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Gerlinde Dingerkus Christel Kofoet Still geboren Unterstützende Maßnahmen in der Begleitung von Eltern zum Zeitpunkt der Geburt Ansprechstelle im Land NRW zur Pflege Sterbender, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung

Still geboren - ALPHA NRW

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Gerlinde DingerkusChristel Kofoet

Still geboren Unterstützende Maßnahmen in der Begleitung von Elternzum Zeitpunkt der Geburt

Ansprechstelle imLand NRW zurPflege Sterbender,Hospizarbeit undAngehörigenbegleitung

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Still geboren Unterstützende Maßnahmen in der Begleitung von Elternzum Zeitpunkt der Geburt

Mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums fürArbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen

Gerlinde Dingerkus Christel Kofoet

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Inhaltsverzeichnis1. Einleitung 7

2. Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer 10

2.1 Wie reagieren wir auf Abschied und Verlust? 102.2 Was geschieht im Trauerprozess? 142.3 Was kennzeichnet die Trauer beim Tod eines Kindes? 162.4 Wenn ein Kind im perinatalen Zeitraum stirbt 192.5 Die besondere Verlustsituation durch eine Fehlgeburt 232.6 Erfahrungen eines Elternpaares – Kleine Geburt zuhause

in der Frühschwangerschaft 26

3. Voraussetzungen beim begleitenden Personal 29

3.1 Individuelle Voraussetzungen 303.1.1 Fragen zur Selbstreflexion der betreuenden Personen 313.1.2 Der eigenen Trauer Raum und Zeit geben 333.1.3 Die eigenen Grenzen erkennen 343.1.4 Die Bedeutung von Schuldgefühlen 35

3.2 Voraussetzungen innerhalb der Institution 363.3 Erfahrungen eines Elternpaares – Geburt der intrauterin

verstorbenen Tochter in der 41. SSW 40

Inhalt

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Inhalt

4. Konkrete Empfehlungen für die Begleitung vor, während und nach der Geburt 45

4.1 Vor der Geburt 464.2 Während der Geburt 474.3 Nach der Geburt 48

5. Begriffsklärung 54

6. Begleitung betroffener Eltern als curricularer Bestandteil der Ausbildung für Hebammen – ein Kommentar 56

7. (Internet-)Adressen 58

8. Literatur 61

Impressum 64

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Skulptur: Jaroslav Vacek

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Schwanger sein!

Ein neues Kontinuum eröffnet sich im Leben einer Frau und im Leben einer Paarbeziehung.

Der Ausgang ist ungewiss. Das Hoffen, alles möge gut verlaufen, begleitet jedes Paar.

Freude, Neugierde, Spannung, Respekt und Ängste gehören dazu.

Sich einlassen und Hingabe üben,ein großes Feld in intensiver Form,

insbesondere für die schwangere Frau.

Was passiert, wenn all das Hoffen jäh unterbrochen wird,abgebrochen durch die Diagnose Fehlgeburt, Blasenmole, Totgeburt, nicht behandelbare schwerste Fehlbildungen,

drohende Frühgeburt mit ungewissem Ausgang,Lebendgeburt mit schweren Anzeichen einer Asphyxie, ... ?

Schock, Leere, Fragen, Sprachlosigkeit, Schreien,ein Abgrund aus tiefster Trauer und Verzweiflung.

Und dennoch läuft das Leben weiter.Unerbittlich.

Wie kann der Faden wieder aufgenommen werden in die Vielfalt des Lebens?

Was ist hilfreich, was verletzend?Wie können betroffene Eltern begleitend unterstützt werden?

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1. EinleitungNach Aussagen des Statischen Bundesamtes (2014) enden in Deutschland0,36 % aller Schwangerschaften mit einer Totgeburt. In der Ursachenfor-schung unterscheidet man zwischen fetalen, plazentaren und maternalenRisikofaktoren. Die Tatsache aber, dass es eine große Vielzahl von mögli-chen Ursachen gibt, führt dazu, dass eine Klassifikation nur eingeschränktmöglich und für einen hohen Anteil aller Totgeburten die Ursache für dasVersterben der Feten unklar ist (Toth, 2017).

In immer mehr Krankenhäusern findet das Thema Totgeburt Berücksich-tigung, insbesondere, indem Überlegungen dazu angestellt werden, wieman Eltern bei der Verarbeitung einer solchen Situation unterstützenkann. Die vorliegende Veröffentlichung hat eine ähnliche Zielsetzung,bietet den Lesern aber auch darüber hinausgehende Informationen an.Die Zusammenstellung basiert unter anderem auf einer Befragung zurSituation von Hebammen bei Totgeburten und Lebendgeburten mit töd-lichem Ausgang (Dingerkus und Rademaker, 2005).

Für wen ist diese Broschüre geschrieben?Hebammen, Ärzte und Pflegepersonal im stationären und im ambulantenBereich werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe ihres beruflichen Lebens mit der Situation konfrontiert sehen, dass ein Kind imperinatalen Zeitraum verstirbt. Für sie und für diesen relativ kurzen Zeitraum ist diese Veröffentlichung geschrieben.

Die Qualität der Begleitung betroffener Eltern hatmaßgeblich Einfluss auf die Möglichkeiten derVerarbeitung dieses einschneidenden Erlebnisses.Dies gilt für alle Beteiligten, also betroffene Elternbzw. Familie sowie begleitendes Personal.

Einleitung

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Die Qualität der Begleitungbeeinflusst die Möglichkeiten

der Verarbeitung des Verlustes.

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Wie ist diese Broschüre aufgebaut?Im ersten Teil dieser Broschüre werden allgemeine Grundlagen zu denThemen Sterben, Verlust und Trauer beschrieben. Danach wird die spezielleVerlustsituation, wenn also ein Kind im perinatalen Zeitraum verstirbt,behandelt. Ebenfalls wird die Perspektive der Eltern einbezogen, die vonPaar zu Paar sehr unterschiedlich sein kann. Das Erleben des Verlusteswird unter anderem von der Lebenssituation der Eltern beeinflusst. Für

das begleitende Personal ist es von Bedeutungzu erfahren, in welcher Situation sich das Paarbzw. die Familie momentan befindet. Denn diePerspektive der Eltern mit Einfühlungsvermögenzu verstehen und zu respektieren, ist ein wichtigerBestandteil der Kommunikation mit der Familie.

Um Eltern in dieser Krisensituation professionelle Unterstützung zu bie-ten, bedarf es der Reflexion der eigenen Verlust- und Trauererlebnisse aufSeiten des betreuenden Personals. Persönliche Ressourcen, Selbstpflegeund der eigene Umgang mit Grenzsituationen kommen in diesem Kapitelzur Sprache. Anschließend finden unterstützende Maßnahmen in derBegleitung betroffener Eltern ihren Raum. Es werden aktuelle Definitio-nen und die rechtliche Situation in Deutschland beschrieben. Das Wissenum diese Fakten ist notwendig, um betroffene Eltern z. B. im Hinblick aufBestattungsmöglichkeiten aufzuklären. Weitere praktische Ansätze undErfahrungsberichte ergänzen diesen Teil der Arbeit. Mit ihnen schafft dasbegleitende Personal einen Rahmen bzw. eine Struktur, in der die Elternihre Trauer individuell und gemeinsam als Paar leben können: Die Trauernimmt Gestalt an. Alle unterstützenden Maßnahmen in der Begleitungbetroffener Eltern sind als Ideen oder Vorschläge zu verstehen, deren Kon-kretisierung jede Mitarbeiterin oder jede Institution nach ihren Möglich-keiten gestalten kann.

Häufig beklagt sich das begleitende Personal darüber, dass eine Umset-zung in ihrer Einrichtung nicht möglich sei, weil die Strukturen vor Ort,

Einleitung

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Die Perspektive der Eltern mitEinfühlungsvermögen zu

verstehen und zu respektieren,ist wichtiger Bestandteil der

Kommunikation.

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die finanziellen Ressourcen oder der Klinikalltag es nicht zulassen. An die-ser Stelle sei das Personal ermutigt, nach alternativen Lösungen zusuchen. Möglicherweise entwickeln sich auf Grund der hier beschriebenenVorschläge Ideen, die zu der eigenen Einrichtung passen.

Je nach Erfahrung und Wissenstand kann die vorliegende Broschüre nachausgesuchten Kapiteln gelesen werden. Dem begleitenden Personal werdenevtl. Definitionen oder Ähnliches bekannt sein. Deswegen empfiehlt es sichbei der Durchsicht nach Inhaltsverzeichnis und Interesse vorzugehen.

Hinweis: Jeweils sowohl die männliche als auch die weibliche Form zu verwenden,macht den Sprachfluss leider etwas schwerfällig. Daher haben wir in der vorliegendenSchrift manchmal die männliche und manchmal die weibliche Form gewählt. Gemeintsind immer beide Geschlechter.

Einleitung

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2. Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

2.1 Wie reagieren wir auf Abschied und Verlust?

Der Mensch erfährt von Anbeginn seines Lebens Verlustsituationen. DasLeben beginnt mit dem Verlust der engen symbiotischen Verbindung zurMutter. Nur durch die Geburt und damit durch die Trennung von der Mut-ter ist sein weiteres Leben möglich. Immer wieder trifft der Mensch imVerlauf seines Lebens auf Situationen, die von Trennung und Abschiedgeprägt sind, z. B. der Schulwechsel, das Ende einer Freundschaft, dasSterben eines geliebten Menschen und vieles mehr. Die Umgebung desMenschen, also auch die Kultur und die Natur selber durchlaufen ebenfalls die immer wiederkehrenden Phasen des Sterbens und Werdens.Menschen geraten durch einen Verlust in ein Ungleichgewicht. Mit denstetigen Umbrüchen in ihrem Leben werden Menschen vor die Aufgabegestellt, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Die durch ein Ereig-nis ausgelöste Krise beinhaltet für jeden Menschen Veränderung, „eineVeränderung der eigenen Identität und mögliches persönliches Wachs-tum“ (Maurer, 2017, S. 42).

Auf Verlust und Trennung reagiert der Mensch mitTrauer. Die Trauer ist eine Form, das Erlebte zu verarbeiten und somit in das eigene Leben zu inte-grieren. Dabei ist die Trauer von Mensch zu Menschunterschiedlich in ihrer Ausprägung und Qualität.Sie ist eine angemessene und hilfreiche Emotion.

Ein sehr langes Verbleiben in dem intensiven Trauerschmerz kann als Zeichen gewertet werden, dass eine Verarbeitung ohne Begleitung oderUnterstützung nicht gut gelingt.Autoren wie Kast, Kübler-Ross, Worden u. a. haben in den letzten Jahr-zehnten das Sterben und die Trauer untersucht und Kennzeichen des

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Die Trauer ist eine Form,den erlebten Verlust

zu verarbeiten und in dasLeben zu integrieren.

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Sterbens bzw. des Trauerprozesses beschrieben. Idealerweise können Men-schen den Verlust nach einer gewissen Zeit als Bestandteil ihres Lebensakzeptieren und integrieren. Dies geschieht individuell zu sehr unter-schiedlichen Zeitpunkten.

Was geschieht in der Zeit direkt nach dem Verlust?

Als Hebamme… … finde ich beim Anlegen eines Routine CTG keine Herztöne.… empfange ich eine schwangere Frau, die wegen fehlender Kindsbewe-gungen zur Kontrolle kommt.

Als Gynäkologe…… erkenne ich im Rahmen einer Ultraschallkontrolle negative Herzaktionbeim Kind.

Dies ist die Zeit, in der insbesondere das Klinikpersonal die Familien erlebt.Dabei fühlt es sich möglicherweise selbst von dem Verlust sehr betroffen.Das Verhalten Betroffener in der ersten Phase ist gekennzeichnet von Ver-suchen, das Geschehene ‚rückgängig‘ zu machen. Frauen bzw. Paare, diez. B. während einer Ultraschalluntersuchung erfahren, dass ihr Baby nichtmehr lebt, äußern sich häufig mit Worten wie: „Das kann nicht wahr sein!Es war doch immer alles in Ordnung! Das gibt es nicht!” Das eingetreteneEreignis wird verneint in der Hoffnung, dass das Kind noch lebt und allesnur ein Irrtum oder böser Traum ist.

In der Erhebung zur Situation von Hebammen bei Totgeburten undLebendgeburten mit tödlichem Ausgang wird das Ver-halten betroffener Eltern wie folgt beschrieben:„ablehnend, keine Information wünschend, distanziertund sehr negativ”, „Eltern wollten es nicht wahr haben,waren geschockt, dann aber durch die Fürsorge für das

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Eltern wollen den Verlust ihres Kindesnicht wahrhaben undsind schockiert.

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andere Kind etwas abgelenkt” (Dingerkus und Rademaker, 2005). Hebam-men erleben, dass manche Frauen nach der Nachricht, dass ihr Kind imBauch verstorben ist, eine vaginale Geburt in erster Reaktion abwehren.Ein Kaiserschnitt unter Vollnarkose erscheint dem betroffenen Paar alsbessere Lösung. Er bietet der Frau die Möglichkeit, für eine gewisse Zeitnichts mehr zu spüren. Dem Partner kann es schwerfallen, seiner Frau dieWehenschmerzen zuzumuten, so dass auch ihm der Kaiserschnitt als guteAlternative entgegenkommt. Die Frau ist noch nicht bereit, ihr Kind zugebären. „Ich bin doch nicht in die Klinik gekommen, um mein Kind zubekommen. Es sollte doch nur eine Untersuchung sein.” Die anstehendevaginale Geburt bedeutet, bei Bewusstsein ihr totes Kind zu gebären undsich damit von ihm körperlich zu trennen.

Wenn der Verlust realisiert wird, werden auchdie Emotionen vehementer. Der Ausdruck deraufbrechenden chaotischen Gefühle auf Grundder Erfahrung des Verlustes ist sehr vielfältig:Lautes Klagen und Weinen, Wut und Verzweif-lung oder Gefühle von Getrennt sein, Abwesen-

heit, Apathie und Introvertiertheit sind nur einige der Reaktionen. AuchAbwehrreaktionen sind möglich. Körperliche Symptome wie Schlaf -störungen, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Kreislaufprobleme etc.treten auf. Eltern berichten von ihrer Angst, verrückt zu werden undebenso von der Angst, dass die intensiven Gefühle von Verzweiflung undHoffnungslosigkeit niemals aufhö-ren. „Ich habe Angst, dass diesesGefühl nun immer so bleibt. Ichfühle mich betäubt und weine oftstundenlang. Mein ganzer Körperweint.“ Das Leben erscheint sinnlos.Schuldgefühle können auftreten.Es ist wichtig, dass die betroffeneFamilie Möglichkeiten findet, ihre

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Die Betroffenen erleben sehrvielfältige und mitunter

widersprüchlich erscheinendeGefühle und zeigen diese

nach außen.

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Gedanken und Gefühle zu äußern. Diese Gefühlsqualitäten können eben-falls um den Zeitraum der Geburt auftreten, häufiger jedoch nach derGeburt, das bedeutet auch lange Zeit nach dem erlebten Verlust.

Bewusstwerden

Können betroffene Eltern ihren Gefühlen freien Lauf lassen, so wird esihnen möglich, sich des Verlustes bewusst zu werden und diesen anzuer-kennen. Dies vollzieht sich in kleinen Schritten und kann immer wiedervon abwehrenden oder überborden-den Gefühlen unterbrochen werden.Es geht darum, den Verlust als Reali-tät zu akzeptieren und damit denTrauerschmerz bewusst als Verlust-schmerz über diesen Menschen zuerfahren. Gelingt dies, so können sichdie Eltern ein Leben aufbauen, indem das verstorbene Kind ‚fehlendarf‘ bzw. auf eine andere Art als dieleibliche präsent ist.

Integration des Verlustes

Das betroffene Paar ist fähig, den erlebten Verlust in das eigene Leben zuintegrieren. Der Alltag kehrt zurück. Diese Phase kann immer wieder vonden übrigen Empfindungen unterbrochen werden, z. B. beim Zusammen-treffen mit anderen Paaren, die Kleinkinder haben. Eltern berichten, dasssie dann oft daran denken, ihr Kind könne nun genauso alt sein. Sie könn-ten ebenso herumtollen mit dem Kind und vieles mehr. Die Begegnungenlösen evtl. aufs Neue Trauer, Wut, Ohnmacht und Unverständnis aus. Esgelingt jedoch, in immer kürzeren Abständen zum gewohnten Leben

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Unendlich ist der SchmerzUnendlich und �berw�ltigendsind Schmerz und Verzweif?

lung.Ich f�hle mich gel�hmt, verlo?

ren,nicht zu dieser Welt geh�rig.Gefangen in meinem K�rper

wei§ ich nicht,ob ich noch sein kann.

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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zurückzukehren. Den Eltern ist es wieder möglich, Spaß und Freude amLeben zu haben und sich der Außenwelt zu öffnen. Dies betrifft auch dieOffenheit für eine neue Schwangerschaft. Kann das Paar den Verlust desKindes gut verarbeiten, so wird dem weiteren Kind eher nicht eine Ersatz-funktion für das verstorbene Geschwisterkind übertragen.

Sicher aber gilt, dass das Verhalten der Paare in allen Phasen individuellbleibt. Ebenso ist die Länge der Trauer individuell unterschiedlich. Es kön-nen keine genauen Aussagen darüber gemacht werden, wie lang der obenbeschriebene Trauerprozess anhält bzw. wann das Verlustereignis in daseigene Leben integriert wird. Der beschriebene Trauerprozess findet sichin den Modellen verschiedener Autoren wieder, z. B. Verena Kast, ElisabethKübler-Ross, Erika Schuchardt und William Worden. Mit der Thematik derBindung und ihrer Auswirkung auf Verlustreaktionen hat sich JohnBowlby in intensiver Forschung auseinandergesetzt.

2.2 Was geschieht im Trauerprozess?

Trauer ist eine normale Reaktion des Menschen auf das Erleben eines Ver-lustes und umfasst als Begriff ein sehr umfangreiches Spektrum anGefühlen und Verhaltensweisen.Trauer kann nicht in einen festen Zeitrahmen gepresst werden. Wenn siejedoch über einen sehr langen Zeitraum und in anhaltender qualitativerAusprägung auftritt, spricht man von komplizierter oder pathologischerTrauer. Die Diskussion um den Begriff wird kontrovers geführt, da er geradedadurch, dass er eine Norm voraussetzt, nicht den individuellen – sowohlpersönlichen als auch kulturabhängigen – Bewältigungsformen Rechnungträgt (Znoj, 2007).

Wie auch immer sich die Ausprägungen der Trauerreaktionen gestalten:Das begleitende Personal und sein Kontakt zu den Eltern spielt einewesentliche Rolle für die Bewältigung des Verlustes.

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Daher ist es von großer Bedeutung, die aus dem Verlust resultierenden Gefühle zu kennen und als normale und eben nicht pathologische Reaktion aufein einschneidendes Ereignis anzuerkennen.

Menschen bringen ihre Trauer auf verschiedenen Ebenen und oft sehrunterschiedlich zum Ausdruck (Worden, 2017):

Welche Gefühle können mit Trauer einhergehen?Die Bandbreite ist sehr weit. Sie geht von Traurigkeit, Zorn, Schock, Sehn-sucht über Befreiung, Erleichterung und Betäubung bis zu Abgestumpft-heit u. v. m. Auch kann ein Gefühl der Depersonalisation auftreten („Ichgehe die Straße entlang und alles kommt mir unwirklich vor, auch meineeigene Person”).

Wie wird Trauer körperlich empfunden?Hier zeigen sich u. a. ein Leeregefühl im Magen, Brustbeklemmungen,Zugeschnürtsein der Kehle, Überempfindlichkeit gegen Lärm, Atemlosig-keit – ein Gefühl von Kurzatmigkeit, Muskelschwäche, Energiemangel undMundtrockenheit.

Wie wird Trauer wahrgenommen?Gedanken, die sich oft festsetzen, Unglaube und Nichtwahrhabenwollen,Verwirrung, intensive Beschäftigung mit dem Toten, Gefühl der Anwesen-heit des Verstorbenen, Halluzinationen.

Wie verhält sich der Mensch in der Trauer? Schlaf- und Appetitstörungen, geistesabwesendes Verhalten, sozialesZurückziehen, Träumen von dem verstorbenen Menschen, Meiden vonErinnerungen an den verstorbenen Menschen, Suchen und Rufen, Seufzen,rastlose Überaktivität, Weinen, Aufsuchen von Orten oder Beisichtragenvon Gegenständen, die an den Verstorbenen erinnern, Kult mit Objektenaus dem Besitz der verstorbenen Person.

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Das Wissen umTrauer reaktionen gibtSicherheit im Umgangmit betroffenen Eltern.

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Das Verhalten der trauernden Eltern ist häufig für sie selbst verwirrend,weil es vom gewohnten Verhalten abweicht bzw. als fremd erlebt wird.Auch kann einer der Lebenspartner erschreckt sein vom Verhalten desanderen. Männer trauern anders als Frauen. Viele der Trauermerkmale sindüber einen längeren Zeitraum hinweg zu finden. Trauer muss nichtzwangsläufig bei der Information über den Verlust auftreten, dies kannzeitlich verzögert geschehen. Trauer ist eine menschliche Reaktion aufeine Verlusterfahrung, deren Intensität sich in verschiedenen Aspektenunterscheidet (Maurer, 2017). So kann Trauer auch als eine gesunde Reak-tion des Menschen auf ein Krisenereignis verstanden werden.

Das Wissen darum verhilft dem begleitenden Personal und den Trauern-den, selbst trotz der ungewohnten Trauerreaktion ruhig zu bleiben. Allein

der Satz, dass die Reaktion normal ist, kannSicherheit bringen.Die Begleitung der Eltern durch Hebammen,Ärzte oder andere Berufsgruppen sollte überden Rahmen der Geburt hinausgehen und dieZeit des Wochenbettes oder länger umfassen.

2.3 Was kennzeichnet die Trauer beim Tod eines Kindes?

Der Tod eines Kindes beeinflusst in besonderer Weise das System derFamilie. Es ist ein schwerer Verlust, der das Familienleben nachhaltigändert. Auch und insbesondere für die bereits lebenden aber auch für dienachfolgend geborenen Geschwisterkinder spielt der Verlust eine ein-schneidende Rolle. Die Trauer des lebenden Kindes wird häufig nicht aus-reichend wahrgenommen, weil die Eltern sehr mit sich beschäftigt sind.Hier handelt es sich um ein sehr verständliches Phänomen: All die Men-

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Die Begleitung der Eltern durchHebammen, Ärzte oder andereBerufsgruppen sollte über den

Rahmen der Geburt hinausgehenund die Zeit des Wochenbettes

oder länger umfassen.

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schen, die dem verstorbenen Kind nahestanden, sind über die Maßentraurig und müssen ihr Leid tragen. Sie können es nicht teilen, sie könneneinander kaum trösten, weil sie alle den starken Schmerz empfinden undalle sehr unterschiedlich damit umgehen. Dies kann bereits unter Erwach-senen zu Spannungen führen. Auch bringt es nicht selten mit sich, dassman sich allein gelassen fühlt.

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Es schreit in mirEs schreit in mir.Unvernehmbar,

au§er in der Tiefe meiner Seele.

Von Augenblick zu AugenblickHalte ich fester,und ich wei§,

wenn ich dich noch l�nger halte,kann ich dich nie mehr gehen lassen.

Ungl�ubig habe ich innerlich geschrien, als sie dich von mir nahmen.

Meine letzte Chance dich zu ber�hren,dich zu halten

und bei dir zu sein,du ach so besondere Liebe,die ich f�r all zu kurze Zeit

kannte.

Und doch kenne ich dich f�r immer.

Julie Fritsch und Sherokee Ilse

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Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Für (Geschwister-) Kinder ist dies nicht durchschaubar und daher unbe-greiflich, dass die Mutter oder der Vater sich jetzt gar nicht um sie undihre Gefühle kümmern. Kleinere Kinder, die von den Eltern vermeintlichgeschont werden, spüren die Veränderung, fühlen sich weniger geliebtoder glauben, diese Veränderung selbst verursacht zu haben (Klapp,2017). Größere Kinder fühlen sich bedrückt und ausgeschlossen undhaben nicht selten Angst „hinter dem Schatten des verstorbenen Kindeszu verschwinden“ (ebda. S. 330).

Außerdem geraten Geschwisterkinder zuweilen in das Feld der unerfüll-ten Wünsche, die Eltern mit dem verstorbenen Kind verknüpfen. Nichtselten erfüllen Geschwisterkinder die Funktion, bestimmte Verhaltenswei-sen oder Eigenschaften des verstorbenen Kindes zu reproduzieren. Daherbedürfen sie eines besonderen Blicks und einer besonderen Würdigung.

Die Eltern sind nach dem Tod eines Kindes neben ihrer persönlichen Trau-er mit hohen Anforderungen konfrontiert, die die veränderte Situation inder Familie betreffen und die in Beziehung zu ihrer Partnerschaft stehen.Hinzu kommen mögliche Schuldgefühle, mit denen sich die Eltern ausein-andersetzen. Das betroffene Paar stellt sich die Frage, ob es den Tod ihresKindes hätte verhindern können oder ob es ihr Kind von den Schmerzenhätte befreien können. Dies gilt auch für Eltern, deren Kinder im sehr frühen Alter, also intrauterin oder perinatal, versterben. Viele Paare sinddiesen Herausforderungen nicht gewachsen. Der Tod eines Kindes kannfür die Beziehung äußerst belastend werden und schlimmstenfalls zumAus der Partnerschaft oder Ehe führen. Eine Begleitung trauernder Eltern,das Verweisen auf die Möglichkeit einer Paarberatung, familiensystemischeBeratung, psychologische Begleitung, Selbsthilfegruppen etc. könnenunterstützende Angebote im Hinblick auf eine gute Verarbeitung des Verlustes innerhalb der Beziehung und Familie sein.

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Gibt es Unterschiede zwischen Müttern und Vätern?Die Frau steht in der Begleitung des Paares im Mittelpunkt. Zum einen istsie unmittelbarer betroffen, zum anderen steht sie in einer direkten meistintensiven Interaktion mit der Hebamme bzw. dem begleitenden Personal.Der Mann unterstützt in vielen Fällen seine Partnerin und stellt seineeigene Trauer damit zeitweise zurück. Hinzu kommt, dass Väter oft ande-re Bedürfnisse haben als Mütter. Sie möchten einbezogen werden bei Ent-scheidungen und ihnen sind praktische Aufgaben wichtig. Aus Rücksichtauf die Mütter versuchen sie, ihre Gefühle zu kontrollieren. Die unter-schiedlichen Bedürfnisse und Reaktionsweisen können Missverständnissezwischen Müttern und Vätern hervorrufen (Samuelsson, 2001).

2.4 Wenn ein Kind im perinatalen Zeitraum stirbt

Die Wahrnehmungen und Gefühle auf Grund des Todes eines Kindes wäh-rend der Schwangerschaft, unter oder kurz nach der Geburt unterschei-den sich hinsichtlich eines wesentlichen Aspektes im Erleben des Verlustesvom Tod eines geliebten Menschen, der im höheren Erwachsenenalterverstirbt. Beim Tod des Kindes im perinatalen Zeitraum treffen Geburtund Tod nahezu zeitgleich aufeinander. Begrüßung und Abschied liegendicht beieinander. Die Eltern haben sich auf das Ereignis Geburt und dieAnkunft ihres Kindes vorbereitet. Freude, Neugierde und Hoffnungbegleiten die Zeit der Schwangerschaft. Vorstellungen über das Kind neh-men Gestalt an, die durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostikverstärkt und bereits in einer frühen Schwangerschaftswoche entwickeltwerden.

Im 3D-Ultraschall sehen die werdenden Eltern Gestalt, Bewegungen undHerzschlag ihres Kindes. Frauen entwickeln durch den Anblick ihres Kin-des bei der Sonographie eine positive Einstellung. Die damit erhöhte Bin-dung(-sbereitschaft) hat auch Einfluss auf die Art und Qualität desAbschiednehmens (Beutel, 2002, Maurer, 2017).

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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Das Erleben der Kindsbewegungen untermauert zudem den Kontakt unddas Einlassen auf das Kind. Frauen bzw. Paare berichten von Phantasien,Plänen und Wünschen, wie sie die Zeit nach der Geburt mit ihrem Kinderleben möchten. Häufig ist in Geburtsvorbereitungskursen bei den Paa-ren spürbar, dass sich mit zunehmendem Schwangerschaftsalter dasgesamte Leben der Paare auf die Ankunft des Kindes ausrichtet. Der Körper der Frau bereitet sich mit Beginn der Schwangerschaft auf dasMuttersein vor. Alles ist darauf ausgerichtet, dass das Kind heranwachsenund geboren werden kann, um danach versorgt und beschützt zu werden.

„Eltern werden“ kann als Kontinuum begriffen werden, welches zerbricht,wenn das Kind intrauterin oder kurz nach der Geburt stirbt. All die Vor-

bereitungen, Wünsche, Erwartungen, Gedan-ken und Gefühle werden durch den Tod desKindes jäh abgebrochen und verlieren sich imNichts. Alles, was auf die Zukunft ausgerich-tet war, ist nicht mehr lebbar. „Was soll ichmit meinen leeren Armen tun? Wo soll ich die

Tiefe wiederfinden, die Wärme der Zärtlichkeit, die zwischen ihm und mirwar, als er starb?“ (Initiative REGENBOGEN, Erzählungen Band 1). Auch wenn viele betroffene Paare später noch ein oder mehrere gesundelebende Kinder haben, so müssen sie sich dennoch von den Phantasienmit dem verstorbenen Kind verabschieden. Das, was sie später mit denanderen Kindern erleben, wird anders sein. Deswegen ist ein gut gemein-ter Trost: „Du bist doch noch jung und kannst weitere Kinder bekommen!”unangebracht und in keiner Weise hilfreich.Verstirbt ein erwachsener Mensch, so ist es für die Hinterbliebenen ehermöglich, die Trauer mit anderen Menschen gemeinsam zum Ausdruck zubringen, weil Freunde, Bekannte und Verwandte den Verstorbenengekannt haben und ihn auf seinem Lebensweg mehr oder weniger beglei-tet haben. Verstirbt ein Kind im perinatalen Zeitraum, so kennen zumeistnur die Eltern dieses Kind. Sie haben eine Bindung zu ihm aufgebaut undhaben eine gemeinsame Zeit erlebt.

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All die Vorbereitungen, Wünsche,Erwartungen, Gedanken und

Gefühle werden durch den Toddes Kindes jäh abgebrochen und

verlieren sich im Nichts

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Die meisten Menschen im Umfeld der Eltern konnten das verstorbeneKind gar nicht kennenlernen; das gemeinsame Trauern entfällt zumeist.Auch Bestattungen dieser Kinder werden oft im engen Familienkreis ohneBeteiligung der Öffentlichkeit durchgeführt. Da die Menschen im Umfeldder Eltern das verstorbene Kind nie erleben konnten, sinkt häufig das Verständnis für die Trauer der Eltern, besonders dann, wenn die Trauerlange anhält. Anders verhält es sich, wenn Menschen aus dem Umfeld indie Begleitung kurz nach der Geburt einbezogen werden. So zeigen z. B.Großeltern, die ihr verstorbenes Enkelkind gesehen und gehalten haben,sowohl eigene Trauer als auch Verständnis für den Schmerz der Eltern desKindes.

Die Bindung zum verstorbenen Menschen beeinflusst auch die Erinnerungan ihn. Kinder, die im perinatalen Zeitraum versterben, geraten für dasUmfeld der betroffenen Eltern sehr schnell ins Vergessen. Auch hier liegtder Grund darin, dass die meisten Menschen das Kind nicht kannten undes nicht erlebt haben. Für das Paar kann das „Sich nicht erinnern” (z. B. Jährung des Geburts- und Todestages) sehr verletzend sein.

Der Verlust eines Kindes steht für die betroffenen Eltern immer auch imKontext ihrer gesamten Lebenssituation. Warum wünscht sich das Paarein Kind? War die Schwangerschaft lang ersehnt und vielleicht erst durchSterilitätsbehandlungen möglich? Oder war das Kind gar nicht gewolltund nach einigen Wochen der Schwangerschaft dann doch willkommen?Wofür stand bzw. steht dieses Kind? Welche Hoffnungen haben sich mitdiesem Kind verbunden? Welche Bedeutung hat dieses Kind für die Part-nerschaft gehabt? Wurden bereits Veränderungen in Bezug auf dieAnkunft des Kindes getätigt (z. B. Umzug)?

Gibt es Geschwisterkinder? Oder sind bereits Geschwister verstorben?Welche Rolle spielen die Großeltern und andersherum, welche Rolle spieltein Enkelkind für die Großeltern? In welchem soziokulturellen und sozio-ökonomischen Kontext lebt das Paar bzw. die Familie?

Grundlagen zu Sterben, Tod und Trauer

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All diese Aspekte haben das Erleben derSchwangerschaft mit Hoffen und Wünschenbeeinflusst. Nun prägen sie die Art des Erle-bens der Verlust situation.

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Segen f�r unser totes Kind

Du warst ein Kind der Hoffnung,unsere Liebe umh�llte dich, unsere Fantasie schm�ck?

te dein Leben aus.

Du warst ein Kind der Freude.Wie eine Bl�te ging unser Herz auf,

denn wir erwarteten dich voll Sehnsucht.

Du warst ein Kind des Lebens.Wir wollten Leben weitergeben und uns selbst

beschenken lassen.

Du bleibst unser Kind.Doch Du bist ein Kind der Sehnsucht, das zu einem Kind der Trauer wurde.

Du hast sie nicht gesehen, den Sonnenglanz und dieMondsichel.

Du hast nicht in unsere leuchtenden Augen geschaut.

Nun aber siehst du das Licht, das strahlende, w�r?mende Licht

der Liebe Gottes. Auch du wohnst im Hause Gottes, wo viele Wohnungen sind.

Du bist gesegnet.

Du Kind der Hoffnung, der Freude und des Lebens.Und mit dir ist gesegnet unsere Trauer um dich,

du Kind bei Gott.

Quelle: www.hanna?strack.de

Die gesamte vergangene undaktuelle Lebenssituation der

Familie hat eine Bedeutung fürdie Reaktion auf den Verlust.

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2.5 Die besondere Verlustsituation durch eine Fehlgeburt

Das Ereignis Fehlgeburt findet für die meisten Frauen oder Paare in einemtabuisierten Rahmen statt. „Es wird nicht viel darüber gesprochen.“ Medi-zinisch wird zwischen dem Frühabort (Verlust des Kindes bis zur 16.Schwangerschaftswoche) und dem Spätabort (Verlust zwischen der 16. bis28. Woche bei fehlenden Lebenszeichen des Kindes) unterschieden. Dieübliche Praxis in Deutschland sieht nach Feststellung einer negativenHerzaktion die Ausschabung (Kürettage) vor. Was gerade begonnen hatteund im Begriff war, sich wieder zurück zu entwickeln, wird unterbrochen.Der Prozess des Körpers wird durch die Kürettage abgebrochen. Damitwird der betroffenen Frau auch die Möglichkeit genommen, ihren Verlustauf körperlicher Ebene zu erfahren und zu begreifen. Die Kürettage istjedoch nur zu einem kleinen Teil medizinisch indiziert. Die Operation unddie damit verbundene, oft nicht notwendige Eile führt dazu, dass es derFrau die Möglichkeit einer kleinen Geburt ihres Kindes nimmt. Damit wirdauch der natürliche Trauer- und Abschiedsprozess unterbunden. VielenFrauen bleibt nur das Erinnern an den positiven Schwangerschaftstest alsBeweis, dass sie wirklich schwanger waren.

Ein Umdenken findet seit einiger Zeit sowohl in Fachkreisen als auch beiden betroffenen Paaren statt. Entsprechend eines Artikels der ,Zeit‘ vom06.12.2012 mit dem Titel: „Es geht auch ohne Operation – Wenn Schwan-gere eine Fehlgeburt erleiden, greifen Ärzte viel zu schnell zum Messer.Dabei wäre es oft besser, nichts zu tun“, wird heute der Wunsch einerkonservativen Behandlung, sprich ein Abwarten und Gebären dürfen,deutlich größer. Damit kann das begleitende Personal wieder einen Erfah-rungsschatz sammeln, der seit Jahrzehnten vergessen war.

In den frühen Wochen ist die Schwangerschaft äußerlich noch nichtsichtbar und bis auf engste Nahestehende weiß das Umfeld nichts von derVeränderung. Häufig wird erst im Zeitpunkt des Verlustes von der

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Schwangerschaft und der damit verbundenen Hoffnung berichtet. Ange-hörige und Freunde können dann oft das Ausmaß der Trauer für diebetroffenen Eltern schwer nachvollziehen. Dies wirkt sich wiederum aufdas Erleben und die Verarbeitung des Verlustes für das Paar aus.

Der Körper der Frau hat sich jedoch in der vorherigen Zeit auf dieSchwangerschaft ausgerichtet, mit allen einhergehenden hormonellenund seelisch emotionalen Veränderungen.

„Mit der Verschmelzung der Ei- und Samenzelle beginnt das KontinuumMutterwerden. Die Frau ist schwanger, sie befindet sich in einem laufen-den Anpassungsprozess. Sie wird Mutter, auch wenn ihr Kind während derSchwangerschaft stirbt“ (Maurer, 2017, S. 51).

Einer frühen Fehlgeburt wird sowohl fachlich als auch gesellschaftlichnicht der Stellenwert beigemessen, der für die betroffenen Familien not-wendig wäre. Auch die Trauer über eine Fehlgeburt ist gesellschaftlichweniger anerkannt als die Trauer über eine Totgeburt. UnterstützendeMaßnahmen für den Prozess der Trauer entsprechen dem empfohlenenVorgehen bei einem erlittenen Verlust im perinatalen Zeitraum. EineBegleitung in Form von Hausbesuchen im kleinen Wochenbett ist seiteinigen Jahren ebenfalls möglich.

Hier finden Sie einige wichtige stichwortartige Eckpunkte zu Verlaufsfor-men, rechtlichen Komponenten, Hebammenbegleitung, Indikation zurVerlegung in die Klinik, Handeln im Notfall:

Verlaufsformen• Abortus imminens: drohende Fehlgeburt, leichte Blutung,

evtl. Kontraktionen, Cervix geschlossen• Abortus incipiens: beginnende Fehlgeburt, Blutungen,

Kontraktionen, Muttermundseröffnung• Abortus completus: vollständig beendete Fehlgeburt

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• Abortus incompletus: unvollständig beendete Fehlgeburt• Missed abortion: verhaltene Fehlgeburt

Rechtliche Situation• Keine Bestattungspflicht, aber ein Bestattungsrecht

(Bestattungsrecht ist Ländersache) • Keine Meldepflicht, Beurkundung möglich• Keine gesetzlichen Leistungen wie Mutterschutz

Hebammenbegleitung• Bei regelrechtem Verlauf möglich• Vergütung nach Hebammenvergütungsordnung „Hilfe bei einer

Fehlgeburt“ • „zweite Hebamme“ möglich • Hilfe bei Beschwerden bis acht Stunden davor möglich • Hausbesuche im Wochenbett• Berufshaftpflichtversicherung Form 2 (DHV) ausreichend

(Stand 2018/19)

Indikationen für eine Verlegung in die Klinik• zu hoher Blutverlust• Fieber• Kreislaufprobleme• Wunsch der Frau/des Paares (Angst/Unsicherheit)

Handeln im Notfall• Ruhe bewahren• Reflexion und Einschätzen der Situation• Festlegen der Vorgehensweise

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Kleine Geburt im Zuhause der Eltern (11.SSW)

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2.6 Erfahrungen eines ElternpaaresKleine Geburt zuhause in der Frühschwangerschaft

Sie haben bei einer Untersuchung erfahren, dass die Schwanger-schaft sich nicht weiterentwickelt hat. Was war in dieser schwierigenSituation für Sie hilfreich? Nachdem wir erfahren hatten, dass sich die Schwangerschaft nicht wei-terentwickelt, hat uns die Ärztin im Kinderwunschzentrum erst einmal zuabwartendem Zuwarten geraten und nicht gleich zur Ausschabung. Wirsollten uns erst einmal Zeit nehmen, um die schreckliche Neuigkeit zuverdauen und sie hat eine kleine Geburt auch erwähnt. In Bezug auf die

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Behandlung hat sie vorsichtig auch die positive Seite erwähnt, dass ichüberhaupt schwanger geworden bin.

Sie haben sich früh um eine Betreuung durch eine Hebamme geküm-mert. Wie haben Sie diese Begleitung empfunden?Ich war froh, dass ich mich bereits sehr früh in der Schwangerschaft umeine Hebamme bemüht hatte. Eine Freundin hatte mir dazu geraten, diemich in der bisherigen emotional schwierigen Kinderwunschzeit von dreiJahren immer wieder unterstützt hat. Hilfreich war für uns die anneh-mende und aufklärende Art meiner Hebamme. Sie hat sich jedes Mal vielZeit genommen und mir immer Mut gemacht, die Entscheidungen abzu-wägen und ganz selbstbestimmt zu treffen. Dadurch habe ich mich in derganzen hilflosen Situation doch etwas handlungsfähiger und unabhängi-ger gefühlt. Dabei waren die Hausbesuche durch die Hebamme wichtig,aber auch die kurzen SMS Kontakte, in denen sie sich zwischendurch nachmir erkundigt hat. Die zeitnahen und flexiblen Terminvergaben richtetensich häufig nach meinem Bedarf und meinem Befinden. Das hat mir gutgetan.

Gab es Dinge, die Sie problematisch fanden und für die Sie sich einenanderen Umgang gewünscht hätten?Ja, die gab es. So hat uns zum Beispiel der Arzt im Kinderwunschzentrumvon Anfang an geraten, uns noch nicht zu sehr zu freuen, schließlich hät-ten „... wir den Bären nur getroffen, aber noch nicht erlegt!“ Als zumersten Mal angedeutet wurde, dass die Entwicklung verzögert ist, hatmich die Arzthelferin in der Kinderwunschpraxis mit den Worten tröstenwollen, dass ich ja schließlich noch jung sei und bestimmt nochmalschwanger werden würde. Zu diesem Zeitpunkt war noch gar nicht klar,dass ich das Kind verlieren würde. Auch hat uns niemand vom Fachpersonalüber die Möglichkeit einer Hebammenbetreuung bei und nach der Fehl-geburt informiert. Ich habe es von meiner Freundin und aus dem Buch„Guter Hoffnung“ erfahren.

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Bei meinem ersten Termin zur Verlaufskontrolle der Fehlgeburt bei mei-ner Gynäkologin, sagte sie nach einer kurzen Begrüßung: „Das ist ja oftdas Problem der Kinderwunschzentren...., die gucken nur, ob sie die Frau-en schwanger kriegen, aber wie geht es dann weiter?“ Sie hat nichtgesagt, dass es ihr für mich leidtut, oder sonst irgendwelche empathi-schen Worte gefunden. Außerdem favorisierte meine Gynäkologin vonBeginn an die Ausschabung und war bei den Kontrollen oft sehr ungeduldigund wenig einfühlsam.(Anonym)

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3. Voraussetzungen beim begleitenden Personal

Unter der Geburt werden Hebamme und hinzugezogener Gynäkologe dieBetreuungspersonen für die betroffenen Eltern sein. In den meisten Fällen ist die Hebamme die Vertrauensperson, da sie die Geburt begleitenwird. Nur bei pathologischen Verläufen ist der Arzt auch vor der Endpha-se der Geburt anwesend. Da häufig in den geburtshilflichen Abteilungender Kliniken strukturbedingt eine Trennung von Geburt und Wochenbettvorliegt, wird in den Folgetagen das Personal der Wochenbettstation bzw.der gynäkologischen Station zuständig sein. Krankenhausseelsorgerund/oder -psychologen sollten bei Bedarf hinzugezogen werden. Auchbietet sich an, dass Wochenbettbesuche durch die vertraute Hebammedurchgeführt werden, soweit dies während des Dienstes zeitlich möglichist. Vielen Hebammen sind diese Besuche (in der Klinik während des Auf-enthaltes oder auch danach als Hausbesuche) wichtig, da sie die Möglich-keit bieten, das persönliche Erleben der Totgeburt bzw. des verstorbenenKindes für sich selbst zu verarbeiten und darüber hinaus einen gutengemeinsamen Abschluss der Begleitung zu finden.

„Ihrem geburtshilflichen Verständnis entsprechend betrachten HebammenSchwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit als natürliche Lebens-prozesse (Übergang zur Elternschaft), die zwar der Unterstützung bedürfen,aber primär aus eigener Kraft gelebt werden können. Dabei vertreten Heb-ammen (national und international) interventionsfreie Konzepte, in derenMittelpunkt die Frau, das Kind und deren Bedürfnisse stehen ...“ (Pädagogi-scher Fachbeirat des Bundes Deutscher Hebammen, 2004).

Begleitung im oben genannten Sinne beschreibt unterstützende Maßnah-men entsprechend den Bedürfnissen der Frau bzw. des Paares und des Kindes.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Der Bedarf und die Wünsche der Familien stehen im Vordergrund, allessollte in Absprache mit ihnen, nichts über ihren Kopf hinweg geschehen.Es gibt durchaus Familien, die eine solche Situation aus eigenen Kräftenbewältigen. Aber es gibt auch Familien, in denen professionelle Unterstüt-zung eine Struktur bietet, die Trauer lebbar zu machen.

Um Betroffene adäquat begleiten zu können, bedarfes jedoch bestimmter Voraussetzungen sowohl beiden einzelnen Begleitern als auch in dem System, indem sich alle ‚Akteure’ befinden.

3.1 Individuelle Voraussetzungen

Die Art des Kontaktes ist auf Seiten der Mitarbeiter geprägt von ihrerWertschätzung, Authentizität und Offenheit, aber auch von ihrer eigenenGeschichte, ihrer Lebenserfahrung und ihren Erinnerungen. Die Biografieder eigenen Verlustgeschichte hat Auswirkungen auf das Erleben ähnli-cher (beruflicher) Situationen in der Gegenwart. Bleibt die persönlicheGeschichte unreflektiert, so reagieren wir unbewusst mit erlerntenMustern aus unserer Erziehung und Sozialisation auf eine bestimmteSituation. Mitunter kann unser Verhalten dann wenig hilfreich oder auch

unpassend sein. Die Begleitung betroffenerEltern in ihrem Schmerz und ihrer Trauerkann zudem große Unsicherheit auslösen.„Wie gehe ich mit den Reaktionen derEltern um? Wie erreiche ich die Eltern? Hof-

fentlich sage ich nichts Falsches! Ist es professionell, wenn ich selber sehrtraurig bin? Darf ich den Eltern meine Traurigkeit zeigen?”

Hilfreich ist es, bewusst auf Fragen und Reaktionen betroffener Elternreagieren zu können. Das setzt eine Reflexion der eigenen Verlust- undTrauergeschichte voraus.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Professionelle Beglei-tung bietet betroffenenEltern eine Struktur, inder Trauer lebbar wird.

Das Erleben und Verarbeiten eige-ner Verlusterfahrungen hat Einfluss

auf die Begleitung der Eltern.

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3.1.1 Fragen zur Selbstreflexion der betreuenden PersonenFragen zum Umgang mit persönlichen Verlusten Welche Verlustsituationen habe ich in meiner Biografie erlebt? Wie binich damit umgegangen? Was war für mich unterstützend? Was hätte mirgutgetan, hat jedoch in der damaligen Situation gefehlt?

Fragen zum Umgang mit Verlusten betroffener ElternWelche Situationen habe ich erlebt, in denen ein Kind im perinatalenZeitraum verstorben ist? Wie bin ich damit umgegangen? Was war fürmich unterstützend – in der Begleitung des betroffenen Paares – in derVerarbeitung für mich persönlich? Was hätte mir gutgetan, hat jedoch inder damaligen Situation gefehlt?

Übergeordnete FragenWo stehe ich zum jetzigen Zeitpunkt (Berufserfahrung, persönliche Hal-tung dem Leben und Sterben gegenüber)? Welche Ressourcen habe ich?Was kann ich gut? Wie kann ich meine Ressourcen erweitern?

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Ziel der Reflexion ist, im beruflichen Handeln Distanz wahren zu könnenund zugleich sensibel und empathisch zu sein. Distanzlosigkeit kann zueiner Überversorgung oder zu einem „Bemuttern” betroffener Eltern füh-ren. Dies kann phasenweise gut sein, sollte jedoch nicht der gesamtenBegleitungssituation entsprechen. Weiter kann sich mangelnde Distanzdurch eine Überidentifikation mit der trauernden Mutter oder dem trau-ernden Vater äußern. Persönliche Verluste des begleitenden Personalskommen durch die Betreuung betroffener Eltern an die Oberfläche undwerden unbewusst betrauert. Dadurch wird ein professionelles beruflichesHandeln unterbunden bzw. eingeschränkt.

Eine überhöhte Distanz kann demgegenüber zu einer reinen medizini-schen Versorgung führen, die wenig Raum für Emotionen bietet und dieschlimmstenfalls dazu führt, dass die Mutter sich als ‚Objekt der Medizin’empfindet.Ist einer begleitenden Person bewusst, dass sie durch die Betreuungbetroffener Eltern intensive eigene Trauer verspürt, kann sie als erstesnach der Ursache forschen. Diese kann sowohl in der nahen aber auchfernen Vergangenheit liegen. Das Auslösen der intensiven Trauer zeigt,

dass das vergangene Ereig-nis Raum einnimmt undbenötigt. Die begleitendePerson sollte für sich privateinen Rahmen schaffen, derihr die Möglichkeit bietet,das vergangene Ereignis zubetrauern. Nach individuellunterschiedlichen Zeitenwird es möglich, neues Verhalten in Begleitungs -situationen zu erproben

und zu verfestigen. Darüber hinaus sollte das Personal sich nicht scheuen,bei Bedarf selber psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Eine oftmals geforderte oder häufig vom Begleitungspersonal selbsterwartete Routine, ähnlich dem Handeln in Betreuungssituationen vonLebendgeburten, kann in der Begleitung von Totgeburten nicht entste-hen. Die Begleitung einer Totgeburt bleibt für das begleitende Personaleine Ausnahmesituation. Es gibt wesentlich mehr Lebendgeburten als Tot-geburten. Daher ist es ganz normal, dass die Mitarbeiter keine Routinehaben können und sollten. Vielmehr drückt sich gutes Arbeiten hier ineinem hohen Maß an Sensibilität, Zugewandtheit und Authentizität aus.Nicht zu Unrecht wird der Begriff der professionellen Distanz durch denAusdruck „professionelle Nähe“ abgelöst. Er macht deutlich, dass Nähenotwendig ist, aber diese aus der Rolle der beruflich Tätigen wirkt undgelebt wird.

3.1.2 Der eigenen Trauer Raum und Zeit gebenFür das begleitende Personal ist es wichtig, beiBedarf eigene Formen des Trauerns zu finden. Sosollte z. B. jede Hebamme, die eine Totgeburtbegleitet und Trauer dabei empfindet, für sich einenRahmen schaffen, um das Erlebte zu verarbeiten.

Es können grundsätzlich verschiedene Formen gewählt werden, um dereigenen Trauer zum miterlebten Verlust Ausdruck zu verleihen. In jedemFall ist es dann für das begleitende Personal wichtig, die Trauer anzuer-kennen, ernst zu nehmen und sich Zeit für das eigene Empfinden zu neh-men. Ausdrucksmöglichkeiten können sein:

- Ich nutze mir bekannte persönliche Formen des Trauerns.- Ich spreche über das Erlebte (z. B. im Kollegen- oder Freundeskreis).- Ich nutze Trauerrituale (Kerze anzünden, Meditation, Spaziergang).- Ich gestalte und drücke meine Trauer und das Erlebte kreativ aus

(Zeichnen, Schreiben etc.).- Ich nehme an der Beerdigung des Kindes teil.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Das begleitende Personalsollte sich einen Rahmenund Rituale schaffen, umErlebtes zu verarbeiten.

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- Ich gehe in Kontakt mit den Eltern.- Ich übernehme die Wochenbettbetreuung.- Ich nehme professionelle Hilfe und Unterstützung an.- Ich nehme an Fortbildungen teil und erweitere mein Wissen.

Die Selbstpflege des Personals ist wesentliche Voraussetzung für das pro-fessionelle berufliche Handeln. Es fördert die Auseinandersetzung mit der

eigenen Verlustgeschichte und mit den Themen Todund Trauer allgemein. Der persönliche Standpunktwird weiterentwickelt und gefestigt. Es schützt vordem beruflichen Ausbrennen, welches gerade insozialen Berufen häufig zu finden ist.

3.1.3 Die eigenen Grenzen erkennenDas Erkennen der eigenen Grenzen ist wichtige Voraussetzung für dasberufliche Handeln allgemein und im Besonderen für die Begleitungbetroffener Eltern. Dies setzt die Reflexion eigenen beruflichen Handelnsvoraus und im Bedarfsfall die Delegation bestimmter Aufgaben.

Hilfreich ist es z. B., wenn eine Hebamme, die eine Geburt mit tödlichemAusgang begleitet hat, von Kolleginnen unterstützt wird und mit anderenAufgaben betraut wird. Dies kann so lange geschehen, bis die Kollegin

selbst wieder die Bereitschaft und den Wunschnach Betreuung einer Geburt äußert. Die meistenHebammen berichten davon, dass sie ein oderzwei Dienste benötigen, bis sie wieder eine gebä-rende Frau betreuen. Wertvoll ist die Stärkungdurch Kolleginnen oder anderes medizinisches

Personal im Hintergrund, die bei Fragen und Unsicherheiten aufgesuchtwerden können. Das Gespräch im Team oder mit einer Einzelperson wirktsich ebenfalls positiv auf die Verarbeitung aus. Der Austausch mit denBegleitpersonen, die mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert

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Die Selbstpflege des Personals ist Vorausset-zung für professionelles

berufliches Handeln.

Wenn man die eigenenGrenzen erkennt und dazu

steht, kann man verant-wortungsbewusst handeln.

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waren, bietet sich deswegen an, weil sie die mit dem Ereignis zusammen-hängenden Folgen bereits erfahren haben. All dies ist aber erst dann mög-lich, wenn man sich der eigenen Grenzen bewusst ist und im zweitenSchritt dazu steht. Nur dann kann man verantwortungsbewusst handeln– sich selbst und dem anderen gegenüber.

3.1.4 Die Bedeutung von SchuldgefühlenHäufig tritt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Ursache destödlichen Verlaufs auf. Für das begleitende Personal geht es dabei um eineFehlentscheidung, ein zu langes Warten oder eine falsche Einschätzung:„Habe ich einen Fehler gemacht?” „War ich zu langsam?” oder „Hätte mandas Kind retten können?” (Dingerkus und Rademaker, 2005). Die Motiva-tion, die Ursache zu klären, entsteht in der Praxis leider häufig aus Angstheraus: Es geht ggf. um den ‚Ruf des Hauses’ und damit um Schuldzuwei-sungen. Dabei sollte es zunächst um eine sachliche Klärung gehen.

Ein solches Vorgehen bringt zusätzliche Stressfaktoren, wie Angst, Druckund Misstrauen mit sich. Selbst fachlich versierte und erfahrene Hebammenkönnten sich dadurch in Frage stellen. Zudem besteht die Gefahr, dass sichTeamarbeit und Teamatmosphäre verschlechtert. Auch die Umfrage zurSituation von Hebammen unterstreicht, dass Schuldgefühle zu einer eherschlechten Verarbeitung des Erlebnisses führen. In den meisten Fällenliegt kein wirkliches auf einzelne Personen zuzuschreibendes Verschuldenvor. Das Aufkommen der Schuldgefühle ist – im positiven Sinn – Ausdruckeines kritischen Umgangs mit der eigenen Tätigkeit. Um konstruktiv undzielführend damit umzugehen, sollten die begleitenden Personen Instru-mente wie Supervision und Fallbesprechungen nutzen bzw. gegebenen-falls einfordern.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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3.2 Voraussetzungen innerhalb der Institution

Jede Geburt, so auch die Geburt eines toten oder sterbenden Kindes,geschieht eingebettet in bestimmte Strukturen. Bringt die Frau ihr Kindzu Hause oder in einem Geburtshaus zur Welt, so ist in den meisten Fäl-len eine Hebamme anwesend, die die Geburt begleitet. Nur bei Bedarfwird ein Arzt hinzugezogen. Einige Hebammen in der Hausgeburtshilfebzw. im Geburtshaus begleiten grundsätzlich oder in besonderen FällenGeburten gemeinsam mit einer anderen Kollegin. Im Krankenhaus wirddas Paar unter Umständen von einer Vielzahl von Mitarbeitern begleitet:Hebamme, Arzt, Pflegepersonal, bei Schichtwechsel weitere Personen.

Neben den personellen sind auch die räumlichen Verhältnisse sehr unter-schiedlich. Bei einer Hausgeburt befindet sich das Paar in der ihr vertrau-ten Umgebung. Geburtshäuser bieten eine sehr wohnliche Atmosphäre,die es erleichtern soll, in geschützter Umgebung zu gebären. Kliniken stel-len in der Regel große Versorgungseinrichtungen mit unterschiedlichenAbteilungen dar. Bei der räumlichen Gestaltung der Kreißsäle hat mansich in den letzten Jahren sehr um eine freundliche, helle und wohnlicheAusstattung bemüht.

Je nach Ort der Geburt sind unterschiedliche strukturelle Möglichkeitenvorhanden. Das Arbeiten im Team z. B. setzt in der Klinik komplexere Vor-gehensweisen voraus als bei einer Geburt im Geburtshaus oder bei einerHausgeburt.

Welche Rahmenbedingungen sind wichtig?Der geschützte Raum:Für die Geburt sollte jeder Frau/jedem Paar ein geschützter Rahmen zurVerfügung gestellt werden. Das setzt das Vorhandensein eines Raumesvoraus, welcher ausschließlich dem Paar zur Verfügung steht. Dieserräumliche Schutz soll möglichst selten gestört werden. In der Klinik

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bedeutet dies z. B.: notwendige Utensilien aus dem Raum entfernen, welche hier gelagert sind und evtl. im anderen Kreißsaal benötigt werdenoder ein Schild an die Tür befestigen mit der Bitte,den Raum nicht zu betreten. Einen Schutzraum bie-ten heißt ebenso, das Paar ernst zu nehmen und ihmrespektvoll zu begegnen.

Das betroffene Paar sollte eine oder mehrere feste Bezugspersonenhaben:Das bedeutet, dass nach Möglichkeit ein häufiger Wechsel des Personalsvermieden wird. Die Zahl der begleitenden Personen sollte gering gehal-ten werden.

Der Abschied nach der Geburt des Kindes sollte in einem zeitlich undräumlich für das Paar annehmbaren Rahmen gestaltet werden:Das heißt, dass dem Paar die notwendige Zeit für den Abschied einge-räumt wird, evtl. mehrere Tage. Familie und Angehörige sollten für denAbschied von Seiten des Personals willkommen sein. Es sollte wie für dieGeburt ein schützender Raum bereitgestellt werden.

Das Arbeiten im Team hat eine besondere Bedeutung: „Auf einer Station in einem Krankenhaus arbeiten nicht Arzt neben Kran-kenschwester neben Hebamme etc., sondern arbeitet ein Team” (Dinger-kus und Rademaker, 2005). Dies setzt einen respektvollen Umgang mitein-ander voraus, ebenso die Anerkennung anderer Disziplinen und dieBereitschaft, im Team zu arbeiten. Regelmäßige Supervisionssitzungenbieten eine hilfreiche Unterstützung für das Arbeiten im Team. Supervisi-on erhöht die Sicherheit und Fachlichkeit der Mitarbeitenden und damitdie Qualität der Arbeit als Ganzes. Davon unabhängig kann eine eigeneKultur im Team gefördert werden, die das Thema „Verlust eines Kindes imperinatalen Zeitraum” in den Mittelpunkt rückt. Dabei können z. B. Team-sitzungen, die entsprechend zum Thema gestaltet werden, gleichermaßenzur Auseinandersetzung und zur Weiterbildung beitragen.

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Das Handeln im Sinne der individuellen Werte und Wünsche fördert die hilfreiche Verarbeitung.

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Leitlinien und Standards:Hilfreich ist die Entwicklung eigener Leitlinien für die Begleitung betrof-fener Eltern in dieser ‚Ausnahmesituation‘. In ihnen sind z. B. die Haltung,das Menschenbild und wesentliche Punkte für das Vorgehen in der Beglei-tung betroffener Eltern festgeschrieben. Leitlinien sind möglicherweisekein Universalrezept für den individuellen Umgang mit Totgeburten. Siebieten jedoch ein Gerüst, an dem sich die Mitarbeitenden orientierenkönnen, und geben dem Ereignis zudem den notwendigen Stellenwert.

Eine Arbeitsgruppe oder ein Team könnte/sollte sich diesem Thema aus-drücklich widmen. Das entsprechende Material zum Thema – ggf. aus Kli-niken, die sich der Problematik bereits früh gewidmet haben – kannzusammengetragen werden. Um die Qualität der Begleitungsarbeit zusichern, ist es sinnvoll, einen Ordner zum Thema Tod und Trauer anzule-gen. Neben Informationsmaterial für betroffene Eltern kann hier das Vor-gehen für die Begleitung einer Totgeburt oder eines sterbenden Kindesfestgeschrieben werden. Ebenso können eine Auswahl an Erinnerungskar-ten im Ordner hinterlegt werden.

Es ist zu empfehlen, einer Mitarbeiterin die Verantwortung für die Aktua-lität der Materialien zu übergeben. Inhalte dieses Ordners können wiefolgt aussehen:

– Laufzettel KreißsaalAufgelistet sind alle für die Trauerbegleitung relevanten Aspekte.Jeder Mitarbeiter kann auf diese Weise erkennen, was bereits mit dembetroffenen Paar besprochen wurde. Dadurch werden wenig hilfreicheDoppelinformationen sowie die Dopplung von Fragen für das Paar ver-mieden.

– Faltblätter als Infomaterial für die Eltern– Elternmappe– Namenskärtchen– Bestattungshinweise

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– Auflistung und Infos über örtliche Bestatter– Literaturhinweise– u. ä.

Die Initiative REGENBOGEN „Glücklose Schwangerschaft“ e. V. bietet einenKreißsaalordner an, der – gegebenenfalls modifiziert – übernommen wer-den kann (www.initiative-regenbogen.de).

Vernetzung fördern:Sowohl die interne als auch die externe Vernetzung von Ressourcen soll-ten genutzt werden. ‚Intern’ bedeutet, dass alle fachlichen Ressourcen ineiner Institution hinzugezogen werden. Für das Krankenhaus heißt das z. B., dass Hebammen Hand in Hand arbeiten mit Ärzten, Pflegekräften,Seelsorgern, Psychologen etc. Jede Disziplin hat ihre Fachlichkeit, die eszu nutzen gilt. Der Rückzug auf Hierarchien ist wenig hilfreich. Die exter-ne Vernetzung spielt in der Zeit danach – also für die Zeit, wenn die Elternwieder zu Haus sind – eine wesentliche Rolle für die weitere Entwicklungdes Verarbeitungsprozesses der betroffenen Eltern. Das Krankenhaus istlediglich die erste Station für Familien mit einem verstorbenen Kind. Dieweitere Wochenbettbetreuung durch die Hebamme, die die Geburtbegleitet hat, oder durch eine externe Kollegin unterstützt betroffeneEltern darin, den Weg des Trauerprozesses fortzusetzen. Das begleitendePersonal sollte zudem die Strukturen und Angebote vor Ort kennen undden Eltern weiterführende Institutionen, wie Trauernetzwerke oderSelbsthilfegruppen, empfehlen. Auch regelmäßige Fortbildungen mitallen Netzwerkpartnern fördern die Kooperation und das Verständnisuntereinander.

Den Eltern Angebote machen für die Zeit nach der Klinik oder demGeburtshaus: Die Eltern sollten bei Fragen oder anderen Bedürfnissen jederzeit die Kli-nik bzw. das Geburtshaus aufsuchen können. Es sollte keine zeitlicheBeschränkung geben. Fotos, die Eltern nicht mitnehmen möchten, können

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in der Akte archiviert werden und auch noch lange Zeit nach der Geburtvon den Eltern abgeholt werden. Diese Option sollte den Eltern mitgeteiltwerden.

Hilfreiche Adressen von weiterführenden Anlaufstellen für trauerndeEltern sollten dem Paar mitgegeben werden; evtl. kann der Kontaktbereits während des Aufenthaltes in der Klinik oder dem Geburtshaushergestellt werden. Die betreuende Hebamme sollte möglichst für dienächsten Tage den ersten Wochenbettbesuch zu Hause anbieten.

3.3 Erfahrungen eines Elternpaares Geburt der intrauterin verstorbenen Tochter in der 41. SSW

Ihr Kind ist in der 41.Woche verstorben. Wie war es im Krankenhausfür Sie, als festgestellt wurde, dass Ihr Kind nicht mehr lebt?Schwierig war, dass bei der Untersuchung nicht explizit benannt wurde,dass unsere Tochter tot ist, sondern immer nur, dass ihr Herz nicht mehrschlägt. Dadurch dauerte es einige Minuten, bis ich es verstanden habe.Ein Aussprechen der Tatsache hätte mir vielleicht geholfen. Durch den Wechsel der Hebammen nach einer Schicht, hatten wir mitunterschiedlichen Menschen zu tun, die natürlich auch unterschiedlichmit dem Thema Tod umgegangen sind. Dies war eher schwierig für uns.

Wie haben Sie die Geburt erlebt?Die Geburt lief wie bei einem lebenden Kind ab (Nabelschnur vom Vaterdurchtrennt, Kind in den Arm gelegt bekommen). Dies war auf der einenSeite sehr hilfreich, um unsere Tochter kennenlernen zu können. Auf deranderen Seite fehlte während der Geburt aber auch das Eingehen darauf,dass unser Kind nicht lebte. Ein vorbereitendes Gespräch z. B. durch diePsychologin und Seelsorgerin wurde uns erst nach der Geburt angeboten.Dies wäre vielleicht aber auch vor der Geburt hilfreich gewesen.

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Was war während der Betreuung besonders wichtig für Sie?Besonders wichtig während der gesamten Betreuung in der Klinik, aberauch danach war es, so viel Entscheidungsmöglichkeiten und Beteiligungund so wenig Fremdbestimmung wie möglich zu erfahren. Im Kranken-haus wurde uns beispielsweise die Entscheidung nach der Art der Geburtund wie lange wir unsere Tochter nach der Geburt bei uns haben wollen,gelassen. Eine kontinuierliche Begleitung im Krankenhaus nach derGeburt hat uns geholfen und wir haben uns dadurch nicht alleine gelas-sen gefühlt. Es gab ein psychologisches Erstgespräch und die Ärztin undHebamme haben regelmäßig nach uns geschaut und sich auch persönlichvon uns verabschiedet. Auch das Nachgespräch mit der Ärztin und Heb-amme und der Hinweis, dass auch die Möglichkeit eines späteren Nach-gespräches über die Geburt besteht, war hilfreich, um den Ablauf derGeburt nachvollziehen zu können.

In diesem Zeitraum haben Sie Bilder von Ihrem Kind machen lassen?Die Möglichkeit, eine professionelle Fotografin (http://www.dein-sternen-kind.eu) kommen zu lassen, die Bilder von unserem Kind gemacht hat, istfür uns im Nachhinein sehr wichtig. Diese Bilder sind für uns heute sehrkostbar und es ist eine sehr lobenswerte Initiative. Personen, die mit demThema Geburt zu tun haben, sollten davon Kenntnis haben.

Wie empfanden Sie den Umgang mit Ihrem Kind?Der Umgang der Hebamme mit unserem Kind war sehr hilfreich für uns.Sie hat unsere Tochter immer beim Namen angesprochen, sie berührt undüber sie gesprochen wie über ein lebendes Kind. Dies hat uns geholfen,selbst die Scheu zu verlieren, unser Kind zu berühren und anzuerkennen,dass wir - trotz allem - Eltern geworden sind und bleiben werden.

Gab es etwas, was Sie vermisst haben?Leider wurde uns nicht angeboten, gemeinsam mit der Hebamme unsereTochter zu waschen, anzuziehen, zu wiegen, etc. Diese Erfahrung fehlt unsim Nachhinein. Hier wäre zumindest ein Angebot wünschenswert gewesen.

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Das Einbeziehen des Vaters fehlte teilweise, oft wurde nur nach demBefinden der Mutter gefragt. Wir haben im Krankenhaus leider nur weni-ge Adressen von professionellen Hilfsmöglichkeiten bekommen.

Wie haben Sie als Mutter und Sie gemeinsam als Paar die Nach -betreuung erlebt?Den regulären Anspruch auf Begleitung einer Hebamme über 8-12Wochen nach der Geburt haben wir als hilfreich erlebt. Nicht nur die kör-perliche Versorgung, sondern auch die emotionale Begleitung in derersten Zeit hat uns sehr geholfen. Dadurch hatten wir das Gefühl mitunserem Erlebten nicht allein gelassen zu werden und uns nicht nur aufunsere Freunde und Familie verlassen zu müssen. Die Besuche der Hebammewaren jedes Mal sehr entlastend und gaben uns Sicherheit und Trost.

Hierbei wurden beide Elternteile immer gleichwertig in die Gespräche miteinbezogen, dies tat uns als Paar sehr gut. Wichtig bei den Gesprächenwar es für uns, als Eltern anerkannt zu werden. Dies von einem Außenste-henden immer wieder gesagt zu bekommen, gibt uns das Gefühl, dass wirmit unseren nun vorhandenen Elterngefühlen Platz und Gehör finden.

Weiter war es für uns hilfreich, dass auf unsere individuellen Wünsche beider Begleitung spontan eingegangen wurde. Manchmal reichte ein kurzesGespräch, mal hatten wir mehr Redebedarf und manchmal halfen auchkörperliche Übungen oder Massagen.

Trauernde fühlen sich manchmal mit befremdenden Kommentarenoder Ratschlägen konfrontiert. Was war für Sie wichtig und unter-stützend im Kontakt mit Freunden oder Familienangehörigen?Hilfreich war es, die ehrliche Anteilnahme des Gegenübers zu erkennen.Dafür ist man nach einem Verlust sehr sensibel. Ehrliche Worte der Anteil-nahme wie z. B. „Ich hätte deine Tochter auch jetzt viel lieber kennengelernt“, anstatt „Mein Beileid“, trösteten uns viel mehr und sind uns inErinnerung geblieben.

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Wichtig war es für uns auch, dass der Gesprächspartner bereit ist, einezwischenmenschliche Beziehung zu uns aufzubauen. Dies kann mannatürlich nicht immer erzwingen, aber es muss irgendwie „passen“. Hier-bei war es für uns wichtig, ein ehrliches Interesse an uns zu erkennen, z. B.durch das Merken von Erzähltem oder durch das Benutzen des Namensunseres Kindes.

In Gesprächen war es für uns hilfreich, wenn die Gesprächspartner aufunser Gesagtes eingegangen sind und viele konkrete Fragen gestellthaben. Oft weiß man selber nicht, was man sagen oder erzählen soll.Genaues Nachfragen hat geholfen, die Gedanken zu sortieren und denSchmerz auszusprechen. Auch der Hinweis, dass wir einen schweren Ver-lust erlitten haben, dass wir einen langen Trauerweg vor uns haben undes uns nicht in ein paar Wochen wieder gut gehen wird, war für uns hilf-reich. Dadurch fühlen wir uns in unserer Trauer akzeptiert und könnenauch selbst den langen Trauerprozess akzeptieren.

Wie empfanden Sie den Kontakt zu anderen Betroffenen?Die Tipps und Ratschläge, wie andere Betroffene mit solch einem Verlustumgegangen sind und was ihnen geholfen hat oder was uns vielleichthelfen könnte, waren sehr gut. Vieles haben wir so einfach ausprobiertund geguckt, was für uns davon passend ist, wie z. B. Briefe an unsereTochter zu schreiben oder körperliche Bewegung.

Auch die Hinweise zur Beerdigung waren wichtig. Wir hätten von selbstnicht gewusst, wie bedeutsam doch eine gut überlegte und selbstbe-stimmte Trauerfeier im Nachhinein ist. Das Grab ist für uns ein Ort, andem wir unsere Tochter gerne besuchen und den wir mit viel Liebe gestal-ten. Dies scheint für viele Paare so zu sein. Es war gut, von dieser Erfah-rung profitieren zu können, sonst hätten wir diesen Ort vielleicht nicht sosorgfältig ausgesucht.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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Page 45: Still geboren - ALPHA NRW

Grabstelle eines totgeborenen Mädchens in der 41. SSWWir bedanken uns bei dem Elternpaar Soetkamp/Geraedts für die

Ausführungen ihrer Erfahrungen und das Foto.

Voraussetzungen beim begleitenden Personal

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4. Konkrete Empfehlungen für dieBegleitung vor, während undnach der Geburt

Die Faktoren Raum und Zeit beeinflussen in hohem Maße den Verlauf desTrauerprozesses der Eltern. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit derQualität der Betreuung betroffener Eltern.

Raum geben heißt, Eltern einen Schutzraum für die Zeit der Geburt unddes Abschieds zur Verfügung zu stellen. Zeit geben heißt, genügend zeitliche Ressourcen von Seiten des Personalsfür die Betreuung des Paares (im Idealfall betreut die Hebamme unter derGeburt nur dieses Paar) und dem Paar einen großen zeitlichen Spielraumfür Entscheidungen rund um die Geburt und den Abschied anzubieten.Auch die Befragung zur Situation von Hebammen bei Totgeburten undLebendgeburten mit tödlichem Ausgang belegen die Wichtigkeit dieserbeiden Komponenten. Die Aussagen der Hebammen zur Fragestellung„Wenn Sie heute noch einmal eine Totgeburt begleiten würden, was wür-den Sie – für die Eltern – anders machen?” drehen sich um ‚Zeit undRaum’:

„Viel Zeit für die Eltern, auch später“,„Der Frau einen festen Ort geben, dem Partner Möglichkeit zum Übernachten geben“, „Gespräche mit beiden über das Kind anregen”,„Eltern Zeit und Raum geben für das Abschiednehmen”.

Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf mögliche Arbeitsabläufeund Rituale während der Begleitung betroffener Eltern.

Konkrete Empfehlungen für die Begleitung

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4.1 Vor der Geburt

Bei einer Totgeburt erfährt die Frau bzw. das Paar meist sehr plötzlich undohne Vorwarnung vom Tod des Kindes im Mutterleib. Dies kann bei derHebamme, beim Gynäkologen oder in der Klinik sein.

Sorgen Sie dafür, dass die betroffene Frau nicht allein gelassen wirdDer Partner (sofern er nicht schon gemeinsam mit der Frau gekommen ist)oder eine andere vertraute Person sollte informiert werden und in die Kli-nik bzw. Praxis kommen.

Tragen Sie ebenfalls Sorge dafür, dass der Frau bzw. dem Paar einRaum zur Verfügung gestellt wirdWird der Tod des Kindes in der Klinik festgestellt, befindet sich die Frau

bei der Feststellung, dass ihr Kind nicht mehrlebt, meist im verdunkelten Ultraschallraum.Dieser Raum sollte möglichst bald verlassenund der Frau/dem Paar eine geeignete Umge-bung angeboten werden.

Lassen Sie alle Gefühlsäußerungen der Frau bzw. des Paares zuAlles ist erlaubt. Das Äußern von Gedanken und Emotionen ist Bestand-teil der Verarbeitung des Erlebten – seien es Wutausbrüche oder auch dasSchweigen oder die Sprachlosigkeit.

Helfen Sie der betroffenen Frau bei der Bewältigung der Formalitäten Anmeldeformalitäten können z. T. vom Personal erledigt werden. Wennder Partner oder eine vertraute Person da ist, sollte das Paar bzw. die Fraumit der Vertrauensperson für eine gewisse Zeit allein gelassen werden.

Machen Sie der Mutter und dem Vater deutlich, dass Sie jederzeit fürsie da sindEs ist wichtig, klar zu äußern und ggf. schriftlich zu hinterlegen, wer

Konkrete Empfehlungen für die Begleitung

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Ausreichend Zeit und Raum sinddie wichtigsten Faktoren für eine

unterstützende Begleitung.

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Ansprechpartner und begleitende Person ist, da dies in den aufgewühltenMomenten nicht immer klar aufgenommen werden kann.

Lassen Sie dem Paar viel ZeitFür alle Bedürfnisse seitens des Paares sollte genügend Zeit zur Verfügunggestellt werden.

Sprechen Sie mit dem Paar über die anstehende GeburtAuch hier sollte dem Paar ausreichend Zeit gelassen werden. Evtl. möchtedie Frau noch einmal nach Hause. Falls es keine medizinische Indikationgibt, die dagegen spricht, sollte dies ermöglicht werden.

4.2 Während der Geburt

Geben Sie dem Paar Raum und ZeitEntscheidungen unter der Geburt sollten in Ruhe getroffen werden.

Bieten Sie unterstützende Maßnahmen für die Geburt anHier können alle Maßnahmen angewandt werden, die auch bei der Geburteines lebenden Kindes üblich sind.

Bereiten Sie die Eltern auf den Ablauf kurz nach der Geburt vor,soweit das möglich istDie begleitende Person sollte den Eltern erzählen, dass es nach der Geburtmöglich ist, Zeit mit dem Baby zu verbringen, es mit eigener Kleidunganzuziehen, Fotos zu machen etc. Die Eltern sollten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen gefragt werden. Die Frau kann ermuntertwerden, ihr Baby in den Arm zu nehmen. Der Vater kann die Nabelschnurdurchschneiden. Werden diese Dinge im Vorfeld angesprochen, könnensich die Eltern auf die schwierige Situation vorbereiten.Auch sollte respektiert werden, wenn die Eltern ihr Kind nicht sofort nachder Geburt sehen möchten. Zeit zu geben und erneut Angebote zu

Konkrete Empfehlungen für die Begleitung

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machen, können dem Paar helfen, sich ihrem toten Kind und damit dereigenen Auseinandersetzung zu einem späteren Zeitpunkt zu nähern.

4.3 Nach der Geburt

Geben Sie auch hier dem Paar Raum und ZeitWie auch vor und während der Geburt sind die beiden Faktoren Raumund Zeit sehr wichtig für die Verarbeitung des Verlustes.

Ermöglichen Sie einen guten ersten Kontakt zum KindWie die Mutter bzw. die Eltern den ersten Kontakt zu ihrem Kind aufneh-men, sollte ganz behutsam erforscht werden. Die begleitende Person sollteden Eltern Zeit lassen, so dass sie ihr Kind betrachten können, es evtl.berühren oder abtrocknen. Die Mutter sollte möglichst selbst ihr geradegeborenes Kind in den Arm nehmen, sobald sie sich dazu in der Lage fühlt.Dadurch wird der Tod für sie begreifbar. Der Vater kann helfen oder es fürdie Frau tun, wenn es ihr zunächst schwerfällt.

Das tote Kind nackt auf der Brust zu spüren – mit Handtüchern umhüllt –macht auf körperlicher Ebene erfahrbar, dass das Kind verstorben ist. Derkleine Körper kühlt aus nach der Geburt. Der Tonus des toten Babys istnicht vorhanden. Der Tod ist spürbar und für das betroffene Paar zumAnfassen nahe. Der Körper der Frau, der so sehr auf Schwangerschaft aus-gerichtet war, erfährt durch dieses Erleben, dass die Schwangerschaftbeendet ist. Gerade dieses tiefe Begreifen ist für die weitere Verarbeitungvon großer Bedeutung.

Wenn die Mutter auf keinen Fall einen Kontakt möchte, so bieten Sie ihran, ihr das Kind zu beschreiben. Möglicherweise bekommt sie dann dochnoch den Wunsch, das Kind selbst zu sehen oder in den Arm zu nehmen.Denn die Verarbeitung des Verlustes hängt auch ab von dem Kennenler-nen des Kindes.

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Lassen Sie dem Paar Zeit, in der es mit dem Baby allein istEs handelt sich hier um eine sehr private, sehr intime Situation. Doch soll-ten die Eltern die Sicherheit haben, dass die professionelle Bezugspersonim Hintergrund für sie zur Verfügung steht.

Versorgen Sie das Baby wie ein lebendes KindWenn möglich, kann das Kind gewaschen oder gebadet werden und essollte angezogen werden. Bei sehr kleinen Kindern können schöne Tücherzum Einwickeln benutzt werden. Die Eltern können angeregt werden,eigene Kleidung oder Stoffe zu nehmen. Diese können später im Falleeiner Beerdigung dem Grab beigefügt werden.

Sprechen Sie mit den Eltern über den Namen des KindesSie können/sollten die Eltern ermuntern, ihrem Baby einen Namen zugeben und es mit diesem Namen anzusprechen. Dies gelingt umso besser,wenn auch das begleitende Personal das Kind mit Namen anspricht oderden Namen verwendet, wenn es über das Kind spricht. Das Kind sollte wieandere lebende Kinder ein Namensbändchen erhalten. Ebenso sollte ihmein Bettchen zur Verfügung gestellt werden. Dies kann bei Berührungs-ängsten der Eltern hilfreich sein und den Kontakt zum Kind fördern. Eskönnen kleine Wiegen für sehr kleine Kinder angefertigt werden.

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Bemühen Sie sich darum, dass den Eltern nicht zu viele Formalitätenaufgebürdet werdenSogenannte Laufzettel können verhindern, dass bestimmte wichtigeInformationen den Eltern mehrfach mitgeteilt werden oder nicht beab-sichtigt vorenthalten werden.

Verhelfen Sie der Familie langfristig zu einer Erinnerung an das Kind Erinnerungsstücke verdeutlichen die Existenz des Kindes, zeigen die Rea-lität des Verlustes und machen den Tod des Babys für das familiäreUmfeld greifbar. Üblich ist die Bekundung der Geburt des Kindes auf einerKarte. Diese kann unterschiedlich gestaltet werden; es können z. B. dieMaße des Kindes eingetragen sowie ein Foto beigefügt werden. Zusätz-lich können den Eltern Fotos, das Namensbändchen, ein Fußabdruck undevtl. eine Locke des Kindes mitgegeben werden. Solche Gegenstände wer-den dann besonders wichtig, wenn Eltern um den Zeitpunkt der Geburtdas Kind nicht sehen wollten.

Geben Sie Zeit und Raum für den Abschied, ermutigen und unter-stützen Sie auch die Familie, sich diese Zeit zu nehmenIn den Folgetagen ist es für die Eltern hilfreich, weiterhin eine Bezugsper-son zu haben. Häufig stellen sich ihnen zu einem späteren Zeitpunkt nochFragen. Diese können die Geburt betreffen oder sich auf andere Fragenbeziehen. Eine der häufiger gestellten Fragen lautet: „Warum geradeunser Kind?” Es gibt auf die Frage nach dem „Warum” keine Antwort.Aber man kann präsent sein, die Fragen aushalten und den Eltern - auchohne Antwort - zur Seite stehen.Die Eltern benötigen Raum und Zeit für den Abschied in der Klinik oderim Geburtshaus. Sie sollten jederzeit die Möglichkeit haben, ihr Kind zusehen. Das Kind kann unter Umständen mit Cool Packs kühl gehaltenwerden oder je nach Dauer des Todes im Kreißsaal oder Geburtshaus kühlaufgebahrt werden. Die Eltern müssen darüber nicht informiert sein.

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Bieten Sie an, dass auf Wunsch Angehörige und Freunde des Paares sichvom Kind verabschieden können. Dies macht den Tod des Kindes unddamit den Schmerz und die Trauer des betroffenen Paares für das Umfeldbegreifbarer. Geschwisterkinder sollten in besonderer Weise einbezogenwerden und gemeinsam mit den Eltern Raum und Zeit finden. Wichtig ist,die Trauer und das Weinen von Mutter und Vater zu erklären, dennGeschwisterkinder neigen dazu, sich für die Trauer der Eltern (mit-)verantwortlich zu fühlen. Darüber hinaus erlernen Geschwisterkinder denUmgang mit Verlust und Trauer von ihren Eltern. Es ist also gut, offendamit umzugehen und die Kinder einzubeziehen. Eine gut gemeinteAbsicht, das Geschwisterkind zu schonen, nimmt dem Kind die Möglich-keit, seine Trauer auszudrücken. „Es zeigt sich als unterstützend,Geschwis terkindern möglichst zeitnah situationsgerechte Informationenüber die Veränderungen innerhalb der Familie zu geben und sie in dasGeschehen einzubeziehen.“ (Maurer, 2017, S. 129)

Sprechen Sie mit dem Paar den bevorstehenden Trauerprozess anEs ist sinnvoll, betroffene Eltern über mögliche Trauerreaktionen, den Pro-zess und den Sinn der Trauer aufzuklären, so wie es auf den ersten Seitendieser Broschüre beschrieben ist. Dadurch werden sie ihre sehr stark aus-geprägten und möglicherweise auch widersprüchlichen Emotionen nichtfür unnormal oder „verrückt” halten, sondern sie sich erlauben und ggf.besser damit leben können.Außerdem kann den Eltern deutlich gemacht werden, dass sie nicht alleinsind mit ihrer Trauer. Indem das Personal seine Anteilnahme bekundet unddeutlich macht, dass es die Eltern nach ihren Möglichkeiten unterstützt,haben sie einen Rückhalt in dieser schweren Zeit. Dies kann bei der Not-wendigkeit einer Obduktion noch einmal eine besondere Rolle spielen.

Unterstützen Sie das Paar bei den Überlegungen zu einer BestattungWie im nachfolgenden Kapitel beschrieben, ist eine Bestattung des ver-storbenen Kindes möglich. Mitarbeiter sollten Eltern diese Möglichkeitaufzeigen und ihnen das Gespräch über die Gestaltung ermöglichen.

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Vermeiden Sie ‚gute Ratschläge‘ oder FloskelnWenn die Eltern das Bedürfnis haben, mit Ihnen über das Kind oder diegesamte Situation zu sprechen, so versuchen Sie, dafür offen zu sein.Geben Sie aber nie gute Ratschläge oder behaupten gar, dass Sie wüss-ten, wie die Eltern empfinden. Denn das können Sie nicht, es sei denn, Siehaben so etwas schon selbst erlebt. Auch Floskeln sind hier fehl am Platz.Sagen Sie also niemals Sätze wie: „Sie sind noch jung und können dochnoch Kinder bekommen. Mit der Fehlbildung hätte ihr Kind eh nicht lebenkönnen.“ Oder „Es war doch noch ganz früh in der Schwangerschaft. Siehaben doch bereits ein gesundes Kind.“ Oft genügt es, wenn Sie einfachnur da sind und zuhören.

Bleiben Sie authentischWenn Sie sich hilflos, ohnmächtig oder sehr betroffen fühlen, lassen Siediese Hilflosigkeit und Betroffenheit zu. Vielleicht sind Sie auch gerade andiesem Tag wegen anderer Dinge in einer schlechten Verfassung. BleibenSie authentisch und verbiegen Sie sich nicht – Ihr Gegenüber spürt das.So sind Sie für die Eltern viel hilfreicher als hinter einer vermeintlich pro-fessionellen Fassade. Bitten Sie zur Not und wenn möglich eine Kolleginhinzu.

Nehmen Sie das Paar, aber auch sich selbst ernstHören Sie zu, was das Paar erzählen möchte. Bewerten Sie nicht mit IhrenMaßstäben. Achten Sie auch auf Ihr eigenes ‚Bauchgefühl‘ und holen Siesich Unterstützung, wenn Sie Ihre eigenen Grenzen erreichen. BeziehenSie das Paar, wenn möglich, in die Entscheidungen mit ein.

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Stele am Waldfriedhof Lauheide, Münster

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5. BegriffsklärungDas Personenstandsgesetz (PStG) und die dazugehörige Ausführungsver-ordnung (PStV) sehen in Deutschland die Regelung des rechtlichenUmgangs mit Geburten und Todesfällen vor. Verstirbt eine Person, so isteine Bestattung zwingend erforderlich. Auch Totgeburten müssen bestat-tet werden. § 29 PStV definiert die Totgeburt und Fehlgeburt wie folgt:

TotgeburtEin Kind gilt in der Bundesrepublik Deutschland als totgeboren, wenn esnach der Trennung vom Mutterleib keines der für eine Lebendgeburtmaßgeblichen Lebenszeichen (Herzschlag, natürliche Lungenatmung,Pulsation der Nabelschnur) und ein Gewicht von mindestens 500g auf-weist. Für Totgeborene besteht die standesamtliche Meldepflicht (Eintra-gung in die Personenstandsbücher). Die betroffene Frau hat Anspruch aufHebammenbetreuung im Wochenbett (umfasst nach einer Tot- oderLebendgeburt zwölf Wochen, kann nach neuem Recht um den Zeitraumverlängert werden, um den die Schutzfrist vor der Geburt nicht inAnspruch genommen werden konnte).

Fehlgeburt (Abort)Vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch Geburt eines Fetus miteinem Gewicht von unter 500g bei Fehlen aller für eine Lebendgeburtmaßgeblichen Lebenszeichen. Im Gegensatz zur Totgeburt besteht keinestandesamtliche Meldepflicht. Auf Wunsch kann der Name des Kindesjedoch standesamtlich beurkundet und im Familienbuch eingetragenwerden. Im Falle einer Fehlgeburt steht der Frau ebenfalls nachsorgendeBetreuung durch die Hebamme zu. Kinder unter 500g Geburtsgewichtsind nicht bestattungspflichtig. Es besteht jedoch ein Bestattungsrecht.Eine statistische Erfassung findet nicht statt.

Begriffsklärung

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Grundsätzlich ist der Bereich ,Bestattungsrecht‘ Ländersache. Dasbedeutet, jedes Bundesland hat sein eigenes Bestattungsgesetz. Inder folgenden Auflistung kann es von Land zu Land Abweichungengeben:

FehlgeburtKeine Pflicht zur standesamtlichen RegistrierungKlinische oder individuelle oder anonyme Bestattung möglich

Totgeburt und Lebendgeburt Standesamtliche RegistrierungKlinische Bestattung nicht möglichIndividuelle oder anonyme Bestattung möglich

Klinische Bestattung:Anonyme Bestattung mehrerer totgeborener Kinder unter 500g, Feuer -bestattung, Urnenfeld

Individuelle Bestattung: Einzelbestattung, Erd- oder Feuerbestattung, selbst bestimmte Grabstelle

Anonyme Bestattung: Einzelbestattung, Erd- oder Feuerbestattung, Urnenfeld

Die betroffenen Eltern sollten über die üblichen und alternativen Mög-lichkeiten der Bestattung sowie über die gesetzlichen Vorschriften für dieEintragung ins Familienbuch aufgeklärt werden. Die Gestaltung derBestattung des Kindes ist bereits Teil der Verarbeitung des Verlustes.

Begriffsklärung

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6. Begleitung betroffener Eltern alscurricularer Bestandteil der Ausbildung für Hebammen – ein Kommentar

Das Augenmerk der beruflichen Qualifizierung im medizinischen undpflegerischen Bereich gilt der Aufrechterhaltung des Lebens. Diese Fokus-sierung schlägt sich auch in den Ausbildungsinhalten der Berufe wieder.Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (HebAPrO) der Hebammenz. B. sieht für die Ausbildung 1600 theoretische und praktische Unter-richtsstunden sowie 3000 Stunden praktische Ausbildung vor. In derHebAPrO Anlage 1 (zu § 1 Abs. 1) sind die Ausbildungsinhalte festge-schrieben. Die Themen Tod und Trauer werden marginal behandelt.

Demnach erhalten die Schülerinnen im zweiten und dritten Jahr derpraktischen Ausbildung eine Unterrichtung im Verhalten bei kindlichemTodesfall. In der theoretischen Ausbildung sind Mütter-, Neugeborenen-und Säuglingssterblichkeit sowie Verhalten bei Todesfällen die Inhalte, diein direkter Weise die Themen Tod und Trauer ansprechen. Eine Stunden-zahl sowie eine weitere inhaltliche Differenzierung ist nicht vorgegeben.Andere Ausbildungsinhalte (z. B. Umgang mit Eltern, Grundlagen derBetreuung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen u. ä.) kön-nen sich zwar auf das Sterben von Kindern im perinatalen Zeitraumbeziehen, sind jedoch nicht ausdrücklich auf diesen Zusammenhangbezogen.

Die Ergebnisse der von ALPHA-Westfalen in Auftrag gegebenen Befra-gung zur Situation von Hebammen bei Totgeburten und Lebendgeburtenmit tödlichem Ausgang decken sich mit der Vermutung, dass das Unter-richten im Verhalten bei kindlichen Todesfällen während der Ausbildungnicht ausreichend berührt wird. „Für einen adäquaten Umgang mit dem

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Tod kann es von Bedeutung sein, ob man mit diesem Thema bereitsBerührung hatte, sei es in der Ausbildung oder auch im persönlichenErfahrungsschatz ... Nur bei 60,7 % der Hebammen war Sterben und TodBestandteil der Ausbildung und nur 50 % haben bereits Sterbende begleitet”(Dingerkus und Rademaker, 2005). Auch wenn die Befragung keinen wis-senschaftlichen Anspruch erhebt (es wurden 28 Fragebögen ausgewertet),so steht sie doch im Einklang mit anderen Studien, die der Vorbereitungvon Hebammen und anderen Berufsgruppen einen hohen Stellenwertzuschreibt (Ellis, 2017).

Beispielhaft seien hier die Ergebnisse eines Pilotprojektes von Jessica Wolfund Doris Rosenkranz (2004) genannt. In ihrer Untersuchung heißt es:„Selbstverständlich erfolgt in der (Hoch-)Schulausbildung von Hebammenund Ärzten eine Unterweisung in medizinischen Fragen zum Thema ‚Tot-geburt’, z. B. wie ein totes Kind entbunden werden sollte oder welcheMedikamente eingesetzt werden können.“ Ein zentrales Ergebnis derInterviews war jedoch, dass die psychologische Seite solch belastenderLebensereignisse offenbar nur selten thematisiert wird.

Kenntnisse zum behutsamen, respektvollen Umgang mit Eltern, derenKinder vor oder während der Geburt versterben, werden in der Ausbildungdes medizinischen Betreuungspersonals offenbar noch nicht ausreichendvermittelt (Wolf und Rosenkranz, 2004). Der Fortbildungsbereich im All-gemeinen hingegen hat in den letzten Jahren seine Themen um psycho-soziale Begleitung, Trauerbegleitung etc. erweitert. Sowohl regional wieüberregional werden mittlerweile Themen der Trauerbegleitung angebo-ten. Nicht wenige Hebammen absolvieren eine Zusatzqualifikation in derTrauerbegleitung. Dies ist sicherlich eine gute Möglichkeit, das Wissen derAusbildung zu ergänzen, erweitern oder zu aktualisieren.

Curricularer Bestandteil der Ausbildung für Hebammen

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7. (Internet-)Adressenwww.allesistanders.de

Chat für trauernde Jugendliche, Foren für Eltern und Jugendliche,Hilfe für trauernde Kinder u.v.m.

www.asbh.deArbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus e.V.

www.bdh.deBerufsorganisation der Hebammen - Bund Deutscher Hebammen Gartenstr. 26, 76133 KarlsruheTel.: 07 21 - 98 18 90Fax: 07 21 - 9 81 89 20

www.big-ev.deBundesinteressengemeinschaft Geburtshilfegeschädigter e.V.

www.foetensarg.deSärge für Fehl-, Früh- und Totgeburten

www.fruehchen.deElternkreis Frühgeborene und kranke Neugeborene Mannheim e.V.

www.gestose-frauen.deAG Gestose Frauen: Schwangerschaftsgestose

www.gesundheit-psychologie.de/selbsthilfeGesundheit und PsychologieSelbsthilfegruppen sind nach Themenbereichen sortiert

www.glueckloseschwangerschaft.atRegenbogeninitiative Österreich

(Internet-)Adressen

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www.hebammengesetz.deHebammengesetz (1985/2006)

www.hebammen-nrw.deLandesverband der Hebammen NRW

www.initiative-regenbogen.de oder www.gluecklose-schwangerschaft.deDie Initiative REGENBOGEN „Glücklose Schwangerschaft” e. V. bietetunter anderem einen Kreißsaalordner an, der für den Einstieg in dieseArbeit geeignet ist; Bestelladresse: Brochürenbestellung InitiativeREGENBOGEN, Karoline-Zwiener-Str. 6, 33332 Gütersloh.Bei den Materialien handelt es sich um Informationen, Texte und Bilder, die der Trauer der Eltern einen Rahmen bieten.

www.kindernetzwerk.deKindernetzwerk e. V., Informationen zum Thema Fehlbildungen undErkrankungen

www.koskon.deKoordination für Selbsthilfe in NRW Friedhofstr. 39, 41236 Mönchen-gladbachTel.: 0 21 66 - 24 85 67 / Fax: 0 21 66 - 24 99 44

www.leona-ev.deVerein für Eltern chromosomal geschädigter Kinder e. V.

www.midwife.deHebammenverband Hamburg, Hebammensuchmaschine

www.nakos.deNationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unter-stützung von SelbsthilfegruppenWilmersdorferstr. 39, 10627 BerlinTel.: 0 30 - 31 01 89 60 / Fax: 0 30 - 31 01 89 70

(Internet-)Adressen

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www.selbsthilfe-forum.deDas komplette Selbsthilfeforum

www.sids.deGemeinsame Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod e. V.

www.trauernetz.deAngebot der evangelischen Kirche: Informationen, Texte, Adressen,Kontakte zum Thema Trauer

www.veid.deBundesverband verwaister Eltern in Deutschland. Der Bundesverband„Verwaiste Eltern in Deutschland e. V.” bietet Hilfe für trauernde Müt-ter, Väter, Geschwister, Großeltern und Menschen, die sie begleitenmöchten.Dieskaustr. 43, 04229 LeipzigTel.: 03 41 - 9 46 88 84 / Fax: 03 41 - 9 02 34 90

www.verein-regenbogen.chRegenbogeninitiative Schweiz

(Internet-)Adressen

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8. LiteraturBeutel, Manfred E. (2002). Der frühe Verlust eines Kindes. Bewältigung

und Hilfe bei Fehl-, Totgeburt und Plötzlichem Kindstod. 2. überarbei-tete und erweiterte Auflage, Hogrefe-Verlag, Göttingen

Bowlby, John (2006). Verlust, Trauer und Depression. Reinhardt Verlag,München

Dingerkus, Gerlinde und Rademaker, Astrid (2005). Die Situation vonHebammen bei Totgeburten und Lebendgeburten mit tödlichem Aus-gang. Ansprechstelle im Land NRW zur Pflege Sterbender, Hospizarbeitund Angehörigenbegleitung (ALPHA), Münster

Ellis, A., Chebsey, C., Storey, C., Bradley, S., Jackson, S., Flenady, V., ...Siassakos, D. (2016). Systematic review to understand and improvecare after stillbirth: a review of parents’ and healthcare professionals’experiences. BMC Pregnancy and Childbirth, 16 (1), 16. 10.1186/s12884-016-0806-2

Fässler-Weibel, Peter (Hrsg.) (2008). Wenn Kinder sterben. 2. unverän-derte Auflage, Paulusverlag, Freiburg

Fritsch, Julie und Ilse Sherokee (1995). Unendlich ist der Schmerz ...Eltern trauern um ihr Kind. Kösel-Verlag, München

Funk, Miriam (2017). Tabuthema Fehlgeburt. Ein Ratgeber. Mabuse Ver-lag: Frankfurt

Grimm, Maureen; Sommer, Anja (2011). Still geboren. Panama-Verlag:Berlin

Kast, Verena (2016). Sich einlassen und loslassen. Neue Lebensmöglich-keiten bei Trauer und Trennung. 25. Auflage, Verlag Herder, Freiburgim Breisgau

Literatur

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Kersting, Anette u. a. (2001). Traumatische Trauer - ein eigenständigesKrankheitsbild? Psychotherapeut 5, S. 301-307, Springer Verlag

Kersting, Anette (2005). Trauern Frauen anders als Männer? Geschlechts-spezifische Unterschiede im Trauerverhalten nach dem Verlust einesKindes. Psychotherapeut 50, 129-132, Springer Verlag

Kersting, Anette (2007). Trauer nach dem Verlust eines Kindes währendoder kurz nach der Geburt. In: Rohde A., Marneros A., Geschlechtsspe-zifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch. Kohlhammer,Stuttgart

Klapp, Christine (2017). Psychosozialmedizinische Betreuung – Hilfestel-lung für Eltern und Angehörige. In: Bettina Toth, Fehlgeburten, Totge-burten, Frühgeburten (2017). Springer, Heidelberg Seite 327-333

Kübler-Ross, Elisabeth (2001). Leben bis wir Abschied nehmen. 5. Auf-lage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh

Lammer, Kerstin (2013). Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbe-gleitung. 6. Auflage, Neukirchener-Verlag, Neukirchen-Vluyn

Lothrop, Hannah (2016). Gute Hoffnung, jähes Ende. 2. Auflage, Kösel-Verlag München

Maurer, Franziska (2017). Fehlgeburt. Die Physiologie kennen. Professio-nell handeln. 1. Auflage, Elwin Staude - Verlag, Hannover

Nijs, Michaela (2003). Trauern hat seine Zeit. Abschiedsrituale beim frühen Tod eines Kindes. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage,Hogrefe-Verlag, Göttingen

Reiser, Martina (2017). Ethische Aspekte und Möglichkeiten der seel-sorglichen Begleitung von Paaren mit tot geborenen Kindern. In: Bet-tina Toth, Fehlgeburten, Totgeburten, Frühgeburten (2017). Springer,Heidelberg, Seite 323-326

Literatur

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Samuelsson M, Radestad I, Segesten K. (2001). A Waste of Life: Fathers’Experience of Losing a Child before Birth. In: Birth, 28, 124–30.

Schuchardt, Erika (2013). Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen.13. Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) (2005). Wenn derTod am Anfang steht. Eltern trauern um ihr totes neugeborenes Kind – Hinweise zur Begleitung, Seelsorge und Beratung. Bonn

Specht-Tomann, Monika und Tropper Doris (2011). Wir nehmen jetztAbschied. Kinder und Jugendliche begegnen Sterben und Tod. 3. Auf-lage, Patmos Verlag, Düsseldorf

Toth, Bettina (Hrsg.) (2017). Fehlgeburten, Totgeburten, Frühgeburten.Springer, Heidelberg

Wiese, Anja (2009). Um Kinder trauern. Eltern und Geschwister begeg-nen dem Tod. Gütersloher Verlagshaus, 4. überarbeitete Auflage,Gütersloh

Wolf, Jessica (2003). Trauer nach einer Totgeburt. Eine empirische Ana-lyse zur Betreuung betroffener Frauen und Paare. Eine Handreichungfür professionelle HelferInnen. Diplom-Arbeit, veröffentlicht unterhttp://home.arcor.de/jessiw/

Wolf, Jessica und Rosenkranz, Doris (2004). Der Umgang mit Fehl- undTotgeburten in Deutschland. Das Online Familienhandbuch.http://www.familienhandbuch.de

Worden, J. William (2017). Beratung und Therapie in Trauerfällen. EinHandbuch. 5. Auflage, Verlag Hans Huber, Bern

Znoj, Hansjörg (2016). Komplizierte Trauer. Hogrefe: Göttingen.

Literatur

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Impressum

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Herausgeber:

Ansprechstelle imLand Nordrhein-Westfalen zur Palliativversorgung Hospizarbeit undAngehörigenbegleitungim Landesteil Westfalen-LippeFriedrich-Ebert-Straße 157-15948153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48Fax: 02 51 - 23 65 76E-Mail: [email protected] Internet: www.alpha-nrw.de

2018Druck: BuschmannLayout: art- applied, Jannis Wegmann Hafenweg 26a, 48155 Münster Auflage: 2000© beim Herausgeber

Autorinnen Dr. Gerlinde Dingerkus Diplom-PsychologinSystemische Familientherapeutin, Supervision und Psychoonkologie

Christel KofoetHebammeDiplom-PflegepädagoginFreiberuflich tätig als Hebamme Freiberuflich tätig in der Hospizarbeit

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Im Auftrag vomMinisterium für Arbeit, Gesundheitund Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen