Upload
others
View
2
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Inge BecherStadt Georgsmarienhütte
STOLPERSTEINE
Impressum
Beiträge zur Geschichte Georgsmarienhüttes und seiner Stadtteile
Band 7
Herausgeber: Stadt Georgsmarienhütte
Text: Inge Becher, Stadt Georgsmarienhütte
Bildnachweis: Titel foto: Karin RichertHintergrundbild: Adressbuch der Gemeinde Georgsmarienhütte 1929/30Seite 8: Inge BecherSeite 9: Archiv Werner BeermannSeite 11: PrivatSeite 12: Christian BellingSeite 13: PrivatSeite 14: Archiv Werner BeermannSeite 18: Christian BellingSeite 21: Hubert CalmerSeite 23: Archiv der Stadt Georgsmarienhütte
Layout: Rothe Grafik, Georgsmarienhütte
Druck: Günter Druck, Georgsmarienhütte
Broschüre anlässlich der Stolperstein-Verlegung durch Gunter Demnig im Februar 2014
© Eigenverlag der Stadt Georgsmarienhütte 2014
Alle Rechte vorbehalten
Dem Vater des behinderten
Georgsmarienhütter Jungen gewidmet,
der dem Druck
der Nationalsozialisten standhielt
und sich weigerte,
seinen Sohn auszuliefern.
4
Vorwort
Dieses Zitat von Gunter Demnig zeigt auf
eine eindrucksvolle und zugleich auffor-
dernde Art und Weise, welchen Antrieb
und welche Intention der Künstler bei der
Verlegung der von ihm geschaffenen »Stol-
persteine« hat. Und es beinhaltet auch
einen Auftrag an uns alle, den unsäglich
vielen Opfern des barbarischen NS-Regimes
ein Gesicht zu geben und die Erinnerung
stets aufrecht zu erhalten.
Menschen aus unserer unmittelbaren Um-
gebung wurden abgeholt, verhaftet oder
gezwungen, Züge zu besteigen. Ihr Leben
endete gewaltsam mit dem Tod: Sie wur-
den erschossen, vergast, kamen durch töd-
liche Medikamente um oder starben an
den absichtlich herbeigeführten menschun-
würdigen Bedingungen eines Konzentrati-
onslagers. Die inzwischen mehr als 43.500
Stolpersteine geben in etwa tausend Orten
verteilt in ganz Europa den Opfern einen
Namen und ihre Würde zurück. Ich bin
dankbar, dass der Rat der Stadt Georgsma-
rienhütte die Aufarbeitung der NS-Zeit in
unserer Stadt aktiv aufgreift und ihr einen
hohen Stellenwert beimisst. Mein Dank gilt
auch Inge Becher, die mit sensibler Akribie
dafür gesorgt hat, dass diese »Steine des
Anstoßes« sichtbar werden.
Wir sind alle gefordert, die jetzt eingesetz-
ten Stolpersteine bewusst wahrzunehmen
und unseren Kindern diese Mahnmale zu
erklären.
Stadt Georgsmarienhütte
Ansgar Pohlmann, Bürgermeister
»Wer den Namen des Opfers lesen will, muss sich herunterbeugen. In diesem Moment verbeugt er sich vor ihm.«
5
Einleitung
Die sechs Menschen, deren Lebensläufe
auf den folgenden Seiten geschildert wer-
den, haben eins gemeinsam: sie waren
Bürgerinnen oder Bürger der Altgemein-
den der Stadt Georgsmarienhütte. Für fünf
endete das Leben gewaltsam durch die Na-
tionalsozialisten, ein sechster Mensch, ein
kleiner Junge, wurde gerettet.
Wer sich auf die Spurensuche der Opfer
begibt, der taucht tief ein in die Lebens-
welt der Menschen, deren Leben sich an
den gleichen Orten abgespielt hat wie
unser heutiges. Hier sind sie zur Schule, zur
Arbeit, zur Kirche oder zum Einkaufen ge-
gangen. Sie hatten Nachbarn, Freunde und
Angehörige und auf einmal waren sie nicht
mehr da. Über ihr Schicksal wurde nicht
gesprochen, auch nach dem Krieg nicht.
Sie gerieten in Vergessenheit, für ihr Leben
hat sich bald niemand mehr interessiert.
Doch mit dem Projekt »Stolpersteine« des
Kölner Künstlers Gunter Demnig ändert
sich das. Es zwingt uns, genau hinzusehen.
Wer ist damals auf welche Weise ver-
schwunden? Die Suche nach den Opfern
ist fast 70 Jahre nach Kriegsende sehr auf-
wändig. Ohne Hinweise aus der Bevölke-
rung wären auch diese sechs Menschen
nicht ausfindig gemacht worden. Es geht
jedoch um mehr als nur ein paar Eckdaten
und um die Bestätigung der Gedenkstät-
ten. Es geht darum, ein Menschenleben in
all seinen Facetten wieder sichtbar werden
zu lassen. Nur so kann deutlich werden,
was es bedeutet, wenn Menschenrechte
vom Staat mit Füßen getreten werden.
Ich wünsche mir, dass sich viele Menschen
mit dem Projekt »Stolpersteine« beschäf-
tigen. Und dass sie diese Auseinanderset-
zung zum Anlass nehmen, rechtsradikalen
Tendenzen in unserer Gesellschaft wirksam
entgegenzutreten.
Inge Becher im Januar 2014
6
Sich unerlaubt von der Truppe zu entfer-
nen, ist ein Vergehen, das zu allen Zeiten
streng bestraft wurde. Wer sich von der
Truppe entfernt oder versucht, sich ihr
dauerhaft zu entziehen, verringert die
Schlagkraft der Truppe.
Dennoch kommt Fahnenflucht beim Mili-
tär häufig vor.
Während der Nazi-Zeit wurde die Strafan-
drohung verschärft. In »Mein Kampf«
schreibt Adolf Hitler: »Der Soldat kann
sterben, der Deserteur muss sterben.«
Noch vor Kriegsbeginn ergeht eine Kriegs-
sonderstrafrechtsverordnung, nach der
Fahnenflucht mit Todesstrafe oder lebens-
langem Zuchthaus bestraft wird. Zuständig
sind die Militärgerichte. Zu Beginn des
Krieges wird häufig die Todesstrafe ver-
hängt, später werden die Deserteure auch
in Strafgefangenenlager oder KZs gebracht
oder aber begnadigt und sogenannt »Be-
währungseinheiten« zugeteilt, bei der sie
besonders gefahrvolle Einsätze erbringen
mussten. Albert Baller desertiert zu Beginn
des Krieges.
Er wird am 16. September 1909 in Malber-
gen geboren. Seinen Eltern, Eberhard Hein-
rich Baller und seine Frau Maria Baller, ge-
borene Oberholthaus, gehört die Gastwirt-
schaft »Zur Düte« an der Malberger Straße.
Albert Baller ist das achte von insgesamt 13
Kindern. Als der Vater 1919 stirbt, heiratet
seine Mutter 1920 den Großhändler Her-
mann Kellersmann aus Osnabrück.
»Verurteilt zum Tod und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit«
7
Die Gastwirtschaft ist der Mittelpunkt der
bis 1937 selbstständigen kleinen Ge-
meinde Malbergen. Dort treffen sich Jung
und Alt zum Essen, Trinken und Reden. Die
Ballers nehmen kein Blatt vor den Mund.
Johannes Baller, der neun Jahre ältere Bru-
der Alberts, wird 1939 wegen »Vergehen
gegen das Heimtückegesetz« zu einer Ge-
fängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Er
hat in der Wirtschaft gesagt: »Goebbels ist
ein Scheißkerl und die deutsche Regierung
ist Scheiße.«1 Was mit Johannes Baller wei-
ter geschehen ist, wissen wir nicht. Er
wolle zu den »Roten« nach Russland oder
Spanien. Kein Archiv konnte über sein
Schicksal Auskunft geben.
Albert Baller hat den Beruf des Handels -
vertreters gelernt. Möglicherweise ist er in
der Firma seiner Stieffamilie Kellersmann in
Osnabrück tätig. Die besitzt eine Kolonial-
waren-Großhandlung in der Johannisstraße.
Als Albert Baller 30 Jahre alt ist, wird er
zum Kriegsdienst eingezogen. Wann er
genau seine Erkennungsmarke erhalten
hat, ist nicht verzeichnet. Ab dem 9. März
1940 ist er der Kraftfahr-Ersatz-Kompanie
68 zugeteilt, wenig später der 10. Großen
Kraftwagen-Kolonne 83.2
Diese Einheit gehört zur 3. Panzerdivision,
die 1940 am »Westfeldzug« beteiligt ist.
Am 10. Mai 1940 marschiert die Wehr-
macht in Belgien ein. Es kommt zu ersten
Kampfhandlungen, zu ersten Toten auf
beiden Seiten. Albert Baller begeht Fah-
nenflucht. Wie, das wissen wir nicht. Auch
Albert Baller
1 StaOS Rep 439 Gestapokartei, Eintrag vom 24.11.1938.2 Auskunft der Deutschen Dienststelle Berlin, Schreiben vom 5.7.2013.
8
wann er aufgegriffen wird, ist unbekannt.
Am 17. Mai 1940 wird er vor das Gericht
der 3. Panzerdivision gestellt und zum Ver-
lust der bürgerlichen Ehrenrechte und
Wehrunwürdigkeit auf Lebenszeit und
zum Tode verurteilt. Kein Vorgang wird an-
gelegt. Weder werden Zeugen-
aussagen noch der Prozess der
Urteilsfindung festgehalten.3
Einen Tag später, am 18. Mai
1940, wird das Urteil in Nivelles
in Belgien vollstreckt. Albert
Baller hat nicht einmal Gele-
genheit, sich brieflich von sei-
ner Familie zu verabschieden.
Zuhause in Malbergen sorgt
Bürgermeister Schröder dafür, dass die
Sache nicht publik gemacht wird. In der
Gemeindeverwaltung wird sein Name auf
die Liste der Gefallenen gesetzt. In der Ge-
fallenenkartei fehlen jedoch Bild und Be-
nachrichtigung. Wir wissen nicht, wie er
3 Bundesarchiv – Militärarchiv Freiburg RW 60/183 Fol. 44.
Auszug aus der Gefallenen-Liste des 2. Weltkriegs der Gemeinde Georgsmarienhütte.
9
aussah. Auch kann sich niemand an seine
Person erinnern, denn nach seinem Tod
wurde nur hinter vorgehaltener Hand von
ihm gesprochen, bis er schließlich in Ver-
gessenheit geraten ist.
Erst bei der Durchsicht des standesamt -
lichen Sterberegisters sind wir auf Albert
Baller aufmerksam geworden, dort stand
die wahre Todesursache verzeichnet: Er-
schossen.4 Eine Anfrage beim
Militärarchiv in Freiburg brachte
Gewissheit.
Im Jahr 2002 hebt der Deut-
sche Bundestag nach langer
Diskussion alle Urteile gegen
die Deserteure des 2. Welt-
kriegs auf. Der 2. Weltkrieg war ein verbre-
cherischer Angriffskrieg, dem zu entziehen
kein Unrecht darstellt. Alle Militärgerichts-
urteile sind daher pauschal aufgehoben.
Wir verlegen für Albert Baller einen Stol-
perstein vor der Malberger Straße 27.
Die Patenschaft hat übernommen:
Bauunternehmen Baller.
4 StaOs Rep 492, Nr. 2150. Gaststätte Baller in Malbergen. Elternhaus von Albert Baller.
Albert Baller
10
Ignatz Wojewoda ist beliebt. Alle mögen
ihn. Er ist hilfsbereit und gefällig. Nach
dem 1. Weltkrieg kommt er aus Okalew in
Polen, wo er am 22. August 1894 geboren
wurde, ins Osnabrücker Land. Obwohl er
gelernter Schuhmacher ist, arbeitet er als
Schmelzer auf der Hütte. In Hasbergen
mietet er sich eine Wohnung. Das Leben
gefällt ihm hier, er will dauerhaft bleiben.
Sein Deutsch ist fast akzentfrei. Am 24.
Juni 1924 heiratet er die sechs Jahre jün-
gere Sophie Kleine-Helmkamp. Bei der
Eheschließung erlaubt sich die Behörde al-
lerdings einen üblen Scherz. Sein Name
wird verballhornt: Aus »Wojewoda« wird
»Wojewodka«.
Ignatz Wojewoda zieht mit seiner Frau
nach Holzhausen in das damalige Postge-
bäude. In Holzhausen wohnen viele Ar-
beitskollegen. Wenn er zur Frühschicht
muss, holt ihn einer seiner Kollegen mit
dem Fahrrad ab. Zusammen fahren sie
zum Werk.
Andere fahren mit dem Zug. Vor allem die
Kollegen aus Hasbergen, für die die An-
fahrt zum Werk noch ein Stück weiter ist,
als für die Holzhauser.
An einem Tag im Jahr 1939, kurz nach
dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am
1. September 1939, sitzen vier Männer auf
dem Weg zur Nachtschicht im Abteil und
unterhalten sich. Sie reden über eine Äu-
ßerung von Ignatz Wojewoda. Sie diskutie-
ren darüber, denken sich nichts dabei. In
dem Ausspruch des Ignatz Wojewoda
kann niemand eine strafbare Handlung er-
kennen.
In der gleichen Nacht werden die vier Män-
ner während der Arbeit von der Gestapo
verhört. Was wissen Sie über die Äußerun-
gen des Wojewoda? Was wissen Sie sonst
über den Mann?
Am 19. September 1939 will sein Freund
Ignatz Wojewoda zur Arbeit abholen. Wie
»Abgeholt«
11
immer wollen sie gemeinsam mit dem Rad
zur Arbeit. Aber er ist nicht da. »Abge-
holt«, sagt seine Frau Sophie.
Er wird nie wieder gesehen.
Die Gestapo behält ihn einen Monat lang in
»Schutzhaft«. Mit der »Verordnung zum
Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar
1933 wird per Erlass vom 25. Januar 1938
die Schutzhaft als eine Zwangsmaßnahme
der Gestapo gegen Personen bezeichnet,
die »durch ihr Verhalten den Be stand und
die Sicherheit des Volkes und Staates ge-
fährdeten«. Gegen die Schutzhaft können
keine Rechtsmittel ergriffen werden, sie
war zeitlich unbegrenzt.
Ignatz Wojewoda wird am 28. Oktober
1939 nach Oranienburg in das KZ Sach-
senhausen überstellt. Er erhält die Häft-
lingsnummer Sch 3549. Vier Monate spä-
ter am 18. Februar 1940
stirbt er unter den un-
menschlichen Lagerbedin-
gungen. Auf seinem Toten-
schein steht: Zellgewebs-
entzündung am Arm.1
Was hatte der gebürtige
Pole gesagt, dass er mit sei-
nem Leben dafür bezahlen
musste?
»Wer an der Grenze wohnt, weiß, daß dort
immer etwas passiert, doch beruht es meist
immer auf Gegenseitigkeit.«2
Dieser Satz war sein ganzes »Verbrechen«.
Wir verlegen für Ignatz Wojewoda einen
Stolperstein vor der Sutthauser Str. 56.
Die Patenschaft hat übernommen:
Die Georgsmarienhütte GmbH.
Ignatz Wojewoda
1 Korrespondenzakte Internationaler Suchdienst Arolsen, TD 441957; Veränderungsmeldung KZ Sachsenhausen;Standesamt Oranienburg, Sterbe-Zweitbuch Band II 01.02.40-29.02.40.
2 Akten aus Privathand liegen der Verfasserin als Kopie vor.
Das Ehepaar Wojewoda.
12
»Wohnt bei den Eltern,« schreibt der Stan-
desbeamte als er die Geburt der Katharina
Westenberg1 am 16. Oktober 1887 ins Ge-
burtsregister einträgt. Er kann nicht ahnen,
dass wir mehr als 120 Jahre später gerne
etwas genauer gewusst hätten, wo das ist:
»bei den Eltern«.
Denn dort lebt sie als Haustochter bis zu
ihrem 30. Lebensjahr. Sie führt ihrem Vater
den Haushalt. Als dieser am 24. April 1917
stirbt, kann sie in ihrem Elternhaus nicht
bleiben. Sie ist krank und kann ohne Be-
treuung ihren Alltag nicht bewältigen. Ein
halbes Jahr später, am 11. Oktober 1917
kommt sie zum ersten Mal in die Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück. Aus den
wenigen Eintragungen der Krankenakte
geht hervor, dass sie mit der Einweisung
nicht einverstanden, aber eine Entlassung
in ihrem Zustand nicht möglich ist. Aber es
geht ihr nicht durchgehend schlecht. An
guten Tagen arbeitet sie in der Schälküche,
ist fleißig.2
Sie bekommt weder schmerzlindernde Me-
dikamente noch Beruhigungsmittel, die
einzigen Möglichkeiten, die Auswirkungen
psychischer Krankheiten zu lindern. Sons-
tige therapeutische Anwendungen sind
nicht vermerkt. Sie war ihrer Krankheit,
wie alle anderen 650 Kranken in Osna-
brück auch, vollkommen ausgeliefert.
Das Paket aus Hadamar
1 Der erste Hinweis auf das Schicksal der Katharina Westenberg war die Liste der verlegten Kranken zur Landesheil-und Pflegeanstalt Eichberg. Berger, Eva, Die Würde des Menschen ist unantastbar, 200 Jahre Psychiatrie geschichteim ehemaligen Königreich Hannover am Beispiel des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Osnabrück, Osna-brück 1999, S. 278.
2 Alle Informationen über Katharina Westenberg entnommen der Krankenakte im Bundesarchiv Berlin R 179 Nr. 19551.
13
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts genießen
»Geisteskranke« in der Gesellschaft kein
hohes Ansehen. Es scheint schwer zu be-
greifen, dass jemand, der gesunde Arme
und Beine hat, trotzdem nicht arbeitsfähig
ist. Aber mit dem Beginn der Nazizeit gel-
ten sie als »Ballastexistenzen«. Mit einem
von Adolf Hitler unterzeichneten Erlass
vom 1. September 1939 wird bestimmt,
dass »unheilbar Kranken […] der Gnaden-
tod gewährt werden kann.« Das klingt so
menschenfreundlich, tatsächlich setzt der
Erlass eine Vernichtungsmaschinerie, die
sogenannte T4-Aktion, in Gang, der etwa
71000 Menschen zum Opfer fielen. Katha -
rina Westenberg gehört dazu.
Die Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück wird
im Juni 1940 aufgefordert, Meldebögen
über ihre Patienten auszufüllen. Es werden
nicht nur die Krankheiten abgefragt, son-
dern auch, ob die Patienten bereits länger
als fünf Jahre in der Anstalt sind. Die ver-
antwortlichen Osnabrücker Ärzte ver-
schleppen Abgabetermine, melden so
wenig Patienten wie möglich, stellen
Kranke vom Trans-
port zurück. 40
Männer und 25
Frauen entgehen
so dem Transport.
Aber für 179 Men-
schen gibt es keine
Rettung. Sie wer-
Katharina Westenberg
Der Postbote S. lieferte das Paket aus Hadamar aus.
14
den am 22. und 24. April 1941 mit dem
Zug nach Eichberg ins Hessi sche gebracht.
Am 24. April steigt auch Katharina Wes-
tenberg in den Zug am Hauptbahnhof. In
der sogenannten Zwischenanstalt Eichberg
bleibt sie ca. anderthalb
Monate, bis sie am 10.
Juni 1941 mit vielen an-
deren von einem grauen
Bus mit zugehängten
Fenstern abgeholt wird.
Nach ihrer Ankunft in Ha-
damar wird sie in einen
Warteraum geführt, wo
sie sich ausziehen muss.
Ein Arzt begutachtet sie
noch einmal kurz, dann
wird sie fotografiert und
zusammen mit den anderen in einen »Ba-
deraum« geführt. Pfleger schließen die
Türen und Gas wird eingelassen, nach drei
Minuten ist Katharina Westenberg tot. Der
Raum wird gelüftet, die Leichen zu den
Oeseder Straße um 1935.
15
Öfen gebracht und verbrannt. Die Asche
wird in Urnen gefüllt und an die Familien
geschickt. Mit einem Beileidsschreiben und
einer fiktiven Todesursache.3
In Oesede hilft die 15-jährige Martha ihrer
Mutter in der Küche. Gerade ist der Vater
nach Hause gekommen. Er ist Postbote,
stellt Feldpostbriefe zu und bringt die To-
desnachrichten. Er kennt in Oesede jedes
Haus und jede Familie. Wie an jedem Tag
setzen sich die Eltern nach seinem Dienst
an den Küchentisch und Marthas Vater er-
zählt, was er an diesem Tag alles erlebt hat.
Martha soll das alles gar nicht hören. Von
einem Paket aus Hadamar ist die Rede. Sie
weiß nicht, an wen es adressiert ist und
schon gar nicht, was es beinhaltet.
Erst 72 Jahre später kann sie sich einen
Reim machen auf die Unterhaltung der El-
tern. In dem Paket war die Asche der Ka-
tharina Westenberg.
Wir wissen nicht, wo Katharina Westen-
berg in Oesede gewohnt hat. Ihre letzte
Adresse war nicht zu ermitteln. Deshalb
verlegen wir ihr einen Stolperstein auf dem
Rathausplatz.
Die Patenschaft hat übernommen:
Citygemeinschaft Oesede.
Katharina Westenberg
3 Winter, Bettina, Hadamar als T4-Anstalt 1941-1945. Aus: Euthanasie in Hadamar. Die nationalistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Begleitband zur Ausstellung, o. Jahresangabe, S. 91-113.
16
Helene Plock weint als sie am 24. April
1941 mit einem Sammeltransport in der
Landesanstalt Eichberg ankommt. So steht
es in der Krankenakte. »Pat. sitzt sehr ge-
spannt, dann plötzlich in Tränen ausbre-
chend da.«2
Helene Plock hat schon mal bessere Tage
gesehen. Ihr Vater war Lorenz Wilhelm
Heimbeck, ein wohlhabender Silberwaren-
fabrikant in Osnabrück. In gesicherten Ver-
hältnissen wird sie groß.3
Sie heiratet einen Niederländer und be-
kommt einen Sohn (Jan) und eine Tochter
(Hella). Als ihr Mann stirbt, heiratet sie er-
neut: den ebenfalls verwitweten und 18
Jahre älteren Markscheider des Georgsma-
rienhütter Werkes Ludwig Plock. Der
Markscheider ist für die Vermessungen der
Immobilien in Werksbesitz zuständig. Da
die Georgsmarienhütte über umfangrei-
chen Grundbesitz verfügt, hat Plock ein
wichtiges und gut bezahltes Amt.
Er bewohnt eines der größeren Häuser in
Georgsmarienhütte. Ohne Dienstmädchen
ist die Arbeit in dem geräumigen Gebäude
nicht zu schaffen. Aber die Mägde im
Hause der Plocks wechseln häufig. Ludwig
Plock verkauft es 1922 an den jungen
Zahnarzt Flick. Die Eheleute ziehen an die
Malberger Straße.4
1929 stirbt Ludwig Plock im gesegneten
Alter von 81 Jahren, seine Frau ist 63 Jahre
»Besuchssperre, und können Ausnahmen nicht gemacht werden.«1
1 Schreiben der Landesheil- und Pflegeanstalt Eichberg an Frau Cläre T. am 15. Mai 1941. Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt 430/1, Nr. 10867 a.
2 A. a. O.3 Scheffler, Wolfgang, Goldschmiede Niedersachsens: Daten – Werke – Zeichen, Berlin 1965, S. 1022.4 Meldebuch der Gemeinde Georgsmarienhütte, Stadtarchiv Georgsmarienhütte.
17
alt und kommt alleine nicht zurecht. Drei
Wochen später wird sie in die Landesheil-
und Pflegeanstalt nach Osnabrück ge-
bracht. Dort ist sie nicht zum ersten Mal.
1911, 1916 und schließlich 1929 wird sie
eingewiesen. Ein Vormund wird bestellt.
Aber Helene Plock ist selbstbewusst und
will ihren Vormund, der sich um ihre An-
gelegenheiten kümmert, selbst bestim-
men. Sowohl ihre Stieftochter Cläre T. als
auch ihre leibliche Tochter Hella L. wohnen
nicht in der Nähe, aber sie schicken Briefe
und Pakete, erkundigen
sich regelmäßig beim Direk-
tor der Anstalt, Dr. Kracke, nach dem Be-
finden der Mutter. Weihnachtliche Wün-
sche nach Kleidung, Schuhen, Seife oder
Parfum werden erfüllt.5
Immer wieder holt Helene die
Krankheit ein, sie braucht Medika-
mente und Pflege, immer wieder
erholt sie sich. Zwölf Jahre ist sie
zuletzt in der Osnabrücker Anstalt.
Helene Plock
5 Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt. 430/1, Nr. 10867 a.
Einladung zum Kaffee auf der Visitenkarte Helene Plocks.
Rückseite der Visitenkarte Helene Plocks.
18
An allem sehr interessiert, macht Näharbei-
ten und »keinerlei Schwierigkeiten,« ver-
merkt die Krankenakte am 15. April 1941.
Trotzdem wird sie am 24. April 1941 in die
Landesanstalt Eichberg verlegt. Die verleg-
ten Patienten sind für die Gaskammern in
Hadamar bestimmt. Doch dort kommt
man mit den Tötungen nicht so schnell
nach, die Kranken werden in den »Zwi-
schenanstalten« vorübergehend »aufbe-
wahrt«.
Auf dem Eichberg erwartet die
Patienten ein Elend unvorstellba-
ren Ausmaßes. Es herrscht drang-
volle Enge, geschlafen wird auf
Strohsäcken, Nahrungsentzug
und unhaltbare hygienische Zu-
stände sollen das Sterben be-
schleunigen, Medikamente werden nicht
verabreicht, bei »Fehlverhalten« oder »Un-
ruhe« gibt es drakonische Strafen. Gezielte
Tötungen mit Schlaf- oder Betäubungsmit-
teln durch Ärzte sind an der Tagesordnung.6
Helene Plock weint, als sie zum Eichberg
kommt. Sie hat gedacht, ihre Tochter hier
anzutreffen, schreibt der aktenführende
Arzt. Ihre Stieftochter Cläre T. wohnt in
Darmstadt, nur 60 km vom Eichberg ent-
6 Sander, Peter, Der Eichberg im Nationalsozialismus, Rolle einer Landesheilanstalt zwischen Psychiatrie, Gesund-heitsverwaltung und Rassenpolitig, aus: Wissen und Irren, Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg, hrg. v Christina Vanja, Steffen Haas, Gabriele Deutschle, Wolfgang Eirund, Peter Sandner, Kassel 1999, S. 164-220 und Klüppel, Manfred, »Euthanasie« und Lebensvernichtung am Beispiel der Landesheil -anstalten Haina und Merxhausen. Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945, Kassel 1985, S. 41ff.
Auszug aus dem Adressbuch von 1929/30 für Osnabrück und das Osnabrücker Land.
19
fernt. Am 13. Mai 1941 erkundigt sich
Cläre T., die vom Vormund erfahren hat,
dass ihre Mutter nach der Landesheilan-
stalt Eichberg verlegt worden ist, »ob es
möglich ist, Frau Plock dort mal zu besu-
chen, ob sie ruhig ist und ob ihr mein
Besuch Freude machen würde.«7
Ihr schon, aber nicht der Anstalt. Die Tö-
tungen auf dem Eichberg sind streng
geheim. Bewusst werden die Patienten des-
wegen in weit vom ursprünglichen Wohn-
ort gelegene Anstalten gebracht. Angehö-
rige in der Nähe sind besonders gefährlich,
sie könnten unangemeldet vor der Tür ste-
hen, sich in kurzer Zeit einen Einblick in die
katastrophalen Verhältnisse verschaffen
und für Unruhe sorgen. Besucher sind
daher grundsätzlich nicht erwünscht. »Be-
suchssperre, und Ausnahmen können nicht
gemacht werden.« wird Cläre T. mitgeteilt.8
Ab dem 15. Mai erhält Helene Plock in der
Anstalt, in der die für die Gaskammern in
Hadamar vorgesehenen Menschen keiner-
lei Medikamente mehr bekommen, täglich
Schlafmittel.
Am 22. Mai 1941 ist sie tot, ohne ihre
Tochter noch einmal gesehen zu haben.9
Wir verlegen für Helene Plock geb. Heim-
beck, verwitwete Ruys, einen Stolperstein
vor der Karlstraße 14, wo sie mit ihrem
zweiten Mann viele Jahre gelebt hat.
Die Patenschaft hat übernommen:
Zahnarztpraxis Ümran Kantar.
Helene Plock
7 Schreiben der Cläre T. an die Landesheil- und Pflegeanstalt Eichberg am 13. Mai 1941. Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt. 430/ 1, Nr. 10867 a.
8 Siehe Fußnote 1.9 A. a. O.
20
Die Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg
ist ideal für die Einrichtung einer »Kinder-
fachabteilung«. Sie ist im Pavillonsystem
gebaut und es ist einfach, einen Kinderbe-
reich von der Anstalt für Erwachsene abzu-
trennen. Der Anstaltsleiter stimmt nicht
gleich zu, als der Vorschlag an ihn heran-
getragen wird, eine Abteilung für schwer-
kranke Kinder einzurichten. Erst als er si-
cher ist, dass »er sich nicht strafbar mache,
wenn er in seiner Anstalt von der Ermäch-
tigung des Erlasses vom 1. September 1939
Gebrauch« macht, ist er einverstanden.1
Haus 25 und später Haus 23 werden mit
gebrauchtem Kinderspielzeug, Kleidung
und Kinderbetten ausgestattet. Die Sachen
kommen aus einer Anstalt, deren Kinder-
abteilung aufgelöst wird und deren Pfleg-
linge nach Lüneburg verlegt werden.
Nun braucht der Anstaltsleiter nur noch
einen Abteilungsleiter. Seine Wahl fällt auf
einen 32-jährigen Arzt. Er ist NSDAP-Mit-
glied, bei der »Allgemeinen SS« und gilt als
politisch sehr zuverlässig. Er ist bereits in
verschiedenen Kliniken tätig gewesen,
unter anderem in Osnabrück.
Im Oktober 1941 beginnt seine Tätigkeit in
Lüneburg. Der Anstaltsleiter weist ihn in
seine Aufgaben ein. In der »Kinderfach -
abteilung« soll wissenschaftlich gearbeitet
werden und »Kinder auf Anordnung von
oben eingeschläfert werden.«2 Der Abtei-
lungsleiter und das Pflegepersonal werden
»An so etwas hatte ich doch nicht gedacht«
1 Zur Kinderfachabteilung Lüneburg und den dort tätigen Ärzten vgl: Thorsten Sueße, Heinrich Meyer, Abtransportder »Lebensunwerten« Die Konfrontation niedersächsischer Anstalten mit der NS-»Euthanasie«, Hannover 1988, S. 157-169; S. 232.
2 Sueße/Meyer, Abtransport, S. 159.
21
zur Verschwiegenheit verpflichtet. Am 9.
Oktober 1941 werden die ersten Kinder
aufgenommen. Der Abteilungsleiter fertigt
zunächst Gutachten über die einzelnen
Kinder an.
Bernhardine Mönkedieck kommt am 3. No-
vember 1940 in Osnabrück zur Welt. Die El-
tern leben mit ihren insgesamt sieben Kin-
dern in Oesede. Bernhardine ist das vierte
Kind. Der Vater Albert ist Rangierer bei der
Reichsbahn. Zehn Tage nach der Geburt be-
kommt Bernhardine Krämpfe, seitdem hat
sie keine wesentlichen Fortschritte in der
Entwicklung gemacht. Sie kann weder
gehen noch stehen, auch nicht sprechen,
sie ist geistig zurückgeblieben und körper-
lich schwach. Bernhardine ist schwerbehin-
dert und ihre Behinderung wird beim Ge-
sundheitsamt in Osnabrück aktenkundig.
Sie wird in das Kinderhospital Bad Rothen-
felde eingewiesen. Am 24. Mai 1943 brin-
gen Vater Albert und eine Tante von Bern-
hardine sie nach Lüneburg. Dort kommt sie
in das Haus 25 in die Abteilung des natio-
nalsozialistischen Abteilungsleiters.3
Dieser fertigt Gutachten an und soge-
nannte »tiefstehende« Kinder werden dem
»Reichsausschuss« in Berlin zur Tötung vor-
geschlagen. Nach vier bis sechs Wochen
Bernhardine Mönkedieck
3 Raimond Reiter, Opfer der NS-Psychiatrie aus Osnabrück, Osn. Mitt. 2010, Bd. 115, S.167.
Auszug aus dem Taufregister der Gemeinde St. Peter und Paul.
22
kommt die Antwort mit einer »Behandlungs-
ermächtigung«. Der »Reichsaus schuss«
folgt in den meisten Fällen dem Vorschlag
des Abteilungsleiters.
Bernhardine Mönkedieck ist ein »tiefste-
hendes« Kind. »Keinerlei geistige Entwick-
lung zu bemerken«, steht in der Kranken-
akte und »in allem sehr unsauber«. Am
4. Februar 1944 erkundigt sich die Mutter
schriftlich nach ihrer Tochter. »Ist es unter
Umständen aussichtslos?« fragt sie. Sie
möchte ihre Tochter besuchen, sobald sie
ihre Kinder unterbringen kann. »Sehnsucht
hat man doch immer nach dem Kinde.«
schreibt sie.4
Tatsächlich sind die Aussichten schlecht.
Bernhardine wird als »anteilnahmsloses
Kind«, »kein Spieltrieb«, »tiefstehend, muß
in allem versorgt werden« und »keinerlei
Fortschritt feststellbar.« beschrieben.5
Liegt die Behandlungsermächtigung aus
Berlin vor, wird sie der zuständigen Kran-
kenschwester übergeben, die die tödlichen
Medikamente verabreicht. Der Abteilungs-
leiter tötet nicht selbst. Die Kinder bekom-
men in Wasser aufgelöste Schlaf- oder Be-
täubungsmittel und bewegen sich inner-
halb kurzer Zeit nicht mehr. In ein bis zwei
Tagen tritt der Tod ein.6
Die Angaben in der Krankenakte sprechen
dafür, dass auch Bernhardine »mit an
Sicher heit grenzender Wahrscheinlichkeit«
Tabletten verabreicht wurden. Sie stirbt am
14. Juni 1944, im Alter von dreieinhalb
4 zit. nach Reiter, Opfer, S. 167.5 Raimond Reiter, Opfer aus Osnabrück in der »Kinderfachabteilung der Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg im
Zweiten Weltkrieg, unveröffentlichtes Manuskript, Hannover 2011, S. 5/6.6 Sueße/Meyer, Abtransport, S. 161.
Jahren angeblich an »Pneunomie«. Auf die
Todesnachricht reagiert Bernhardines Mut-
ter bestürzt: »An so etwas hatte ich doch
nicht gedacht.«7
Kurz vor Kriegsende verbrennt das Personal
der »Kinderfachabteilung« alle verräteri-
schen Dokumente. Weder Gutachten noch
Behandlungsermächtigungen sind erhalten.
Am 8. März 1963 wird eine gerichtliche
Voruntersuchung gegen den Anstaltsleiter,
den Abteilungsleiter der »Kinderfachabtei-
lung« und die ausführende Schwester er-
öffnet. Ihnen wird vorgeworfen »aus nied-
rigen Beweggründen, heimtückisch und
grausam eine im Einzelnen noch nicht
genau bestimmte Anzahl von Menschen
getötet zu haben.«
Der Abteilungsleiter legt ein Geständnis ab.
Unmittelbar danach bekommt er einen Herz-
infarkt. Wegen »längerer Verhandlungs -
unfähigkeit« wird das Verfahren ge gen
alle drei Angeklagten am 3. März 1966 am
Landgericht Lüneburg eingestellt.8
Wir verlegen für Bernhardine Mönkedieck
einen Stolperstein an der Oeseder Straße 44.
Die Patenschaft hat übernommen:
Kirchengemeinde St. Peter und Paul.
Bernhardine Mönkedieck
7 Reiter, Opfer, S. 167.8 Sueße/Meyer, Abtransport, S. 232.
23
24
Irgendwo zwischen Harderberg und Oe-
sede, zwischen Holsten-Mündrup und
Holzhausen, zwischen Georgsmarienhütte
und Kloster Oesede wird am 2. Mai 1932
ein kleiner Junge geboren. Er soll Bernhard
heißen, später rufen ihn alle Benny.1
Benny ist das jüngste von drei Kindern,
aber er entwickelt sich nicht so wie die äl-
teren Geschwister. Ein paar Tage geht er in
den Kindergarten, aber die Erzieherinnen
bitten die Eltern, das Kind wieder abzumel-
den. Benny ist noch nicht sauber. Eines
Tages fährt seine Mutter mit ihm nach
Osnabrück zum Amtsarzt. Der Amtsarzt
untersucht Benny und stellt seine Behinde-
rung fest. Inzwischen waren die National-
sozialisten an der Macht und die Amtsärzte
haben die Aufgabe, alle Behinderten und
den Grad ihrer Behinderung zu erfassen.
Behinderte gehören nicht in das Men-
schenbild einer arischen Rasse, die im
Gleichschritt marschieren und unreflektiert
Parolen grölen soll.
Als Bennys Mutter von der Untersuchung
wiederkommt, sagt sie: Das ist ein ganz
armes Kind. Den Vater trifft das sehr. Er selbst
hatte es als Kind und Jugendlicher schwer,
wurde früh abgegeben, damit er beim Bau-
ern arbeitete. Jedes Mal, wenn er wieder von
zu Hause aufbrechen musste, war er traurig.
Getröstet hat ihn nur, dass seine Mutter ihn
noch ein Stück des Weges begleitete. In der
Zeit hat er viel Heimweh gehabt. Von seinen
Kindern wollte er alles Leid fernhalten.
»Ich kriege den Jungen auch ohne Ihr Geld groß«
1 Auf Wunsch der Familie wurden alle Namen geändert.
25
1937 stirbt Bennys Mutter an einer Lun-
genentzündung. Der Vater will wieder hei-
raten. Aber die Frauen in seinem Alter
schrecken davor zurück, drei kleine Kinder,
davon eins behindert, zu betreuen. Doch
er findet eine, sie ist acht Jahre älter als
Bennys Vater und kümmert sich liebevoll
um die drei Halbwaisen, insbesondere um
den sechsjährigen Benny.
Als der Krieg beginnt, wird Bennys Vater
»uk«, das heißt unabkömmlich gestellt.
Während andere zur Wehrmacht eingezo-
gen werden, geht er weiter seiner Arbeit
nach und ist bei der Familie. Bennys Bruder
erinnert sich, wie die Nazis Benny abholen
wollten. Es habe geschellt und zwei Män-
ner seien vor der Tür gestanden. Sie hätten
Listen mit Namen in der Hand gehabt.
Gebetsmühlenartig leierten sie ihren Text
herunter, welche Vorzüge es hätte, das be-
hinderte Kind wäre unter seinesgleichen,
würde was Gescheites lernen und es gehe
ihm dort, wo es hin käme, viel besser. Sie
wollten Benny gleich mitnehmen. Bennys
Vater weigert sich, seinen Sohn mitzuge-
ben. »Sie bekommen den Jungen nicht.«
Die Männer wollen gehen, fragen zuvor
Bennys Bruder, ob er ihnen den Weg zu
den anderen Adressen zeigen könne. Er
weiß den Weg und steigt ein. Er zeigt
ihnen, wo sie hin müssen. Dann bringen
sie ihn wieder zurück.
Nach vier Wochen kommen die Männer
wieder. Diesmal hat sich der Vater erkun-
Benny
26
digt. »Wenn du dein Kind den Nazis mit-
gibst, dann bekommst du 14 Tage später
die Todesnachricht,« sagen ihm Freunde
und Bekannte. 1939/40 ist die sogenannte
T4-Aktion, bei der behinderte Kinder und
Erwachsene systematisch umgebracht wur-
den, auf ihrem Höhepunkt. Bennys Vater
weist den Männern erneut die Tür. Nach
einem Monat sind sie wieder da. Diesmal
sind sie wütend, aggressiv. »Sie bekom-
men meinen Sohn nicht,« sagt Bennys
Vater. »Dann streichen wir Ihnen das Kin-
dergeld.« Bennys Bruder hat noch heute
im Ohr wie Bennys Vater sagt: »Ich kriege
den Jungen auch ohne Ihr Geld groß.« Da-
raufhin sind die Männer unter Türenschla-
gen und Schimpfen gegangen.
Wenig später kommt es zu einer Auseinan-
dersetzung in der Wirtschaft zwischen
Bennys Vater und den Nazigrößen des
Ortes. Worum es dabei geht, weiß Bennys
Bruder nicht, aber er weiß noch wie Ben-
nys Vater zu seiner Frau sagt: »Wenn der
Stellungsbefehl kommt, sag sofort Be-
scheid.« Ein paar Tage später muss er zur
Wehrmacht. Zunächst ist er in Frankreich,
wo er ausgebildet wird, dann geht es nach
Russland und er gerät in russische Gefan-
genschaft.
Zu Hause haben alle Angst, dass die Nazis
wiederkommen und Benny doch noch ab-
holen, jetzt wo der Vater nicht mehr da ist.
Jedes Mal, wenn Bennys Bruder bei einem
27
der Nazigrößen vorstellig werden muss,
um den Sold abzuholen, wird er gefragt,
wo der Vater eingesetzt ist, wie es ihm
gehe. »Die hatten alle ein schlechtes Ge-
wissen« sagt Bennys Bruder heute. Nach
Benny hat nie wieder einer gefragt. »Ein
Wunder,« sagt Bennys Bruder.
Bennys Vater gelingt es, als einer der we-
nigen aus russischer Kriegsgefangenschaft
zu fliehen. 1946 ist er wieder da und froh,
seine Familie vollzählig vorzufinden.
Bei einem Unfall 1964 stirbt Benny Vater,
seine Frau pflegt Benny bis auch sie das
Zeitliche segnet. Auf dem Totenbett nimmt
sie Bennys Bruder das Versprechen ab, sich
um den behinderten Bruder zu kümmern.
Das hält er. Benny hat im Haus seines Bru-
ders sein eigenes Zimmer und sein eigenes
Bad. Er hört gern Radio, aber er spricht
nicht viel; richtig unterhalten kann man
sich nicht mit ihm. Benny hat immer Hun-
ger, sein Körper kann das Essen nicht rich-
tig verarbeiten. Er ist dünn. Seine Schwä-
gerin kocht für ihn und versorgt ihn mit
allem. 30 Jahre lang.
Im Alter von 70 Jahren stirbt Benny in
vertrauter Umgebung im Beisein seiner
Familie.
Benny
Stadt GeorgsmarienhütteOeseder Straße 85
49124 Georgsmarienhütte
Die Umsetzung des Projektes wäre ohne die Hilfe vieler Menschen nicht möglich gewesen.
Dank ergeht an
Christian Belling
Werner Beermann
Hubert Calmer
Frank Düssler
Bernhard Grolms
Kirsten Köhler
Eleonore Recker-Korte
Karin Richert
Anna Philine Schöpper
Schülerinnen und Schüler der Klasse 9bund des Wahlpflichtkurses Geschichte/Politik aus dem Jahrgang 9 der Realschule Georgsmarienhütte
Maren Stindt-Hoge
und an alle Hinweisgeber, Interviewpartner und Paten.