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Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 173, S. 103--110 (1955). Aus dem L'£ngbro-Krankenhaus, JQvsj5 (Chef: Dozent E. GOLDKUItL), Stockholm Stehen wir vor einer Krise der Liquordiagnostik? Von V. KAFKA. (Eingegangen am 18. Januar 1955.) Die Bezeichnung Liquordiagnostik hat sich durchgesetzt, sie hat aber vielleicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet, denn sie hat anscheinend zuviel pr~judiziert. Es geht hier so wie bei anderen Gelegenheiten: erfiillt es sich nicht vSllig, was der Name zu versprechen scheint, dann ger/~t das Ganze in Mil3kredit, oder wird einer Weiterbearbeitung nicht fiir wtirdig gehalten. Wenn sich das Wort Liquordiagnostik also auch eingebfirgert hat, so h/~tte das ganze Gebiet einen anderen Horizont bekommen, wenn man nur von praktischer Liquoruntersuchung oder praktischer Liquorforschung gesprochen hiitte. Die ganze Entwicklung hat es mit sich gebracht, dab heute die praktische Liquorbearbeitung und die Vcrwertung der Resultate in den Hintergrund gestellt wird, und yon manchen Kliniken und Laboratorien nur zur Diagnostik der syphilo- genen Erkrankungen herangezogen wird. Dazu kommt, dab durch neue Untersuchungen grundlegende Ergebnisse der Liquorforschung wieder zur Diskussion gestellt werden. Wir miissen uns daher ernsthaft die Frage vorlegen: stehen wir vor einer Krise der Liquorforschung ? Es eriibrigt sich wohl, auf die historische Entwicklung des Gebiets einzu- gehen. Sie ist allgemein bekannt und in viclen Publikationen dargestellt. Wir haben uns bemiiht zu zeigen, da~ fiir den Aufbau einer prakti- schen Liquorforschung etwas andere Voraussetzungen nStig sind als bei anderen KSrperfliissigkeiten. Folgende Bedingungen miissen gegeben sein : 1. es mul~ die geniigende Anzah[ von Untersuchungen mit einwand- freier Technik durchgeffihrt sein, 2. die einzelnen l~eaktionen m/issen einer funktionell-genetischen Analyse unterworfen werden, 3. alas Syn- drom muI~ in seiner G~nze funktionell-genetisch analysiert werden, 4. der Liquorbefund mu~ mit dem Kliniker eingehend besprochen werden. Atff alle diese Punkte bin ich ausf/ihrlich eingeg~ngen, und es eriibrigt sich daher zu den oben aufgez/ihlten Punkten einen Kommentar zu geben. Die Veranlassung zu dieser Arbeit liegt darin, dab in den letzten Jahren VerSffentlichungen herausgekommen sind, die die praktische Liquorforschung vor neue Probleme gestellt haben. I)k~ch. Z. ~rervenheilk., Bd. 173. 8

Stehen wir vor einer Krise der Liquordiagnostik?

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Page 1: Stehen wir vor einer Krise der Liquordiagnostik?

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 173, S. 103--110 (1955).

Aus dem L'£ngbro-Krankenhaus, JQvsj5 (Chef: Dozent E. GOLDKUItL), Stockholm

Stehen wir vor einer Krise der Liquordiagnostik?

Von

V. KAFKA.

(Eingegangen am 18. Januar 1955.)

Die Bezeichnung Liquordiagnostik hat sich durchgesetzt, sie hat aber vielleicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet, denn sie hat anscheinend zuviel pr~judiziert. Es geht hier so wie bei anderen Gelegenheiten: erfiillt es sich nicht vSllig, was der Name zu versprechen scheint, dann ger/~t das Ganze in Mil3kredit, oder wird einer Weiterbearbeitung nicht fiir wtirdig gehalten. Wenn sich das Wort Liquordiagnostik also auch eingebfirgert hat, so h/~tte das ganze Gebiet einen anderen Horizont bekommen, wenn man nur von praktischer Liquoruntersuchung oder praktischer Liquorforschung gesprochen hiitte. Die ganze Entwicklung hat es mit sich gebracht, dab heute die praktische Liquorbearbeitung und die Vcrwertung der Resultate in den Hintergrund gestellt wird, und yon manchen Kliniken und Laboratorien nur zur Diagnostik der syphilo- genen Erkrankungen herangezogen wird. Dazu kommt, dab durch neue Untersuchungen grundlegende Ergebnisse der Liquorforschung wieder zur Diskussion gestellt werden. Wir miissen uns daher ernsthaft die Frage vorlegen: stehen wir vor einer Krise der Liquorforschung ? Es eriibrigt sich wohl, auf die historische Entwicklung des Gebiets einzu- gehen. Sie ist allgemein bekannt und in viclen Publikationen dargestellt.

Wir haben uns bemiiht zu zeigen, da~ fiir den Aufbau einer prakti- schen Liquorforschung etwas andere Voraussetzungen nStig sind als bei anderen KSrperfliissigkeiten. Folgende Bedingungen miissen gegeben sein : 1. es mul~ die geniigende Anzah[ von Untersuchungen mit einwand- freier Technik durchgeffihrt sein, 2. die einzelnen l~eaktionen m/issen einer funktionell-genetischen Analyse unterworfen werden, 3. alas Syn- drom muI~ in seiner G~nze funktionell-genetisch analysiert werden, 4. der Liquorbefund mu~ mit dem Kliniker eingehend besprochen werden. Atff alle diese Punkte bin ich ausf/ihrlich eingeg~ngen, und es eriibrigt sich daher zu den oben aufgez/ihlten Punkten einen Kommentar zu geben. Die Veranlassung zu dieser Arbeit liegt darin, dab in den letzten Jahren VerSffentlichungen herausgekommen sind, die die praktische Liquorforschung vor neue Probleme gestellt haben.

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I . Als erstes m6chte ich eine Publikation von M. BLEULER erw~hnen,

betitelt ,,Organisches Psychosyndrom und Liquor cerebrospinalis". Der Begriff des organischen Psychosyndroms ist von E. BLEULER in die Psyehiatrie eingeffihrt worden. Er beruht auf der Erkenntnis, dab die psychischen St6rungen auf Grund einer chronischen diffusen Hirnsch/idi- gung im ganzen immer dieselben bleiben. M. BLEULER hat sieh nun die Frage vorgelegt, ob eine Korrelation besteht zwisehen Schwere des orga- uisehen Psychosyndroms einerseits, Sehwere und H/iufigkeit des Liquor- befundes andererseits. Zur Beantwortung dieser Frage hat BLEULER die Liquorkartothek, die 36 500 Befunde umfaBt, herangezogen. Diese Arbeit findet ihren Niederschlag in den VerSffentlichungen von PFISTERER fiber alas Delirium tremens. REINHART fiber den chronischen Alkoholis- mus mit unct ohne Korsakow, Mt3LLER fiber Schgdeltrauma, M. GROSS ebenfalls fiber Sch~deltrauma, SUPPIOER fiber senile und arteriosklero- tische Demenz und ROTH fiber die Paralysenkurve bei Niehtparalysen. Dabei wurde ein Mangel eines erheblichen Zusammenhangs mit dem klinischen Befund festgestellt. BLEULER sagt: ,,Die Liquorpathologie zeigt keine 4irekte Abh/£ngigkeit von den cerebral bedingten psycho- pathologischen Bildern" und weiter: ,,Das Zeutralnervensystem enthi~lt in bezug auf die Liquorphysiologie und auf die cerebralen Grundlagen psyehischen Gesehehens voneinander unabh/ingige Funktionssysteme". Auf BLEULERS Arbeit kann leider nicht so ausffihrlich eingegangen werden, wie es nStig w/ire, denn es ist hier wohl zum erstenmal der Ver- such gemacht worden, aus einem Krankheitsbild einzelne Erscheinungen als eigene und von den klinischen Symptomen unabh/ingige Funktions- systeme festzulegen. Hier zeigt sich auch die suggestive Wirkung des Wortes Liquordiagnostik, indem anscheinencl verlangt wird, dal~ ffir jede Krankheit, ja ffir jedes Stadium tier Krankheit ein besonderes Liquorsyndrom vorliege. Wenn PFISTERER bei Delirium tremens neben pathologischen auch normale Liquorbefunde gesehen hat, so ist d.as nichts Auffallendes. Bedeutsam sind eher die im Liquor pathologischer F/ille, denn sie zeigen, dab hier schwere Krankheitsbilder und anders- artige Veriinderungen vorliegen. Im fibrigen bestehen bei Delirium tremens meist besondere St6rungen des Chemismus im Liquor, wenn auch die fiblichen Reaktionen negativ sind. Ein Gleiehes w~ire zu sagen bezfiglich der Ver6ffentlichung von REINHART fiber den ehronisehen Alkoholismus. Die Publikationen von MIiLLER und GROSS, das Sch~idel- trauma betreffend, haben haupts~iehlieh zum Inhalt, dab Schwere des Liquorbefundes und tier traumatisehen Demenz sehr lose zusammen- h~ngen. Es h/ingt hier natiirlich vonder GrSBe und dem Sitz des Traumas ab, ob der Liquor einen positiven od.er negativen Befund zeigt. Aueh bier kann nur die funktionell-genetische Analyse weiterfiihren. DEMME

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zeigt in seinem Buch sehr schSn wie der Liquorbefund beim Schadel- trauma von den anatomischen Verhaltnissen und den pathophysiologi- schen Bedingungen abhangig ist. SUVPIOER stellte fest, dab bei seniler Demenz der Liquorbefund sehr haufig negativ ist. Der anatomische Befund erkli~rt 4iese Verhaltnisse, doch werden wir sicher zu Ergeb- nissen kommen, die den krankhaften Bedingungen bei seniler Demenz und Arteriosklerose noch mehr entsprechen. Nicht gut verstiindlich ist die Arbeit von ROTH, der nachgeforscht hat, wie weit bei Nichtparalysen eine Paralysenkurve 4er Kolloidreaktionen auftreten kann. Es dfirfte doch klar sein, dab man nicht annehmen kann, dab bei einzelnen Gehirn- erkrankungen nur ganz bestimmte Typen der Kolloidreaktionen auf- treten mfissen, sondern dab bei den wechselnden EiweiBverhaltnissen im Liquor in vielen Fallen ahnliche Kurven entstehen kSnnen. Das ist ja ffir die multiple Sklerose, die Pachymeningitis, verschiedene Stadien der Menigitis und andere Gehirnkrankheiten bekannt, wo iiberall durch ein t3berwiegen der Globuline fiber die Albumine eine maximale Links- kurve erhalten werden kann. Aus allem diesen geht hervor, daB wir keinerlei AnlaB haben, in den Liquorverhaltnissen ein zweites, vom klinisehen Befund unabhangiges Funktionssystem zu sehen. Man daf t nicht vergessen, daB man vonder Liquordiagnostik nicht alles verlangen daft, dab hier aber eine gute Hilfe ist, wenn nur die anfangs erwiihnten Bedingungen streng innegehalten werden. DaB viele dem organisehen Psychosyndrom zuzuordnende organische Gehirnleiden einen anscheinend ,,normalen" Liquorbefund haben, muB man vorlaufig in Kauf nehmen. l)ber die Ursaehen haben wit ja a.a.O, diskutiert. Wir wiirden aber, wenn wir BLEULERS getrennte Funktionssysteme als gegeben annehmen wfirden, einen Teil bedeutungsvoller Hilfen grundlos aufgeben, ganz davon abgesehen, dab diese Annahmen theoretisch unhaltbar sind. Man kann nieht einzelne Krankheitssymptome als von den anderen unab- hangig annehmen, es sei denn, daB zwei oder mehrere Krankheiten parallel nebeneinander ablaufen.

II.

Im Gegensatz zu M. BLEULER sucht BANNWARTH pathologische Liquorerscheinungen mit den Krankheitssymptomen relationspatho- logisch in vollen Einklang zu bringen. Bevor wir naher darauf eingehen, seien die Falle, die BA~WARTH bringt, etwas naher betrachtet. Es handelt sich um eine Reihe vegetativ stigmatisierter Falle, die alle vorfibergehend und ohne den Befund eines organischen Nervenleidens einen positiven Liquorbefund hatten. Diese Liquorsyndrome werden yon BANNWARTH als abortive Guillain-Barr4sche Phanomene aufgefaBt, ihnen sollte demgemaB nach RICKERS Stufengesetz ,,jene Stufe 4er peristati. schen Hyperamie zugrunde liegen, der die Transsudation yon klarer,

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zellfreier, eiweil3haltiger F1/issigkeit zukommt" oder, um wieder BANN- WARTH zu zitieren, ,,dal3 sieh die innervierte Blutbahn in liquornahen Gebieten des ZNS und vermutlieh auch in seinen weiehen H~uten meistens sehr lauge in gesteigerter Erregung und Erregbarkeit befunden hat" . Nebenbei w~tre zu sagen, d.aB die zitierten Liquorbefunde eigentlich kein abortives Guillain-Barr6sches Syndrom darstellen, da dazu ein sehr deutlich erhShter EiweiBbefund mit niedrigem Globulinalbnminquotienten und mSglichst fehlender oder sehr herabgesetzter Zellzahl gehSrt. Hier aber ergibt sich, wenn man die Mittelzahl der einzelnen IAquorbefunde berechnet, folgendes Bild: Zellen 8/3 im Kubikmillimeter, Gesamteiweil3 1,74 Teilstrich, Albumin 1,32 Teilstrich, Globulin 0,46 Teilstrich, Globu- linalbuminquotient 0,34, also keineswegs der Befund der albumino- cytologischen Dissoziation. Ob daher die Deutungen der Befunde im BANNWARTHSchen Sinne mSglich sind, sei an anderer Stelle 4iskutiert. Hier wgre nur nochmals zu erw/~hnen, dal3 im scharfen Gegensatz zu BLEULER tier Liquorbefund als ein natfirlicher und zusammenhi~ngender Tell des Krankheitsbildes angesehen wird. Ferner ist hier hervorzuheben, da[~ F/ille, die wir sonst als Prototyp fiir Liquornegativit/it angesehen haben, voriibergehend einen positiven Liquorbefund haben kSnnen. Ffir die Praxis wird wohl diese Feststellung nicht irrefiihrend sein, da man solche F/ille nicht als Kontrollen einstellen daft. Der Theoretiker wird als Ursaehe das Auftreten vor/ibergeheHder leichter Eneephalitiden an- sehen, da es schwierig ist, sieh den BASNWARTHschen im Geiste I{ICKERS gehaltenell Erkl/~rungsversuchen anzuschliel3en.

III .

WALLE~ IUS hat im Zentrallaboratorium in Uppsala versucht, Serum und Liquor elektrophoretisch zu bestimmen. Die Technik entsprach der Modifikation von SCHNEIDER und WALLENIUS der Cremer-Tiseliuschen Methode. Es ualrde bei Eissehranktemperatur 24--48 Std gegen 20~oige DextranlSsung dialysiert. WALLENIUS hat normale Sera und normalen Liquor gemischt und hat /iugerlich gleiche Kurven bekommen, so dal~ er der Ansicht ist, dab Liquor und Blutserum die gleichen EiweiftkSrper enthalten. Er hat den Albuminglobulinquotienten festzustellen versueht und die dem Serum entsprechende Zahl, n/~mlich 1,5, gefund.en. Aus diesen Ergebnissen hat WALLENIUS eine l~eihe yon Schliissen gezogen, die im Gegensatz zu den uns bekannten stehen, auf die aber hier nicht eingegangen werden kann. Betont sei nur, dab WALLENIUS aus seinen Versuchen den Schlul] zieht, dab alle EiweiftkSrper des Liquor normaler- weise aus dem Blut stammen, und dab auch in pathologischem Zustand iihnliche Verhiiltnisse vorliegen. DaB heute die Ergebnisse der elektro- phoretischen Untersuchuug weitgehend abhi~ngig sind yon der Technik, ergibt sich auch daraus, dab neben vielen Einzelmitteilungen zusammen-

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fassende Berichte fiber die elektrophoretische Liquoruntersuchung zu ganz verschiedenen Resultaten kommen, wie neben vielen anderen die beiden grSBeren Publikationen yon BAUER und von STEOER zeigen. BAUER bediente sich der Aeetonfallung, STEOER dialysierte gegen Kolli- don. BAUER untersuehte 700 Pherogramme von 300 F~llen. Aueh STEOER faBt ein groBes Material zusammen. Nach BAITER unterseheidet sich das normale Liquorpherogramm yon jenem des Serums: 1. dutch deutliches Hervortreten einer sehneller als das Albumin wanderuden Fraktion, 2. durch eine weniger deutliche Darstellung der a-Fraktion, besonders des al, 3. eine gut erkennbare Fraktion zwisehen fl und 1', die BAUER mit T bezeichnet und die mit der Fraktion des Plasmas nicht identisch ist, 4. durch eine weichere Zeichnung. Auch STEGER stellt die Vorfraktion aus normalem Liquor lest, die im Ventrikelliquor am st~rksten ist und lumbalwKrts abnimmt. Im normalen Liquor findet sieh nach STEOER ferner eine relativ starke Anreieherung an fl- Globulin, wKhrend der Gehalt an a- und y-Globulin gering ist. Es besteht also ein hoher fl-Gipfel, der von einem deutlieh abgrenzbaren/~1 begleitet ist. Die Zusammensetzung der Eiweil~kSrper ist in den versehiedenen Liquorkategorien naeh STEOER die gleiehe. Also aueh STEOER hat deutliche Untersehiede des Phero- gramms zwischen Serum und dem normalen Liquor gefunden. Die Vor- fraktion wurde ungefKhr von allen Autoren auger WALLENI~YS im nor- malen Liquor gefunden, im Serum rile. FIsx, CHA~V~IN und KLI~O~A~N fanden sogar zwei Unterfraktionen der Vorfraktion, die sie mit X 1 und X 2 bezeichneten. Es seheint also sicher zu sein, dab das Pherogramm des Liquors nicht nur dureh die Vorfraktion, sondern auch dureh die Zusammensetzung der Globuline sich von jener des Serums unterseheidet. BAUER erkl~rt auch die Feststellung eines Albuminglobulinquotienten aus dem Pherogramm fiir nieht sinnvoll. Es ist BAYER aueh darin zu- zustimmen, da$ man versehiedene Ergebnisse eines solchen Quotienten erh~lt, je nachdem man die Vorfraktion als Globulin oder als Albumin (oder als keines yon beiden) rechnet.

Hier haben sich nun ebenfalls besonders BAUER und STEGER hervor- getan. BAUER unterscheidet versehiedene Pherogramme, die erje naeh dem Vorherrschen eines EiweiBkSrpers benennt, also einen a-, einen fl- und einen y-Typ; dazu kommt ein M-Typ oder Mischtyp. Dieser zeichnet sich aus 1. durch eine niedrige oder fehlende Vorfraktion, 2. durch ein yon der Fraktion schleeht trennbare, niedrige oder fehlende T-Fraktion, 3. dutch das besonders deutliche Hervortreten der a-Unterfraktionen besonders cler al-Fraktion. Diese Konstellation soll das elektrophoretische Bild einer St6rung der Blutliquorsehranke im Sinne der erhShten Permeabilit~t bezeichnen. Von ESSER wurde eine erhShte/~-Fraktion mit einem verst~rkten Abbau yon Hirnsubstanz in Zusammenhang gebracht. BAYER konnte in einem Fall von Paneneephalitis Pette-DSring im Liquor

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61% 7-Globulin finden, im Serum hingegen nur 17%, wonach die Her- kunft wenigstens eines Teils der Globuline aus dem ZNS sehr wahrsehein- lieh war. BAUER betont, dab auf Grund seiner Untersuchungen im Liquor zwei gut definierbare EiweiBbande festzustellen sind, die im Serum nieht ohne weiteres sichtbar sind. Er erw~hnt ferner, dab man bei kombi- nierter vermehrter 7-Kurve einen Mischtypus finden kann lind auf diese Weise sowohl den ~ber t r i t t von EiweiBkSrpern aus dem Serum, wie einen im ZNS sich abspielenden immuimchemischen ProzeB erkennen kann. Auch ein Zusammenhang der v-Fraktion mit immunbiologischen Reak- tionen, also intramuralen Prozessen, wird angenommen. BAUER betont daher mit l~echt, dab die Ansichten von SCHEID U. SCHEID nicht mehr aufreeht zu erhalten sind. Er ist auch mit STEGER der Ansieht, dab die Vorfraktion durch eine besondere sekretorische Leistung des Plexus ehorioideus hervorgerufen wird, was ja durch das st~rkste Auftreten dieser Fraktion im Ventrikelliquor besti~tigt wird. STEGER zeigt, dal~ im Him- cystenliquor sich keine EiweiBfraktionen befinden, die nicht im Serum vorhanden sind, was ja verst~ndlich ist, da der Hirneystenliquor ein be- sonderes Transsudat darstellt. STEG~R weist mit Recht darauf hin, dab aus der ~hnliehkeit der elektrophoretischen Bilder noch nicht 4er SchluB gezogen werden daft, dab die dargestellten EiweiBfraktionen gleiehen Ursprungs sind. STEGER betont als Eigenschaft des normalen Liquors eine Anreicherung des fl-Globulins, w~hrend der Gehalt an a- und y-Globulin geringer ist. Er hebt auch hervor, dab die Vorfraktion vorhanden sein karm trotz negativer ~a~tixreaktion und normaler Befunde der EiweiB- relation. STAGER erw~hnt aueh einen Fall von multipler Sklerose, bei dem eine Globulinanreieherung von 29,9 9/0 vorhanden war, w~hrend die EiweiB- relation nur einen geringen Globulingehalt (1/5 des GesamteiweiBgehaltes) betrug. Beziiglieh der Fi~lle yon multipler Sklerose mit deutlicher V" Glo- bulinvermehrung betont STEGER, dab eine l~¢[embransch~digung allein fiir den hohen y-Globulingehalt nicht verantwortlich gemacht werden kann. Er denkt daher daran, dab ein Teil der y-Globuhne im Liquor aus dem GehirneiweiB stammt. Besonders interessant sind die FKlle von STEGE~, WO die elektrophoretische Untersuchung ErhShung der Globuline ergab bei negativer Mastixreaktion und normaler EiweiBrelation (z. B. Gehirn- tumor mit fl-Globuhnvermehrung, die fast das Doppelte des Albumins betrug). Diese Ergebnisse widersprechen also jenen yon WALL:ENIUS.

IV.

Wir mfissen nun auf das oben Gesagte zuriickgreifen. Wie schon erw~hnt, schien die praktische Liquorforschung einer Krise zuzustreben. Die diagnostische Verwertung schien zu versagen. SCHE~D u. SCHETD sprachen sich auf Grund ihrer elektrophoretischen Untersuehung dahin aus, da{~ alle EiweiBkSrper im Liquor aus dem Blute stammen, und die

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Verschiedenheit der Befunde sich dutch Differenzen in der Struktur der durchlassenden NIembram erkl~ren lassen. Die praktische Liquorforschung wfirde dann nur eine Prfifungsmethode der meningealen Permeabilit~t sein. Diese Argumente gegen die Liquordiagnostik wurden yon WALLE~IU S verst~rkt, der auf Grund seiner Versuche sich berechtigt fiihlte, viele Er- gebnisse der Liquorphysiologie und -pathologie umzustoBen. M. BLEULER betrachtete das Liquorsystem als unabh~ngig vom eigentlichen krank- haften Geschehen und BA~WARTH stellte vorfibergehende pathologische Liquorbefunde bei F~llen fest, bei denen man normale Verh~ltnisse vorausgesetzt hatte. Es schien also alles einer Krise unserer Kenntnisse fiber die praktische Liquorforschung zuzustreben. Wit haben uns nun im obigen zu zeigen bemfiht, dab kein AnlaI3 zu einer Krise der Liquor- forschung besteht, sondern dab das Gegenteil der Fall ist. Man g]aubte, dab die Ergebnisse der elektrophoretischen Untersuchung manches Re- sultat der chemischen Priifung widerlegten, u n d e s gab Stimmen, die daffir sprachen, dab die chemische fraktionierte Liquoruntersuchung durch den elektrophoretischen Versuch ersetzt werden solle. DaB man so nicht vorgehen kann, habe ich auf Grund der bisherigen Ergebnisse gezeigt. Die Resultate der chemisch fraktionierten Liquoruntersuchung werden durch die elektrophoretische Priifung eher best~ttigt und dort, wo Abweichungen vorhanden sind, geben sie AnlaB zu einer Erweiterung unserer diagnostischen MSglichkeiten. Als man neben den EiweiB- die Kolloidreaktionen einffihrte, glaubte mancher Untersucher, dab hier mit verschiedenen Methoden dasselbe gezeigt werde. Diesem Fehler verfiel auch der Entdecker der Goldsolreaktion, CARL LANGE, selbst. Es erwies sich aber bald, dab dutch die Kolloidreaktionen das kolloidchemische Verhalten aufgezeigt wurde, dab neue Reaktionen entstanden und neue Einblicke in das qualitative Verhalten der EiweiBkSrper gegeben wurden. So konnte SAMSON zeigen, dal3 unter vollkommen gleichen Verh~ltnissen hergestellte und eingesetzte Globuline versohiedene Kurven ergaben. Ffir die Praxis konnte man eine Erweiterung der diagnostischen MSglich- keiten erkennen, da bei gleichem Eiweil3befund verschiedene Kurven mSglich waren. So fiihrte es sich fiberall ein, dab neben chemischen Eiweil~reaktionen Kolloidreaktionen ausgeffihrt wurden, und ffir die Praxis zeigte sich eine VergrSBerung der diagnostischen Verwertbarkeit. Es wurde nun vielfach angenommen, daB durch die elektrophoretische Untersuchung eine der erw~hnten Methoden ersetzt werden kSnne. Das hat sich als nicht richtig ergeben. Schon das Faktum, dab die Werte der Elektrophorese nur relative sind, macht eiae quantitative Bestimmung des GesamteiweiBes n5tig. Es kommt hinzu, dab gleiche Globulinkurven noch nicht das gleiche Globulin anzeigen mfissen, wie die meisten Un~er- sucher berichten. Au~erdem kann die weitere chemische Untersuchung (Chromographie) den Aufbau der EiweiBkSrper illustrieren, und wir

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kSnnen schon heute positive Globulinbefunde im chemischen Aufbau n~her kennenlernen und sie verschiedenen Krankhei ten zuteilen, wo- durch, wie BAUER sagte, unsere Diagnostik weiter vertieft wire[. Beson- der bedeutungsvoll kSnnen F~lle sein, wie sie STEOER bringt, wo also bei normaler Eiweifrelat ion und Mastixreaktion durch die Elektrophorese ein Eiwei~kSrper angezeigt wird. Dieses Wenige mag gentigen, um zu zeigen, daft keineswegs eine Krise der Liquordiagnost ik vorhanden ist, sondern daft wir durch die elektrophoretische Untersuchung zu einem Fortschr i t t gekommen sind, der sieh theoretisch und praktisch auswirken wird. Es wir4 ffir die Zukunf t verlangt werden mfissen, d a f eine chemisch fraktionierte, eine Kolloidreaktion und die Elektrophorese nebeneinander ausgeffihrt werden. Dann werden wir in der Beantwor tung der Kardinal- fragen, woher die EiweifkSrper kommen und welehe Funkt ion sie haben, n~her kommen. Wir werden au fe rdem neue diagnostische Bilder erhalten und werden Neues fiber ihre Besonderheit erfahren. Freilich gehSrt zur Beantwor tung der neuen Fragestellungen eine Vertiefung in das Gebiet und nicht nur eine kursorisehe gelegentliche Bearbeit tmg, wie es heute leider oft gesehieht. Wir sind auf dem besten Wege, zu Kenntnissen zu gelangen, die nicht nu t unsere Diagnostik, sondern auch die Physiologie und Pathologie des ZNS eingehen4 befruchten diirften.

Literatur .

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Prof. Dr. V. KAFKA, LKngbro-Krankenhaus _~]vsjS, Stockholm (Schweden).