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Alexander Dinelaris Still Life Deutsch von URSULA GRÜTZMACHER-TABORI Fassung des Taschenbuchabdrucks F 1430

Still Life · Ich bin nur - Die Suahelis ... Sie ist so groß wie Jamaika und sie – Na ja, es . 7 ... JEFF Setz nicht auf Neues. Bleib bei Bewährtem. TERRY Bleib bei

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Alexander Dinelaris

Still Life

Deutsch von URSULA GRÜTZMACHER-TABORI

Fassung des Taschenbuchabdrucks

F 1430

Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

Still Life (F 1430)

Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb anNichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnenerwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mitdem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kaufder vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.einer Tantieme.Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungenin geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen derRollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen dasUrheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechteverfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

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Dieses Stück ist gewidmet Nyla Mabro-Dinelaris & Chris McCartin

Herz und Rückgrat meines Lebens

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„Der eilende Finger schreibt; und das getan

Eilt weiter: Nicht Ehrfurcht noch Elan

Bewegen ihn, nur einen Vers zu streichen,

Noch waschen alle deine Tränen ein Wort von meinem Plan.“

Rubai-yat von Omar Khayyam

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Personen CARRIE ANN Fotografin JEFFREY Marktforscher TERRY Jeffreys Freund und Boss JOANNE Dozentin und Freundin von Carrie Ann SEAN Arzt und Jeffs ältester Freund MARY Seans Frau THEO Carrie Anns Vater JESSIE Studentin der Fotografie MICHAELINE Barfrau SANDRA Frau in Bar NINA Terrys Assistentin AL Frau in Ausstellung LENA Frau in Ausstellung Zeit & Ort Gegenwart New York City und Tansania Anmerkung des Autors Das Stück ist geschrieben für acht Schauspieler, wobei zwei der Frauen mehrere Rollen übernehmen können. Die Szenen sind gedacht als emotionale „Schnappschüsse“. Sie finden in flottem Tempo in verschiedenen Dekorationen statt, die minimal sein sollten, gerade ausreichend, um der Funktion der Geschichte zu dienen und eine deutliche Vorstellung vom Schauplatz und seinem Gefühl zu vermitteln. Dann ist das Stück so konzipiert, dass die Szenen in ihrer Mehrheit alternierend auf der linken und rechten Bühnenseite spielen. Während eine Szene auf der einen Seite gespielt wird, wird die andere vorbereitet. Flüssiges Spiel ist unabdingbar.

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Erster Akt

Erste Szene

Ein Lesepult mit Mikrophon im Vordergrund der Bühne rechts. Eine weiße Projektionsleinwand im Hintergrund. Dr. Joanne Reid geht zum Pult. JOANNE Liebe Studenten, ich begrüße Sie und danke Ihnen für den

herzlichen Empfang. Ich werde daran denken, wenn ich Ihre Semesterbenotung vornehme. Gluckst über ihr Scherzchen. Bevor wir beginnen, möchte ich den Moment nutzen, den großzügigen und offenbar unermüdlichen Spendenbeschaffern der Ramirez Foundation, die heute anwesend sind, meine Anerkennung auszusprechen. Ohne sie wäre unser dynamisches Programm nur ein Schatten seiner selbst. Kurze Pause. Nun … Wirft einen Blick zu Carrie Ann zurück. Kurze Pause. Es gibt Künstler, die unsere Beachtung verdienen. Es gibt Künstler, die unsere Phantasie beflügeln. Die Fotografien unserer heutigen Gastrednerin vermögen beides. Ich entdeckte Carrie Ann Daly und ihre Arbeiten, als sie nicht älter war als die meisten, die hier sitzen. Ob ihre Motive nun die grausam unterdrückten, gleichwohl unbeugsamen Mütter und Töchter ihrer Sammlung Majka: die Frauen Serbiens sind oder die eindringlichen, scheinbar simplen Studien der quälenden Transformation Amerikas in Tod des Phönix: Eine Ansicht von Ground Zero – mit ihren Fotografien gelingt es ihr, die Wut, die Angst und den unerschütterlichen Optimismus einer ganzen Generation nicht nur zu dokumentieren, sondern auch zu verdeutlichen. Und ich kann Ihnen versichern: Sie fängt gerade erst an. In aller Demut nenne ich sie eine Inspiration. Voller Stolz nenne ich sie meine Freundin ... Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie mit mir … Carrie Ann Daly.

Nach einem kurzen Augenblick geht Carrie Ann zum Lesepult. Sie legt ihre Notizen vor sich hin und richtet das Mikrophon aus. Dann beginnt sie.

CARRIE ANN Wow … einen Moment lang saß ich da und war gespannt, wer vortritt. Nun ja ... danke, Dr. Reid. Ich danke Ihnen allen. Tja. Und wofür? Wahrscheinlich dafür, dass Sie gekommen sind. Also, ich zitiere – Erlauben Sie, dass ich es ablese? Liest von ihren Notizen ab. „Der Wert der Kamera liegt nicht in ihrer Macht, den Fotografen zum Künstler zu machen, sondern in ihrem Appell, nie aufzuhören, hinzusehen.“ Das hat Brooks Atkinson gesagt. Und ich glaube, er hatte recht. Kurze Pause. Ich weiß nicht … Ich bin nicht sicher, aber -- Pause. Sie überfliegt die Zuhörer. Sie sind alle so scheißjung … Kurze Pause. Tschuldigung. Ich bin nur - Die Suahelis glauben – genau wie die Ureinwohner Amerikas – dass man, wenn man ein Foto von ihnen macht, einen Teil ihrer Seele stiehlt. So weit würde ich nicht gehen, aber etwas ist daran. Wenn Sie fotografieren, borgt sich Ihre Kamera etwas aus … nimmt Ihrem Motiv etwas weg. Aber Ihnen, dem Fotografen, auch. Jedes Mal ein winziges Stück von etwas Unwiederbringlichem. Wieder ist etwas benannt. Dokumentiert. Rubriziert. Ein Geheimnis weniger. Und ich finde, diese Welt hat nicht mehr sehr viele Geheimnisse. Joanne hat gesagt, meine Fotos seien quälend oder etwas in der Art. Ich meine, sie sind nicht quälend, sofern Sie sie machen. Egal wie schrecklich sie sind, Sie wählen ein Motiv und stehen somit darüber. Sind getrennt davon. Geschützt durch ein Bündel Metall, Glas und Mechanik. Sie sind in Sicherheit. Oder wenigstens glauben Sie es. Kurze Pause. Was fasele ich da? Kurze Pause. Kürzlich habe ich gelesen, dass die Wilkins-Eisscholle in der Antarktis abgebrochen ist. Sie ist so groß wie Jamaika und sie – Na ja, es

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ist nicht gut. Ich war zu dieser Zeit zu Fotoaufnahmen in der Gegend, aber ich habe nicht - und jetzt ist sie weg! Aber nicht nur das. Vor ein paar Jahren war ich in Botswana. Dort besuchten wir ein Dorf. Es hat eine AIDS-Sterblichkeitsrate von dreiundsiebzig Prozent. Dreiundsiebzig. Ich wollte ein paar Aufnahmen machen von einer Familie, die – von einer Familie, die versucht, zu über - Kurze Pause. Und darum geht es … Nicht die Fotos, die Sie machen, quälen Sie. Sondern die, die Sie nicht machen. Sie werden Ihnen keine Ruhe lassen. Was ich sagen will, ist, wenn Sie das Bedürfnis haben, einen Kaiserpinguin in seiner natürlichen Umwelt zu fotografieren, dann gehen Sie hin und tun Sie es, bevor es zu spät ist. Wenn Sie ein Foto schießen wollen von einem männlichen Afrikaner zwischen sechzehn und vierunddreißig … Tun Sie es jetzt. Die Welt verschwindet vor unseren Augen. Halten Sie sie fest. Bevor sie verschwindet. Düster. Wir werden alle sterben. Eine schreckliche Pause. Nun ja … ich danke Ihnen.

JOANNE eilt zum Pult Nun, das war … na ja. Danke, Carrie Ann. Quält sich ein Lächeln ab. Und nun … „Das schönste aller Geflügel: Bilder von Preishühnern.“

Sie gibt der Projektionskabine ein Zeichen. Es wird dunkel. Fotos von Hühnern füllen den Schirm. Bizarre „Hühner“-Musik ertönt.

Blackout.

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Zweite Szene

Licht auf die linke Bühnenseite. Jeffrey sitzt hinter einem Schreibtisch. Terry, sein Boss und Freund, steht davor und knallt ihm einen Behälter mit Brathuhn hin. JEFF Was ist das? TERRY Ein Huhn. JEFF Ah-ah. TERRY Ein Brathuhn. JEFF Ich habe keinen Hunger. TERRY Okay. Die zwei Männer sind einen Moment stumm. JEFF Terry? TERRY Hilf mir. JEFF Ich muss das in drei Stunden fertig – TERRY Hilf mir. JEFF Terry. TERRY Jeff. JEFF Was? TERRY Hilf mir. Kurze Pause. Ich liebe dich, Mann. Kurze Pause. Hilfe. Jeff legt seine Arbeit beiseite. JEFF Leg los. TERRY Okay. Ich leg los. Southern – du rockst übrigens, Baby. Southern Fried

Chicken. Morgen ist die Präsentation. JEFF Morgen? TERRY Genau. JEFF Was hast du bis jetzt? TERRY Wieso? JEFF Was du hast. Kurze Pause. TERRY zeigt auf den Behälter Ein Huhn. JEFF Ach komm … TERRY Hilf mir. Dein Schwanz ist enorm. Hilf mir. JEFF Adam hatte drei Monate Zeit, um – TERRY Adam ist am Arsch. JEFF Was heißt das? TERRY Seine Frau ist abgehauen. Der Grips ist ihm abhan- JEFF Seine Frau hat ihn verlassen? TERRY Ja. Die Kinder genommen. Die Kohle gegriffen und ab durch die Mitte

mit einem Burschen von den New Jersey Nets. Adam ist am Arsch. JEFF Ich finde nur, er hat die ganze Recherche gemacht, er sollte – TERRY Adam ist eine Pfeife. Du bist ein Gott. Hühner. Los. JEFF Du hast gar nichts? TERRY Nein. Doch. Neue Verpackung. Schicke Behälter. Beilagen:

Gedämpftes Gemüse. Salat. Außerdem „Nie mehr fettige Behälter“. Kulturelle Trends. Gesundheitsbewusstsein. Sushi-Nation. Neuorientierung, blah, blah, blah. Die ewig gleiche Scheiße. Was hast du?

JEFF Das hat sich Adam einfallen lassen? TERRY Adam wichst Pudel, Jeffrey. Was hast du? Ich brauche was, das sich

verkauft. Ich bin in der Bredouille, ich gehe auf dem Zahnfleisch. Reich was rüber.

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JEFF Ich weiß nicht. Ich hatte keine Zeit zum – TERRY Ich nehme, was du mir gibst. JEFF starrt den Behälter an Okay, warte … TERRY Ich warte. Ich warte. Bis mir der Schwanz steigt. Natürlich nicht wie

deiner, du Hengst, aber – JEFF Terry – TERRY Ja doch. Entschuldige. Lass dir Zeit. Terry beobachtet Jeff. Jeff steht auf, umkreist gedankenverloren den

Schreibtisch. Schließlich bleibt er stehen. Und? Sag schon. JERRY Mach’s anders rum. TERRY Gut. Fuck. Steh ich drauf. Was genau heißt das? JEFF Setz nicht auf Neues. Bleib bei Bewährtem. TERRY Bleib bei … Wer sagt’s denn. Du bist ein Teufels- – Du bist – FUCK!

Was ist der Aufhänger? JEFF Wir sind alle erschöpft … TERRY Klar sind wir erschöpft. Scheiße, und wie ich erschöpft bin, und zwar in

diesem Moment. JEFF Erschöpft von der Angst ... TERRY … Ich höre … JEFF … Angst vor dem Leben. Vorm Ozonloch. Vor dem Blei im

Leitungswasser. Wir achten auf die Kohlenhydrate. Wir achten auf unsere Kinder. Wir sind erwachsene Menschen, die mit Cholesterinwerten um sich werfen wie früher mit Bowlingpunkten. Und das stinkt uns. Ist doch klar! Jeden Tag werden wir daran erinnert, dass wir, wenn wir nicht aufpassen, sechs Jahre unseres Lebens verlieren. Und insgeheim denken wir: „Welche sechs Jahre? Von achtundsiebzig bis vierundachtzig“? Wir wollen doch nur leben. Und zwar jetzt. Heute. Wir scheuen keine Mühen, auf uns zu achten, und dann hören wir in den Nachrichten, dass sechzehn Menschen hopsgegangen sind, weil ein Busfahrer seine Psychopillen mit Whiskey runtergespült hat und in ein Schuhgeschäft gerast ist. Na, großartig. Was haben sie nun von ihren Kleiemuffins und den Stearinen, die sie sich eingepfiffen haben? Kurze Pause. Wir wollen leben. Ach was, wir wollen das Leben genießen. Und weißt du, was wir noch wollen?

TERRY Hühner? JEFF Brathühner. TERRY Geil. Nimmt ein Stück Huhn. JEFF Bleib bei Bewährtem. Hämmere es dem Konsumenten ein. Erinnerst

du dich, als du das Punktespiel im Baseball verloren hast? Als deine Freundin in der siebten Klasse Schluss mit dir gemacht hat? An dein Chemieexperiment mit Backnatron und Essig, für das du nur eine Vier bekommen hast? Kurze Pause. Wo ging deine Mom dann mit dir hin?

TERRY mit vollem Mund Southern Fried Chicken. JEFF Southern Fried Chicken. Hausmannskost. Nostalgie. Ernsthaft. „Damals

hattest du keine Angst. Warum jetzt? Iss dein Hühnchen.“ TERRY Bin dabei. Lecker. JEFF Adam will die Verpackung ändern? Vielleicht ist er auf dem Holzweg. TERRY Vielleicht ist er ’ne Pfeife! JEFF zeigt auf den Behälter Sieh ihn dir an. Zeitlos. Ein amerikanischer

Klassiker. Willst du das ändern? Warum? Was jucken dich ein paar Fettflecken! Hey. Sie zeigen, dass es schmeckt. Kurze Pause. Wir haben

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Angst, und wir haben die Schnauze voll. „Zurück zur Lust“. Das ist der Aufhänger.

TERRY Siehst du? Deshalb arbeitest du für mich. Du wirst den Deal zum Abschluss bringen.

JEFF Hey. Sei nachsichtig mit Adam. Er ist ein guter Kerl, er hat gerade den Laufpass bekommen.

TERRY Du kennst ihn kaum. JEFF Er ist ein guter Kerl. Sei nicht so hart. TERRY Du bist ein Weichei, weißt du das? JEFF Ja. TERRY Ich nehm’s dir nicht übel. Terry geht zur Tür, dreht sich um. Hör mal.

Heute Abend steigt was im Village. Komm doch mit. JEFF Nein. Kurze Pause. Was denn? TERRY Keine Ahnung. Fotoausstellung oder so. Irgend ’ne neue heiße

Fotografin. Gesponsert von Eastman. Die ganze Geldschickeria läuft auf. JEFF Fotoausstellung? TERRY Na und? Heiße Hühner in Cocktailkleidern geben sich die Kante mit

Schampus. Buffet gibt’s auch. JEFF Ich kann nicht. TERRY Du kannst. Nina mailt dir gleich die Infos. JEFF Okay. Kurze Pause. Vergiss dein Huhn nicht. Terry geht zurück und holt sein Huhn. TERRY Zurück zur Lust. JEFF Zurück zur Lust. Wir alle wollen leben. Man muss uns nur lassen. Denn

wir kennen die Wahrheit. TERRY Ja sicher. Kurze Pause. Was ist die Wahrheit? JEFF Wir werden alle sterben.

Blackout.

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Dritte Szene

Joannes Büro. Joanne geht auf und ab und prüft die SMS in ihrem Handy, während sie spricht. Carrie Ann sitzt schweigend da. JOANNE Wir werden alle sterben? CARRIE ANN Jo – JOANNE Wir werden alle sterben? CARRIE ANN Ich war nicht – Es tut mir leid. JOANNE „Das war die schlechte Nachricht, Kinder. Die gute ist, ich würde mir

keine Gedanken machen um die Rückzahlung des Stipendiums.“ CARRIE ANN Ich sagte, ich war – JOANNE tippt eine Nummer ein Rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich zurück. CARRIE ANN Wo gehst du hin? JOANNE Wo ich hin – deinen Mist ausbügeln. Du bleibst hier. Und nimm dir nicht

den Strick, während ich draußen bin, Little Miss Sunny Pants. CARRIE ANN Little Miss Sunny Pants? JOANNE Klappe. CARRIE ANN Okay. JOANNE Rühr dich nicht vom Fleck. CARRIE ANN Gut. Joanne geht zur Tür. Jessie, eine junge Studentin, steht auf der Schwelle mit

einer Mappe in der Hand. JOANNE zu Jessie Brennen Sie irgendwo? JESSIE Wie bitte? JOANNE Steht irgendein Teil Ihres Körpers in Flammen? JESSIE Ich glaube nicht. JOANNE Dann gehen Sie aus dem Weg. JESSIE Okay. Jessie macht ihr den Weg frei. Joanne dreht sich noch einmal zu Carrie Ann

um. Hühner …? CARRIE ANN Ja. JOANNE Fabelhaft. Wirklich. Einfach ffff – FUUUCK!!! Joanne geht ab. Zwischen Jessie und Carrie ein unbehagliches Schweigen. CARRIE ANN Wie geht’s? JESSIE Ich brenne nicht … CARRIE ANN Schön für Sie. JESSIE Ja. Pause. Ich wollte das nur Dr. Reid geben. CARRIE ANN Sie ist etwas im Druck. JESSIE Das habe ich gemerkt. CARRIE ANN Lassen Sie es hier. Ich gebe es ihr. JESSIE Oh … Ahm … okay. Jessie rührt sich nicht. Carrie Ann bemerkt ihr Zögern. CARRIE ANN Ihre Arbeiten? Jessie nickt. Keine Angst … Jessie gibt Carrie Ann ihre Fotografien. JESSIE Wie hat sie Sie entdeckt? CARRIE ANN Wer?

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JESSIE Dr. Reid. Sie sagte, sie hat Sie entdeckt, als Sie – CARRIE ANN Oh. Na ja, sie hat die Königin von Spanien um drei Schiffe

gebeten, und der Rest ist – JESSIE Nein, im Ernst. CARRIE ANN Sie hat mich nicht entdeckt. JESSIE Sie hat gesagt – CARRIE ANN Sie, na ja, sie war mal mit meinem Vater zusammen, ist lange

her. Und hat ein paar meiner Fotos gesehen. JESSIE Wie hat sie es gemerkt? CARRIE ANN Was gemerkt? JESSIE Dass sie gut waren. Dass Sie gut waren. Kurze Pause. CARRIE ANN denkt darüber nach Sie hat ein gutes Auge. JESSIE Oh. Wendet sich zum Gehen, bleibt stehen. Sie sind wir, oder? CARRIE ANN Wie bitte? JESSIE Die Hühner. Die Hühner sind wir. Carrie Ann reagiert nicht. Ja. Kurze Pause. Sie sind wir. Stolz. Schön. Lächerlich. Plustern sich auf. Und

sind doch so zart. So ängstlich. „Spreizend und knirschend ihr Stündchen auf der Bühne.“ Leben von Tag zu Tag in der Erwartung, geschlachtet und verspeist zu werden. Leben von Minute zu Minute mit der Frage, wann das Beil niedersaust und ihnen den Kopf abhackt. Ich habe sie gesehen und musste denken, vielleicht krähen sie deshalb so laut in der Frühe. Fängt an zu weinen. Weil sie glücklich sind, dass sie den neuen Tag erleben. Sie sind wir …

CARRIE ANN Ja. JESSIE wischt sich über die Augen Also, ich finde sie schön. Ich finde Sie schön.

Ihre Arbeit, meine ich. Sie auch. Nicht dass Sie mich missver- CARRIE ANN Ich hab Sie schon richtig verstanden. JESSIE Okay. Gut. Kurze Pause. Ich gehe jetzt kotzen. CARRIE ANN In Ordnung. Viel Spaß. Jessie läuft hinaus. Carrie starrt ihr einen Moment lang nach in der Erinnerung

an etwas, das lange her ist. Dann öffnet sie die Mappe, zieht Jessies Fotos heraus und studiert sie. Joanne kommt zurück.

Was hast du ihnen gesagt? JOANNE Dass du betrunken warst. CARRIE ANN Und, wie haben sie’s aufgenommen? JOANNE Das sind dilettantische Hausfrauen mit Geld. Du bist Künstlerin. Sie

fanden es reizend. Kurze Pause. Was zum Teufel ist los mit dir? CARRIE ANN Wieso? JOANNE Wieso? Apokalyptische Ansprachen. Bildbände mit Hühnern auf dem

Couchtisch. Was ist los mit dir? CARRIE ANN Mir geht’s gut. JOANNE Dir geht’s nicht gut. Herrgott noch mal! Ich habe dich nicht eingeladen,

damit du mich blamierst vor meinen – CARRIE ANN Dich blamierst? JOANNE Du weißt, was ich meine. Und stell mich nicht hin, als liege es an mir -

Kurze Pause, nimmt sich zusammen. Okay, ich weiß, wie nah du deinem Vater stehst –

CARRIE ANN Was soll das denn heißen? JOANNE Das soll heißen, dass er krank ist. Es kann nicht leicht -

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CARRIE ANN Er ist nicht krank. JOANNE Wieso - er ist nicht - ? CARRIE ANN Er ist nicht krank. Er ist tot. JOANNE Was? CARRIE ANN Er ist vor drei Monaten gestorben. Kurze Pause. JOANNE Wieso hast du mir das nicht gesagt? CARRIE ANN Hab ich gerade. JOANNE Ja. Eine unbehagliche Pause. Joanne ist noch aufgebracht. Schließlich greift

Carrie Ann in ihre Handtasche und holt eine Flasche Whiskey vor. CARRIE ANN Willst du einen? Joanne sieht sie an. Okay. Dann hatte ich eben einen kleinen sitzen. Du hast doch Gläser hier? Joanne geht zu einer Schublade und nimmt zwei Gläser heraus. Unterdessen

… Hör mal, heute Abend ist eine Ausstellung. Ein paar Sachen von mir. Im

Synchronicity Space. Nichts Besonderes. Gesponsert von irgendeiner Firma. Ich wollte es dir gar nicht sagen, aber – es wäre schön, wenn du kommst.

JOANNE stellt die Gläser ab Gieß ein.

Blackout.

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Vierte Szene

Geteilte Bühne. Links: eine Arztpraxis. Rechts: Joannes Büro. Linke Bühne JEFF Nur auf einen Drink. SEAN Nein. JEFF Ich bitte dich, komm mit. SEAN Zu einer Vernissage? Um zu trinken? JEFF Es ist keine Vernissage. Es ist eine – ich weiß nicht, was es ist. Eine

Präsentation von Fotografien … oder so. Ist doch egal. Heiße Hühner in Cocktailkleidern geben sich die Kante mit Schampus. Buffet gibt’s auch.

SEAN Ein heißes Hühnerbuffet? JEFF Ach, komm … SEAN Sag mal, seit wann redest du wie ein halbgarer Yuppie? JEFF Ich weiß nicht. SEAN Das kommt von dem Laden, in dem du arbeitest. Haust man lange genug im Affenkäfig, schmeißt man irgendwann mit Scheiße. JEFF Komm mit. Bitte. Wann haben wir zuletzt einen gehoben? SEAN Ist lange her. JEFF Sehr lange. Ich glaube, bei deiner Hochzeit. Und das zählt ja wohl nicht. SEAN Wer kommt noch? JEFF Terry. SEAN Terry? Kein Wunder, dass du so redest. Der Typ ist ein – JEFF Ein Freund. SEAN Ein Arschloch. JEFF Na ja. SEAN Ich kann nicht. So sehr ich Kunst schätze und mir Bierflaschen auf dem

Kopf zerschmettern lasse – JEFF Ach, komm – SEAN Ich kann nicht. Wir haben Freunde von Mary zum Abendessen. Da

komme ich nicht raus. JEFF Ach, sie darf Freunde haben? SEAN Arschloch. JEFF Im Ernst, überdenk mal ein paar der Eheversprechen, die ihr

niedergeschrieben habt. Vielleicht hast du das Kleingedruckte nicht gelesen. - Komm mit.

SEAN Jeff … JEFF Ich kannte dich vor ihr. Ich kannte dich vor deiner Heirat und vor

deinem Studium. Das sollte mir – SEAN Nächste Woche. JEFF Nächste Woche. SEAN Ziehen wir uns ein Bierchen rein und sehen uns das Spiel an.

Bestimmt. Nur du und ich. JEFF Ja, okay. SEAN Bis dahin wäre da noch was!

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JEFF Wo sehen wir’s uns an? Auf keinen Fall in dieser Yuppie-Bar, in der du verkehrst. Der Laden ist –

SEAN Jeff. Da wäre noch was. JEFF Was? SEAN Dein Ultraschall … JEFF Was ist damit? SEAN Da ist ein Schatten. Rechte Bühne CARRIE ANN Alles ist dunkel. Verschwommen. JOANNE Das ist völlig normal. CARRIE ANN Ist es nicht – Ich kann keine Kamera in die Hand nehmen, Jo.

Nichts zu machen – die Fotos von den Hühnern habe ich gleich nach seiner Diagnose gemacht. Die letzten vor ein paar Wochen, bevor er – Seitdem kein einziges Foto mehr. Ich kann keine Kamera mehr in die Hand nehmen.

JOANNE Natürlich kannst du. Sei nicht albern. Natürlich kannst du die Kamera in die Hand nehmen. Du meinst, du willst nicht. Du siehst im Moment nicht die Notwendigkeit. Ich sage dir, das ist völlig normal.

Joannes Handy klingelt. Sie sieht aufs Display und antwortet. Ja? Kurze Pause. Sagen Sie ihm, ich habe zu tun. Kurze Pause. Dann sagen

Sie ihm, er soll sich verpissen. Drückt das Gespräch weg. Zu Carrie Ann. Schenk nach. Die Flasche kannst du in die Hand nehmen,

oder? Carrie Ann leert den Rest der Flasche in die Gläser. Einen Moment

Schweigen. Carrie Ann spielt geistesabwesend mit dem Flaschenverschluss …

Heute werden deine Sachen gezeigt? CARRIE ANN Ja. JOANNE Willst du darüber sprechen? CARRIE ANN Spreche ich über meine Arbeit? JOANNE Okay. Sie sitzen einen Moment schweigend da. Ein Engel schwebt durchs Zimmer. CARRIE ANN Ich habe einen Traum … JOANNE O Vater … CARRIE ANN O Vater? JOANNE Wirklich ein harscher Übergang, es sei denn, du machst auf Martin

Luther King … CARRIE ANN Okay. Vergiss es. JOANNE Erzähl mir den Traum. CARRIE ANN Wenn du so – JOANNE Carrie Ann, ich war – Erzähl mir deinen Traum. Kurze Pause. Erzähl ihn

mir … Kurze Pause. CARRIE ANN Gut. Kurze Pause. Ich weiß nicht, ich bin in der Küche. Nur ist es

nicht die Küche, es ist eine Dunkelkammer. Ich höre ihn durch die Tür, er ruft nach mir. Und ich bereite ihm einen Teller vor, aber es ist kein Essen drauf. Es sind Fotografien drauf, die ich gemacht habe. Und weil er zu quengeln anfängt, beeile ich mich. Ich lege die Fotos auf ein Tablett und gehe damit

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durch den Korridor. Er sitzt in dem Sessel, in dem er immer gesessen hat. Du kennst ihn.

JOANNE Ja … CARRIE ANN Ja. Er sitzt also in diesem Sessel. Den Bademantel hat er

verkehrt rum an, sein Haar ist wirr, und er müffelt. Ich rieche ihn durchs Zimmer. Er sieht ganz traurig aus, und irgendwie - klein. Ich beeile mich, ihm das Essen zu bringen … oder die Fotos. Er quengelt ununterbrochen. Als ich zu ihm eile, fällt mir das Tablett aus der Hand. Plötzlich habe ich kein Gefühl mehr in den Händen; sie sind wie Lehmklumpen. Ich knie mich hin und will alles aufheben. Er jammert immer lauter. Und ich kann nichts tun. Meine Hände gehorchen mir nicht. Ich laufe zurück in die Küche und fange von vorn an. Aber jedes Mal, wenn ich ins Zimmer gehe, fällt das Tablett runter. Immer und immer wieder, bis ich aufwache. Ich weiß nicht, warum –

JOANNE plötzlich alarmiert Carrie Ann … CARRIE ANN Alles ist verschwommen. Ich kann einfach nicht – JOANNE steht auf Carrie Ann! CARRIE ANN Was? JOANNE Deine Hand … Carrie Ann streckt ihre Hand aus. Sie ist blutüberströmt. CARRIE ANN Oh, Scheiße … Linke Bühne SEAN Wir wissen noch nicht, was wir vor uns haben. Es gibt verschiedene

Möglichkeiten. JEFF Wo ist Dr. Mullen? SEAN Jeff – JEFF Ich frage ja nur. Wo ist sie? SEAN Margaret hat mich gefragt, ob ich zuerst mit dir reden will. Ich habe ja

gesagt. Ich dachte, es wäre besser für dich, wenn – JEFF Ich dachte, du sollst nicht – SEAN Ich soll meine Familie nicht behandeln. JEFF Zwanzig Jahre, und ich bin nicht deine Familie? SEAN Können wir nicht einfach – Mensch, können wir es besprechen? JEFF Ich will nicht, dass du derjenige bist, der es tun muss. SEAN Sieh mich an. Kurze Pause. Ich will derjenige sein, der es tut. Sie sehen sich in die Augen. Schließlich … JEFF Na gut. SEAN Gut. So werden wir vorgeh- Willst du ein Glas Wasser? JEFF Ist schon gut. Rechte Bühne

CARRIE ANN Ist schon gut. Joanne sitzt neben Carrie Ann und tupft ihre Hand mit einem Handtuch ab. JOANNE Die Wunde muss sauber sein. CARRIE ANN Ich habe nichts gespürt. JOANNE Der Flaschenverschluss. Du hast eine Faust gemacht … CARRIE ANN Ich weiß. Ich wollte sagen, ich habe es nicht gemerkt.

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JOANNE Offensichtlich. CARRIE ANN Und, was meinst du, soll ich tun? JOANNE Keine scharfkantigen Sachen quetschen. CARRIE ANN Ich meinte den Traum - JOANNE Ich weiß nicht. Es wird seine Zeit dauern. Kurze Pause. Hör mal, dein

Vater war ein – CARRIE ANN Nicht … JOANNE Er war ein komplizierter Mensch und - CARRIE ANN Nicht. Ich kann’s nicht hören. Nicht von dir. Carrie Ann nimmt Joanne das Handtuch ab und geht durchs Zimmer. JOANNE War irgendwas zwischen dir und ihm? CARRIE ANN Joanne … JOANNE Hat er was getan? Hat er was gesagt, das – CARRIE ANN fährt sie an Jo, es ist mein Ernst … JOANNE Okay. Seien wir ganz – Kurze Pause. Weißt du, ein Teil von dir hasst mich - seit zwanzig Jahren. CARRIE ANN Ich hasse dich nicht. JOANNE Aber natürlich. Und wir wissen beide, warum. Aber das ist nicht die

Frage, um die es hier geht, oder? CARRIE ANN Was ist die Frage? JOANNE Warum hast du das Gefühl, dass du ihn hasst? Kurze Pause.

Blackout.

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Fünfte Szene Synchronicity Space, eine Kunstgalerie. Bei eindringlicher Musik füllen Diapositive von Carrie Anns neuester Fotoserie mehrere weiße Leinwände. Sie zeigen Tiere: Kaninchen, Vögel, Rehe ... alle tot. Sie sind so arrangiert und fotografiert, dass sie friedlich und majestätisch erscheinen. Ihr Anblick ist gleichzeitig schön und unerträglich. Das Licht über der Galerie wird aufgezogen. Fotos schmücken die Wände. Terry steht vor einem der Fotos. Eine schöne junge Frau namens Lena steht neben ihm. Sie betrachten schweigend das Foto … TERRY Es ist tot, oder? LENA Pardon? TERRY Das Karnickel. Es ist tot. LENA Ja. TERRY blickt sich im Raum um Alle sind tot. LENA Ja. Pause. TERRY Fuck. Pause. Wirklich krass. LENA Richtig. Ein unverfrorener, doch ehrfürchtiger Blick auf den Tod. Ein

Schlag ins Gesicht einer jugendverliebten Kultur. TERRY Ja. LENA Sie zwingt uns, unserer Sterblichkeit ins Gesicht zu sehen und dem

tiefen Schrecken, der mit dem Verlust der Jugend einhergeht. TERRY Oh, ja. LENA Ich meine, es ist ein visueller Kontrapunkt zu allem, was wir – TERRY Kommst du mit in mein Auto und lutschst mir einen? LENA Nein. TERRY Es ist ein schönes Auto. LENA Na ja, wenn es so ist, warum nicht – vergiss es. Kurze Pause. TERRY Brauchst du mehr Schampus? Lena starrt ihn an und geht. Okay. War ein nettes Gespräch. Wendet sich ungerührt wieder dem Foto zu.

Beeindruckt. Fuck … In einem anderen Teil der Galerie steht Joanne vor einem Foto. Carrie Ann

kommt mit zwei Gläsern Champagner. Ihr Kleid ist wunderschön, der Verband an ihrer Hand weniger.

CARRIE ANN Willst du ein Glas? JOANNE nimmt eins Sprichst du noch mit mir? CARRIE ANN Klar. JOANNE Es tut mir leid wegen vorhin … CARRIE ANN Schon gut. JOANNE Das war nicht in Ordnung. CARRIE ANN Nein. JOANNE Und ich sage – CARRIE ANN Ich sage, schon gut. JOANNE Okay. Kurze Pause. CARRIE ANN Ich habe dich nie gehasst. JOANNE Gut.

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Kurze Pause. CARRIE ANN Wie findest du sie? JOANNE Sie sind hervorragend, Carrie. Als hätte Hieronymus Bosch

viktorianische Post-Mortem-Portraits gemalt. CARRIE ANN Sie gefallen dir. JOANNE Die Tiere nehmen einem den Atem. CARRIE ANN Sie haben ihren letzten Atemzug hinter sich. JOANNE Ja … CARRIE ANN Ich freue mich, dass du gekommen bist. JOANNE Ich habe dir was mitgebracht. Joanne langt in ihre Tasche und gibt Carrie Ann ein Foto. CARRIE ANN Was ist das? JOANNE Sieh’s dir an. Carrie Ann starrt auf das Foto. Das hat dein Vater gemacht. Carrie Anns Miene verändert sich. Er war ein guter Mann. Und ein verdammt guter Fotograf. CARRIE ANN Jo – JOANNE Nein. Mehr wollte ich nicht sagen. Kurze Pause. Ich weiß, es ist schwer,

ein Elternteil zu verlieren. Kurze Pause. CARRIE ANN Ich dachte immer, du wärst von Wölfen aufgezogen worden. Kurze Pause. JOANNE Die kann man auch lieben. Sie lächeln sich an. CARRIE ANN Ich möchte dich was fragen … JOANNE Nur zu. CARRIE ANN Nancy hat mir erzählt, dass Max gekündigt hat. JOANNE Stimmt. CARRIE ANN Hast du schon jemand Neues? JOANNE Nein. Es kam so plötzlich, dass wir – CARRIE ANN Die Stelle ist noch frei? JOANNE Kennst du jemand, der sich dafür interessiert? CARRIE ANN Ja. JOANNE Wen? CARRIE ANN Mich. JOANNE Ach, du willst unterrichten … CARRIE ANN Ja. JOANNE Du hasst den Lehrbetrieb. CARRIE ANN Ich weiß. JOANNE Du hast mal gesagt – CARRIE ANN Hör zu – JOANNE Du hast mal zu meinen Studenten gesagt, mit einer Wegwerfkamera in

einem leeren Raum können sie mehr lernen als in meinem Seminar. CARRIE ANN So ist es, Jo. JOANNE Na, bitte. CARRIE ANN Meinst du im Ernst, sie können aus einem Buch etwas lernen,

das sie nicht – JOANNE Hör auf. Okay? Du brauchst einfach noch mehr Zeit, um –

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CARRIE ANN Nein. Nicht noch mehr Zeit. Ich kann nicht davon lassen... In einem Seminarraum würde ich wenigstens – Ich kann ihnen etwas bieten. Das weißt du. Ich kann nicht davon lassen. Kurze Pause. Bitte …

Eine lange Pause. JOANNE Ich rede mit Gary. CARRIE ANN Danke. JOANNE Ich gehe jetzt. CARRIE ANN Okay. JOANNE Oder willst du, dass ich bleibe? Wenn du mich brauchst, bleibe – CARRIE ANN Mir geht’s gut. JOANNE Ich gehe jetzt. Joanne geht zum Ausgang. CARRIE ANN Jo … Joanne dreht sich nicht mehr um. Carrie Ann betrachtet noch einmal das Foto.

Auf der anderen Bühnenseite hat eine weitere Frau den Fehler begangen, sich neben Terry zu stellen.

AL Sie lässt die dunklen Töne der flämischen Maler des 15. Jahrhunderts wiederaufleben, um Tod und Verwesung mit einer Art sanften Ehrfurcht und Würde darzustellen. Kurze Pause. Sie sind wunderschön.

TERRY Wie Sie. AL lächelt schüchtern Danke. TERRY Ich bin Terry. AL schüttelt ihm die Hand Ich bin Al. TERRY Guter Händedruck. Kurze Pause. Al. Wie Allison? AL Nein. TERRY Alexandra? AL Nur Al. TERRY Ah-hah. Kurze Pause. Bist du lesbisch? Der bekannte Blick, als sie sich abrupt abwendet und davongeht. Ist kein Hindernis. Jeff kommt. JEFF Wie kann es sein, dass sich ein Taxifahrer im Village nicht auskennt?

Ich würde verstehen, wenn sich ein normaler Mensch verfährt, aber ein Taxifahrer? Es ist sein Job! Ich habe sechsundzwanzig Dollar für ein Taxi berappt und bin eine halbe Stunde zu Fuß gegangen.

TERRY Du kommst spät. JEFF Ja. Kurze Pause. Wie sind sie … die Fotos? TERRY Keine Ahnung. JEFF Seit wann bist du hier? TERRY Keine Ahnung. Eine Stunde. JEFF Die Frage war, wie sie sind. Taugen sie was? TERRY Und meine Antwort ist, ich habe keine Ahnung. Aber ich kann dir sagen,

was ich über die Künstlerin weiß. JEFF Das wäre? TERRY ein Blick hinter die Bühne Sie hat einen Knackarsch. Willst du

Schampus? JEFF Klar. Terry geht. Jeff dreht sich zu einem Foto um und ist wie gebannt. Er starrt es

an, geht wie benommen weiter zum nächsten. Jessie kommt und geht zu Carrie Ann. Sie ist unvorteilhaft gekleidet. JESSIE Ms Daly? CARRIE ANN dreht sich zu ihr um Hey, Jessica.

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JESSIE Jessie. CARRIE ANN Jessie. Streckt ihr die Hand hin. Carrie Ann. JESSIE Oh. Okay. Carrie Ann. Verlegenes Händeschütteln. Hi. CARRIE ANN Ich wusste nicht, ob Sie kommen. Joanne hat mir Ihre Nummer

gegeben. Ich hoffe, es war nicht – JESSIE Oh, nein. Im Gegenteil! Ich habe die Nachricht x-mal abgehört. Und

dann bin ich aus Versehen an die Löschtaste gekommen. „Fuuuck!“ Ich hab versucht, sie zu retten, aber die blöden Tasten am Telefon – Ich hatte nichts zum Anziehen. Ich komme mir albern vor. Sehe ich albern aus?

CARRIE ANN Ja. JESSIE einverstanden Okay. CARRIE ANN Und schön. JESSIE Danke. Kurze Pause. Mein Gott! Die Fotos sind phantastisch! CARRIE ANN Finden Sie? JESSIE Mit welcher Kamera? CARRIE ANN Nur meine digitale Spiegelreflex. JESSIE Die einäugige – CARRIE ANN Ja. JESSIE Klasse … Was tue ich hier? Kurze Pause. CARRIE ANN denkt darüber nach Ich weiß noch nicht. Kurze Pause. Holen Sie

sich ein Glas Champagner und sehen Sie sich um. JESSIE vertraulich Ich habe keinen Ausweis dabei. CARRIE ANN Ich glaube nicht, dass man Sie danach fragt. JESSIE Ist das Essen da drüben für uns? CARRIE ANN Ja. JESSIE Mensch, hab ich ’n Kohldampf. CARRIE ANN Dann los. Jessie geht. Carrie Ann blickt sich in der Galerie um. Bis ihr etwas ins Auge

sticht. Im Hintergrund betrachtet ein älterer Mann im Anzug ein Foto. Sie erbleicht …

Ruft schwach. Pop …? Der Mann sieht sich nicht um. Terry geht zu Jeff, der wie gebannt auf das Foto vor sich starrt. TERRY Wow. Knallhart, was? Merkt, dass Jeff versunken ist. Wie findest du

sie? Keine Antwort. Ja, ich weiß. Sie ist wie ein Maler aus dem 15. Jahrhundert mit viel Schleim im

Schlund, der Bilder der Sterblichkeit ausspuckt. Plus, sie hat einen klasse Arsch.

JEFF zeigt auf Carrie Ann Ist sie das? TERRY über ihren Arsch Wie zwei Eier im Glas. Jeff nimmt Terry die zwei Gläser Champagner ab und geht hinüber zu Carrie

Ann. Terry ruft ihm nach. Bedien dich. Jeff ist bei Carrie Ann angelangt. JEFF Warum machen Sie solche Fotos? CARRIE ANN Hi. Ich bin Carrie Ann. Ich freue mich. JEFF Entschuldigen Sie, ich – Was ist mit Ihrer Hand?

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CARRIE ANN Ich habe Pasta gemacht. JEFF Okay. CARRIE ANN Ja. JEFF Warum machen Sie so solche Fotos? CARRIE ANN Kennen wir uns? JEFF Nein. Warum machen Sie so was? CARRIE ANN Ich weiß nicht. Fotografie ist nichts, das – JEFF Sagen Sie mir nur, warum … Pause. Carrie Ann starrt den todernsten Jeff an. Das Licht wird eingezogen. Das Foto des toten Kaninchens auf der Leinwand

in der Bühnenmitte verweilt einen Moment und verblasst.

Blackout.

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Sechste Szene

Eine Straße in New York City. CARRIE ANN Das also ist Ihr Job. Sie prophezeien die Zukunft. JEFF Ich prophezeie nicht die Zukunft. CARRIE ANN Doch. Sie sind wie Nostradamus, nur ohne den Zottelbart. JEFF Ich prophezeie nicht die – Ich bin Marktforscher. Ich analysiere Trends.

Ich berate meine Kunden, wohin die Gesellschaft sich bewegt, damit sie sich auf dem Markt positionieren können.

CARRIE ANN Um noch mehr Hamburger zu verkaufen … JEFF Hamburger, Aspirin, Tennisschuhe … CARRIE ANN Tennisschuhe? Wie alt sind Sie, sechzig? Sie schreiben der

Gesellschaft vor, was sie denken soll. JEFF Tue ich nicht. CARRIE ANN Doch doch. Sie sind böse. JEFF Ich bin nicht böse. Kurze Pause. Wollen Sie, dass ich böse bin? Wenn

Sie das in Fahrt bringt, könnte ich – CARRIE ANN Sie reden Ihren – Mich in Fahrt bringt? Sie reden Ihren Kunden

ein, wie die Gesellschaft Ihrer Meinung nach ist – JEFF Basierend auf gründlichen – CARRIE ANN Basierend auf dem, was Sie für richtig halten. Sie zeigen ihnen

unsere Schwächen auf, und Ihre Kunden machen es sich zunutze, indem sie mit Werbekampagnen Ihre Ammenmärchen perpetuieren. Die Menschen glauben es und enden als Automaten in einer Welt, die Sie auf gründliche Was-Immer-Sie-sagen-wollten-Weise erschaffen haben.

Jeff reagiert nicht. Wollen Sie nichts zu Ihrer Verteidigung sagen? JEFF Nein. CARRIE ANN Warum nicht? JEFF Weil etwas dran ist. CARRIE ANN Sehen Sie, Sie sind böse. JEFF Okay. CARRIE ANN Und Sie können mit der Vorstellung leben, dass – JEFF Stop. CARRIE ANN Sie können leben mit – JEFF Stop. CARRIE ANN Moment noch. Ich bin noch nicht fertig. Ich wollte sagen – JEFF Wir haben eine Abmachung. Wenn einer von uns Stop sagt, wechseln

wir das Thema. Ich sagte: Stop. CARRIE ANN Von mir aus. JEFF Warum sind Sie noch allein? CARRIE ANN Pardon? JEFF Warum sind Sie allein? Nach allem, was ich mir aus den zweieinhalb

Stunden, die wir uns kennen, zusammenreime … sind Sie witzig, intelligent, eigenwillig und entsetzlich unabhängig. Und leicht wahnsinnig. Außerdem haben Sie ein superscharfes Kleid an.

CARRIE ANN Danke. JEFF Warum sind Sie noch allein? CARRIE ANN Weil ich witzig, eigenwillig, unabhängig –

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JEFF Okay. CARRIE ANN Die Männer von heute sind nicht gerade – JEFF Hab schon kapiert. CARRIE ANN Hey, ihr habt die Welt gemacht. Lebt damit. Kurze Pause. Stop. JEFF Los. CARRIE ANN Warum haben meine Fotos Sie so mitgenommen? JEFF Sie haben mich nicht – CARRIE ANN Doch. Es stand in Ihren Augen, als Sie zu mir kamen. Was

beunruhigt Sie? JEFF Ich weiß nicht. CARRIE ANN Klar wissen Sie es. Kurze Pause. JEFF Sie waren tot. Die Tiere waren alle tot. Und Sie haben sie irgendwie

schön aussehen lassen. Und ich – ich weiß nicht. Es hat mich erschreckt. CARRIE ANN Warum? JEFF Stop. CARRIE ANN Jeff – JEFF Stop. CARRIE ANN Okay. JEFF Vorhin, als Sie mir von Ihrem Vater erzählt haben – CARRIE ANN Stop. JEFF Ich wollte nur wissen – CARRIE ANN Wir sind da. JEFF Was? CARRIE ANN Wir sind da. Ich bin zu Hause. Hier wohne ich. JEFF Oh. Klar. Pause. CARRIE ANN Es war schön. JEFF Finde ich auch. Pause. CARRIE ANN Wollen Sie mich küssen? JEFF Ja. CARRIE ANN Wollen Sie mit raufkommen? JEFF Ja. CARRIE ANN Und mit mir schlafen? Kurze Pause. JEFF Ja. Kurze Pause. CARRIE ANN Aber Sie tun es nicht. JEFF Nein. CARRIE ANN Okay. JEFF Tut mir leid. CARRIE ANN Nicht nötig. Mir fällt ein Stein vom Herzen. JEFF Autsch. CARRIE ANN Aber Sie rufen mich an? JEFF Ja. CARRIE ANN Okay. Kurze Pause. Gute Nacht. JEFF Nacht. Jeff wendet sich zum Gehen. CARRIE ANN Hey, Nostradamus … JEFF Ja? CARRIE ANN Wie sieht unsere Zukunft aus?

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Kurze Pause. Dann die Antwort so ehrlich, wie es ihm möglich ist. JEFF Ich weiß es nicht.

Blackout.

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Siebte Szene

Eine Woche später. Geteilte Szene. Abend. Linke Bühne: eine Sportkneipe. Rechte Bühne: Carrie Anns Wohnung. Linke Bühne Jeff und Sean sitzen an einem Kneipentisch und trinken Bier. JEFF Ich habe keinen richtigen Appetit. Sicher eine Magenverstimmung. SEAN Sonst noch was? JEFF Was denn? SEAN Hast du abgenommen? JEFF Ein bisschen, nicht der Rede wert. SEAN Übelkeit? JEFF Nein. SEAN Schmerzen im oberen oder mittleren Bauchraum? JEFF Du wirst mich doch nicht an den Eiern packen und zu husten

auffordern? Dafür kenne ich ein besseres Etablissement. SEAN Sag schon. JEFF Nein. Eine kleine Magenverstimmung. SEAN Und Ikterus? Ist deine Haut irgendwo gelb? JEFF Nein. Sean, was willst du von mir? SEAN Okay, hör zu. Ich bin nicht dein Arzt. Nichts von dem, was ich dir jetzt

sage, ist – JEFF Hör auf mit dem Gelaber und sag mir – SEAN Wir haben keinen Tumor finden können. JEFF Was? SEAN Dr. Mullen und ich haben uns die Befunde der Computertomographie

und des Kernspins genau angesehen und konnten nirgends einen Tumor entdecken, kanzerös oder nicht.

JEFF Mann … SEAN Aber das heißt nicht – JEFF Was ist mit dem Schatten? SEAN Kann alles Mögliche sein. JEFF Zum Beispiel … SEAN Zum Beispiel Gallensteine, Fett- oder Cholesterinansammlungen,

Knochensplitter oder einfach Luft. Wegen des Schattens war der Pankreasschwanz schwer zu erkennen, und das liegt oft, nicht immer, aber oft an Gasüberlagerungen. Ich denke, wir haben eine gute Chance, dass es sich um eine Gastritis handelt.

JEFF Ich fasse es nicht. SEAN Hör mir zu. Wir haben es noch lange nicht hinter uns. JEFF Okay. SEAN Margaret will einen Test mit dir machen, eine ERCP. JEFF Was ist ERCP? SEAN Das willst du nicht wissen. JEFF Doch, irgendwie schon.

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SEAN Endoskopische retrograde Cholangiopankreatographie. Kurze Pause. JEFF Das hast du dir eben ausgedacht! SEAN Nein. JEFF Na gut, klang so, als hättest du es dir ausgedacht. SEAN Ja, hör zu. Dieser Test. Die ERCP ist nicht gerade ein Spaß. JEFF Was du nicht sagst. SEAN Man wird einen elastischen Schlauch in deine Speiseröhre einführen,

durch den Magen bis in den Dünndarm. Durch den kann man in dein Inneres sehen und einen Farbstoff in den Ausführungsgang des Pankreas injizieren, damit das Gebiet auf dem Röntgenbild besser erkennbar ist.

JEFF Und du sagst, es macht keinen Spaß. SEAN Vielleicht führt man auch eine dünne Nadel in den Pankreas ein und

macht eine Biopsie. Dann untersucht man diese Zellen, um sicherzugehen, dass es kein Krebs ist.

JEFF Okay. SEAN Jeff, ich sollte das nicht mit dir besprechen. JEFF Du meinst, du sollst mir nicht zu große Hoffnungen machen. SEAN Ja. Wenn du also bei Dr. Mullen bist, sag ihr nicht, dass ich – JEFF Du glaubst doch nicht, dass ich irgendwas verstanden habe, was du

gesagt hast? SEAN Ja, okay. Gut. Kurze Pause. Und jetzt lass uns von was anderem

reden. Sonst muss ich dir eine Rechnung schicken. JEFF Worüber willst du reden? SEAN Erzähl mir von der Frau. MÄNNERSTIMME off, ruft Carrie Ann … JEFF Was willst du wissen? SEAN Na, vielleicht erst mal ihren Namen? MÄNNERSTIMME off Carrie Ann … Die linke Bühnenseite wird dunkel. Rechte Bühne Das Licht wird aufgezogen über Carrie Anns Wohnung. Die Vorhänge sind zugezogen, es ist ziemlich dunkel. Theo sitzt in einem Polstersessel, eingewickelt in eine Decke. Er sieht bleich und schwach aus. THEO Carrie Ann, ich habe Hunger … CARRIE ANN aus dem Off Ich komme … THEO Bitte, ich warte schon so lange. Warum lässt du mich warten? Carrie Ann kommt mit einem Tablett aus der Küche. Sie geht zu Theo. CARRIE ANN Ich mache, so schnell ich kann. Du musst versuchen, geduldiger

– Sie stolpert und lässt das Tablett fallen. Geschirr, Besteck, Tassen

zerschmettern auf dem Boden. Mit ihnen ein Stoß Fotografien. VERDAMMT NOCHMAL! VERDAMMT NOCHMAL! Sie bückt sich, um alles aufzuheben. THEO Ich hab solchen Hunger … CARRIE ANN am Rande ihrer Kraft Dad, bitte. Ich tue, was ich kann. Du musst

versuchen, geduldiger –

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THEO zeigt auf etwas Das Foto da … CARRIE ANN Was? THEO Das Foto. Gib es mir. CARRIE ANN hebt es auf Das hier? THEO begierig Das, ja. Gib es mir. Kurze Pause. Gib es mir! CARRIE ANN Schon gut. Da hast du’s. Theo studiert das Foto. THEO Großartige Arbeit. CARRIE ANN Wirklich? THEO Diese Einstellung. Das weiche Licht. Der herrliche Ausschnitt. Und die

Tiefenschärfe. Phantastisch. Carrie Ann strahlt ihren Vater an. CARRIE ANN Ich weiß nicht, was ich sagen – THEO Das war eine Großbildkamera. CARRIE ANN Stimmt. THEO Eine Vier-mal-fünf. CARRIE ANN Stimmt. Mein Gott, ich bin so glücklich, dass du – THEO Ich weiß noch genau, wie ich sie gemacht habe. CARRIE ANN Was? THEO Ich habe wochenlang gegrübelt, wie ich sie anlege … CARRIE ANN Nein, Dad. Die ist aus mei- THEO Ich habe darüber gebrütet, ob ich - CARRIE ANN Das ist ein Foto von mir. Ich habe es gemacht, als du – THEO Studier es. Damit du was lernst. CARRIE ANN Daddy, bitte … THEO Deine Arbeiten sind zu impulsiv, zu launisch. Du hast Talent, keine

Frage, aber Disziplin musst du noch lernen. „Nichts ist ermüdender als Hast …“

CARRIE ANN Hör auf. THEO Das hat Emerson gesagt, und das solltest du – CARRIE ANN HALT! Sie reißt ihm das Foto aus der Hand. Pause. THEO Ich hab solchen Hunger … CARRIE ANN O Gott … THEO Nur ein bisschen Suppe. Irgendwas Würziges … CARRIE ANN nimmt das Tablett Ich bringe dir einen Teller. THEO Lass mich nicht allein … Sie geht. Das Licht wird eingezogen. Linke Bühne SEAN Und du bist gegangen? JEFF Ja. SEAN Einfach so? JEFF Ich wollte nichts anfangen für den Fall, dass ich – SEAN Unsinn – JEFF Es wäre nicht richtig gewesen – SEAN Obwohl sie dich raufgebeten hat. JEFF Sie hat gesagt, ihr fällt ein Stein vom Herzen.

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SEAN Natürlich hat sie gesagt, ihr fällt ein Stein vom Herzen. Was soll sie sonst sagen? Bittebitte? Hast du seitdem mit ihr gesprochen?

JEFF Jeden Tag. SEAN Und? JEFF Und was? SEAN Wirst du sie wiedersehen? JEFF Ich weiß nicht. Ich glaube schon. SEAN Du glaubst schon. Du sprichst jeden Tag mit ihr. Aber darüber nicht? JEFF Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Wir reden ununterbrochen. Sie ist nicht

– Sie hat vor kurzem ihren Vater verloren und ist noch etwas – SEAN Ängstlich. JEFF Ja. SEAN Wie du. JEFF kurze Pause Ja. SEAN Also, einer von euch muss aufhören mit der Angst. Denn abgesehen

von allem anderen will ich unbedingt wissen, was daraus wird. Ich meine, du solltest dein dummes Gesicht sehen, wenn du von ihr sprichst. Weißt du, wann ich dich zum letzten Mal mit diesem Ausdruck gesehen habe?

JEFF Wann? SEAN Noch nie. JEFF Ja, okay. SEAN Das geht jetzt seit einer Woche. Einer von euch muss aufhören mit der

Angst. Kurze Pause. Ein Entschluss. JEFF Wie spät ist es? SEAN Ich zahle.

Blackout.

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Achte Szene

Jeff kommt zum Wohnhaus von Carrie Ann. Unschlüssig steht er davor. Endlich nimmt er seinen Mut zusammen und klingelt. CARRIE ANN Gegensprechanlage Hallo? JEFF Hey. CARRIE ANN off Hey … JEFF Ich bin’s. CARRIE ANN off Ah. JEFF Jeff. CARRIE ANN off Oh! Mist. Ich wusste nicht, wer es ist. JEFF Ich weiß. CARRIE ANN off Hi. JEFF Hi. Kurze Pause. Bist du wach? CARRIE ANN off Ich glaube. JEFF Ich wollte nicht – Komme ich ungelegen? CARRIE ANN off Nein. JEFF Denn sonst könnte ich ein ander- CARRIE ANN off Nein. Ist okay. Kurze Pause. Ich wusste nicht, dass du es bist. JEFF Ich weiß. CARRIE ANN off Ja. Kurze Pause. JEFF Ähm, kann ich raufkommen? CARRIE ANN off Klar. Ja. Pause. JEFF Okay, ich habe meinen Dietrich zu Hause gelassen. Du musst wohl auf

den Summer drücken. CARRIE ANN off Okay. Kurze Pause. JEFF Hör mal, wenn ich ungelegen komme – Der Türsummer ertönt. Jeff tritt ins Haus. Das Licht auf der Straße wird

eingezogen. Gleich darauf wird das Licht über Carrie Anns Wohnzimmer aufgezogen. Jeff

betrachtet ein paar Fotos auf einem Tisch. Carrie Ann steht mit übereinandergeschlagenen Armen da und beobachtet ihn.

Die sind alle von dir? CARRIE ANN Ja. JEFF Sie sind großartig. CARRIE ANN Danke. Kurze Pause. Willst du einen Drink? JEFF Mach dir keine Um- CARRIE ANN Ich nehme mir einen. JEFF Okay. Sie geht zum Tresen. CARRIE ANN Ich habe nur Crème de Menthe. Willst du ein Crème de Menthe? JEFF Klar. CARRIE ANN schenkt ein Und, was hast du so getrieben? JEFF Seit gestern? CARRIE ANN Ja.

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JEFF Ach, ich habe den amerikanischen Konzernen geholfen, Millionen unschuldiger Frauen und Kinder auszubeuten.

CARRIE ANN Und wie läuft es? JEFF Ganz gut. Und du? Wie ist die neue Dozentenstelle? CARRIE ANN reicht ihm ein Glas Ätzend. JEFF Wirklich. CARRIE ANN Ja. JEFF Okay. CARRIE ANN Cheers. JEFF Cheers. Sie trinken. Carrie Ann kippt ihren runter. CARRIE ANN Du siehst richtig gut aus. JEFF Ja? Danke. Du auch. CARRIE ANN Ich bin im Schlafanzug. JEFF Ach so, ja. CARRIE ANN Willst du noch einen? JEFF Klar. Von dem Zeug trinkt man nicht nur einen. CARRIE ANN Ja, nicht? Er kippt seinen Drink. Sie gießt nach. JEFF Crème de Menthe … kauft man das, um – Sie küsst ihn lang und hart. Kurze Pause. CARRIE ANN Wie war die Frage? JEFF Keine Ahnung. CARRIE ANN Ah-hah … Reicht ihm den Drink. Cheers. JEFF Cheers. Sie kippen die Drinks und küssen sich wieder. CARRIE ANN Wow. JEFF Ja, okay, hör zu. Deshalb bin ich nicht hier – Ich meine, es ist mir schon

in den Sinn gekommen, aber – du musst wissen, ich hatte nicht angenommen, dass –

Sie küsst ihn wieder. Er entzieht sich ihr. Warte. Warte … CARRIE ANN Was ist denn? JEFF Ich bin nicht sicher, dass es eine gute – CARRIE ANN Himmel. Langsam komme ich mir vor wie ein Idiot! JEFF Nein … CARRIE ANN Ich könnte im Boden versinken. Ich verstehe nicht – Du bist

hergekommen. Mitten in der – Du bist zu mir gekommen. JEFF Ja. CARRIE ANN Ich verstehe nicht. JEFF Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, auf was du dich einlässt. Ich weiß

nicht, auf was du dich einlässt. Es könnte sein – Kurze Pause. Ich habe – ich hatte neulich einen bösen Schock.

CARRIE ANN Was für ein Schock? JEFF Beinahe hätte mich ein Bus erwischt. CARRIE ANN Ach wirklich? JEFF Ja. Nein. Doch, kurz vor deiner Ausstellung. Und seitdem denke ich

nach. Über das Leben. Wie ich bisher gelebt habe. CARRIE ANN Und …? JEFF Ich weiß nicht, ich saß in einem Taxi und bezahlte den Fahrer dafür,

dass er um den Block kreist. Dann wollte ich, dass er mich wieder nach Hause

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fährt. Aber plötzlich wurde mir klar, dass ich feige gelebt hatte. Egoistisch und voller Angst. Und ich dachte, wenn ich aussteige, einfach aussteige und in diese Galerie gehe … Es klingt absurd, aber ich dachte, vielleicht gibt es einen tieferen Grund, dass ich da bin. Vielleicht ist etwas da drin, etwas oder jemand, ein Zeichen vielleicht … Herrgott, ich klinge wie ein – Kurze Pause. Das ist das Gesöff.

CARRIE ANN Haut rein, was? JEFF Ja. Kurze Pause. Und dann sah ich deine Fotografien. Und sie waren,

ich kann es nicht beschreiben - wunderschön. Und der Tod schien mir nicht mehr – in diesem Augenblick hatte ich keine Angst. Ich meine, es hat mich irritiert, dass du das Sterben so, na ja, erträglich hast aussehen lassen. Aber ich hatte keine Angst. Deshalb bin ich zu dir gegangen. Bitte, glaub mir. Ich bin niemand, der – Aber ich hab’s getan. Und dann haben wir geredet, und ich war auf einmal ich selbst. Oder zumindest so, wie ich sein wollte oder hätte sein sollen. Das ist jetzt eine Woche her, wir haben jeden Tag geredet, und das Gefühl ist immer noch da. Und jetzt bin ich hier mit diesem Gefühl, und ich will es nicht – ich will es nicht vermasseln. Kurze Pause. Mache ich mich irgendwie verständlich?

CARRIE ANN Du kamst dir egoistisch vor. JEFF Ja. CARRIE ANN Du hattest Angst. JEFF Ja. CARRIE ANN Willkommen in meiner Welt. Pause. Sie tritt näher zu ihm. JEFF Ich sollte jetzt gehen. CARRIE ANN Okay. Sie nimmt ihm das Glas ab. JEFF Ich rufe dich morgen an? CARRIE ANN Ja. JEFF Vielleicht gehen wir essen oder so. CARRIE ANN Klingt super. Sie geht zu ihm, nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm durchs Zimmer. JEFF Ich gehe nicht? CARRIE ANN Nicht ganz, nein. JEFF Okay. Sie führt ihn ins Schlafzimmer.

Blackout.

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Neunte Szene

Einige Tage später. Im Dunkel ein Film auf weißer Leinwand in der Bühnenmitte. Düstere Musik setzt ein. AUFBLENDE EIN TITEL AUF SCHWARZEM SCHIRM. TITEL: „Im schönsten Moment deines Lebens …“ Der Titel verblasst. Ein neuer Titel erscheint. TITEL: „Gibst du ein Versprechen …“ Das Foto eines Mannes und einer Frau am Altar, die das Ehegelübde sprechen. Freude. Das Foto verblasst. TITEL: „Bewahrst du eine Erinnerung …“ Das Foto eines Paares im Krankenhauszimmer mit seinem Neugeborenen. Das Foto verblasst. TITEL: „Greifst du nach den Sternen …“ Das Foto des Jungen mit einem Astronautenhelm aus Alufolie. Er hält eine amerikanische Flagge vor eine Kühlbox mit der Aufschrift „Raumschiff“ … Das Foto verblasst. TITEL: „Machst du Ernst …“ Das Foto eines Vaters, der mit einem Fußball läuft, während das Kind und die Mutter versuchen, ihm ein Bein zu stellen. Alle lachen. Das Foto verblasst. TITEL „Genießt du einen Sieg …“ Das Foto der stolzen Eltern, die ihr Kind einrahmen, das eine Siegestrophäe hochhält. Das Foto verblasst. TITEL „Akzeptierst du Niederlagen …“ Das Foto des Vaters, der die Hand eines traurigen Kindes in Baseballkluft hält. Im Hintergrund feiert das gegnerische Team. Das Foto verblasst. TITEL „In der schönsten Zeit deines Lebens …“ Der Titel verblasst. Ein weiterer erscheint.

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TITEL „Lebst du …“ Ein Foto der Familie an einem ruhigen Strand bei Sonnenuntergang. Sie picknicken und haben mächtig Spaß. Zwischen ihnen, auf der Decke, ein Behälter mit Southern Fried Chicken. Das Foto verblasst. TITEL „Southern Fried Chicken …“ Der Titel verblasst. Der Film endet, das Licht geht an und zeigt Terry, der mit seiner Assistentin Nina am Tisch sitzt. TERRY Genial, der Kerl. Ich bin gerührt. Bist du gerührt? NINA Ich nicht – TERRY Ich bin gerührt. Ich sonne mich in der Wärme der – NINA In der Wärme der – TERRY Ja. Der Mitmenschlichkeit. Der Familie. Der Scheißbrathühner. Hol mir

Adam an die Strippe. Ich bin, ja, ich bin gereinigt. Von irgendwas, von der Vorstellung –

NINA wählt … der Vorstellung … TERRY Des Lebens und der Familie. Denn darum geht es, oder? Die Familie ist

es, die es einem ermöglicht zu leben. Das Leben zu genießen. NINA in den Hörer Terry ruft an. TERRY Und wir sind alle eine Familie. Verstehst du, was ich sagen will? NINA Ja. TERRY Sogar hier. In diesem Büro. Wir sind eine Familie. Du, Nina, bist meine

Familie. Du bist meine, keine Ahnung, meine scharfe Nichte. NINA Vielen Dank. TERRY Nicht nur du. Alle in diesem Büro sind meine Familie. NINA Adam für dich. TERRY greift zum Hörer Adam? Kurze Pause. Ich weiß, es hat dich in letzter Zeit

gebeutelt. Deine Frau ist eine geldgeile Schlampe. Ich wollte dir nur sagen, dass du wie Familie für mich bist. Und in der Familie ist man ehrlich zueinander, stimmt’s? Ich will ehrlich zu dir sein. Okay? Kurze Pause. Du bist gefeuert, du unnützes Stück Scheiße. Legt auf. Zu Nina. Ich habe Hunger. Hast du Hunger?

Blackout.

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Zehnte Szene

Carrie Anns Schlafzimmer. Carrie Ann und Jeff sitzen auf dem Bett, zwischen sich einen großen Becher Eiskrem. CARRIE ANN So ’ne Scheiße … JEFF Ja. CARRIE ANN So bist du aufgewachsen? JEFF So ungefähr. CARRIE ANN Und du wunderst dich, dass du Angst hast? JEFF Wir können das Thema lassen, wenn du willst. CARRIE ANN Es tut mir leid. Es ist nur – Das ist weniger eine Kindheit als ein

Roman von John Steinbeck. JEFF Gibst du mir was von dem Eis? CARRIE ANN Scheiße, nimm alles. Himmel … JEFF Manche Leute sind schlimmer dran. CARRIE ANN Nicht sehr. Küsst ihn auf die Wange. JEFF Können wir das Thema wechseln? CARRIE ANN Worüber willst du reden? JEFF Ahm, mal sehen … Über dich? CARRIE ANN Na toll. JEFF Ich werde gnädig mit dir sein. CARRIE ANN Schön. JEFF Wie machst du das? CARRIE ANN Was? JEFF Dich entscheiden, was du fotografierst. CARRIE ANN Ich weiß nicht. Mir sticht was ins Auge, und dann kommt mir eine

Idee. JEFF Das ist alles? CARRIE ANN Ja. JEFF Und du hast gesagt, du kannst nicht unterrichten. CARRIE ANN nimmt Jeff den Eisbecher ab Los. Steh auf. JEFF Was? CARRIE ANN Steh auf. Er tut es. Geh ans Fenster. JEFF Okay … Er geht zum Fenster. Und? CARRIE ANN tritt zu ihm Sieh hinaus. Kurze Pause. Was würdest du fotografieren? JEFF Wieso? CARRIE ANN Was sticht dir ins Auge? Jeff starrt einen Moment hinaus. JEFF Das Paar gegenüber. Die treiben es. CARRIE ANN Spanner. JEFF Klappe. CARRIE ANN Okay. Warum das Paar? JEFF Ihre Gesichter sind kaum erkennbar. Und ihre Silhouetten lassen sie

irgendwie heimlich erscheinen. Als hätten sie sich einen Moment der Zeit gestohlen.

CARRIE ANN Dann ist das dein Thema.