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1 Vom Steinbruch zum Werksteinquader 1 Stefan M. Holzer, ETH Zürich Abb. 1: Antiker Steinbruch „Latomia del Paradiso“, Syrakus (Sizilien). In der Textur der Wand links vom sogenannten „Ohr des Dionysios“ sind die Spuren des schichtweisen Quaderabbaus ablesbar. Überblick Das vorliegende Skriptum beschreibt den Weg eines steinmetzmässig bearbeiteten Natursteinbauteils vom Steinbruch bis zum fertigen Werkstück. Die Kenntnis der historischen Werkzeuge und der zugehörigen Bearbeitungsspuren ermöglicht vor Ort am Bestand des Baudenkmals eine Lektüre der Befunde und eine differenzierte und detaillierte Rekonstruktion des Herstellungsprozesses, die oftmals wesentliche Beiträge zur Baugeschichte des Objektes liefern kann. Allein anhand der historischen Evolution der Steinbearbeitung lässt sich ein Bauteil nur grob datieren. In der Zusammenschau mit anderen Erkenntnisquellen stellt die Analyse der Bearbeitungsspuren auf steinmetzmässigen Werkstücken allerdings eine wertvolle und ergiebige Möglichkeit zur Entschlüsselung der Bau- und Reparaturgeschichte eines Bauwerkes dar. Die Bearbeitungstechniken sind selbstverständlich von der verwendeten Steinsorte abhängig. Relativ leicht zu bearbeiten sind feinkörnige Sedimentgesteine wie Sandstein und Kalksandstein sowie Travertin (Kalktuff) und vulkanische Tuffe, sowie manche Kalksteinarten. Aus diesen Steinarten 1 Alle Abbildungen, soweit nicht ausdrücklich anders angegeben, stammen vom Verfasser (Fotos, Reprofotos und Zeichnungen).

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Vom Steinbruch zum Werksteinquader1

Stefan M. Holzer, ETH Zürich

Abb. 1: Antiker Steinbruch „Latomia del Paradiso“, Syrakus (Sizilien). In der Textur der Wand links vom sogenannten „Ohr des Dionysios“ sind die Spuren des schichtweisen Quaderabbaus ablesbar.

Überblick

Das vorliegende Skriptum beschreibt den Weg eines steinmetzmässig bearbeiteten

Natursteinbauteils vom Steinbruch bis zum fertigen Werkstück. Die Kenntnis der historischen

Werkzeuge und der zugehörigen Bearbeitungsspuren ermöglicht vor Ort am Bestand des

Baudenkmals eine Lektüre der Befunde und eine differenzierte und detaillierte Rekonstruktion des

Herstellungsprozesses, die oftmals wesentliche Beiträge zur Baugeschichte des Objektes liefern kann.

Allein anhand der historischen Evolution der Steinbearbeitung lässt sich ein Bauteil nur grob

datieren. In der Zusammenschau mit anderen Erkenntnisquellen stellt die Analyse der

Bearbeitungsspuren auf steinmetzmässigen Werkstücken allerdings eine wertvolle und ergiebige

Möglichkeit zur Entschlüsselung der Bau- und Reparaturgeschichte eines Bauwerkes dar.

Die Bearbeitungstechniken sind selbstverständlich von der verwendeten Steinsorte abhängig. Relativ

leicht zu bearbeiten sind feinkörnige Sedimentgesteine wie Sandstein und Kalksandstein sowie

Travertin (Kalktuff) und vulkanische Tuffe, sowie manche Kalksteinarten. Aus diesen Steinarten

1 Alle Abbildungen, soweit nicht ausdrücklich anders angegeben, stammen vom Verfasser (Fotos, Reprofotos und Zeichnungen).

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wurde die Mehrzahl historischer Werksteinstücke hergestellt. Wegen ihrer Härte und homogenen

Struktur schwerer zu bearbeiten sind sehr dichte Kalksteine sowie Marmor (kristalliner Kalk, ein

feinkörniges metamorphes Gestein aus Calcitkristallen). Die grössten Schwierigkeiten bieten Granit

und Basalt. Granit findet sich dennoch in repräsentativer Verwendung und mit polierten

Oberflächen, z.B. an altrömischen Monolithsäulen.

Die Steinsorte und die Witterungsexposition haben ausserdem auch grossen Einfluss auf die

Erhaltung der Bearbeitungsspuren. Detailgenaue Beobachtungen von Bearbeitungsspuren sind meist

nur an wettergeschützten Werkstücken im Bauwerksinneren möglich. An porösen Steinen wie

Travertin und manchen vulkanischen Tuffen verwittern die Bearbeitungsspuren sehr rasch. Oftmals

sind Bearbeitungsspuren auch durch ehemals vorhandene, heute teilweise wieder entfernte Putz-

oder Tüncheschichten beeinträchtigt.

Die bis heute wichtigste deutschsprachige Studie zur historischen Entwicklung der

steinmetzmässigen Steinbearbeitung ist die Dissertation von Karl Friederich von 1932.2 Friedrichs

Untersuchung, die vorwiegend die mittelalterliche Steinbearbeitung zum Thema hat, ist durch

ausgezeichnete Fotos der Spuren der Steinbearbeitung an historischen Steinoberflächen illustriert.

Die Arbeit basiert allerdings nur auf Beobachtungen an Baudenkmälern des Oberrheingebiets. Ob

sich die Beobachtungen auch auf andere Gebiete übertragen lassen, ist im Einzelfall zu klären.

Ausführliche Erläuterungen zur Steinbearbeitung finden sich auch in der grossen Monographie zum

Speyerer Dom von Kubach und Haas.3

Für Frankreich ist die Arbeit von Pierre Varène von 1974 interessant,4 die sich aus drei Einzelstudien

zusammensetzt. Varène ging von der Beobachtung heutiger Steinmetzen aus. Das Heft enthält

jedoch auch einen Überblick über die traditionellen Steinmetzwerkzeuge, erläutert deren

Handhabung und illustriert die Herstellung eines profilierten Werkstücks durch einen modernen

Steinmetzen unter Einsatz historischer Werkzeuge im Detail in Wort und Foto.

Einen alle Zeiten und Epochen übergreifenden Überblick über die verschiedenen Werkzeugtypen, die

zugehörigen Bearbeitungstechniken und –spuren, die französischen Namensvarianten der

Werkzeuge und die Dokumentation der Werkzeuge in der zeitgenössischen Fachliteratur gibt die

enzyklopädisch aufgebaute Untersuchung von Bessac,5 einem Autor, der selbst gelernter Steinmetz

gewesen ist und daher aus der Praxis sprechen kann. Die Dissertation Bessacs umfasst zahlreiche

Belege aus der historischen (frühneuzeitlichen) und modernen Literatur und sehr gute Zeichnungen

der Werkzeuge, Bearbeitungsarten und Bearbeitungsspuren, leider jedoch keine Fotos. Bessac geht

von der Hypothese aus, dass die Mehrzahl der Steinbearbeitungswerkzeuge und der

Steinbearbeitungstechniken sich über die Jahrhunderte kaum geändert haben und dass daher aus

Aussagen von Steinmetzen des 20. Jahrhunderts auf ältere Herstellungstechniken geschlossen

werden kann. Behandelt wird die Steinbearbeitung von der Antike bis zur Gegenwart. Im Einzelnen

kann man die Hypothesen und Methodik Bessacs sicher kritisch hinterfragen, in der Summe handelt

es sich bei seiner Arbeit aber zweifelsohne um das umfangreichste, detaillierteste und am besten

durch Quellenbezüge begründete Werk zum Thema.

Das vorliegende Skriptum beruht auf der genannten Literatur und eigenen Beobachtungen und

Ergänzungen. Der Akzent der Behandlung des Themas liegt im Folgenden nicht so sehr auf der

geschichtlichen Entwicklung, sondern – wie im Grossteil der zitierten Literatur – auf der Relation von

Werkzeug und ablesbarer Bearbeitungsspur.

2 Friedrich 1932, siehe Literaturverzeichnis am Ende des vorliegenden Skriptums. 3 Kubach/Haas 1972, Textband, S. 536-550. 4 2. Auflage: Varène 1975. 5 Bessac 1986.

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Gewinnung von Blöcken im Steinbruch und Transport zur Baustelle

Abb. 2: Steinbruch (Zabaglia 1743, Taf. 14). Dargestellt ist die Gewinnung von grossen Travertinblöcken in der Gegend von Tivoli, vom Lösen der Blöcke bis zur Verladung auf

Ochsenkarren.

Für die Gewinnung von Steinen für Klein- oder Werksteinmauerwerk sind regelmässig geschichtete

Sedimentgesteine in horizontaler Lagerung besonders gut geeignet. Abb. 1 zeigt als Beispiel den

Steinbruch, aus dem während der griechischen und römischen Antike die Baumaterialien der Stadt

Syrakus gewonnen wurden. Historische Abbildungen des Abbauvorgangs im Steinbruch sind sehr rar.

Auch die Encyclopédie von Diderot and d’Alembert enthält keine genaue Beschreibung und Bilder zu

diesem Thema. Umso wertvoller ist eine Vedute, die 1743 von der Fabbrica di San Pietro in einer

Monographie zum Bauunterhalt des Petersdoms und zu den Erfindungen des dort beschäftigten

Meisters Nicola Zabaglia publiziert wurde (Abb. 2). Sie stellt einen Steinbruch bei Tivoli dar. Dort

wurde über Jahrhunderte der Travertin (Kalktuff) gewonnen, der eines der wichtigsten Gesteine für

das Bauwesen Roms darstellte. Die Gesamtansicht verdeutlicht die stufenförmige Gesamtanlage des

Steinbruches. Das abbauwürdige Gestein wird nur durch eine dünne Mutterbodenschicht überdeckt.

Nach Abräumen der Deckschicht wird der Fels blockweise abgelöst. Längs der Schichtlagerfläche

lassen sich die Gesteinsstücke relativ leicht abspalten. Es reicht daher aus, vertikale Trennflächen zu

erzeugen, um einen Block zu lösen.

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Abb. 3: Abspalten grosser Blöcke durch Eintreiben von Keilen (Zabaglia 1743, Taf. 14, Detail)

Abb. 3 zeigt diesen Vorgang in einer Detailansicht. Längs der gewünschten Bruchkante wird zunächst

mit Spitzhacken eine entsprechende Rille (sog. „Schrotrille“) ausgearbeitet.6 Zwischen Metallblechen

werden in diese Rinne sodann in regelmässigen Abständen eiserne Keile eingesetzt. Zum Lösen des

Blocks stellen sich mehrere Arbeiter nebeneinander auf und schlagen alle gleichzeitig mit

Vorschlaghämmern auf die Keile, so dass sich der Block längs einer möglichst ebenen Trennfläche

abspaltet. Im nächsten Schritt werden, falls erforderlich, auch in die natürliche Schicht-Trennfläche

Keile eingetrieben. An dieser Stelle kamen neben Eisenkeilen auch ausgetrocknete Hartholzkeile zur

Anwendung, die zum Absprengen des Blocks sodann genässt wurden und durch das Quellen den

Block von der Lagerfläche lösten.7 Die Dicke der natürlichen Schichtung gibt somit die Höhe des

Blocks vor. Unterschiedliche Höhen von Quadern oder Säulentrommeln aus dem gleichen Material

am selben historischen Bauwerk lassen sich daher häufig ganz einfach durch die geologischen

Bedingungen am Steinbruch erklären. – Das heute übliche Lösen von Blöcken mit Bohrungen, in die

entweder lange Brechstangen oder Sprengladungen („Bohrschüsse“) eingesetzt werden, kam erst im

19. Jahrhundert langsam auf.8

6 Zabaglia 1824, S. 12, nennt diese Rillen „canaletti, o guide, o tracce“. Die Beschreibung des Vorgangs folgt Zabaglia 1824, S. 12-13, Weiss 1820, Bd. 1, S. 69-70 und der sehr ähnlichen Erläuterung bei Gilly 1822, Bd. 1, S. 34-36. 7 Weiss 1820, Bd. 1, S. 70: „So können die aufeinander ruhenden Platten oder Flötze oft durch hölzerne Keile getrennt werden, die man in mehrere, längs den natürlichen Absonderungsflächen ausgearbeitete Narben eintreibt, sie mit Wasser benetzt und abwartet, bis die gequollenen Keile die obere Platte heben und brechen.“ 8 Weiss 1820, Bd. 1, S. 70-71, gibt eine detaillierte Beschreibung dieser Brechmethode.

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Abb. 4: Spalten eines Findlings durch Eintreiben von Keilen (Gilly 1797, Taf. 1)

Ganz ähnlich wie das Abspalten der Blöcke von der Schicht im Steinbruch gestaltete sich auch das

Spalten grösserer Findlingsblöcke (Abb. 4), wie David Gilly in seiner 1797 erstmals erschienenen

Land-Bau-Kunst erläutert.9 In Gegenden mit geringen Vorkommen von passenden Gesteinssorten für

Werkstein – zum Beispiel in der norddeutschen Tiefebene – war man gezwungen, für die Herstellung

von Quadern und Werkstücken auf diese Ressource zuzugreifen.

9 Gilly 1822, Bd. 1, S. XXX.

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Abb. 5: Rücken der abgespaltenen Blöcke mit Hebeln und Weitertransport auf Rollen (Zabaglia 1743,

Taf. 14, Detail)

Sobald die Blöcke fertig abgespalten sind, werden sie mit Hebeln und Rollen auf Karren verladen und

abtransportiert (Abb. 5). Der Block überlebt den Transport umso eher unbeschädigt, je mehr er sich

einer gedrungenen Form nähert. Schon im 18. Jahrhundert stellte man kleinere Quader oder dünne,

beim Transport besonders stark bruchgefährdete Bauteile oft erst auf der Baustelle aus grossen

Blöcken durch Aufsägen her. Dies gilt insbesondere für Frankreich, wo man überwiegend mit relativ

problemlos sägbarem Kalkstein arbeiten konnte. 1820 schrieb Franz Weiss von Schleussenburg zu

diesem Thema: „Sind die Flötze des Bruches sehr mächtig, die Steinart aber nicht allzu hart, so ist es

zweckmässiger, aus grossen auf die Bauplätze geschafften Blöcken die erforderlichen langen oder

dünnen Werkstücke durch die Steinsäge an Ort und Stelle zu schneiden, als sie im Bruche brechen zu

lassen. Aus harten Steinen werden dünne Platten oder dergleichen durch eine ungezahnte Säge mit

Sand und Wasser geschnitten.“10 Die Vignette in Abb. 6 zeigt als Illustration hierzu eine Ansicht einer

französischen Baustelle des 18. Jahrhunderts. Im Mittelfeld werden Blöcke abgeladen, und rechts

sägt ein Arbeiter mit der zahnlosen Säge einen Rohling längs auf. Dass es sich um eine zahnlose Säge

handelt, wird einerseits aus der Bauform der Säge deutlich und andererseits aus der Schöpfkelle in

der Hand des Arbeiters, mit der er Wasser und Sand in den Spalt giesst. Auch Kalktuff und manche

vulkanischen Tuffe können leicht gesägt werden, in diesem Fall mit einer gezahnten Säge.

10 Weiss 1820, S. 131.

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Abb. 6: Ansicht einer französischen Baustelle des 18. Jahrhunderts (Lucotte 1783, Tafel 5, Detail).

Dargestellt sind der Antransport von grossen Steinblöcken aus dem Steinbruch, verschiedene Gerüste und Hebezeuge sowie das Aufsägen von Blöcken und rechts vorne das Bearbeiten der

Sichtflächen von Quadern „auf der Bank“ mit der Spitzfläche.

Der Rohling, der im Steinbruch gewonnen wurde, hatte bei sorgfältigem Ausbrechen bereits eine

annähend quaderförmige Gestalt. Die Steinquader, die aus dem Steinbruch angeliefert wurden,

waren allseitig durch eine vor Ort auf der Baustelle abzuarbeitende „Schutzschicht“ von ca. 3 cm

Stärke („Werkzoll“ oder „Schutzbosse“) vor Transportschäden geschützt.11 Der fertige

Werksteinquader ist also mindestens um dieses Mass kleiner als der Rohling. Mit der Abarbeitung

der Schutzbosse beginnt die Bearbeitung zum endgültigen Werkstein („rauh bossieren“). Dabei

gewinnt der Stein auch endgültig seine mehr oder weniger exakt parallelepipedische Form.

11 Weiss 1820, S. 130.

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Abb. 7: Durch einen umlaufenden Randschlag begrenzte Sichtfläche eines Quaders (Pfarrkirche

Kaysersberg/Elsass, Sockel der Fassade; vorliegender Quader frühneuzeitlich).

Herstellung eines Quaders

Sobald der Rohling auf dem Werkplatz angekommen ist, beginnt seine steinmetzmässige

Bearbeitung. Um aus dem grob quaderförmigen Rohling einen regelgerechten Quader herstellen zu

können, muss zunächst eine exakt ebene und exakt rechtwinklige Oberfläche definiert werden, die

nachher in der Regel zur Sichtfläche des Quaders oder zu einer Lagerfläche wird. Diese Startfläche

wird rings herum durch einen sorfältig bearbeiteten, umlaufenden Randstreifen, den „Randschlag“,

begrenzt (Abbildung 7). Der Randschlag wird mit Hilfe eines Meissels ausgeführt, der auf die

Steinoberfläche aufgesetzt wird. Mit der linken Hand wird der Meissel gehalten. In der rechten Hand

hält der Steinmetz einen hölzernen Klüpfel oder eisernen Fäustel (Abb. 8; die Abb. zeigt ausserdem

im Hintergrund noch einmal das Arbeiten im Steinbruch). Mit diesem schlägt er auf den Meisselkopf

und stellt so durch sorgfältiges Absprengen kleiner Steinstücke einen glatten Randstreifen mit

„schraffierter“ Struktur her (vgl. Abb. 8 im Mittelgrund am rechten Bildrand). Welches

Schlagwerkzeug eingesetzt wird, hängt von der Härte des Gesteins und auch von physiologischen

Randbedingungen ab. Die Breite des Randschlags bzw. die Struktur der „Schraffierung“ entspricht

den Abmessungen des Meissels. Der Meissel mit gerader Schneide, der zur Herstellung des

Randschlags verwendet wird, heisst „Schlageisen“ oder „Flacheisen“.

Sinnvollerweise beginnt die Herstellung der ersten Quaderfläche auf einer der natürlichen Schicht-

Trennflächen, die den Quader begrenzen und nachher zur Lagerfläche im Mauerwerk werden. Die

erste Quaderkante mit ihrem zugehörigen Randschlag kann noch relativ frei gewählt werden. Der

Randschlag muss genau eben sein; die Ebenheit wird durch Anlegen des Richtscheites (Lineals)

kontrolliert (Abb. 9).

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Abb. 8: Holzschnitt des 16. Jahrhunderts mit komprimierter Darstellung wichtiger Arbeitsschritte vom

Steinbruch bis zum Werkstück. Vorne links ein Steinmetz, der mit einem Hiebwerkzeug (Spitzfläche oder Dechsel) arbeitet, vorne rechts ein anderer, der Schlageisen und Klüpfel einsetzt. Im

Hintergrund Steinbrucharbeiten und das Abspitzen der Bosse mit dem Spitzeisen (Sachs/Amman 1568, o. Pag.)

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Abb. 9: Links das „Visieren“ eines Randschlages mit zwei Richtscheiten. Rechts Ausbildung von

dünnen Pressfugen bei vermörteltem Mauerwerk (Weiss 1820, Tafel XX).

Die zweite Randschlag wird mit Hilfe des Steinmetzwinkels parallel zum ersten an der

gegenüberliegenden Kante angelegt (Abb. 9). Dabei gilt es zu vermeiden, dass die beiden so

definierten Begrenzungskanten des Quaders gegeneinander verschwenkt (mathematisch gesprochen

„windschief“) sind, wodurch sich eine nicht ebene Quaderfläche ergeben würde.12 Die Kanten des

Quaders müssen daher durch sorgfältiges „Visieren“ oder „Versehen“ (Prüfen der parallelen Lage) in

ihrer Position fixiert werden, wozu wiederum Richtscheite und Winkel dienen (vgl. Abb. 25). Der

eigentliche Quaderspiegel zwischen den Randschlägen bleibt zunächst als sogenannte „Bosse“

stehen.

12 Vier windschiefe, sich in den Ecken des Vierecks schneidende Geraden definieren ein hyperbolisches Paraboloid, eine Fläche mit negativer Gaussscher Krümmung („surface gauche“).

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Abb. 10: Palermo, Cappella Palatina im Palast der Normannenkönige. Mosaik „Turmbau zu Babel“

(Mitte 12. Jh.). Links wird mit Reisigbündeln Kalk in einem Ofen gebrannt. Unten wird Kalk gelöscht und Mörtel bereitet. Auf dem Turm selbst stehen ein Maurer mit Kelle und zwei weitere Arbeiter mit

beilartigen Werkzeugen.

Werkzeugtypen und Handhabung

Bei der Herstellung des Randschlages wird mit einem „Schlagwerkzeug“ gearbeitet, also mit einem

Meissel und einem Klüpfel. So ist ein dosierter Krafteinsatz und ein zielgenaues Ausüben des Schlages

möglich. Wenn man mittelalterliche Bildquellen zum Baustellengeschehen betrachtet (Abb. 10–12),

fällt auf, dass überwiegend nicht Schlagwerkzeuge, sondern „Hiebwerkzeuge“ dargestellt sind.

Die Hiebwerkzeuge des Steinmetzen haben Ähnlichkeit mit einer Spitzhacke oder einem

Zimmermannsbeil (Die Steinmetzbeile in Abb. 10 erinnern tatsächlich stark an

Zimmermannswerkzeuge). Der Randschlag muss mit einem Schlagwerkzeug ausgeführt werden, weil

der Einsatz eines Hiebwerkzeugs in der Nähe der Quaderkante zum Absprengen der Kante führen

würde.13 Für viele andere Arbeitsschritte ist jedoch wegen des längeren Hebelarms auch das

Hiebwerkzeug vorteilhaft zu gebrauchen.

Hiebwerkzeuge werden meist beidhändig geführt (Abb. 11; Abb. 10 zeigt davon abweichend

einhändige Handhabung). Die Schneide oder Spitze des Werkzeugs trifft entweder mehr oder

weniger senkrecht, also „steil“ auf die zu bearbeitende Fläche, oder sie wird im spitzen Winkel, also

„flach“ über die zu glättende Oberfläche geführt (Abb. 11 oben), wobei sie relativ viel Material

„abschält“ („Bearbeitung im Stich“). Die erste Bearbeitungsart setzt voraus, dass der Block mit der zu

bearbeitenden Seite nach oben aufgebockt ist (Bearbeitung „auf der Bank“, Abb. 12), während er für

die zweite Bearbeitung ggf. schräg angelehnt ist oder auf dem Boden steht, mit der zu bearbeitenden

13 Bessac 1986, S. 46.

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Fläche auf der Seite.14 Die Wahl eines der beiden Werkzeugtypen „Hiebwerkzeug“ oder

„Schlagwerkzeug“, die Bearbeitungsart „auf der Bank“ oder „im Stich“ sowie die genaue

geometrische Form der Schneide des Werkzeugs haben entscheidenden Einfluss auf die

Werkzeugspuren und das daraus resultierende „Gesicht“ des Werkstücks.

Abb. 11: Bau des babylonischen Turmes, dargestellt in einer Miniatur einer Bibelhandschrift von 1383 (WLB Stuttgart, Cod. Bibl. Fol. 5, fol. 9v, Ausschnitt). Oben sind Steinmetzen bei der Bearbeitung von

Quadern mit der Spitzfläche zu sehen, darunter die Mörtelbereitung mit der Hacke.

14 Vgl. die ausführlichen Erläuterungen in Friederich 1932, S. 27, Schuller 1989, S. 194-196, sowie die einleitenden Abschnitte zu den Werkzeugtypen „Outils à percussion lancée“, „Outils à percussion posée avec percuteur“ und „Outils à percussion posée sans percuteur“ bei Bessac 1886, S. 13, 107, 187.

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Abb. 12: Petrarca-Meister. Illustration zu Francesco Petrarca, Von der Artzney bayder Glück,

Augsburg 1532 (Buch 1, Kapitel XLI: Der Bildschnitzer). Dargestellt ist ein Steinmetz, der einen Block „auf der Bank“ mit der Fläche glättet.

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Abb. 13: Werkzeug des Steinmetzen (Weiss 1820, Taf. 5, Detail). Fig. 76 Winkel und Schmiege; Fig. 77 Spitzeisen (A), Schlageisen (B), Zahneisen (C) und Scharriereisen (D, als „Halbeisen“ bezeichnet“, und

E); Fig. 78 Klüpfel; Fig. 79 Zahnfläche (A) und Krönel (B); Fig. 80 Pickhammer (A) und Stockhammer (B); Fig. 82 gezahnte Steinsäge (A) und zahnlose Steinsäge für das Sägen mit Quarzsand (B).

Abb. 13 zeigt einen Überblick über alle wichtigen Steinmetzwerkzeuge, wie sie vor Beginn der

Industrialisierung in Mitteleuropa üblich waren. Die meisselartigen Werkzeuge umfassen das in eine

Spitze auslaufende „Spitzeisen“, welches vornehmlich zur groben Abarbeitung des Quaders benützt

wird, sowie das in einer schmalen Schneide endende „Schlageisen“ (Abb. 13, Fig 77 A und B). Die

Schneiden der Werkzeuge werden im Schmiedefeuer „angelassen“, d.h. der Kohlenstoffgehalt wird

derart eingestellt, das sich das Eisen dort in gehärteten Stahl verwandelt. Breite Meissel werden als

„Scharriereisen“ bezeichnet (Abb. 13, Fig. 77 D und E). Auch Meissel mit gezahnter Schneide kommen

vor (Abb. 13, Fig. 77 C). Solche Werkzeuge tragen mit jedem Hieb mehr Material ab als jene mit

glatter Schneide, sind jedoch auch verschleissanfälliger.

Abbildung 13 (Fig. 79) zeigt ausserdem das wichtigste Steinbearbeitungswerkzeug überhaupt, die

„Fläche“. Hat die Fläche eine ungezahnte Schneide, wird sie als „Glattfläche“, sonst als „Zahnfläche“

bezeichnet (Abb. 13, Fig. 79). Ein weiteres wichtiges, in Abb. 13 jedoch fehlendes Werkzeug ist der

„Zweispitz“, ein beilgrosses, pickelartiges Werkzeug, das nicht in Schneiden, sondern in Spitzen

ausläuft.

In einer grossen Zahl mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bildquellen ist das

Kombinationswerkzeug „Spitzfläche“ dargestellt, also ein Werkzeug, dessen eine Schneide glatt ist,

während die andere Seite des Werkzeugs als Pickel ausgebildet ist (Abb. 11 und 12). Bei der Fläche ist

die Schneide parallel zum Stiel des Werkzeugs ausgerichtet, es gibt allerdings auch die Variante mit

quer stehender Schneide, die „Dechsel“ genannt wird. Das Werkzeug des linken Steinmetzen in Abb.

8 ist vermutlich als Dechsel zu interpretieren.

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Abb. 14: Steinmetzzeichen in Gestalt einer stilisierten Spitzfläche (Torhaus Maulbronn).

Die „Spitzfläche“ war wohl so etwas wie das Universalwerkzeug des Steinmetzen vom 12. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert. Entsprechend häufig wurde die Darstellung der Spitzfläche sogar als individuelles „Markenzeichen“ des Steinmetzen eingesetzt (Abbildung 14).15 Friederich 1932 erläutert, dass der Einsatz des Kombinationswerkzeugs ökonomische und praktische Vorteile biete: Man braucht das Werkzeug nur umzudrehen, um von einer Bearbeitungstechnik auf die andere umschalten zu können. Auch Flächen mit einer glatten und einer gezahnten Schneide waren sicher im Gebrauch, denn an vielen Bauwerken findet man räumlich eng benachbart Spuren der Zahn- und Glattfläche. Der Steinmetz besitzt von jedem Werkzeug zwei Exemplare; eines benützt er zum Arbeiten, während das andere jeweils beim Nachschärfen ist. Je nach Härte des bearbeiteten Gesteins ist der Verschleiss sehr hoch, und entsprechend ist die Zahl erhaltener originaler historischer Steinmetzwerkzeuge sehr klein.

Abb. 15: Mörtelloses Grossquadermauerwerk der Porta Nigra, Trier (2. Jh. n. Chr.). Die Lager- und

Stossflächen sind sorgfältig geglättet, während die Sichtflächen in der Bosse stehen blieben.

Der Quader

Die sechs Flächen, die einen Quader begrenzen, werden im Bauwesen wie folgt bezeichnet: Sichtbar

bleibt die „Ansichtsfläche“; nach unten wird der Quader durch das „Unterlager“, nach oben durch

das „Oberlager“ begrenzt. Die Rückseite des Quaders ist ebenfalls Ansichtsfläche, oder aber sie

15 Dazu ausführlich Friederich 1932, S. 69-71 und Bild 109.

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bindet in die Wand ein. Seitlich grenzt der Quader mit seinen beiden „Stossflächen“ an die

Nachbarquader derselben Schicht.

Abb. 16: Porta Nigra, Trier (2. Jh. n. Chr.). Abspitzung.

Zur Herstellung einer glatten Quaderfläche ist nach Herstellen der Randschläge als nächstes die

Steinbruch- bzw. Schutzbosse zu entfernen. Für diese Aufgabe kommen Werkzeuge mit Spitze in

Frage, also entweder das Spitzeisen mit Klüfpel oder der Zweispitz bzw. die Spitzfläche. Abbildung 15

zeigt Spuren des groben Abspitzens, die wahllos über den Quaderspiegel verlaufen bzw. die

Arbeitsrichtung des Steinmetzen verraten. Durch gezielte Anordnung der Hiebe beim Abspitzen mit

dem Spitzeisen können allerdings auch regelmässige Muster erzielt werden, wie sie sich z.B. auch auf

einzelnen Quadern der Porta Nigra in Trier finden (Abb. 16).

Wird beim Abspitzen ein Hiebwerkzeug senkrecht gegen die Quaderoberfläche geführt, so entstehen

Bearbeitungsspuren wie in Abbildung 7 (Bearbeitung mit dem Zweispitz, in der

architekturgeschichtlichen Literatur oft als „Pickung“ bezeichnet). Diese Bearbeitung senkrecht zur

Oberfläche wird als zweiter Arbeitsschritt nach dem groben Abspitzen der Bosse ausgeführt und

bereitet die Glättung des Quaderspiegels vor. Mit den relativ tief in die Oberfläche eindringenden

Abspitzwerkzeugen werden oftmals versehentlich zu tief reichende Abschäge vom Werkstück

vorgenommen, die später auch nach einer Ebnung des Quaderspiegels noch sichtbar bleiben.

Nicht alle Begrenzungsflächen des Natursteinquaders werden mit gleicher Intensität bearbeitet. Der

Bearbeitungsgrad der einzelnen Quaderbegrenzungsfläche ist abhängig von der Funktion des

Quaders im Gesamtzusammenhang der Konstruktion. Für die Antike typisch ist die mörtellose

Bauweise mit grossen Steinen (Abb. 15). Bei dieser Konstruktionsart ist eine genaue Bearbeitung der

Lagerflächen essentiell. Sind die Lagerflächen nicht exakt plan, so wird die Last von einem Quader auf

den darunterliegenden nur punktuell und konzentriert übertragen. Dies kann zum Abplatzen von

Ecken und Kanten, wegen der punktuellen Stützung des oberen Quaders auch zu dessen

Durchbrechen infolge Biegebeanspruchung führen. In der Antike sind die Lagerflächen daher sehr

sorgfältig geglättet worden. Der Bearbeitungsgrad der Sichtfläche hingegen richtete sich nach der

Funktion und dem Rang des Bauwerks.

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Abb. 17: Regensburg, Dom. Schnittkante der Mauer eines unvollendeten Chorseitenturms.

Im Mittelalter und in der Neuzeit wurden auch bei repräsentativen Quaderbauten die Fugen stets

vermörtelt. Bei vermörteltem Mauerwerk stellt die nachgiebige Mörtelschicht den Kraftschluss

zwischen den Steinen sicher. Der Mörtel gleicht konzentrierte Lasteinleitungen und ungleichmässige

Lastübertragungen aus. Beim Mauern mit Mörtel sind daher deutlich geringere Anforderungen an die

Qualität der Steinbearbeitung zu stellen. Abbildung 17 zeigt als Beispiel einen Schnitt durch eine

unvollendete Turmwand am Dom zu Regensburg. Während hier die Sichtflächen der Steine sorgfältig

bearbeitet sind, nimmt die Bearbeitungsqualität an Stoss- und Lagerflächen deutlich ab, und die in

das Füllmaterial der mehrschaligen Mauer einbindenden Quaderrückseiten sind völlig unbearbeitet,

ebenso wie die mit reichlich Mörtel verbauten Steine der Füllung selbst. Diese Konstruktion von

Quaderwänden ist für das Mittelalter und die Neuzeit typisch. Die Werksteinquader bilden eine

Bekleidung des unregelmässigen Mauerkerns („Schalenmauerwerk“). Der eher grob bearbeiteten

Steinrückseite steht beim mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Natursteinmauerwerk eine umso

sorgfältiger bearbeitete Sichtfläche gegenüber.

Abb. 18: Abplatzen von Kanten und Ecken bei Natursteinquadermauerwerk mit Pressfugen (Rondelet

1833-36, Taf. 15)

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In Barock und Klassizismus wünschte man auch beim Bau mit vermörtelten Quadern an der

Sichtfläche extrem dünne Lager- und Stossfugen. Diese wurden durch einen technischen Kunstgriff

ermöglicht, der schon seit der Gotik vielfach angewendet wurde: Die Fugenfläche ist leicht konkav

gearbeitet, die Fugenstärke im Inneren des Mauerwerkes also grösser als an der Sichtfläche (Abb. 9,

Fig. 154). Diese Bearbeitungsart birgt allerdings die Gefahr in sich, dass die Druckkraft vom oberen

auf den unteren Quader ausschliesslich oder vorwiegend über den schmalen Randstreifen

übertragen wird. Diese Beanspruchungskonzentration kann schnell dazu führen, dass die Kanten der

Quader abplatzen (Abb. 18). Beim Bau des Pariser Panthéons Ende des 18. Jahrhunderts führte diese

Bautechnik zum grossflächigen Versagen des Mauerwerks der Vierungspfeiler und hätte beinahe

einen Einsturz der im Bau befindlichen Kuppel nach sich gezogen. Jean Baptiste Rondelet, der für den

Bau und seine Notsicherung sowie Sanierung zuständig war, betonte daher in seinem Traité de l’Art

de Bâtir ausdrücklich die Notwendigkeit, bei der Bearbeitung der Lagerfugen von Natursteinquadern

besondere Sorgfalt walten zu lassen, während der Bearbeitungsqualität der Sichtfläche weit

untergeordnete Bedeutung zukomme.16

Abb. 19: Lippoldsberg, Klosterkirche (1. H. 12. Jh.) Geflächte Quader an einem Pfeiler des

Langhauses.

Abschliessende Gestaltung der Sichtfläche

Nach der Bearbeitung mit dem Zweispitz oder der Spitzfläche ist die Steinoberfläche schon recht

eben. Eine weitere Glättung lässt sich mit der Fläche erreichen (Abb. 19). Die Länge der

Werkzeugspuren entspricht der Breite der Werkzeugschneide. Die Schläge mit der Fläche werden

meist etwa parallel ausgeführt, entweder in Richtung der Stossfugen oder auch diagonal über den

Quaderspiegel. Durch gezielte Anordnung der Hiebe lassen sich aber auch dekorative Muster

erzeugen. Einige Quader im Querhaus der Zisterzienserabteikirche Maulbronn (12. Jh.) zeigen diese

Bearbeitung (Abb. 20).

16 Rondelet 1833-36, Bd. 2, S. 27-38.

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Abb. 20: Maulbronn, Klosterkirche, südliches Querschiff (Ende 12. Jh.) Dekorativ „auf der Bank“

geflächter Quader.

Abb. 21: Paris, Notre Dame (Ende 12. Jh.) Mit der gezahnten Fläche auf der Bank bearbeitete Steine

eines Mittelschiffspfeilers.

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Abb. 22: Klosterkirche Maulbronn. Im Stich zahngeflächter Quader an der Vierung. Zahlreiche dieser Quader sind mit dem Steinmetzzeichen „h“ bezeichnet. Am abgebildeten Quader hat der Steinmetz

sogar seinen vollen Namen angegeben.

Um 1200 wird in Südwestdeutschland die vorher dort nicht eingesetzte Zahnfläche häufiger.17

Friedrich sucht den Ursprung dieser Bearbeitungstechnik in Frankreich. In der Tat wurden dort schon

im 12. Jahrhundert Quader mit diesem Werkzeug bearbeitet (Abb. 21). Die Zahnfläche trägt bei

Einsatz im Stich kräftig Material ab und gestattet daher eine effiziente Quaderproduktion. Im

zisterziensischen Kloster Maulbronn finden sich zahlreiche Quader aus der Zeit um 1200, die auf

diese Bearbeitung schliessen lassen (Abb. 22).18 Gleichzeitig mit der Einführung dieser neuen,

effizienteren Bearbeitungstechnik treten auch Steinmetzzeichen auf den Quadersichtflächen auf

(Abb. 22). In vielen Fällen sind dies Buchstaben. An der Vierung der Klosterkirche Maulbronn lässt der

voll ausgeschriebene Namen eines Steinmetzen neben seinem Kurzzeichen „h“ keinen Zweifel, dass

das Zeichen aus dem Anfangsbuchstaben des Namens abgeleitet ist. Die Funktion der

Steinmetzzeichen bestand darin, den Hersteller des Stein zu identifizieren. Wahrscheinlich hatten die

Zeichen vorrangig eine Funktion bei der Abrechnung der Leistungen.

Die Steinmetzzeichen, die an fast allen mittelalterlichen Werksteinbauten nach 1200 beobachtet

werden können, sind nicht mit Versatzmarken zu verwechseln, also mit Marken, die die Position

eines Werkstücks im Gesamtzusammenhang angeben. Solche Marken ordnete man, wenn

erforderlich, in der Regel in der Lagerfuge an, wo sie im Endzustand unsichtbar waren.

Versatzmarken kommen fast nur an skulptural gestalteten Werkstücken vor.

17 Friederich 1932, S. 32 und S. 36/37. 18 Dazu siehe auch Friederich 1932, S. 46.

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Abb. 23: Kloster Maulbronn, Aussenseite des Herrenrefektoriums (frühes 13. Jh.). Unter der

Zahnflächung werden Spuren des vorausgehenden Abspitzens der Bossen sichtbar. Sorgfältig hergestellte Randschläge.

Abb. 23 zeigt die Wirkung der mit der Zahnfläche bearbeiteten Quader in Maulbronn in einem

grösseren Zusammenhang. Es entsteht eine gleichmässige eben, aber doch durch die Binnenstruktur

belebte Wandfläche. Dem Reiz der Oberflächentextur von Wandflächen wie in Maulbronn kann man

sich auch heute kaum entziehen. Feiner gezahnte Zahnflächen können auch eingesetzt werden, um

in einem nachfolgenden Arbeitsgang eine noch glattere Oberfläche zu erzielen (dann Einsatz vor

allem „auf der Bank“).19

Abb. 24: Strassburg, Münster. Geflächte Werksteine an einem Bündelpfeiler des Langhauses

19 Von Friederich 1932 wird diese Bearbeitungsart als „Zahnpillung“ bezeichnet, z.B. S. 36-37.

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Steinmetzmässige Bearbeitungstechniken der Gotik und Neuzeit

Bei profilierten Baugliedern ist weitaus am häufigsten die Bearbeitung mit der Glattfläche

anzutreffen. In der Gotik bestimmen die Spuren der Glattfläche das Erscheinungsbild der

Werksteinoberflächen. Abb. 24 zeigt ein charakteristisches Beispiel von einem Bündelpfeiler im

Langhaus des Strassburger Münsters. In der Gotik wurden oft auch die Randschläge der Quader

überflächt, so dass sie häufig kaum mehr kenntlich sind.

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts setzt sich eine weitere Rationalisierung der Steinbearbeitung

durch. Die Endbearbeitung erfolgt nun nicht mehr mit dem Hiebwerkzeug, sondern mit dem gezielter

und regelmässiger anzusetzenden Schlagwerkzeug. Zum Einsatz kommt dabei nicht das schmale

Schlageisen, sondern das Scharriereisen mit deutlich breiterer Schneide. Von Schlag zu Schlag rückt

der Steinmetz das Scharriereisen um ein kleines Stück weiter, so dass sich die Werkzeugspuren zu

parallelen Bahnen von der Breite des Werkzeugs ordnen. Somit entstehen Bearbeitungsspuren, die

sich leicht von jenen der Glattfläche unterscheiden lassen. Die Abbildungen 25 bis 27 zeigen

charakteristische Beispiele von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Scharrierungen. Das

Scharriereisen kommt nicht nur bei der Herstellung von Quadern, sondern auch bei den fein

profilierten Baugliedern der Spätgotik häufig zum Einsatz (Abb. 25 und 26). In Abbildung 26 ist eine

diagonal zur Bauteilachse verlaufende Scharrierung bzw. Bearbeitung mit dem Schlageisen zu sehen.

Nach 1500 ordnen sich die Scharrierungen allerdings meist parallel zur Bauteillängsachse aus.

Abb. 25: Maulbronn, Parlatorium (15. Jh.). Unter Einsatz des Scharriereisens hergestelltes profiliertes

Bauglied mit Steinmetzzeichen.

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Abb. 26: Augsburg, St. Ulrich und Afra (um 1500). Schräg scharriertes Bauteil

Abb. 27: Scharrierter Quader vom Sockel des Jesuitenkollegs Namur/Belgien (1. H. 17. Jh.)

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Abbildung 27 zeigt ein Beispiel eines Quaders des 17. Jahrhunderts. Der Spiegel des durch einen

breiten Randschlag eingefassten Quaders zeigt die regelmässigen Bahnen des Scharriereisens.

Zwischen den einzelnen Bahnen stehengebliebene kleine Stege lassen die Arbeitsweise des

Steinmetzen deutlich erkennen. Die Entwicklung geht im 18. und 19. Jahrhundert zu immer breiteren

Scharriereisen und zu einer sehr gleichförmigen Scharrierung.

Abb. 28: Markgröningen, Wohnhaus. Steinmetzmässige Steinbearbeitung des 18. Jahrhunderts.

Abb. 29: Maulbronn, Klostermühle (wohl 16. Jh.). Nebeneinander sind Quader in verschiedenen

Bearbeitungszuständen verbaut.

Steinbearbeitungen der frühen Neuzeit spielen häufig mit dem Reiz der durch verschiedene

Werkzeuge hervorgebrachten, architektonisch wirksamen Texturen (Abb. 28 und 29). Oft finden sich

nun wieder überbreite, dekorative Randschläge. Der Quaderspiegel selbst kann eine Bosse aufweisen

oder ebenfalls dekorativ abgespitzt oder scharriert sein. Die stehengebliebene Bosse drückt oft – wie

schon beim Buckelquadermauerwerk mittelalterlicher Burgen oder an der altrömischen Porta Nigra –

Wehrhaftigkeit oder allgemein einen „rustikalen“ Charakter des Baus aus („Rustikamauerwerk“; Abb.

29). In Abbildung 29 ist ein Bauwerk zu sehen, an dem nebeneinander und in derselben

Quaderschicht Steine mit abgearbeiteter und mit noch vorhandener Bosse verbaut sind.

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Abb. 30: Steinmetz bei der Arbeit mit breitem Scharriereisen (Weigel 1698)

Abb. 31: Eltmann/Main, Pfarrkirche (1835-38). Breit scharrierte Quader.

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Sehr breite Scharriereisen wurden in der Barockzeit eingesetzt (Abb. 30). Diese Bearbeitungstechnik

dominiert auch noch die Werksteinbearbeitung des frühen 19. Jahrhunderts. Bild 31 zeigt ein

charakteristisches Beispiel. Die Scharrierung erfasst die gesamte Sichtfläche, es bleibt kein

Randschlag sichtbar. Durch die sehr gleichmässige Ausführung der Scharrierung tritt die Individualität

des einzelnen Quaders zurück, und die Einheitlichkeit der Wandfläche wird betont. Im 17. und 18.

Jahrhundert treten auch Steinmetzzeichen selten auf. An die Stelle der individuellen

Werksteinfertigung ist nunmehr endgültig eine rationalisierte Serienherstellung gleichartiger Blöcke

getreten. Gleichzeitig verschwinden auch die Steinmetzzeichen, die schon in der Barockzeit selten

geworden sind, endgültig.

In der klassizistischen Architektur Frankreichs ab dem 17. Jahrhundert wurden Bearbeitungsspuren als Imperfektionen betrachtet. Man schliff die steinmetzmässig hergestellten Werkstücke abschliessend mit Sandstein und Wasser ab, um eine möglichst perfekt glatte Oberfläche zu erzielen. Bild 32 zeigt als charakteristisches Beispiel aus dem deutschen Sprachraum ein Fassadendetail des unter Einfluss der französischen „Revolutionsarchitektur“ (Bullée, Ledoux) entstandenen ehemaligen Frauenzuchthauses neben St. Burkhardt in Würzburg.

Abb. 32: Würzburg, ehem. Frauenzuchthaus (Peter Speeth, 1810). Glatt geschliffene

Werksteinelemente aus Sandstein.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebte jedoch auch die traditionelle steinmetzmässige

Steinbearbeitung weiter. Manche Bauten dieser Zeit sind von einer sehr sorgfältigen, architektonisch

wirksamen Oberflächentextur gekennzeichnet. Als Beispiel zeigen die Abbildungen 33 und 33 Details

der Fassade einer Landkirche von Heinrich Hübsch. Man beachte in Abb. 33 die extrem schmalen

Mörtelfugen, die breiten Randschläge und die Bearbeitung des Spiegels mit der Zahnfläche, sowohl

„im Stich“ als auch „auf der Bank“. Von der Wandfläche setzen sich die gliedernden Bauelemente

durch Verwendung hellen Sandstein anstelle des roten Wandmaterials ab. Mit der Wandfläche

verbunden sind sie jedoch durch die identische steinmetzmässige Gestaltung der Quaderspiegel. Alle

freistehenden Gliederungselemente (Pfeiler, Säulen) sind hingegen mit dem Scharriereisen

bearbeitet und erzielen so eine Wirkung, die jener spätgotischer, glattgeflächter vertikaler Bauglieder

mindestens in der Ansicht aus einiger Distanz nahekommt (Abb. 34). Die Beispiele in Abbildung 33

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und 34 verdeutlichen, dass das Verdikt eines vermeintlichen allgemeinen „Niedergangs“ der

steinmetzmässigen Bearbeitung im 19. Jahrhundert ein Vorurteil darstellt. Auch die Oberflächen

historistischer Bauten weisen denkmalwerte, schutzbedürftige Qualitäten auf.

Abb. 33: Bauschlott, Kirche (Heinrich Hübsch, 1838). Wandflächen. Sorgfältig gestaltetes

Natursteinmauerwerk aus Quadern handlicher Dimension.

Abb. 34: Bauschlott, Kirche (Heinrich Hübsch, 1838). Scharrierung eines freistehenden Pfeilers der

Vorhalle.

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Das Verdikt der geringwertigen Steinbearbeitung des Historismus geht allerdings primär auf die in

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert allgegenwärtig werdenden Spuren

des Stockhammers (Abb. 13, Fig. 80 B) zurück. Bei den meisselartigen Schlaginstrumenten entspricht

ihm das Stockeisen. Dieses ist zum ersten Mal in André Félibiens Bautechnik-Lexikon Des principes de

l’architecture, de la sculpture et de la peinture von 1676 dargestellt.20 Félibien erläutert, dass das

Stockeisen vorwiegend bei der Marmorbearbeitung eingesetzt werde, um gleichmässige

Abarbeitungen zu erzielen. In der Encyclopédie21 ist 1771 der später so beliebte Stockhammer

erstmals abgebildet. Auch hier der Stockhammer mit der Marmorbearbeitung in Verbindung

gebracht (Abb. 35) Die Anwendung des Werkzeugs auf weichere Gesteine erfolgte erst nach 1800.

Abb. 35: Werkzeuge des Steinbildhauers zur Marmorbearbeitung, darunter der französisch

„boucharde“ genannte Stockhammer (fig. 29). Aus der Encyclopédie (1771)

20 Félibien 1676, Taf. XLVIII. 21 Encyclopédie 1771, Abschnitt „Sculpture“, Teil „Marbre“, Tafel 4.

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Der Stockhammer wird vertikal gegen die Oberfläche geführt und hinterlässt ein charakteristisches

„Waffelmuster“ (Abb. 36). Leider blieben, wie die Abbildungen 36 und 37 verdeutlichen, auch

original mittelalterliche Bauten nicht verschont von der Überarbeitung mit dem Stockhammer. Die

Kenntnis der charakteristischen Bearbeitungsspuren hilft in solchen Fällen, den Umfang der

historistischen Überarbeitung – meist einer „purifizierenden Restaurierung“ mit Entfernung barocker

Putz- und Stuckausstattung – zu identifizieren.

Abb. 36: Massiv überarbeitete Quader (Stockhammer) an einem Langhauspfeiler der in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts eingreifend „entbarockisierten“ gotischen Zisterzienserklosterkirche Kaisheim.

Abb. 37: Spuren eines Stockhammers an Quadern der Michaelskapelle Ochsenfurt lassen erkennen, dass die Steinoberflächen im 19. Jahrhundert massiv überarbeitet worden sind und nicht mehr der

Bearbeitung des inschriftlich genannten Baudatums 1440 entsprechen.

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Bild 36 zeigt Spuren einer späthistoristischen Überarbeitung mit dem Stockhammer an einem Pfeiler

der ehemaligen Zisterzienserklosterkirche Kaisheim b. Donauwörth. Diese gotische Kirche wurde im

frühen 18. Jahrhundert barockisiert, die Werksteinelemente wohl verputzt. Im letzten Viertel des 19.

Jahrhunderts entfernte man die barocken An- und Umbauten im Rahmen einer purifizierenden

„Restaurierung“ wieder und überarbeitete die wieder freigelegten Werksteinoberflächen mit dem

Stockhammer. Auch Bild 37 zeigt eine ähnliche Situation: Die Quader an der Fassade der laut Inschrift

1440 begonnenen Michaelskapelle in Ochsenfurt (Main) zeigen überdeutlich die Spuren des

Stockhammers und zeugen so von einer historistischen Überarbeitung.

Abb. 38: Steinmetzwerkzeug der Zeit um 1900: Krönel (links) und Stockhammer (rechts).

Breymann/Warth 1903.

Um 1900 war der Stockhammer neben den breiten Scharriereisen allgegenwärtig (Abb. 38). Anstelle

der Zahnfläche verwendete man im 19. Jahrhundert häufig auch den Krönel (Abb. 38 links), eine Art

Zanfläche mit auswechselbaren Zähnen. Der Krönel ist nur bei relativ weichem Gestein einsetzbar.

Die älteren Werkzeuge, insbesondere die Hiebwerkzeuge, kamen im 20. Jahrhundert rasch ausser

Gebrauch. Die heutige Steinbearbeitung setzt zur Formgebung auf das Sägen und zur

Oberflächengestaltung auf pressluftbetriebene Meisselwerkzeuge. Leider kommt es immer wieder

vor, dass bei Restaurierungsarbeiten so hergestellte Natursteinquader durch nachträgliche

Oberflächenbearbeitung mit Steinmetzwerkzeugen „auf alt“ getrimmt werden (Bild 39). Dies grenzt

an Fälschung geschichtlicher Zeugnisse und ist als denkmalpflegerische Praxis strikt abzulehnen!

Abb. 39: Moderne gesägte Ersatzquader mit vorgetäuschter „mittelalterlicher“ Steinbearbeitung

(Steinerne Brücke Regensburg, 2014).

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Quellen

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