestrichen. Beim Verb λéγε han-

delt es sich um ein historisches Präsens. In 31b spricht Jesus Petrus mit dem Vokativ

Ολγóπστε an. Beim Verb +δíστασα̋ handelt es sich um einen Aorist Indikativ.

In Vers 32 befindet sich ein Genitivus Absolutus, �ναβáντων α�τ5ν. Im Zusam-

menhang mit dem Verb +κóπασενε, ein Indikativ Aorist, ist hier eine temporale

Sinnrichtung anzunehmen.

Vers 33 beginnt mit dem pronominal gebrauchten Artikel ο!, welcher den Subjekt-

wechsel von Jesus zu den Jüngern anzeigt. Das finite Verb προσεκúνησαν zusam-

men mit dem Partizip Präsens λéγοντε̋ zeigt die Gleichzeitigkeit des Anbetens und

Sagens des grossen Bekenntnisses: Αληθ5̋ θεο� !ò̋ ε1. Auch hier haben wir noch

einmal ein Verb im Präsens: ε1.

2. 5. GLIEDERUNG DES TEXTES

1. Überleitung vom Wunder der Speisung der Fünftausend 22-23

1.1. Jesus entlässt die Jünger und verabschiedet das Volk 22

1.2. Jesus geht auf einen Berg um zu beten 23

2. Die Jünger im Schiff 24-27

2.1. Die Jünger geraten in einen Sturm 24

2.2. Jesus begegnet den Jüngern in ihrer Not 25

2.3. Die Reaktion der Jünger: Bestürzung und Furcht 26

2.4. Jesu Antwort: ich bin es, fürchtet euch nicht 27

3. Petrus´ wandelt auf dem Wasser 28-32

3.1. Mutiger Glaube: Petrus wandelt auf dem Wasser 28-29

3.2. ängstlicher Kleinglaube: Petrus versinkt im Wasser 30

3.3. Jesus bietet Petrus Hand und wird zum Retter 31

3.4. Stillung des Sturms 32

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4. Anbetung und Bekenntnis der Jünger 33

4.1. Die Anbetung der Jünger 33a

4.2. Das Bekenntnis der Jünger 33b

2. 6. SYNOPTISCHER VERGLEICH 14

Synoptische Texte zum Seewandel Jesu finden wir bei Markus (Mk 6,45-52) und bei

Johannes (Joh 6,16-21). Interessanterweise erwähnt Lukas diese Begebenheit nicht.

In allen Evangelien schliesst die Perikope an an das Wunder der Speisung der 5000.

Matthäus und Markus sind sich in einzelnen Versen im Wortlaut sehr ähnlich – ein

Indiz dafür, dass Matthäus das Markusevangelium als Grundlage hatte. Johannes

unterscheidet sich deutlicher von den beiden Synoptikern; nicht nur im Wortlaut -

Johannes fasst sich in seiner Erzählung am kürzesten, während Matthäus am ausführ-

lichsten ist.

Bei Johannes fehlen die detaillierten Angaben zum Übergang vom Wunder der Spei-

sung der 5000 zum Seewandel. Matthäus und Markus beschreiben, dass Jesus sich

zurückgezogen hat, um zu beten. Auffallend ist, dass Matthäus keine geografischen

Angaben macht. Markus erwähnt Betsaida15 und Johannes Kapernaum als Ziel der

Schifffahrt. Was die Streckenangabe betrifft verwenden alle drei Evangelisten ver-

schiedene Ausdrücke: Matthäus schreibt, dass das Schiff viele Stadien vom Land

entfernt war (V. 24), bei Markus ist das Schiff mitten auf dem See (V. 47) und Jo-

hannes schreibt, dass sie etwa eine Stunde gerudert hatten (V. 19). Das Erschrecken

der Jünger über die Epiphanie Jesu wird von allen drei Evangelisten erwähnt, das

Gespenst kommt nur bei Matthäus und Markus vor. Der Höhepunkt der Erzählung,

die Offenbarung Jesu, erwähnen alle drei Evangelisten mit dem gleichen Wortlaut:

„+γẃ ε&µ? µ# φοβε�σθε¨ (Mt 14,27; Mk 6,50; Joh 6,20).

14 Für den synoptischen Vergleich wurde die Luther-Evangelien-Synopse benutzt. 15 Falls hier mit Betsaida die Stadt am nordöstlichen Ufer des Sees Genezareth gemeint ist, ergibt sich

ein Problem mit Lk 9,10: Ausgangspunkt und Ziel der Schifffahrt wären der gleiche Ort. Wal-voord löst dieses Problem mit der Erklärung, dass Betsaida Julias (östlich des Jordans gelegen) sich bis auf die westliche Seite des Jordans ausbreitete und dort „Betsaida in Galiläa“ genannt wurde, eine Vorstadt von Kapernaum“ (Walvoord, das Neue Testament Band 4, 158). Diese These würde bestätigt durch Johannes, der als Ziel der Schifffahrt Kapernaum nennt.

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Was zum Sondergut von Matthäus gehört sind die Verse 28-31, der Wandel des Pet-

rus auf dem Wasser. Die Stillung des Sturms wird nur von Matthäus und Markus

erwählt. Die Reaktion der Jünger auf das Erlebte fällt in den drei Evangelien unter-

schiedlich aus: bei Matthäus kommt es zur Anbetung (Mt 14.33), Markus schreibt

vom Entsetzen der Jünger (Mk 6,51) und Johannes beschreibt, dass die Jünger Jesus

in das Schiff nehmen wollten (Joh 6,21).

Auffallend beim synoptischen Vergleich ist, dass der Schluss der Perikope unter-

schiedlich erzählt wird. Dass Matthäus mit der Proskynese endet zeigt, dass es ihm

darum geht, Jesus als Messias darzustellen. Eine erste Proykynese finden wir schon

ganz früh im Evangelium: die Anbetung der Magoi (Mt 2,11). Mt 14,33 ist ein weite-

rer Schritt Richtung des grossen Bekenntnisses von Petrus in Mt 16,16: „du bist

Christus“. Interessanterweise fehlt die Anbetung bei Markus, obwohl sich Jesus ge-

nau gleich offenbart durch das +γẃ ε&µ. Stattdessen schreibt Markus, dass die Jün-

ger sich entsetzten, nichts verstanden und ihr Herz verhärteten. Hier kommt vermut-

lich das für Markus typische Messiasgeheimnis (Mk 5,43) zum Ausdruck, den Mes-

sias unerkannt zu lassen.

2. 7. VERMUTETE HAUPTINTENTION

Diese Perikope ist in erster Linie ist eine Offenbarung der Göttlichkeit Jesu vor sei-

nen Jüngern. Durch das, was Jesus tut (Wunder des Seewandels, Rettung in Not) und

sagt (+γẃ ε&µ) erkennen die Jünger: „du bist wahrhaftig Gottes Sohn“.

2. 8. BEGRIFFSANALYSE

2. 8. 1. Wortstatistik 16

Das am häufigsten vorkommende Substantiv in dieser Perikope ist πλο�ον. Es wird

5-mal verwendet. Im Matthäusevangelium kommt der Begriff insgesamt 13-mal vor,

2-mal davon beim Wunder der Sturmstillung (Mt 8,23-27). Im gesamten NT er-

scheint der Begriff 66-mal. Das Substantiv Lνεµο̋ wird 3-mal verwendet. Im Evan-

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gelium kommt es 9-mal vor, davon je 2-mal im Gleichnis vom Hausbau und bei der

Sturmstillung. Im NT wird der Begriff 31-mal verwendet mit dem häufigsten Vor-

kommen bei Matthäus. 7χλο̋ ist ein häufig vorkommender Begriff. Im NT erscheint

er 174-mal, in den Briefen wird der Begriff nicht gebraucht. In Matthäus erscheint

dieses Substantiv am häufigsten mit 49 Vorkommen; in der Perikope wird es 2-mal

verwendet. Ebenfalls ein häufiger Begriff ist µαθητà̋. In der Perikope wird er 2-

mal gebraucht, bei Matthäus 73-mal, im Neuen Testament 262-mal, wobei auffallend

ist, dass der Begriff vor allem ein evangeliumspezifischer Begriff ist, der in der A-

postelgeschichte nur 28-mal und in den Briefen überhaupt nicht verwendet wird. Das

Substantiv θáλασσα verwendet Matthäus in der Perikope ebenfalls 2-mal. Im Evan-

gelium erscheint der Begriff 16-mal und im NT 91-mal, am häufigsten in den Evan-

gelien und der Offenbarung. Den Vokativ Κúρε, der in der Perikope 2-mal er-

scheint, verwendet Matthäus 31-mal im Evangelium. κúρο̋ erscheint bei Matthäus

80-mal und 718-mal im NT.

Bei den Verben erscheint λéγω mit 5 Verwendungen am häufigsten in der Perikope.

Im Evangelium kommt das Verb 289-mal vor und 1318-mal im NT. Das seltenere

λαλéω, welches im NT 298-mal verwendet wird, erscheint im Evangelium 26-mal

und 1-mal in dieser Perikope. Das ebenfalls häufig vorkommende Verb

Dρχοµα erscheint in diesem Abschnitt 3-mal, bei Matthäus 111-mal und im NT

631-mal. περπáτω wird 2-mal verwendet, erscheint bei Matthäus 7-mal und im NT

95-mal. Das Verb κρáξω erscheint im NT 55-mal, bei Matthäus kommt das Verb

mit 12 Verwendungen am häufigsten vor und in der Perikope braucht Matthäus den

Begriff 2-mal.

2. 8. 2. Paralleltexte

Mit der Offenbarung Jesu +γẃ ε&µ (Mt 14,27) macht er aller Wahrscheinlichkeit

nach eine Anspielung auf den Gottesnamen in Ex 3,14. Hier offenbart sich Gott mit

seinem Eigennamen in der LXX mit „+γẃ ε&µ , Mν¨. Bei Matthäus kommt dieses

+γẃ ε&µ 2-mal vor: in der Auseinandersetzung Jesu mit den Sadduzäern (Mt 22,32),

wo er Ex 3,6 zitiert und in den Endzeitreden, wo er über das Kommen der falschen

Messiasse spricht (Mt 24,5). Bei Markus erscheint diese Wendung ebenfalls 3-mal:

16 Die statistischen Angaben stammen aus: Morgenthaler, Statistik.

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beim Seewandel (Mk 6,50), in den Endzeitreden (Mk 13,6) und als Krönung in der

Antwort Jesu auf die Frage des Hohepriesters bei der Gefangennahme, ob er der

Messias sei: +γẃ ε&µ (Mk 14,62). Dieses Bekenntnis finden wir ebenfalls bei Lukas

(Lk 22,70). Als Jesus nach seiner Auferstehung den Jüngern begegnet, spricht er zu

ihnen: +γẃ ε&µ (Lk 24,39). Bei Johannes erscheint das +γẃ ε&µ am häufigsten: im

Evangelium 29-mal und in der Apokalypse 5-mal. Erwähnenswert sind vor allem

auch die 7 Ich-Bin-Worte (Joh 6,35; 8,12; 10,9; 10,11; 11,25; 14,6; 15,5), wo Jesus

bildliche Ausdrücke als Prädikate verwendet. Darin offenbart er auf eindrückliche

Weise, wer dieser „ich bin“ Gott ist. Und als der +γẃ ε&µ kann Jesus Christus auch

sagen: µ# φοβε�σθε (Mt 14,27). Diese Aussage finden wir in den Evangelien 20-

mal, 8-mal bei Matthäus. Im übrigen NT kommt sie 5-mal vor. Häufig ist das

„Fürchtet euch nicht“ im AT, es erscheint 96-mal, am häufigsten beim Propheten

Jesaja. Dieses „Fürchtet euch nicht“ erscheint in Situationen, in denen Menschen sich

ängstigen. Die Situation der Jünger im Sturm ist dafür beispielhaft. Sie befanden sich

in Not und wurden bedrängt Nπò τ5ν κµáτων. Diese Wendung braucht Matthäus

auch in der Perikope der Sturmstillung (Mt 8,24ff). Auch hier geraten die Jünger in

Not, fürchten sich und machen in dieser Situation ein tief greifendes Erlebnis, indem

Jesus als allmächtiger Sohn Gottes den Sturm stillte.

Die Zeitangabe τετáρτA δè φλακO τ�̋ νκτò̋ verwendet auch Markus (Mk 6,48).

Die Nächte wurden in vier Wachen eingeteilt: 18-21 Uhr, 21-24 Uhr, 24-03 Uhr, 03-

06 Uhr. Die letzte Wache wurde auch Morgenwache genannt und in dieser Zeit ist

Jesus seinen Jüngern begegnet. Paralleltexte finden wir auch zur Wendung

ε&̋ τò 7ρο̋. Wir lesen an mehreren Stellen in den Evangelien, dass Jesus sich auf

einen Berg begeben hat. Oft, um in die Stille zu gehen (Lk 6,12), aber auch, um zu

Lehren wie bei der Bergpredigt (Mt 5,1). Berge scheinen in der Bibel eine besondere

Rolle zu spielen. Mehrere Persönlichkeiten der Bibel haben auf einem Berg besonde-

re Gotteserlebnisse gemacht und göttliche Offenbarungen erlebt: so z.B. Mose auf

dem Berg Sinai, als er die Zehn Gebote erhielt (Ex 19,20), Elia auf dem Berg Kar-

mel, als er für Jahwe kämpfte (1Kö 19,19ff) und der Tempel Salomos wurde auf dem

Berg Zion erbaut (1Kö 8,1). Auf einem Berg erlebten einige Jünger die Verklärung

Jesu (Mt 17,1-13) und die letzten Worte, die Jesus an seine Jünger richtete bevor er

zum Himmel fuhr, redete Jesus von einem Berg aus (Mt 28,16).

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Auffallend ist auch die Wendung Οψíα̋ δè γενοµéνη̋. Sie ist vermutlich eine Re-

dewendung ohne besondere Bedeutung. Matthäus verwendet sie 7-mal, bei Markus

finden wir diese Wendung 4-mal.

2. 8. 3. Begriffserklärung

µαθητ#̋

Der Begriff µαθητ#̋ beschreibt erst einmal einen Menschen, der sich an eine andere

Person bindet, um von ihr zu lernen (µανθανω) im Sinne einer Ausbildung wie z.B.

Lehrlinge im Handwerk oder Studenten in einer Philosophenschule. Die Verbindung

zwischen µαθητ#̋ und dem δδασκαλο̋ (Lehrer) ist sehr eng und geht über ein

Schüler-Lehrer Verhältnis hinaus. In der Zeit vor Sokrates war es üblich, dass der

µαθητ#̋ dem δδασκαλο̋ ein Honorar bezahlte – die Verbindung hatte also einen

kommerziellen Aspekt, später rückte dann das persönliche Verhältnis zwischen Jün-

ger und Meister in den Vordergrund. Oft wurden die Philosophien der Meister von

ihren Jüngern weiterentwickelt und sie waren auch deren Verwalter und Verbreiter,

deshalb bezeichnet der Begriff auch Anhänger einer bestimmen Philosophie oder

Weltanschauung. Im AT finden wir das System des Lernens durch einen Meister

auch. So gab es z.B. Prophetenschulen, wo die „Söhne“ von den „Propheten“ lernten

(2Kö 2,3). Der Begriff des Jüngers findet sich selten (Jes 8,16; 50,4). Weiter verbrei-

tet war der Begriff Talmid, vor allem im rabbinsichen Judentum, der einen Schüler

des Rabbis bezeichnete. Eine wichtige Rolle spielt im AT auch das Lernen von Gott

(Jes 50,4). Zu lernen gilt es vor allem, den Willen Gottes zu tun wie Mose den Pries-

tern gebot: „Versammle das Volk … damit sie es hören und lernen und den HERRN,

euren Gott, fürchten und alle Worte dieses Gesetzes halten und tun“ (Dt 31,12).

Im NT bezeichnet der Begriff in erster Linie die Anhänger Jesu. Es ist jedoch auch

die Rede von den Jüngern des Johannes und den Jüngern der Pharisäer. Neu bei Jesus

ist die Berufung der Jünger (Mk 3,13) – im Rabbinat und bei den griechischen Phlo-

sophenschulen musste sich ein Schüler um eine Aufnahme in den Jüngerkreis bemü-

hen. Jesus stellt auch nicht das Wissen ins Zentrum, sondern den Glauben. Kenn-

zeichnend dafür ist die Bitte der Jünger an Jesus: „Mehre uns den Glauben“ (Lk

17,5). Der Begriff µαθητ#̋ wird in der Apg ausgeweitet auf die Mitglieder der Ur-

gemeinde (Apg 6,1). In den Briefen wird der Begriff nicht mehr gebraucht.

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7χλο̋

7χλο̋ ist einer von mehreren Begriffen17, die häufig mit dem deutschen Wort Volk

übersetzt werden. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine unorganisierte Volks-

menge, man könnte auch vom Pöbel sprechen. Den Gegensatz zum 7χλο̋ bilden

die Vornehmen und Angesehenen, die führenden Kreise; diese verachteten die

Volksmenge als Ungebildete und Heruntergekommene. In der LXX geht die Ver-

wendung des Begriffs in die gleiche Richtung im Sinne einer Volksmenge. An eini-

gen Stellen wird 7χλο̋ im militärischen Sinne verwendet für das Heer.

Im NT wird der Begriff ebenfalls im Sinne eines „Volkshaufens“ verwendet.

7χλο̋ erscheint im NT 174-mal, dies fast ausschliesslich18 in den Evangelien und in

der Apostelgeschichte. Jesus war auffallend häufig vom 7χλο̋ umgeben – von

Menschen, die nicht zur politischen oder religiösen Elite gehörten, sondern ungebil-

det und verachtet waren. Auch die Jünger waren ein 7χλο̋ (Lk 6,17). Doch gerade

solchen Menschen wendet Jesus sich zu, denn er ist „gekommen, die Sünder zu rufen

und nicht die Gerechten“ (Mt 9,13).

πλοον

Der Begriff πλοον bezeichnete im antiken Griechenland im Allgemeinen ein

Schiff, speziell ein Lastschiff. Im AT wird für Schiff der hebräische Begriff onijja

verwendet. Da die Hebräer keine Seeleute waren, spielt die Schifffahrt im AT eine

unbedeutende Rolle. Schiffe werden zwar an einigen Stellen erwähnt (z.B. Ge 49,13,

1Kö 22,48 u.,a.) aber einzig in der Jonaerzählung spielt ein Schiff eine bedeutende

Rolle. Die Fischerei auf dem See Genezareth wird im AT nicht erwähnt.

Im NT meint der Begriff πλοον ein grösseres Fischerboot. Solche Boote wurden

meistens auf dem See Genezareth eingesetzt. Das NT unterscheidet zwischen dem

grossen πλοον und einem kleineren πλοáρον. Mitte der 80er Jahre wurde ein

antikes Schiff aus dem Uferschlamm des See Genezareths gehoben. Dieses Schiff

17 λαο̋ <Volk), δηµο̋ <Volksversammlung), εθνο̋ (Nation). 18 Einzig in der Offenbarung wird der Begriff 4 mal erwähnt.

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war 8,2 m lang, 2,3 m breit und 1,2 m tief. Es besaß Ruder und Segel und wurde von

einer mehrköpfigen Mannschaft gesteuert.

θáλασσα / Fδωρ

Die Herkunft des Begriffes θáλασσα ist unklar. Im Griechischen bezeichnet der

Begriff seit Homer das Meer, die offene See. Im AT erscheint der Begriff

θáλασσα in der LXX 370-mal. Es wird nicht unterschieden zwischen den offenen

Gewässern und Binnenseen. Genannt werden das Mittelmeer, das Schilfmeer (rotes

Meer), das Salzmeer (Totes Meer) und der See Kinneret (See Genezareth). Für die

Menschen des AT war das Meer eine Sphäre des Unheils, vermutlich zurückzuführen

auf die Beziehung des Meeres zum Chaos (Ge 1,2). Sie betrachteten es als Wohnort

gottesfeindlicher Mächte wie Drachen und Dämonen (Hiob 7,12; Jes 27,1).

Im NT wird wie im AT ebenfalls nicht unterschieden zwischen offenem Meer und

Binnensee. Deshalb bezeichnet Matthäus den See Genezareth als galiläisches Meer.

Einzig Lukas bezeichnet den See als λíµνη (Lk 5,1). Wie im AT hat auch im NT das

Meer nach wie vor eine bedrohliche Seite. Petrus bekommt dies – im wörtlichen Sin-

ne - am eigenen Leib zu spüren, indem er in den Wasserwogen unterzugehen drohte.

In der Apokalypse des Johannes ist das Meer Wohnort dämonischer Ungeheuer

(Offb 13,1).

Beim Begriff Fδωρ handelt es sich um die Bezeichnung von Wasser. Im Kontext der

Seewandel-Perikope bedeutet Wasser das Meer. Der Wandel von Petrus und Jesus

auf dem Meer ist eigentlich ein Wandel auf den Wassern (Plural!).

φαντασµα

Der Begriff φαντασµα war bei den Griechen erst einmal ein philosophischer Beg-

riff. Schon vor Aristoteles wird er verwendet im Zusammenhang mit der Vorstel-

lungskraft des Menschen. Ein Bild, das sich ein Mensch in Gedanken vorstellt, ist ein

φαντασµα. Diese Bedeutung ist eng verwandt mit unserem heutigen Begriff Phanta-

sie. Es gibt jedoch auch Hinweise dafür, dass im Volk unter φαντασµα eine Geister-

erscheinung verstanden wurde im Sinne eines Gespenstes, wie der Begriff heute

volkstümlich verwendet wird. Im Judentum finden wir auch den Glauben an Geister-

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erscheinungen. So geht z.B: Saul zur Totenbeschwörerin in En-Dor, um Kontakt mit

dem Geist Samuels aufzunehmen.

Der Begriff φαντασµα erscheint im NT nur im Zusammenhang mit dem Seewandel

(Mt 14,26, Mk 6,49). Aufgrund der Reaktion der Jünger auf das, was sie gesehen

hatten – ihre Furcht - ist anzunehmen, dass bei ihnen die volkstümliche Bedeutung

im Vordergrund steht. Bei φαντασµα handelt es sich nicht nur um eine imaginäre

Erscheinung, sondern um ein reales Geschehen. Diese Bedeutung wird bestätigt

durch die Verwendung des Begriffs φανταζóµενον in Hebr 12,21. Der Autor nimmt

hier Bezug auf die Erlebnisse von Mose am Berg Sinai, welche keine „Phantasie“

waren, sondern real.

κúρο̋

κúρο̋ wurde im Griechischen eine höhergestellte Person genannt und bezeichnet in

erster Linie einen Herr, einen Herrscher. Sklaven bezeichneten ihre Meister als

κúρο̋. Eine religiöse Bedeutung findet sich im älteren Griechentum kaum. Im Ori-

ent hingegen wurden Götter als Herren bezeichnet. Später hielt die religiöse Bedeu-

tung auch im Hellenismus Einzug. Caligula war der erste römische Kaiser, der sich

als Gott anbeten liess. In einer Inschrift wird Kaiser Nero bezeichnet als κοσµο κ-

ρο̋ (Herr der ganzen Welt)19. In der LXX kommt der Begriff κúρο̋ über 9000-

mal (!) vor. Meistens hat der Begriff eine religiöse Bedeutung, selten bezieht er sich

auf Menschen. In der Mehrzahl der Stellen wird mit κúρο̋ der Namen Gottes

JHWH übersetzt.

Im NT kommt der Begriff κúρο̋ an 719 Stellen vor. Er ist das dritthäufigste Nomen

im NT. Verwendet wird es selten in einem profanen Sinne(Mt 18,25), meistens in

einem religiösen. Gott wird als κúρο̋ bezeichnet, häufig in den alttestamentlichen

Zitaten. Zentrale Bedeutung hat die Bezeichnung Jesu als κúρο̋. Schon vor seinem

Tod wurde Jesus von seinen Jüngern mit κúρο̋ angesprochen. Diese Anrede könnte

auf den Titel Rabbi zurückgehen. Der Begriff zeigt die Akzeptanz der Jünger der

Autorität Jesu. Sie waren bereit, ihrem κúρο̋ zu folgen und zu gehorchen, was auch

19 Theologisches Begriffslexikon, Art Herr, 926

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deutlich sichtbar wird im Seewandel des Petrus (Mt 14,28). Nach Ostern bekam der

Begriff noch einmal eine Bedeutungssteigerung. Jesus war nicht nur Herr, wie es im

ältesten Bekenntnis κúρο̋ Ιησο�̋ (Vlg. Rö 10,9) ausgedrückt wird, sondern Herr

über alle Herren: „Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben,

der über alle Namen ist“ (Phil 2,9). In seltenen Fällen wird der Begriff auch ge-

braucht, um heidnische Gottheiten zu bezeichnen (1Kor 8,5).

προσκνéω

Der Begriff προσκνéω geht vermutlich zurück auf das Verb κνéω, welches mit

Küssen übersetzt werden kann. Gemeint ist eine Geste der Verehrung, die sich darin

äussert, dass sich jemand zu Boden wirft, um die Füsse eines Herrschers zu küssen

oder – im religiösen Sinne – das Küssen des Bodens. Προσκνéω ist immer ein

Zeichen der Ehrbietung und Demut. Im AT erscheint der Begriff 160-mal – wir fin-

den sowohl eine profane (Ge 37,7) als auch eine religiöse Bedeutung. Das sich Nie-

derwerfen vor Gottheiten spielte in altorientalischen religiösen Kulten eine ganz

wichtige Rolle (1Kö 19,18). Im Dekalog wird die Proskynese fremder Gottheiten

untersagt (Ex 20,5), anbetungswürdig ist alleine JHWH (2Kö 17,36).

Im NT erscheint der Begriff 60-mal, am häufigsten in der Offenbarung. Der Begriff

προσκνéω wird auch hier verwendet im Sinne einer Huldigung.

Προσκνησ̋ gehört wie im AT alleine Gott, auch wenn im NT Satan angebetet

werden möchte (Mt 4,9). Petrus lehnt die Proskynese des Kornelius (Apg 10,25) e-

benso ab wie der Engel in der Offenbarung, den Johannes anbeten wollte (Offb

19,10). In der Perikope des Seewandels ist die Proskynese nach der Sturmstillung

(Mt 14,33) ein Ausdruck des Glaubens und der Anerkennung Jesu als

κúρο̋ und !ò̋ το� θεο�. Das Verb προσκνéω findet sich bei Paulus zwar nur

in 1Kor 14,25, aber im Christushymnus in Phil 2,11f wird genau das beschrieben,

was mit προσκνéω gemeint ist: „daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller

derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen

bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“.

2. 9. KLÄRUNG DES INTERPRETATIONSRAHMENS

Wenn man die Perikope mit den Paralleltexten vergleicht fällt auf, dass Jesus sich

nicht nur mit dem Gottesnamen +γẃ ε&µ offenbart, sondern das diese Worte eng

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verknüpft sind mit den Taten, mit denen Jesus seine Aussage unter Beweis stellt. Er

beweist seine Göttlichkeit, in dem er Wunder vollbringt und zum Retter für die Jün-

ger wird. Dies erinnert an die Geschichte des Exodus: Gott hat sich dort nicht nur als

der „ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14) offenbart, sondern dies durch Wunder (Zehn Pla-

gen, Ex 7-12) und Rettungstaten (Ex 14,13) unter Beweis gestellt. Bei Johannes ste-

hen die „Ich-Bin-Worte“ primär im Zusammenhang mit den Prädikaten, die ihn als

Sohn Gottes genauer beschrieben und beim Verhör vor dem Hohepriester ist es ein

Bekenntnis Jesu (Mk 13,6). Auffällig ist auch, dass Jesus sich beim Seewandel aus-

schliesslich den Jüngern offenbart, während die anderen Selbstoffenbarungen Jesu

z.T. auch vor dem Volk stattfanden. Die Aussage Jesu: „Fürchtet euch nicht“ (Mt

14,27) steht im Kontext der Epiphanie. Dies lässt sich z.T. auch in den Parallelstel-

len beobachten. Bei der Engelserscheinung bei Josef (Mt 1,20) und bei der Begeg-

nung der Frauen am Grab mit einem Engel (Mt 28,5) finden wir diese Aussage eben-

falls. Im AT steht dieses „Fürchte dich nicht“ ebenfalls nicht selten im Zusammen-

hang mit einer Gottes- oder Engelserscheinung (Ge 15,1; Ge 26,24).

.

Die Perikope enthält keine speziellen Bildworte, ebenso keine direkten Zitate aus

dem Alten Testament. Auf die Anspielung Jesu auf den Gottesnamen wurde schon

eingegangen und diese wird auch in der Interpretation eine wichtige Rolle spielen,

ebenso das Wunder des Seewandels und die Rettungstat Jesu.

3. INTERPRETATION DES TEXTES

3. 1. HISTORISCH-THEOLOGISCHE INTERPRETATION

(22) Und sogleich nötigte er die Jünger, in das Schiff zu steigen und ihm vo-

rauszugehen an das jenseitige Ufer, währenddem er sich vom Volk verabschie-

dete. Dieser Vers stellt uns vor eine ganz wichtige Frage: Weshalb nötigte Jesus sei-

ne Jünger, in das Schiff zu steigen und ihm vorauszufahren? Die Antwort liefert uns

Joh 6,15: der 7χλο̋ wollte Jesus zum König machen. Sie wollten ihn zum Herrscher

ausrufen, der sich gegen die Macht der Römer erheben und das Volk befreien würde.

Das Volk sah in Jesus einen Retter, doch war ihre Vorstellung des Messias zutiefst

menschlich und irdisch. Jesus wusste: Sein Auftrag war ein anderer: sein Reich war

nicht von dieser Welt (Joh 18,36), er sollte zum Lamm Gottes werden, das der Welt

Sünde trägt (Joh 1,29). Zuerst das Kreuz und dann die Krone - zuerst das Leiden und

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dann die Herrlichkeit. Doch dafür war die Zeit noch nicht reif. Deshalb schickte Je-

sus seine Jünger weg, die in der Gefahr standen, vom Pöbel in einen Sog gezogen zu

werden. Jesus selbst zog sich auf einen Berg zurück zum Gebet.

(23) Und nachdem er das Volk verabschiedetet hatte, ging er für sich alleine

hinauf auf den Berg, um zu beten. Nachdem es aber Abend geworden war, war

er alleine. Die Geschichte der Versuchung Jesu zeigt, dass Macht eine der grossen

Versuchungen darstellt (Mt 4,8f). Jesus erlebte auch hier eine solche Versuchung und

in dieser Situation tat er das einzig Richtige was ein Mensch in Versuchung tun

kann: er suchte die Nähe Gottes (vgl. Mk 14,38). Die hereinbrechende Nacht und die

Einsamkeit kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Stunden der Versu-

chung sind immer finstere Stunden, da Satan der Fürst der Dunkelheit ist (vgl. Kol

1,13). Der Weg Jesu zum Kreuz ist auch ein Weg der Einsamkeit. Die Menschen

konnten ihn nicht verstehen – sogar die Jünger verstanden bis zur Passion Jesu nicht,

was es mit dem Kreuz auf sich hat. Doch Jesus ging diesen Weg unbeirrt trotz Fins-

ternis und Einsamkeit.

(24) Das Schiff aber war schon viele Stadien vom Ufer entfernt und wurde be-

drängt von den Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen. Währenddem Jesus

in der Dunkelheit und Einsamkeit war, hatten die Jünger einen anderen Kampf zu

kämpfen: Mit ihrem Schiff gerieten sie in einen Sturm. Wind und Wellen wurden zu

Chaosmächten, die das Schiff in Not brachten. Das passive Verb βασανζóµενον

könnte man auch übersetzten mit „gequält werden“. Oft wird dieser Begriff im Zu-

sammenhang mit menschlicher Not verwendet (vgl. Mt 8,6, Offb 12,2). Das Schiff

der Jünger wird gequält von den Mächten des Chaos und wird somit zum Sinnbild

für die Situation vieler Menschen, die durch Not und Qual gehen. Eduard Schwei-

zer20 und mit ihm auch andere Ausleger sehen das Schiff auch als Symbol für die

Gemeinde21 und wenn wir die Entwicklung der Kirche in der Geschichte betrachten,

so gab es doch so manche Situation, wo dieses Schiff in Bedrängnis geraten ist: in

20 Schweizer, Matthäus NTD2, 210. 21 Das Bild der Gemeinde als Schiff wird im Lied „Ein Schiff das sich Gemeinde nennt“ von Martin

Gotthard Schneider wunderbar verarbeitet (Liederbuch der Heilsarmee Nr. 317).

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Dunkelheit, hohe Wellen und ein starker Wind der entgegenweht. Doch in aller Not

lässt Jesus die Seinen nicht alleine.

(25) Aber in der vierten Nachtwache kam er zu ihnen, indem er auf dem Meer

wandelte. Jesus begegnet seinen Jüngern im Morgengrauen. In der Geschichte Isra-

els sehen wir, dass Gott mehrmals im Morgengrauen den Seinen zu Hilfe gekommen

ist. So z.B. am Schilfmeer (Ex 14,24), Sauls Sieg über die Ammoniter (1Sam

11,11.14) oder auch in den Psalmen wo es über die Stadt Gottes heisst: „Gott ist bei

ihr drinnen, darum wird sie festbleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen“ (Ps 46,6).

Matthäus beschreibt auch, wie Jesus zu den Jüngern kam: auf dem Meer gehend.

Nach dem Wunder der Speisung der 5000 ist dieses Wunder eine weitere eindrückli-

che Demonstration der Macht Jesu, welche seine Göttlichkeit offenbart. Er ist Herr

über Himmel und Erde. Jesu Wandel auf dem Meer und auch die Sturmstillung

könnte aber verstanden werden als Sieg über die chaotischen22 und auch dämoni-

schen Mächte23. Auf diesen Sieg Jesu über die teuflischen Chaosmächte nimmt Pau-

lus in Kol 2,15 Bezug.

(26) Als aber die Jünger ihn auf dem Meer wandeln sahen, gerieten sie in Auf-

regung und sagten: dies ist ein Gespenst und aus Furcht schrien sie. Auf das,

was die Jünger in jener Nacht gesehen hatten, waren sie nicht vorbereitet. Sie hatten

noch nie jemanden auf dem Wasser gehen sehen, auch Jesus nicht. So erstaunt es

nicht, dass sie die Gestalt, die da auf dem Wasser wandelte, für ein Gespenst hielten.

Im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass das Meer Wohnort der Dämonen ist, ist

die Furcht der Jünger mehr als verständlich. Geschürt wurde diese durch Erzählun-

gen darüber, „dass um Mitternacht auf dem Meer Gespenster umgingen und die

Schiffer in die Tiefe zögen“24. Die Partizipialkonstruktion im Satz, welche die

Gleichzeitigkeit des Redens und Schreiens betont, streicht die Dramatik der Situation

besonders heraus.

22 δáβολο̋, wörtl. der „Durcheinanderbringer“. 23 Vgl. Anmerkungen zum Begriff θáλασσα 17. 24 Rienecker, Das Evangelium des Matthäus, 206.

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(27) Sogleich aber redete Jesus zu ihnen und sagte: seid guten Mutes, ich bin es!

Fürchtet euch nicht.

Die Reaktion Jesu auf die Furcht der Jünger folgt unmittelbar. ε�θéω̋ antwortet

Jesus auf das Schreien der Jünger, spricht zu ihnen und gibt sich zu erkennen. E-

piphanien lösen bei Menschen häufig Furcht aus: von Mose lesen wir, dass er sich

bei der Begegnung mit Gott im brennenden Dornbusch das Angesicht verhüllte aus

Furcht (Ex 3,6), Jesaja schrie „Weh mir, ich vergehe!“ (Jes 6,5) als er Gott in einer

Vision sah und auch die Jünger erschraken und fürchteten sich, als ihnen der Aufer-

standene begegnete (Lk 24,37). Doch auf die Furcht des Menschen folgt die Antwort

Gottes: „Fürchtet euch nicht“. An diese Stelle kann dieses µ# φοβε�σθε zweifach

verstanden werden: einerseits im Sinne von „Fürchtet euch nicht vor mir, denn ich

bin es, nicht ein Gespenst sondern euer Meister, Jesus“ oder aber auch „Fürchtet

euch aber auch nicht in der Situation in der ihr euch befindet. Egal wie stark der

Sturm, ich bin da“. Diese Worte haben schon so viele im Schiff der Gemeinde ge-

tröstet und aufgerichtet. Und Matthäus nennt auch den Grund, weshalb sich die Jün-

ger nicht zu fürchten brauchen: Jesus offenbart sich als der „+γẃ ε&µ¨. Mit dieser

Aussage zeigt Jesus einerseits, dass er, Jesus von Nazareth, den Jüngern erscheint

und nicht irgend ein Gespenst. Mit dem +γẃ ε&µ offenbart sich aber Jesus auch als

Sohn dessen Gottes, der sich schon Mose mit dem Namen +γẃ ε&µ offenbart hat (Ex

3,14). In ihm, Jesus Christus, wird der lebendige Gott JAHWE sichtbar (Joh 1,18).

(28) Petrus aber antwortet ihm und sagte: Herr, wenn du es bist, befiehl mir zu

dir zu kommen auf dem Wasser. Die folgenden 4 Verse sind Sondergut des Mat-

thäus. Es ist eine Geschichte von mutigem Glaube und zweifelndem Kleinglaube.

Das, was Petrus soeben gesehen und erlebt hat, motiviert ihn zu grossen Glaubensta-

ten. Er greift erst einmal die Offenbarungsformel auf und sagt zu Jesus: „wenn du es

bist, befiehl mir zu dir zu kommen“. Dieses „wenn du es bist“ kann unterschiedlich

interpretiert werden. Einerseits im Sinne eines Zweifelns: Petrus ist sich nicht sicher

ob es wirklich Jesus ist und er erwartet von ihm eine weitere Bestätigung. Dagegen

spricht jedoch, dass Petrus Jesus mit κúρο̋ anspricht und das +γẃ ε&µ aufgreift.

Vermutlich ist diese Äusserung eher ein Ausspruch des Vertrauens. Oberlinner

schreibt: „Es ist deshalb m.E. verfehlt, des Petrus Worte „wenn du es bist" als „zwei-

felnde Feststellung" zu interpretieren, … Mit der Wiederholung der Worte Jesu und

der damit verbundenen Anerkennung von dessen gottgleicher Macht schafft Petrus

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die Grundlage für seine Bitte, Jesus möge ihm „befehlen", zu ihm „über die Wasser

hin" zu kommen“25. Petrus springt nicht einfach ins Wasser, sondern er macht es wie

bei der Berufungsgeschichte auf das Wort Jesu hin (Lk 5,5). Glaubenstaten ohne Jesu

Ruf sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie müssen aber auch auf ein kla-

res Ziel ausgerichtet sein: Christus. Mit seinem Wagnis hat Petrus ein klares Ziel vor

Augen: er will nicht einfach das Wunder erleben, sondern er will zu Jesus.

(29) Er aber sagte: komm. Und nachdem Petrus aus dem Schiff gestiegen war,

wandelte er auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Die Antwort von Jesus be-

steht aus einem Wort: komm. Für Petrus genügt dieses eine Wort: er geht das Wagnis

ein, verlässt jegliche Sicherheit, steigt aus dem Schiff und das Wunder passiert: er

wird vom Wasser getragen. Das Unmögliche wird möglich da, wo Gott seine Hand

im Spiel hat (vgl Mt 19,26). Sein Glaube trägt ihn. Der Mut des Petrus ist beach-

tenswert. Es bleibt aber die Frage, ob dieses aus dem Schiff steigen nicht auch als

Übermut interpretiert werden könnte. Dies würde sehr gut zur Persönlichkeit des

Petrus passen; nicht selten agierte er übermütig (vgl. Joh 18,10). Dagegen spricht

jedoch, dass Petrus erst aus dem Schiff stieg, nachdem Jesus ihm den Befehl erteilt

hat. Vermutlich hatte Petrus an dieser Stelle für einmal sein Temperament im Griff.

Er steigt aus dem Schiff, wandelt auf dem Wasser und geht auf Jesus zu.

(30) Als er aber den (starken) Wind sah, fürchtete er sich und als er zu sinken

begann schrie er und sagte: Herr, rette mich. Der Wandel auf dem Wasser geht so

lange gut, wie Petrus auf Jesus zu geht und den Blick auf ihn gerichtet hält. Als er

seinen Blick jedoch wieder dem Wind zuwandte, begann er zu sinken. Die Realität

der Chaosmächte hat Petrus wieder eingeholt. Hier zeigt sich: Sieg über die Chaos-

mächte gibt es nur im Zusammenhang mit Jesus. Wer den Blick von ihm abwendet,

verliert unweigerlich den Boden unter den Füssen und geht im Chaos unter. Ähnlich

erging es Israel, als sie von giftigen Schlangen umgeben wurden. Wer den Blick auf

die eherne Schlange richtete, blieb am Leben (Num 21,8-9). Dies gilt auch den Gläu-

bigen: es ist der Blick auf den Gekreuzigten, der uns nicht im Chaos untergehen

lässt. Diese Botschaft hielt auch Paulus für die wichtigste aller Botschaften: „Denn

25 Oberlinner, Können Wunder schief gehen, 93-94.

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ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Ge-

kreuzigten“ (1Kor 2,2). Als Petrus untergeht kann er nur noch eines: zu seinem Herrn

schreien. Er weiss immer noch wer ihm helfen kann. Es ist also totale Verzweiflung,

sondern Kleinglaube.

(31) Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus und fasste ihn und sagt zu ihm:

Kleingläubiger, warum zweifelst du? Die Reaktion Jesu auf die Furcht des Petrus

folgt wieder unmittelbar wie schon die Furcht der Jünger im Schiff: ε�θéω̋ fasste

Jesus die Hand von Petrus und er durfte erleben, wovon schon der Psalmist geschrie-

ben hat: "rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten“ (Ps 50,50a). Jesus wird

für Petrus zum ganz persönlichen σωτ#ρ. Trotz des Abwendens seines Blickes gibt

Jesus Petrus nicht auf und steht ihm bei. Dies ist eine Botschaft, die sich wie ein roter

Faden durch das ganze AT zieht: immer wieder haben Menschen versagt, sind ge-

scheitert und dennoch ist Gott bereit, denen Hilfe zu bieten, die ihn darum bitten.

Hier offenbart sich einmal mehr Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Eine unbequeme

Frage aber bleibt für Petrus: „Kleingläubiger, warum zweifelst du?“ Der Begriff

Kleingläubiger ist typisch für Matthäus – er verwendet ihn ausschliesslich für die

Jünger im Gegensatz zum Unglauben des Volkes. Petrus wird von Jesus nicht als

Ungläubiger bezeichnet, sonst wäre er wohl kaum aus dem Schiff gestiegen. Aber im

entscheidenden Moment minimierte sich der Glaube – und Zweifel machte sich breit.

Schweizer schreibt zum Begriff Zweifel an dieser Stelle folgendes: „… spricht das

griechische Wort vom „Treten nach zwei Seiten hin“, so dass man auf zwei Wegen

zugleich gehen möchte…“26. Und Petrus hat genau das getan: er wandte seinen Blick

von der einen Seite – Christus – hin auf die andere Seite - hin zu den Chaosmächten.

(32) Und als sie in das Schiff gestiegen waren, liess der Wind nach. Ob diese

Sturmstillung ein weiteres Wunder darstellt oder ob der Wind rein zufällig aufgehört

hat erzählt Matthäus an dieser Stelle nicht. Auch Markus und Johannes lassen uns

darüber im Unklaren. Es ist jedoch auch gar nicht so wichtig: zentral ist dass da, wo

Jesus sich befindet, Ruhe einkehrt. Wer zu Jesus kommt – oder er zu ihm, der findet

Ruhe (Mt 11,28).

26 Schweizer, Matthäus NTD2, 210.

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(33) Aber die, die in dem Schiff waren, beteten ihn an und sagten: wahrhaftig,

du bist Gottes Sohn. Die Reaktion der Jünger im Schiff auf das, was sie soeben er-

lebt haben ist Anbetung. Luther schreibt: „Die Wunderzeichen sollen dazu dienen,

dass wir den wahrhaften Gott erkennen“27. Das Erlebnis der Jünger führte genau zu

dem: sie fielen vor Jesus nieder als Zeichen der Ehrfurcht und auch Demut und bete-

ten ihn an. In dem Begriff wahrhaftig kommt eine tiefe Ergriffenheit zum Vorschein.

Das Wunder des Seewandels, das +γẃ ε&µ Jesu, die Art und Weise wie Jesus Petrus

begegnet ist: all das führt die Jünger zur Erkenntnis: dieser Mann ist kein Gewöhnli-

cher. Und ihre Erkenntnis endet im Bekenntnis: du bist Gottes Sohn!

3. 2. SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHE INTERPRETATION

Obwohl es sich bei dieser Perikope um einen Erzähltext handelt, beinhaltet er doch

einige wichtige theologische Aussagen. In erster Linie handelt es sich dabei um

Christologische Aussagen. Mit dem +γẃ ε&µ offenbart sich Jesus als Sohn Gottes.

Die Wunder, die er in dieser Perikope vollbringt, unterstreichen diese Aussage auf

eindrückliche Art und Weise; ebenso das Bekenntnis der Jünger: „du bist Gottes

Sohn“. Es kommt auch ein wichtiger Wesenszug Jesu zum Vorschein: Gnade und

Barmherzigkeit. Selbst im Versagen des Menschen nimmt sich Jesus ihm gnädig an.

Implizit erscheint in dieser Perikope auch die soteriologische Lehre, dass Rettung

von Christus abhängig ist. Petrus hat später selber bestätigt: „Und in keinem andern

ist das Heil (σωτηρíα)“ (Apg 4,12a).

Die Perikope hat aber auch einen anthropologischen Aspekt. So führt sie auf ein-

drückliche Art und Weise die Schwachheit des Menschen vor Augen. Petrus, der in

einem Moment ein mutiger Glaubensheld war, wurde einen Augenblick später zum

kleingläubigen Zweifler. Glaube und Zweifel können manchmal ganz eng beieinan-

der liegen. Das Besondere bei Petrus Zweifel ist, dass dieser ihn in eine engere Be-

ziehung mit Jesus geführt hat. Er ist nicht im Glauben gescheitert – im Gegenteil: er

war der erste, der Christus als Messias erkannt hat (Mt 16,16) und später wurde er zu

einer tragenden Säule in der Gemeinde (Apg 1,15). Zweifel müssen nicht zwingend

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in einer Glaubenskrise enden, sie können daraus auch zur Vertiefung des Glaubens

führen. Und das Wunderbare bei Jesus ist: er nimmt sich auch dem Zweifler an (vgl:

Joh 20,24ff).

Inwiefern in dieser Perikope ekklesiologische Aussagen gemacht werden hängt unter

anderem davon ab, ob Matthäus bewusst das Schiff als Symbol für die Gemeinde

gebraucht hat. In Anbetracht dessen, dass sein Evangelium an eine Gemeinde ge-

reichtet war, könnte man diesen Gedanken durchaus in Betracht ziehen: Mit Gewiss-

heit lässt sich diese Frage aber nicht beantworten. Was sich belegen lässt ist, dass das

Schiff schon in frühchristlicher Zeit als Bild für die Kirche betrachtet wurde. Fischer

zitiert in einer Arbeit über das Kirchenlied „es kommt ein Schiff geladen“ Augusti-

nus der schreibt, dass die Arche „ohne Zweifel ein Bild des in dieser Weltzeit pil-

gernden Gottesstaates, nämlich der Kirche“ sei, „die gerettet wird durch das Holz, an

dem der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus,

hing“28. Nicht wenige Ausleger machen zur Perikope des Seewandels ekklesiologi-

sche Aussagen und es ist durchaus vorstellbar, dass die ersten Leser dieses Textes

das Bild des Schiffes auf ihre Gemeinde übertragen haben so wie es Martin Gotthard

Schneider im Lied „Ein Schiff das sich Gemeinde nennt“ 29 ausdrückt:

Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit. Das Ziel, das ihm die Richtung weist, heißt Gottes Ewigkeit. Das Schiff, es fährt vom Sturm bedroht durch Angst, Not und Gefahr, Verzweiflung, Hoffnung, Kampf und Sieg, so fährt es Jahr um Jahr. Und immer wieder fragt man sich: Wird denn das Schiff bestehn? Erreicht es wohl das große Ziel? Wird es nicht untergehn? Bleibe bei uns, Herr! Bleibe bei uns, Herr, denn sonst sind wir allein auf der Fahrt durch das Meer. O bleibe bei uns, Herr!

27 Martin Luther, WA. 16.103.30f, zitiert nach Peisker, Texte zur Predigt, 88. 28 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstatt. Buch 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wil-

helm Thimme. München 1991, S. 271 zitiert bei Fischer, es kommt ein Schiff geladen, 5. 29 Liederbuch der Heilsarmee, Nr. 317.

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LITERATURVERZEICHNIS

Bücher

• Barclay, Wiliam: Matthäusevangelium 2. Auslegung des Neuen Testaments, Wuppertal 31982

• Bühlmann, Walter: Wie Jesus lebte. Vor 2000 Jahren in Palästina: Wohnen, Es-sen Arbeiten, Reisen. Luzern, Stuttgart, 1997

• Haubeck Wilfrid/Von Siebenthal Heinrich: Neuer Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament. Matthäus bis Apostelgeschichte, Giessen 1997

• Liederbuch der Heilsarmee, hg. v. Heilsarmee Verlag-Vivace, Bern, 1994

• Mauerhofer, Erich: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments Bd. 1, Neuhausen Stuttgart 1995

• Morgenthaler, Robert: Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 1958

• Peisker, Carl Heinz: Luther Evangelien Synopse, Stuttgart 2007

• Peisker, Carl Heinz: Texte zur Predigt. Texte, Zitate, Gedanken zur Predigt, zu Bibelstudium und Unterricht. Bd 2. Wuppertal 1983

• Rienecker, Fritz: Das Evangelium des Matthäus - Wuppertaler Studienbibel, Wuppertal 31963

• Tenney, Merrill C.: Die Welt des Neuen Testamentes, Marburg, 41994

• Schlatter, Adolf: Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selb-ständigkeit, Stuttgart, 71982

• Schnabel, Eckhard (Hg): Das Studium des Neuen Testamentes, Bd 1. Eine Ein-führung in die Methoden der Exegese, Wuppertal u.a. 1999

• Stoy, Werner u.a.: Bibelgriechisch leicht gemacht. Lehrbuch des neutestamentli-chen Griechisch, Giessen 41997

• Von Siebenthal, Heinrich: Kurzgrammatik zum Griechischen Neuen Testament, Basel 2005

• Walvoord, John: Das Neue Testament erklärt und ausgelegt. Matthäus – Römer, Holzgerlingen, 32000

Artikel

• Bietenhard, H.: Art. 7χλο̋ , in: TBLNT (1997), 1819-1820

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• Bietenhard, H.: Art. κúρο̋, in: TBLNT (1997), 926-933

• Böcher, O.: Art. θáλασσα, in: TBLNT (1997), 1856-1858

• Böcher, O.: Art. Fδωρ, in: TBLNT (1997), 1860-1863

• McKay, K.L.: Art. Schiffe/Boote, in: Das grosse Bibellexikon, Wuppertal u.a., Bd. 5 (1996), 2115-2122

• Müller, D/Haacker, K.: Art. µαθητ#̋, in: TBLNT (1997), 1368-1374

• Schönweiss, H. u.a.: Art. προσκνéω, in: TBLNT (1997), 611-613

Internet

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• N.N.: Der Textus Receptus. http://www.bibelwissenschaft.de/start/wiss-bibelausgaben/griechisches-nt/textus-receptus/ (26.06.2008)

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• The Septuatint – the greek old testament. http://www.spindleworks.com/septuagint/septuagint.htm (28.06.2008)