13
Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel, Michael Müller, Hermann Sottong 1. Auflage Storytelling – Frenzel / Müller / Sottong schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Hanser München 2004 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 446 22687 6 Inhaltsverzeichnis: Storytelling – Frenzel / Müller / Sottong

Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

Storytelling

Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen

vonKarolina Frenzel, Michael Müller, Hermann Sottong

1. Auflage

Storytelling – Frenzel / Müller / Sottong

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Hanser München 2004

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 446 22687 6

Inhaltsverzeichnis: Storytelling – Frenzel / Müller / Sottong

Page 2: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

Eine kleine Geschichte über das Erzählen...

Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens aus einemAlbtraum auf. Sie schlagen die Augen auf, und der Alb-traum geht weiter: Langsam zeichnen sich im Halbdunkelvor Ihren Augen die Konturen einer furchterregenden Ge-stalt ab, die aus schwarzem Nebel auftaucht: ein Dämon,ein grimmiger Erzengel, der Sensenmann – was immer Siebevorzugen. Der kalte Schweiß tritt Ihnen auf die Stirn. Siereiben sich die Augen, Ihre Hand tastet nach dem Licht-schalter. Es hilft nichts, die Gestalt bleibt. Sie versuchen auf-zustehen, die Bettdecke zurückzuschlagen, Sie wollen flüch-ten, aber Sie sind wie gelähmt. »Was willst du von mir?«,fragen Sie die Gestalt mit brüchiger Stimme. »Ich bin ge-kommen, dich zu holen!«, hallt es Ihnen entgegen.

Sie fangen an zu betteln, zu argumentieren, zu verhan-deln, zu drohen – das hängt davon ab, was für ein Typ Siesind. Und tatsächlich: Es scheint zu helfen. Die Gestalt hältinne, nachdenklich zieht sie die Stirn in Falten, sie fängt sicht-lich an zu überlegen. »Gut«, spricht es aus der unheimlichenGestalt. »Ich werde dich diesmal noch verschonen. Aber esgibt eine Bedingung: Von heute an darfst du nie wieder er-zählen: kein Erlebnis und keine Erfahrung, keine Anekdoteund keinen Witz, keine Geschichte und keine Episode. Dudarfst befehlen und beschreiben, du darfst feststellen undfragen, aber sobald du etwas erzählst, werde ich da sein, unddann werde ich dich holen und kein Jammern und Flehen,kein Feilschen und Drohen werden dir diesmal helfen!«

Sie atmen auf. »Das soll alles sein?«, denken Sie. Sie hat-ten mit dem Schlimmsten gerechnet: Dass Sie Ihre Seele ver-

Page 3: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

kaufen müssen, oder – noch schrecklicher – dass Sie nie wie-der Golf spielen dürfen oder das Abitur wiederholen müs-sen auf Ihre alten Tage. Solche Sachen eben, wie sie sichGeister nun mal so ausdenken. Aber das hier sollte eigent-lich machbar sein. »Einverstanden!«, sagen Sie und sindschon wieder so frech geworden, dass Sie der Gestalt dieHand zum Einschlagen hinstrecken. Doch der Geist istschon auf dem Rückzug, in einem Wirbel aus schwarzemRauch verschwindet er im Morgengrauen und hinterlässtnicht mehr als einen kalten Hauch.

Natürlich wird Ihnen sehr schnell schmerzlich bewusst,dass der Geist Sie reingelegt hat. Schon am ersten Abendsehen Sie aus wie ein Boxer nach dem Kampf, weil Sie sichim Laufe des Tages so oft auf die Lippen gebissen haben.Nein, Sie können nicht sagen, wie die Sitzung am Vorabendgelaufen ist, nur, dass es schwierig war, aber man wird eineLösung finden. Sie stehen daneben, als in der Kaffeepausedie Rede auf das neue Projekt kommt und die Geschichtendarüber ausgetauscht werden, wie die Frau Strume daswieder gedeichselt hat. Das Gerücht, dass Ihre Abteilungmit der Ihres Kollegen zusammengelegt werden soll, könnenSie nicht überzeugend entkräften: Sie sagen zwar, dass danichts dran sei, und erläutern einige Gründe, aber auf dieFrage, woher Sie die Information haben, können Sie nurausweichend antworten. Überhaupt dauernd diese Fragen:»Sagen Sie doch mal ein Beispiel!«, »Wie war das damalsnoch? Ihr habt das doch schon mal ähnlich gemacht?« Siebeginnen, Ihre Gesprächspartner dafür zu hassen. In den ers-ten Tagen heißt es noch, dass Sie wohl schlecht drauf seien,Ihnen müsse eine Laus über die Leber gelaufen sein. Baldaber wird schon rumerzählt, dass Sie sich verändert haben.Besorgte Bekannte und Kollegen bedrängen Sie: »Was istdenn los mit dir? Erzähl doch mal, was passiert ist!« DieWahnsinnigen! Sie sehen es regelrecht vor Augen: Siemachen den Mund auf: »Du wirst nicht glauben, was mirvor einer Woche passiert ist. Ich wache morgens auf, da sehe

2 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…

Page 4: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

ich einen ...« PUFF! Blitzartig umhüllt Sie eine schwarzeWolke. Sie erstarren zu Stein. KRRK. BRÖSEL. Am Bodenliegt ein Häufchen aschgrauen Staubes. Das war’s. Also ant-worten Sie barsch: »Nichts ist los. Alles bestens. Also lassmich in Ruhe mit deinen Fragen.«

Ihr Freundeskreis und der Kreis der Kollegen, mit denenSie sich auch informell immer austauschten, bröckelt. Sie se-hen sich zunehmend isoliert. Das Schlimmste ist, dass manauch Ihnen nichts mehr erzählt. Sie bekommen viele wich-tige Dinge einfach nicht mehr mit. Es wird still im Kreis,wenn Sie dazutreten. Sie gelten als einer, der nichts mehrrauslässt: aufmerksam, geradezu gierig zuhört, aber selbernichts erzählt. Es geht das Gerücht, Sie schmiedeten an einergroßen Intrige. Andere meinen, Sie seien übergeschnappt.Sie erfahren kaum mehr etwas darüber, was in anderen Ab-teilungen los ist, welche Pläne diskutiert werden und wieman sie beurteilt. Projekte laufen, das Personalkarusselldreht sich, Koalitionen werden geschmiedet und Streit ent-steht, aber was Sie mitbekommen, sind nur noch vollendeteTatsachen, die in Berichten stehen oder in Meetings vorge-stellt werden.

Sie legen sich nach und nach einen streng sachlichen,knappen Stil zu: Schließlich muss man doch alles auch argu-mentativ beschreibend darlegen können! Sie fangen IhreBeiträge oft mit Sätzen an wie: »Der Stand der Dinge ist fol-gender« oder »Betrachten wir die Fakten.« Sie zeichnenständig Diagramme und tragen immer einen Block mit sichherum. Wenn Sie Zusammenhänge erklären wollen, malenSie Linien und Pfeile aufs Papier. Sie haben panische Angstvor Fragen wie: »Aber wie kam es denn dazu?« Überhauptdas Wörtchen »wie«: »Wie war’s?«, »Wie ging’s?«, »Wiekommt es, dass . . .?« Oder Wörter wie »damals«, »früher«,»gestern«, »letzte Woche«. . . Alles, was mit Veränderung,Entwicklung, Wandel zu tun hat, bringt Sie in größteSchwierigkeiten. Was geschehen ist, was passierte, was sichereignete, was vor sich ging, was sich entwickelte: Sie kön-

Eine kleine Geschichte über das Erzählen… 3

Page 5: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

nen nur noch konstatieren, dass etwas geschah, aber Siemüssen höllisch aufpassen, nicht zu sagen, wie es sich ab-gespielt hat: »Erst sah es so aus, aber dann stellte sich he-raus . . .« PUFF!

Ganz zu schweigen von Gefühlen: Anlass zur Freude ha-ben Sie ohnehin so gut wie nie. Und wenn, können Sie nie-manden daran teilhaben lassen. Aber auch nicht an IhremÄrger, Ihrer Trauer, Ihrer Verzweiflung. Sie müssten ja er-zählen, was Sie erlebt haben, und dann. . . Also lassen Sie eslieber bleiben, kontrollieren sich, zeigen keine Regung.

Neulich stand eine wichtige Verhandlung mit einem po-tenziellen Neukunden an. Die Sache wurde ein Desaster.Beim Essen sagte der Kunde: »Ihre Firma hat ja einen sehrguten Ruf. Sie haben ja auch sehr viel Erfahrung auf dem Ge-biet.« »Das stimmt. Wir machen das schließlich schon seit70 Jahren«, sagen Sie. »Und Sie sind ja auch schon ein paarJahre dabei.« »Ja. Ich habe angefangen als . . .« Sie stocken.Am Boden beginnt sich schemenhaft dunkler Rauch ab-zuzeichnen. »Um nochmal auf die Konditionen zurück-zukommen . . .«, sagen Sie. Die Konditionen seien sehr gut,sagte der Kunde später zum Abschied. Aber er müsse sich dieSache nochmal durch den Kopf gehen lassen. Sie würden dasverstehen: Schließlich ginge es um eine längerfristige Zusam-menarbeit, da müsse ja auch das Klima stimmen.

Mittlerweile haben Sie in der Firma einen Spitznamen:Alle nennen Sie nur noch den »Roboter«. Das wissen Sievon Ihrem Chef. Der stand immer hinter Ihnen, der hältgroße Stücke auf Sie, der hat Sie stets gefördert. Nun blickter Sie besorgt an. »Weißt du, wie sie dich nennen? Roboter!Deine Leute vertrauen dir nicht mehr. Sie bekommen nurnoch Anweisungen von dir, aber keiner weiß mehr genau,wo das Ganze hin soll. Und ich blicke langsam auch nichtmehr durch: Früher hast du mich regelmäßig auf dem Lau-fenden gehalten, wir haben uns ausgetauscht, du hast mirerzählt, was gut läuft und wo es Probleme gibt. Jetzt seheich den Zusammenhang nicht mehr. Du legst mir hier Kon-

4 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…

Page 6: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

zepte vor, alles sauber, mit allen Zahlen und Daten. Abermir fehlt der Hintergrund. Hier zum Beispiel: Da müsste dieEDV doch mitmachen, wenn das laufen soll. Hat dir dennkeiner erzählt, was bei denen zur Zeit los ist?« »Aber dashatten wir doch vor einem halben Jahr schon mal. Du weißtdoch noch, wie die damals . . .« Stopp. So geht’s nicht.»Weißt du«, sagen Sie zu Ihrem Chef, der Sie betroffen an-schaut, »ich habe etwas Unglaubliches erlebt. Ich kann dirnicht erzählen, wie das war: Ich darf gar nichts erzählen. Ichstehe unter einem totalen Erzählverbot. Faktisch unterTodesandrohung. Deshalb kann ich auch die genauen Um-stände jetzt nicht schildern. Das wäre zu gefährlich. Ichdachte anfangs, das kriege ich locker hin, aber ich habegemerkt . . . Aber du siehst ja selber, was dabei heraus-kommt. Dass ich isoliert bin, dass ich nichts mehr mitbe-komme, dass ich mich nicht mehr richtig verständlich ma-chen kann. Das Ganze ist eine furchtbare Geschichte: Denksie dir selber aus, dann wirst du es verstehen. Stell dir vor,du dürftest niemandem mehr etwas erzählen. Stell dir vor,du dürftest nur noch sagen: So ist es. Oder: Tun Sie diesoder jenes. Oder: Das sind die Fakten. Stell dir das einfachmal vor, in allen möglichen Situationen. Überleg dir mal,was du alles erzählst und was dir alles so erzählt wird. Dubist überhaupt nicht mehr im Bilde, wenn dir keiner mehretwas erzählt. Du weißt gar nicht mehr, was vor sich geht.Du siehst die Zahlen, du siehst die Berichte, du erfährst vonden Entscheidungen, und kriegst es nicht mehr zusammen.Und versuch du mal, den Leuten etwas zu erklären, ohnedass du sagen darfst: Ja, das kam so. Oder: Ich habe dieErfahrung gemacht, dass . . . Du sagst: Der Markt hat sichgeändert. Und dann sagst du: Früher, wenn der Kunde dasund das wollte, dann hat er das und das gemacht, und heuteerleb ich immer wieder, dass . . . – und plötzlich kapierenalle, was du meinst. Aber jetzt kannst du das nicht mehr.Jetzt sagst du nur noch: Es ist so und so. Und sofort regt sichWiderspruch. Und dann kramst du noch mehr Zahlen raus

Eine kleine Geschichte über das Erzählen… 5

Page 7: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

und dann siehst du, wie alle wegpennen oder auch ihre Zah-len rauskramen. Ich kann niemanden mehr begeistern. Undich fühle mich kalt wie ein Fisch. Roboter sagen sie. Siehaben Recht: Ich komme mir vor wie eine Maschine, fremd,abgeschnitten, seelenlos.« Sie sind fertig, können sich kaumnoch zusammenreißen. Der Chef starrt Sie fassungslos an,hin und her gerissen zwischen Mitgefühl und peinlicherBerührtheit. »Ich kenne da einen fantastischen Coach«, sagter schließlich. »Der hat einen hervorragenden Ruf und istdabei auch ein ausgesprochen erfolgreicher und anerkann-ter Therapeut. Ich möchte, dass du zu dem gehst. Dubrauchst eine Pause, du brauchst Hilfe.«

Als Sie dem Coach gegenübersitzen, haben Sie tatsäch-lich ein Gefühl des Vertrauens, einen Schimmer Hoffnung.Der Mensch macht einen beruhigenden, souveränen, freund-lichen Eindruck. Er blickt Sie mit warmen, neugierigenAugen an. »Na, dann erzählen Sie mal!«, sagt er.

Der Mensch ist ein erzählendes Wesen

Es gibt Dinge, Phänomene, deren fundamentale Bedeutungwir erst richtig erkennen, wenn sie nicht mehr da sind. Wirsind uns ihrer Bedeutung und Funktion nicht bewusst, ge-rade weil sie so selbstverständlich, alltäglich, allgegenwärtigsind wie die Luft, die wir atmen. Das Erzählen ist ein sol-ches Phänomen.

Der Mensch ist ein erzählendes Wesen: Dass er erzähltund dass von ihm erzählt wird, macht ihn erst zum Men-schen. Das Erzählen, unsere Geschichten und unsere Ge-schichte sind Ausdruck unserer Identität, unseres Bewusst-seins, unserer Beziehung zur Welt und zu anderen. Mehrnoch: Unsere Geschichten – diejenigen, die wir selbst erlebthaben und die, die wir gesammelt haben und weitererzäh-len – sind auf spezifische Weise unsere Identität und unsereWelt. Identität ist eine Geschichte, die wir uns selbst er-

6 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…

Page 8: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

zählen, und an die wir schließlich glauben. Wir erzählen unsselbst permanent, wer wir sind, und wenn wir anderen sa-gen wollen, wer wir sind, erzählen wir von uns. Und indemwir von uns erzählen, erzählen wir auch immer von derWelt, in der wir leben.

Ebenso wie der einzelne Mensch ein erzählendes Wesenist, so ist auch die Menschheit ein erzählendes Wesen: einriesiger Organismus, der sich erzählt und sich erzählend undzuhörend die Welt erschließt. Denn seit Urzeiten ist es dasMittel des Erzählens, mit dem sich Menschen die Welt ver-mitteln und aneignen, erklären und erweitern: Angefangenvon den großen und kleinen Mythen und Legenden bis hinzu den Alltagserzählungen und kuriosen Geschichten ist esdas Erzählen, das uns prägt und mit dem wir Ordnung undKontinuität in eine Realität, eine Welt bringen, die un-überschaubar, chaotisch, vielgestaltig und unberechenbarwäre, wenn wir sie unerzählt ließen. Erzählend bringen wireine Ordnung in die unendliche Vielzahl der Wahrnehmun-gen, Eindrücke, Fakten, Phänomene, Daten und ihr Poten-zial, widersprüchlich, ungereimt, zufällig und willkürlich zusein, die es ermöglicht, ihren Zusammenhang zu sehen,ihren Sinn zu verstehen. Erzählend gestalten wir die Realität,und unsere Erzählungen geben Auskunft darüber, wie wirOrdnung und Sinn stiften, wie wir die Dinge in Beziehungsetzen, welche Verbindungen wir für wichtig erachten, wieunser Bild der Situation, der Welt, der Wirklichkeit aussieht.

Erzählen überwindet kulturelle Grenzen

Erzählend können wir auch das wiedergeben, was wir ab-strakt noch gar nicht formulieren können. Wenn wir etwasintuitiv erfasst haben, wenn wir eine Wahrheit, einen Zu-sammenhang, eine Bedeutung ahnen, aber noch nicht genaudefinieren können, dann können wir meist durch ein Bei-spiel, eine Anekdote, eine Geschichte vermitteln, was wir

Eine kleine Geschichte über das Erzählen… 7

Page 9: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

meinen. Menschen verständigen sich mit Hilfe von Ge-schichten über Identität, über Kultur, über Werte, überVisionen, über Erfahrungen und Einsichten, die sonst un-ausgesprochen oder unverständlich bleiben müssten. Ge-schichten sind von jeher ein Mittel, das Unbekannte, dasFremde, das Neue in eine Form zu bringen, an die derZuhörer anknüpfen kann, in die er sich einfühlen, einden-ken kann. Geschichten schaffen Vertrautheit und Vertrauenund sind somit das Tor zum Neuen. Menschen sind neugie-rig auf Geschichten. In der Vergangenheit, als Mobilität,Reisen und Entdeckungsfahrten für die Mehrheit der Men-schen unmöglich waren, lud man durchreisende Fremde insein Haus und bewirtete sie, bis sie alles erzählt hatten, wassie zu berichten wussten.

Menschen lernten durch Erzählungen, noch bevor es dieSchrift gab, und sie geben bis heute Wissen und Erfahrun-gen bevorzugt durch Geschichten weiter. Das Erzählen hatsich durch die menschliche Evolutionsgeschichte hindurchals eines der wesentlichen Mittel der Informationsverarbei-tung und Wissensweitergabe bewährt. Durch alle Kulturenhindurch und über die Epochen hinweg etablierte und ent-wickelte sich die Fähigkeit zum Erzählen und zum Aufneh-men von Geschichten weiter. Das Erzählen war schon eineglobale Erscheinung, die Kommunikation durch Geschich-ten schon universell, bevor irgendjemand überhaupt vonGlobalisierung sprach. Nichts überwindet kulturelle Gren-zen so schnell wie das Erzählen, denn eine gute Geschichtewird überall verstanden. Man kann sich einen Eindruckdavon verschaffen, wenn man sich vergegenwärtigt, mitwelcher unglaublichen Geschwindigkeit und Intensität sichbestimmte Geschichten rund um den Globus verbreiten:Denken Sie nur an den Siegeszug der Erzählungen um denjungen Zauberlehrling Harry Potter.

Ausgerechnet heute, im Zeitalter von Internet und E-Mail, Fernsehsatelliten und weltumspannenden Funknet-zen, elektronischen Datenspeichern und Informationstools,

8 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…

Page 10: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

beginnt man sich wieder mit dem Phänomen des Erzählenszu beschäftigen. In der Diskussion um die »Wissensgesell-schaft« und das »Wissensmanagement« spielen plötzlichGeschichten eine Rolle: Wie Soziologen und Ethnologenfestgestellt haben, erfüllt das Erzählen bei der Weitergabevon Wissen, Traditionen und Weltbildern auch in den mo-dernen Organisationen noch die gleiche Funktion wie inStammesgruppen und Naturvölkern. Das gemeinschaftlicheBild davon, »wie wir sind«, »wie wir wurden« und »wie wires machen« wird nach wie vor täglich durch die Weitergabevon Geschichten gestaltet und gefestigt. Aber selbst die Wei-tergabe von Fachwissen und Erklärungsmodellen wird über-all durch Erzählen begleitet. Geschichten, so hat man fest-gestellt, werden wesentlich schneller verstanden, besserbehalten und leichter weitergegeben als abstrakte Erklärun-gen und beschreibende Informationen. Der Mensch lerntvom Nahbereich seines Erlebens aus: Geschichten lieferneinen Kontext, sie betten Wissen ein in konkrete Situationenund Zusammenhänge, sie liefern nicht nur reine Fakten,sondern auch Bezüge, Zusammenhänge und Emotionen. Siemachen Ideen, Argumente, Gedanken greifbar, weil sie sieimmer in einer vorstellbaren und konkreten Umwelt und Si-tuation ansiedeln. Sie regen alle geistigen Aktivitäten glei-chermaßen an: das Abstrakte und das Sinnliche, das Gefühlund den Gedanken. Das Erzählen gibt dem Zuhörer dieMöglichkeit des Mitdenkens. Wer eine Geschichte hört, derschaltet nicht auf »Aufnahme«, sondern ist aktiv beteiligt –er denkt und imaginiert aktiv mit, was die Geschichte soll.Das Erzählen ist das Medium der kollektiven Intelligenz.

Unternehmen entdecken die Kraft des Erzählens

So verwundert es kaum, dass heute eine wachsende Zahlvon Pionieren in Unternehmen und Organisationen damitbeginnt, die Kraft des Erzählens für Wissensmanagement

Eine kleine Geschichte über das Erzählen… 9

Page 11: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

und interne Kommunikation, zur Verbesserung von Koope-ration und intrakultureller Verständigung, für die Stärkungder Unternehmensidentität und die Entwicklung und Tra-dierung gemeinsamer Werte zu nutzen. In all diesen Fällenerweist sich das Erzählen als ein vielseitiges und hochwirk-sames Mittel, um den Wandel zu gestalten und die Men-schen dabei aktiv mit einzubeziehen. Wir werden in diesemBuch eine ganze Reihe solcher Anwendungen schildern –und zeigen, dass dies erst ein Anfang ist, der durch eineganze Reihe von Anwendungsmöglichkeiten in den unter-schiedlichsten Bereichen und Unternehmenstypen erweitertwerden kann und in Zukunft wohl immer mehr wird.

Storytelling – der bewusste Umgang mit Geschichten,das Erzählen und Hören und gemeinsame Schaffen von Ge-schichten im Unternehmen – ist dabei mehr als eine bloßeSammlung von Tools. Der gemeinsame Nenner der Beispieleund Anwendungsmöglichkeiten liegt darin, dass Story-telling eine Haltung ist: Wer der Kraft des Erzählens ver-traut, wer das Wissen und die Bilder, die in Geschichten lie-gen, ernst nimmt und versteht, der wird eine ganzheitlichereSicht auf das Unternehmen und die mit ihm verbundenenMenschen gewinnen, der wird viel eher Meisterschaft imHerstellen und Entdecken von Beziehungen erlangen. Werdie Kraft des Erzählens entdeckt hat, der wird sich schließ-lich nach der Maxime verhalten, die lautet: Verhalte dichso, dass Kollegen und Kunden positive Geschichten überdein Unternehmen erzählen können!

Erzählen ist ein Akt des Verbindens und Verknüpfensund In-Beziehung-Setzens, und dies auf mehreren Ebenenzugleich. Da ist zunächst die Geschichte selbst ein Instru-ment der Vernetzung: Wer erzählt, muss die Menschen undDinge, die Umstände und Einflüsse, die in der Geschichtevorkommen, so verknüpfen, dass eine sinnvolle Ordnungentsteht, eine Ordnung, die etwas bedeutet und mehr ist alsdie Summe dessen, was in ihr vorkommt.

Geschichten liefern immer ein in sich zusammenhängen-

10 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…

Page 12: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

des Bild – auch wenn dieses Bild wieder nur der Ausschnitteines größeren Bildes ist. Geschichten knüpfen an Bestehen-des an – an etwas, das der Zuhörer schon kennt, weiß, er-fahren hat – und stellen es in ein neues Licht: eine anderePerspektive, ein zusätzliches Element, eine überraschendeWendung. Geschichten erweitern den Raum unserer Mög-lichkeiten. Durch sie können wir uns in andere hineinverset-zen, eine Lage anders beurteilen, Optionen erkennen, diewir bisher nicht sahen, Alternativen erfahren, die wir nichtauf der Rechnung hatten. Sie verbinden das Bekannte mitdem Unbekannten, das Eigene mit dem Fremden, das Ge-wohnte mit dem Neuen.

Aber das Erzählen schafft noch auf andere Art Bezie-hung: Storytelling schafft eine Verbindung zwischen Er-zähler und Zuhörern, ein Netz zwischen all denen, die dieGeschichte kennen, hören, weitererzählen. Menschen, dieeine Gemeinschaft bilden, teilen die gleichen Geschichten –und Menschen, die die gleichen Geschichten teilen, bildeneine Community. Geschichten sind anschlussfähig, sie grei-fen ineinander, sie verbinden sich organisch: Wer zu erzählenbeginnt, löst damit neue Geschichten aus, die sich gegensei-tig beeinflussen, verstärken, deuten. Aus vielen Geschichtenentsteht eine größere Geschichte: Story und History, Ge-schichten und Geschichte gehen auseinander hervor.

Die Herausforderung heißt: Beziehungen wahrnehmen, herstellen, pflegen

Wo das Erzählen, wo Storytelling praktiziert und genutztwird, um neues Denken zu etablieren, um Wandelprozessezu unterstützen, um den Austausch von Wissen und Er-fahrungen zu fördern, um Selbstbewusstsein und Zusam-menarbeit zu stärken, da herrscht gleichzeitig immer eineAhnung davon, dass die Hauptherausforderung von Unter-nehmen und Organisationen im 21. Jahrhundert darin be-

Eine kleine Geschichte über das Erzählen… 11

Page 13: Storytelling - Frenzel / Müller / Sottong, ReadingSample€¦ · Storytelling Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen von Karolina Frenzel,

steht, Beziehungen herzustellen, wahrzunehmen, zu fördernund zu pflegen: Beziehungen zwischen den Mitarbeitern,zwischen Unternehmen und Kunden, zwischen Koopera-tionspartnern, zwischen Organisation und Umwelt. Es sinddies Beziehungen zwischen Menschen, zwischen lebendigenWesen, die denken und fühlen, die über Intelligenz undKreativität verfügen und sich entfalten wollen – und derenAnsprüche an die Qualität der Beziehungen wächst. Es sinddies ebenso Beziehungen zwischen Handlungen, Rahmenbe-dingungen, Strukturen, die in ihren Wechselwirkungen undihrer gegenseitigen Abhängigkeit immer deutlicher werden.

Das analytische, auf einfache Kausalitäten und eindeu-tige Gesetzmäßigkeit ausgerichtete Denken hat uns weitgebracht: Seine konsequente Anwendung hat uns schließ-lich gezeigt, dass die Welt, in der wir leben, nicht mechanis-tisch beschrieben und verstanden werden kann. Überall, wowir versuchen, handhabbare Einheiten zu (be)greifen, Ur-sachen und Wirkungen zu isolieren, Linearitäten zu finden,verflüchtigt sich das Feste. Selbst die Materie, die stabil ge-glaubte Welt der Atome, löst sich in dem Maße auf, in demes uns gelingt, sie näher zu betrachten. Die starre Realitätder Mechanik verschwindet und dahinter kommt eineWirklichkeit zum Vorschein, die dynamisch ist, und dieletztlich, wie der Teilchenphysiker Hans-Peter Dürr sagt,nur aus Beziehungen besteht.

Der Mensch hat die Fähigkeit, eine Welt zu verstehen,deren Wesen im Zusammenhang, im ständigen Entstehendynamischer Beziehungen besteht, und in dieser Welt erfolg-reich zu leben: Das Erzählen ist ein Ausdruck dieser Fähig-keit, Geschichten sind ein erprobtes und universelles Mittel,mit einer Realität umzugehen und über eine Realität zukommunizieren, die dynamisch, lebendig, wandelbar istund immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet. Das Er-zählen ist unsere Brücke zu dieser Realität. Storytelling inseinen unterschiedlichen Ausprägungen hilft uns dabei, dasSpiel der Möglichkeiten besser zu spielen.

12 Eine kleine Geschichte über das Erzählen…