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J.-C. Student Stellungnahme zum Entwurf der Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung vom 25. 4. 1997 ORIGINALARBEITEN Z Gerontol Geriat 31:205–208 (1998) © Steinkopff Verlag 1998 ZGG 834 Zusammenfassung Die Veröffentlichung des Entwurfs der Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbe- begleitung ist zu begrüßen, weil sie eine breite gesellschaft- liche Diskussion zu diesem wichtigen Thema ermöglicht. Kri- tisiert wird an den Richtlinien jedoch vor allem, daß der Be- griff des „mutmaßlichen Willens“ zu undifferenziert benutzt wird und der Umgang mit der Problematik von Patientinnen und Patienten im sog. Wachkoma zu lax ist. Gefordert wird insbesondere die ausdrückliche Einführung palliativmedizini- scher Aspekte in die Richtlinien. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat kürzlich ihre Neufassung der Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung der Öffent- lichkeit vorgestellt. Nach eigenem Bekunden sei dies durch die technischen Entwicklungen erforderlich geworden. Die neu gefaßten Richtlinien sollen der Diskussion um die Sterbe- hilfe in Holland und Australien die eigene Position der deut- schen Ärzteschaft entgegensetzen. Die Lektüre dieser Richtlinien hinterläßt zwiespältige Ge- fühle. Positiv fällt an den Richtlinien auf, daß sie der Autono- mie und den Rechten von Patientinnen und Patienten mehr Rechnung tragen. Wenngleich zögerlich folgt die BÄK damit der schon seit längerem bestehenden Rechtslage, wie sie in letzter Zeit durch höchstrichterliche Urteile immer wieder prä- zisiert wurde. In dieser Hinsicht leistet der Entwurf notwen- dige Aufklärungsarbeit unter den Kolleginnen und Kollegen. Ebenfalls positiv zu bewerten ist, daß die BÄK den Ent- wurf vorab zur Diskussion stellen will. Diese Diskussion allerdings erscheint auch dringend notwendig. Denn bei die- sem Papier geht es ja nicht um objektive Therapieanweisun- gen, sondern um eine ethische Diskussion. Der „mutmaßliche Wille“ Als schwerwiegendes Dilemma stellt sich dar, daß der BÄK- Entwurf wiederholt nicht nur den Willen des Patienten als Handlungsrichtschnur anführt, sondern auch den mutmaß- lichen Willen als richtungsweisend benennt. Dies entspricht zwar geltender Rechtsprechung, nicht jedoch der bisher von der Ärztekammer vertretenen Position. Es geht dabei um die Frage, wie sollen Ärzte sich entscheiden (z. B. Fortführen einer künstlichen Beatmung oder anderer lebensverlängern- der Maßnahmen bei einem endgültig bewußtlos gewordenen, unheilbar tödlich erkrankten Menschen). Was hätte in einer solchen Situation der Patient bzw. die Patientin gewollt? – Eine Antwort hierauf zu finden mag dann angehen, wenn zu- vor im Verlaufe einer chronischen Krankheit wie Krebs mit den betroffenen Menschen offene Gespräche über dieses Thema geführt worden sind und eindeutige Positionen ent- wickelt wurden. (Dies erzeugt aber notwendigerweise Angst – bei Ärzten ebenso wie bei Patienten. Die Angst zu vermei- den, wie die Richtlinien es fordern, ist menschenunwürdig. Zu fordern ist vielmehr, daß die Ausbildung von Ärzten es ihnen ermöglicht, mit diesen Ängsten angemessen umzugehen.) Auch dann bleibt zwar noch die Unsicherheit, ob der Patient auch jetzt noch, in der Bewußtlosigkeit, wirklich so ent- schieden hätte. Immerhin hat diese Entscheidung dann jedoch eine den Umständen angemessene tragfähige Basis. Allerdings: wo werden solche offenen Gespräche wirklich geführt? Und vor allem: Wie steht es um diejenigen Patien- tinnen und Patienten, die ohne vorherige Gesprächsmöglich- keit in die Bewußtlosigkeit fallen? Hierbei ist zu bedenken, daß Überlegungen in gesunden Tagen nicht weit tragen. Wie repräsentative Umfragen aus jüngster Zeit zeigen, neigen die meisten Bundesbürger (etwa 85 %) dazu, über den eigenen Tod lieber nicht nachzudenken. Außerdem ist davon auszu- gehen (und hierauf verweist die BÄK dankenswerterweise ausdrücklich), daß die Überlegungen hierzu in gesunden Prof. Dr. med. J.-C. Student ( ) Hospiz Stuttgart Stafflenbergstraße 22 D-70184 Stuttgart

Stellungnahme zum Entwurf der Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung¶vom 25.4.1997

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J.-C. Student Stellungnahme zum Entwurf der Richtliniender Bundesärztekammer zur ärztlichenSterbebegleitung und den Grenzenzumutbarer Behandlungvom 25. 4. 1997

ORIGINALARBEITENZ Gerontol Geriat 31:205–208 (1998)© Steinkopff Verlag 1998

ZG

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Zusammenfassung Die Veröffentlichung des Entwurfs derRichtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbe-begleitung ist zu begrüßen, weil sie eine breite gesellschaft-liche Diskussion zu diesem wichtigen Thema ermöglicht. Kri-tisiert wird an den Richtlinien jedoch vor allem, daß der Be-griff des „mutmaßlichen Willens“ zu undifferenziert benutztwird und der Umgang mit der Problematik von Patientinnenund Patienten im sog. Wachkoma zu lax ist. Gefordert wirdinsbesondere die ausdrückliche Einführung palliativmedizini-scher Aspekte in die Richtlinien.

Die Bundesärztekammer (BÄK) hat kürzlich ihre Neufassungder Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung der Öffent-lichkeit vorgestellt. Nach eigenem Bekunden sei dies durchdie technischen Entwicklungen erforderlich geworden. Dieneu gefaßten Richtlinien sollen der Diskussion um die Sterbe-hilfe in Holland und Australien die eigene Position der deut-schen Ärzteschaft entgegensetzen.

Die Lektüre dieser Richtlinien hinterläßt zwiespältige Ge-fühle. Positiv fällt an den Richtlinien auf, daß sie der Autono-mie und den Rechten von Patientinnen und Patienten mehrRechnung tragen. Wenngleich zögerlich folgt die BÄK damitder schon seit längerem bestehenden Rechtslage, wie sie inletzter Zeit durch höchstrichterliche Urteile immer wieder prä-zisiert wurde. In dieser Hinsicht leistet der Entwurf notwen-dige Aufklärungsarbeit unter den Kolleginnen und Kollegen.

Ebenfalls positiv zu bewerten ist, daß die BÄK den Ent-wurf vorab zur Diskussion stellen will. Diese Diskussionallerdings erscheint auch dringend notwendig. Denn bei die-sem Papier geht es ja nicht um objektive Therapieanweisun-gen, sondern um eine ethische Diskussion.

Der „mutmaßliche Wille“

Als schwerwiegendes Dilemma stellt sich dar, daß der BÄK-Entwurf wiederholt nicht nur den Willen des Patienten alsHandlungsrichtschnur anführt, sondern auch den mutmaß-lichen Willen als richtungsweisend benennt. Dies entsprichtzwar geltender Rechtsprechung, nicht jedoch der bisher vonder Ärztekammer vertretenen Position. Es geht dabei um dieFrage, wie sollen Ärzte sich entscheiden (z. B. Fortführeneiner künstlichen Beatmung oder anderer lebensverlängern-der Maßnahmen bei einem endgültig bewußtlos gewordenen,unheilbar tödlich erkrankten Menschen). Was hätte in einersolchen Situation der Patient bzw. die Patientin gewollt? –Eine Antwort hierauf zu finden mag dann angehen, wenn zu-vor im Verlaufe einer chronischen Krankheit wie Krebs mitden betroffenen Menschen offene Gespräche über diesesThema geführt worden sind und eindeutige Positionen ent-wickelt wurden. (Dies erzeugt aber notwendigerweise Angst– bei Ärzten ebenso wie bei Patienten. Die Angst zu vermei-den, wie die Richtlinien es fordern, ist menschenunwürdig. Zufordern ist vielmehr, daß die Ausbildung von Ärzten es ihnenermöglicht, mit diesen Ängsten angemessen umzugehen.)Auch dann bleibt zwar noch die Unsicherheit, ob der Patientauch jetzt noch, in der Bewußtlosigkeit, wirklich so ent-schieden hätte. Immerhin hat diese Entscheidung dann jedocheine den Umständen angemessene tragfähige Basis.

Allerdings: wo werden solche offenen Gespräche wirklichgeführt? Und vor allem: Wie steht es um diejenigen Patien-tinnen und Patienten, die ohne vorherige Gesprächsmöglich-keit in die Bewußtlosigkeit fallen? Hierbei ist zu bedenken,daß Überlegungen in gesunden Tagen nicht weit tragen. Wierepräsentative Umfragen aus jüngster Zeit zeigen, neigen diemeisten Bundesbürger (etwa 85 %) dazu, über den eigenenTod lieber nicht nachzudenken. Außerdem ist davon auszu-gehen (und hierauf verweist die BÄK dankenswerterweiseausdrücklich), daß die Überlegungen hierzu in gesunden

Prof. Dr. med. J.-C. Student (✉)Hospiz StuttgartStafflenbergstraße 22D-70184 Stuttgart

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Tagen wenig Relevanz für den „Ernstfall“ haben dürften, wiejeder erfahrene Sterbebegleiter weiß. Tatsächlich könntenhierbei die sogenannten Patientenverfügungen hilfreiche Hin-weise geben – wenn sie nicht auch in der Regel in gesundenTagen verfaßt würden und oft genug aus Formblättern be-stünden, die der Patient rasch einmal nebenbei ankreuzenkann, ohne sich mit dem Text wirklich auseinanderzusetzen.Deswegen wurde früher empfohlen, die Formulierungsent-würfe zum Patiententestament eigenhändig abzuschreiben,damit gesichert ist, daß ein Minimum an Auseinandersetzungauch wirklich geschieht. Dieses Vorgehen ist in letzter Zeitleider weitgehend verlassen worden. – Den Willen des Pa-tienten ernst zu nehmen, bedeutet also gerade, den Begriff des„mutmaßlichen Willens“ in hohem Maße zu problematisieren.

Der Umgang mit Patienten im „Wachkoma“

Der mutmaßliche Wille (und dies übersieht auch der Bundes-gerichtshof in entsprechenden Urteilen geflissentlich) ist alsoein höchst problematisches Konstrukt, wenn es um Entschei-dungen geht, die unwiderruflich den vorzeitigen Tod derPatienten zur Folge haben. Denn was heißt „mutmaßlicherWille“ angesichts einer Situation, die der Patient schlichtnicht voraussehen konnte? Diese Problematik erreicht ihrenHöhepunkt in jener Passage der „Richtlinien“, in der es umdas Apallische Syndrom („Wachkoma“) geht. Hier einen „er-klärten Willen“ zu unterstellen, wirkt geradezu grotesk. Werkönnte zu einem solchen Zustand, der definitionsgemäßplötzlich einsetzt, noch etwas erklären? Und wer könnte sichernsthaft einen solchen Zustand wirklich zuvor vorstellen?

Aber noch aus einem weiteren und vielleicht schwer-wiegenderen Grund ist die Passage über den Umgang mitPatienten im Wachkoma kritikwürdig: Die BÄK vertritt hierinsgesamt eine Vorstellung von Wachkoma-Patienten, dienicht dem Stand des medizinischen Wissens entspricht.Tatsächlich wäre ein nennenswerter Teil der betroffenenPatientinnen und Patienten heilbar oder könnte wenigstens inein Leben mit erträglichen Behinderungen zurückgeführtwerden, wenn in der Bundesrepublik angemessene Rehabili-tationsmöglichkeiten für die Betroffenen bestünden. Das Pro-blem besteht also in Deutschland darin, daß es in vielen Fäl-len erst gar nicht zu einer angemessenen Behandlung kommt.Hier gleich den Abbruch ins Auge zu fassen, ist wahrhaftigmakaber. Ein Behandlungsabbruch käme also – ein wenigzugespitzt formuliert – in zahllosen Fällen einer Körper-verletzung mit möglichen Todesfolgen gleich.

Problematisch ist der Passus über den Umgang mit Wach-koma-Patienten auch deswegen, weil nicht deutlich gemachtwird, was dieser Behandlungsabbruch beinhaltet. Aus demAbsatz zuvor muß geschlossen werden, daß dies auch das Be-enden von Ernährungsformen beinhaltet, die nicht „natürlich“sind. Medizinisch ist „natürliche Ernährung“ nicht eindeutig

definiert. Was aber versteht die BÄK unter „nicht natürlicherErnährung“? Gehört hierzu bereits die Nasensonde und dieMagenfistel, auf die manche Wachkoma-Patienten wenig-stens phasenweise angewiesen sind – oder ist es erst dieparenterale Ernährung (Ernährung über die Vene), die hier ge-meint ist? An dieser Stelle sind klärende Zusätze dringend er-forderlich. Ohne eine solche genauere Definition muß derVerdacht entstehen, daß die BÄK die Position vertritt, Ärztedürften ihre Wachkoma-Patienten ungestraft verhungernlassen, wenn sich hierzu Hinweise aus dem „mutmaßlichenWillen“ ergäben. Das aber käme einer „Tötung ohne Ver-langen“ gleich.

Lindernde Therapie

Was den Richtlinien fehlt, ist ein ausdrücklicher Hinweis dar-auf, daß Ärzte im Umgang mit sterbenden Menschen zurintensiven Anwendung palliativmedizinischer Maßnahmen(also lindernder Therapie) verpflichtet sind. Es wirkt be-fremdlich, daß die Richtlinien keinen Hinweis darauf enthal-ten, daß es mittlerweile in der Medizin gute Konzepte zumUmgang mit unheilbar kranken Menschen gibt, die weltweitunter dem Begriff „Hospiz“ bzw. „Palliativmedizin“ bekanntsind. In diesem Felde müßte nachhaltig eine intensive Weiter-bildung der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen gefordertwerden. Diese ist bislang keineswegs ausreichend gegeben.Zwar ist im Text von schmerzlindernden Maßnahmen dieRede. Tatsache ist jedoch, daß die in Deutschland durch-geführte Schmerztherapie nach wie vor miserabel ist undlediglich um die 20 % der Schmerzkranken ausreichende ärzt-liche Hilfe bekommen. Makaber ist demgegenüber, daß eseiner repräsentativen Umfrage zufolge 80–90 % der Ärzte fürakzeptabel halten, Schmerzmittel überzudosieren und unheil-bare Patientinnen und Patienten dadurch zu töten.Aus dieser Darstellung ergeben sich folgende Forderun-gen an die Überarbeitung der Richtlinien zur ärztlichenSterbebegleitung:● Die ethischen Aussagen müssen klarer und unzweideutiger

gefaßt werden.● Der Passus über den Umgang mit Patienten im Wachkoma

sollte ersatzlos gestrichen werden.● Ebenso sollte der „mutmaßliche“ Wille als Handlungs-

richtschnur im Text gestrichen werden. – Richtig ist da-gegen die differenzierte Darstellung zum Umgang mit demPatiententestament – allerdings nur, sofern es eigenhändigverfaßt wurde.

● Eingefügt werden sollte die Forderung, daß alle Ärztinnenund Ärzte, die Umgang mit unheilbar Kranken haben, ver-pflichtet sind, sich palliativmedizinisch fortzubilden. Diesschließt die Befähigung ein, mit Betroffenen in einen ehr-lichen und einfühlsamen Dialog über ihre Wünsche einzu-treten.

206 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 31, Heft 3 (1998)© Steinkopff Verlag 1998

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Präambel

Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestim-mungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zuschützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern undSterbenden bis zum Tod beizustehen.

Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung bestehtjedoch nicht unter allen Umständen. Es gibt Situationen, indenen sonst angemessene Diagnostik- und Therapieverfahrennicht mehr indiziert sind, sondern Behandlungsbegrenzungdie gebotene ärztliche Maßnahme sein kann. Aktive Sterbe-hilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wennsie auf Verlangen des Patienten geschieht.

Die folgenden Hinweise zur ärztlichen Tätigkeit an derGrenze zwischen Leben und Tod können dem Arzt die eigeneVerantwortung in der konkreten Situation nicht abnehmen, siekönnen ihm jedoch Hilfe sein. Bei der Entscheidungsfindungsoll der Arzt die Abstimmung mit weiteren ärztlichen undpflegenden Mitarbeitern suchen.

Bei Sterbenden, d. h. Kranken oder Verletzten mit irrever-siblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, beidenen der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist, sollder Arzt nach den im Abschnitt I (Ärztliche Pflichten beiSterbenden) dargelegten Grundsätzen verfahren.

Die Frage nach Behandlungsbegrenzung kann sich auchschon vor der Endphase menschlichen Lebens stellen. Hierzuenthält der Abschnitt II. (Verzicht auf lebensverlängerndeMaßnahmen bei unheilbar Kranken) Empfehlungen, die derArzt beachten soll.

Zum Recht auf Selbstbestimmung in der Phase zwischenLeben und Tod enthält der Abschnitt III. Hinweise, die sichsowohl auf einwilligungsfähige als auch nicht einwilligungs-fähige Patienten beziehen.

Der Abschnitt IV. bezieht sich auf die im Vorfeld des Todesverfaßten Meinungsäußerungen der Patienten.

I. Ärztliche Pflichten bei Sterbenden

Ärzte sind verpflichtet, Sterbenden bis zu ihrem Tode zuhelfen. Die Hilfe besteht in Behandlung, Beistand und Pflege.In der Sterbephase treten pflegerische und schmerzlinderndeMaßnahmen an die Stelle von Lebensverlängerung undLebenserhaltung. Das Ziel hierbei ist, dem Sterbenden so zuhelfen, daß er bis zu seinem Tode in Würde zu leben vermag.Er hat Anspruch auf menschenwürdige Unterbringung, best-mögliche Pflege und intensive menschliche Zuwendung.

Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zustandund die vorgesehenen Maßnahmen muß wahrheitsgemäßsein, sie soll sich aber an der Situation des Sterbenden orien-tieren und Ängste vermeiden. Der Arzt kann dem Patientennahestehende Personen unterrichten, wenn der erklärte odermutmaßliche Wille des Patienten dem nicht entgegensteht.

Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens dürfen unterBeachtung des erklärten oder mutmaßlichen Willens desPatienten unterlassen oder abgebrochen werden, wenn diesenur den Todeseintritt verzögern und das Grundleiden mit sei-nem irreversiblen Verlauf nicht mehr beeinflußt werden kann.

Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vor-dergrund stehen, daß eine unbeabsichtigte, aber möglicher-weise unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen wer-den darf. Eine gezielte Lebensverkürzung durch Eingriffe, dieden Tod herbeiführen oder beschleunigen sollen, ist unzuläs-sig und mit Strafe bedroht. Auch die Mitwirkung des Arztesbei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Berufsethosund kann stafbar sein.

II. Verzicht auf unzumutbare Behandlung

1. Verhalten bei Patienten mit infauster Prognose undraschem Fortschreiten des Krankheitsprozesses

Auch bei Patienten mit infauster Prognose und raschem Fort-schreiten des Krankheitsprozesses, die sich noch nicht imSterbeprozeß befinden, kann sich die Frage nach einem Ver-zicht auf Maßnahmen zur Lebensverlängerung stellen.

Eine solche Änderung des Behandlungszieles wird unterBeachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten (vgl.III.) nur in Betracht kommen, wenn die Aufnahme einerlebensverlängernden Maßnahme oder die Fortführung derBehandlung keine Hilfe für den Patienten darstellt, sondernihn unvertretbar belastet. Dies darf niemals eine Frage wirt-schaftlicher Überlegungen sein. Auch in diesen Situationengehört es unverzichtbar zu den ärztlichen Aufgaben, für eineBasishilfe zu sorgen. Zur Basishilfe sind zu rechnen:

Zuwendung, Körperpflege, Schmerzlinderung, Freihaltender Atemwege, Flüssigkeitszufuhr und natürliche Ernährung.

2. Verhalten bei sogenannten chronisch-vegetativenZuständen (apallisches Syndrom, Wachkoma), schwerstenkongenitalen Fehlbildungen oder perinatalen Läsionen

Patienten mit chronisch-vegetativen Zuständen (apallischesSyndrom – sog. Wachkoma) sind Lebende. Ein Behandlungs-abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ist deshalb nur dannzulässig, wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willendes Patienten entspricht.

Bei Neugeborenen mit schwersten kongenitalen Fehl-bildungen, die nur dank des fortdauernden Einsatzes außerge-wöhnlicher technischer Hilfsmittel am Leben gehalten wer-den können, darf nach Rücksprache mit den Eltern von dererstmaligen oder anhaltenden Anwendung solcher Hilfsmittelabgesehen werden.

207J.-C. StudentStellungnahme zum Entwurf der Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung

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III. Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung

1. Bei einwilligungsfähigen Patienten hat der Arzt den Wil-len des angemessen aufgeklärten Patienten zu respektieren,selbst wenn sich dieser Wille nicht mit den aus ärztlicher Sichtfür geboten angesehenen Diagnose- und Therapiemaßnahmendeckt. Das gilt auch für die Beendigung schon eingeleiteterlebenserhaltender technischer Maßnahmen. Der Arzt sollKranken, die eine notwendige Behandlung ablehnen, helfen,die Entscheidung zu überdenken.2. Bei bewußtlosen oder sonst einwilligungsunfähigenPatienten sind die Behandlungsmaßnahmen durchzuführen,die dem mutmaßlichen Willen des Patienten in der konkretenSituation entsprechen. Der mutmaßliche Wille des Patientenist aus den Gesamtumständen zu ermitteln. Eine besondereBedeutung kommt hierbei einer früheren Erklärung desPatienten zu. Sie ist zu berücksichtigen, sofern ihre Aktualitätfür die konkrete Situation anzunehmen ist.

Bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens sind sowohlreligiöse Überzeugungen und allgemeine Lebenseinstellun-gen als auch die Gründe, die die Lebenserwartung und dieRisiken bleibender Behinderungen sowie Schmerzen be-treffen, zu berücksichtigen. Hat der Patient eine Person seinesVertrauens speziell benannt, ist diese zur Ermittlung des mut-maßlichen Patientenwillens heranzuziehen. Ist der mutmaß-

liche Wille nicht erkennbar, so sollte der Arzt die Bestellungeines Betreuers beim Vormundschaftsgericht anregen.

Der Arzt sollte wissen, daß die Einwilligung des Betreuersin eine das Leben gefährdende Behandlung der Zustimmungdurch das Vormundschaftsgericht bedarf (§ 1904 BGB) unddaß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes davonauszugehen ist, daß dieses auch für die Fälle der Behand-lungsbegrenzung gilt.

IV. Patientenverfügungen mit Selbstbestimmung im Vorfelddes Todes

Es ist zu begrüßen, daß mit zunehmender Autonomie der Pa-tienten immer öfter im Vorfeld verfaßte Betreuungsverfügun-gen, Patiententestamente, (Alters-)Vorsorge-Vollmachten o. ä. vorgelegt werden. Sie sind als eine wesentliche Hilfe fürdas Handeln des Arztes und als wichtiges Element des Selbst-bestimmungsrechtes verantwortungsvoll bei der Ermittlungdes mutmaßlichen Willens zu beachten. Allerdings sollte derArzt daran denken, daß solche Willensäußerungen in derRegel in gesunden Tagen auf Grund anderer Einsicht verfaßtwurden und daß Hoffnung oftmals in ausweglos erscheinen-den Lagen wächst.

208 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 31, Heft 3 (1998)© Steinkopff Verlag 1998