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Peter Albrecht FS 2011 Universität Basel Strafprozessrecht (Vertiefung) Vorlesungsskript 1. Teil: EINLEITUNG Allgemeine Literatur und Materialien : A. Donatsch / Th. Hansjakob / V. Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2010; A. DONATSCH / C. SCHWARZENEGGER /W.WOHLERS, Strafprozessrecht, 2010; D.JOSITSCH, Grundriss des schweizerischen Strafprozess- rechts, 2009; A. Kuhn / Y. Jeanneret (éd.), Commentaire romand, Code de procédure pénale, 2011; M.A. Niggli / M. Heer / H. Wiprächtiger (Hrsg), Basler Kommen- tar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2010; M. PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2009; F. RIKLIN, StPO, Kommentar, 2010; N. SCHMID, Handbuch des Schweizerischen Strafprozess- rechts, 2009; DERSELBE, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskom- mentar, 2009; Schweizerische Strafprozessordnung (Strafprozessordnung, StPO) vom 5. 10. 2007, SR 312.0; Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006, 185 ff. Spezialliteratur : D. KRAUSS, Rechtsstaat und Strafprozess im Vergleich, in: Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1985, 171 ff.; DERSELBE, Auf dem Wege zu einer Eidgenössischen Strafpro- zessordnung. Einige Anmerkungen aus deutscher Sicht, in: M. A. Niggli / N. Queloz (Hrsg.), Strafjustiz und Rechtsstaat, 2003, 19 ff.; M. PIETH, Vom Inquisitionsprozess direkt zum postmodernen Kontrollmodell? in: FS Trechsel, 2002, 415 ff.

StP Vorlesungsskript

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Peter Albrecht FS 2011Universität Basel

Strafprozessrecht (Vertiefung)

Vorlesungsskript

1. Teil: EINLEITUNG

Allgemeine Literatur und Materialien:A. Donatsch / Th. Hansjakob / V. Lieber (Hrsg.), Kommentar

zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2010;A. DONATSCH / C. SCHWARZENEGGER / W. WOHLERS,

Strafprozessrecht, 2010;D.JOSITSCH, Grundriss des schweizerischen Strafprozess-

rechts, 2009;A. Kuhn / Y. Jeanneret (éd.), Commentaire romand, Code de

procédure pénale, 2011;M.A. Niggli / M. Heer / H. Wiprächtiger (Hrsg), Basler Kommen-

tar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2010;M. PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2009;F. RIKLIN, StPO, Kommentar, 2010;N. SCHMID, Handbuch des Schweizerischen Strafprozess-

rechts, 2009;DERSELBE, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskom-

mentar, 2009;Schweizerische Strafprozessordnung (Strafprozessordnung,

StPO) vom 5. 10. 2007, SR 312.0;Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl

2006, 185 ff.

Spezialliteratur:D. KRAUSS, Rechtsstaat und Strafprozess im Vergleich, in:

Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1985, 171 ff.;DERSELBE, Auf dem Wege zu einer Eidgenössischen Strafpro-

zessordnung. Einige Anmerkungen aus deutscher Sicht, in:M. A. Niggli / N. Queloz (Hrsg.), Strafjustiz und Rechtsstaat,2003, 19 ff.;

M. PIETH, Vom Inquisitionsprozess direkt zum postmodernenKontrollmodell? in: FS Trechsel, 2002, 415 ff.

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Zum E StPO:N. RUCKSTUHL: Eidgenössische Strafprozessordnung: Staats-

anwaltschaftsmodell ja – aber unter welchen Rahmenbe-dingungen? Anwaltsrevue 2007, 323 ff.

I) Kennzeichen des Strafprozessrechts1) Das Prozessrecht im Dienst des materiellen Rechts

Verwirklichung des materiellen Strafrechts als Aufgabe des Strafver-fahrens.

"Strafprozessrecht ist das 'Kamel' des materiellen Strafrechts ....Das will heissen, das Strafrecht braucht ein Vehikel, das denTransport vom im Gesetz umschriebenen Tatbestand zu einem Ur-teil vornimmt. Es reicht nicht, dass das Gesetz uns sagt, was verbo-ten ist und was nicht. Wir brauchen, wenn ein Delikt passiert ist,einen Täter oder eine Täterin und dann ein Urteil. Wie wir aberzum Täter und dann zum Urteil kommen, das sat uns nur das Straf-prozessrecht. Ohne das Strafprozessrecht gibt es also kein Straf-recht, verwirklicht sich dieses nicht."N. RUCKSTUHL, Strafprozessrecht, Vorlesung, HS 2007, 2.

".... und dem Prozessrecht obliegt, jedenfalls als eine seiner Aufga-ben, die Verwirklichung des materiellen Rechts. Prozessrecht hatalso das Verfahren zu umschreiben, in dessen Rahmen das mate-rielle Recht umgesetzt werden und die Straftat vom wirklichen Le-ben in das Justizleben übertreten kann; insofern stellt Prozessrechteine Spiegelung des materiellen Rechts dar. Dabei zeigt die Wen-dung von der dienenden Rolle des Prozessrechts die Richtung an,in der die Funktionszuweisung normalerweise verläuft: Von den immateriellen Recht verkörperten Gerechtigkeitsvorstellungen zu de-ren Realisierung durch das Prozessrecht."F. BOMMER, Offensive Verletztenrechte im Strafprozess, 2006,237 f.

Inhaltliche Vorgaben des materiellen Rechts für das Prozessrecht."Ohne das materielle Strafrecht wäre unklar, wonach im Verfahrenüberhaupt gesucht werden muss, welche Daten das Verfahren zusammeln hat. Das materielle Strafrecht stellt klar, dass dies die Da-ten zur Strafbarkeit und zur Strafzumessung sind .... Das materielleStrafrecht gibt dem Strafverfahren die Hülsen vor, die das Strafver-fahren zu füllen hat."W. HASSEMER, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2.Aufl., 1990 118 f.

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2) Die strafrechtsgestaltende Kraft des ProzessrechtsErkenntnis, dass das materielle Recht auch der Verwirklichung desProzessrechts dient.

3) Das Strafprozessrecht als angewandtes VerfassungsrechtGarantiefunktion des Strafprozessrechts.

"Das prozessordnungsgemässe Zustandekommen der Entschei-dung, mithin die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfah-rens, ist ..... eine zentrale, dem Strafprozess obliegende Aufgabe.Das Strafverfahrensrecht lässt sich insoweit als 'angewandtes Ver-fassungsrecht' charakterisieren. Die rechtliche Ausgestaltung desStrafverfahrens übernimmt die Funktion eines Seismographen derStaatsverfassung, da Kollektiv- und Individualinteressen nirgend-wo sonst in solcher Schärfe in Widerstreit treten."P. STRAUB / T. WELTERT, BSK StPO, Art. 1, N 4.

"Das Strafverfahrensrecht gibt .... nicht nur den Behörden die Mit-tel zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts in die Hand. Eshat auch den Schutz des Einzelnen vor ungerechtfertigten Verdäch-tigungen oder unzulässigen Eingriffen in dessen Persönlichkeits-rechte sicherzustellen. Es legt Voraussetzungen und Modalitätenstaatlicher Eingriffe fest und garantiert ein justizförmiges Verfah-ren."N. OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl.,2005, N 3.

¢ Der Strafprozess als eine "institutionelle Ausprägung des Rechts-staates" (KRAUSS, Vergleich, 1985, 173).

4) Die Justizförmigkeit des VerfahrensVgl. insb. Art. 2 Abs. 2 StPO.

"Das Postulat der gesetzmässigen Ausübung staatlicher Machtzwingt die 'justizförmige' Gestaltung des Verfahrens in gesetzlicheBahnen. Prozessuale Eingriffe und Zwangsmassnahmen dürfen nurdurch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes vorgenommen wer-den."KRAUSS, Vergleich, 1985, 174.

Ohne solche Prinzipien "könnte das Strafverfahren hinsichtlichÜberführung des Schuldigen vielleicht 'effektiver' sein. DerRechtsstaat nimmt insofern um wichtigerer Ziele willen auch einegeringere 'Effektivität' in Kauf. Solche übergeordneten wichtigerenZiele sind die Begrenzung staatlicher Eingriffe und die Garantiedes Rechtfriedens durch Entdramatisierung eines Konflikts zwi-schen Menschen."K. SEELMANN, Strafrecht, AT, 4. Aufl., 2009, 16.

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"Die Gefahr des Missbrauchs staatlicher Macht ist ..... jedem Straf-verfahren inhärent. Umso bedeutsamer ist es, dass Strafen nur un-ter strenger Beachtung des dafür vorgesehenen Prozesswegs sowieder etwa in der Bundesverfassung vorgesehenen Garantien undSchranken verhängt werden dürfen. Dieser Grundsatz der Justiz-förmigkeit (oder Prozessförmigkeit) ....."SCHMID, Handbuch, N 9.

"Das Strafverfahren dient der Durchsetzung des materiellen Straf-rechts. Die Funktion des Strafprozessrechts erschöpft sich abernicht in dieser dienenden Funktion. Es geht im Strafverfahren we-der darum, die materielle Wahrheit um jeden Preis zu ermitteln(.....), noch darum, das materielle Strafrecht um jeden Preis, alsoauf welche Weise und mit welchen Mitteln auch immer durchzu-setzen (.....). Ziel des Strafverfahrens ist die Abklärung eines Straf-tatverdachts in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden,d.h. gesetzesförmig ablaufenden und die beschuldigte Person alsVerfahrenssubjekt anerkennenden Verfahren (.....). Die eigenstän-dige Funktion des Strafprozessrechts besteht darin, die Justizför-migkeit des Verfahrens zu gewährleisten, also den Ablauf desStrafverfahrens so zu regeln, dass das Verfahren in einer Art undWeise abläuft, die den Anforderungen an ein rechtsstaatlichenGrundsätzen entsprechendes 'faires' Verfahren genügt."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 2, N 7.

¢ "Bremse des Verfahrens" (RUCKSTUHL).Schützende Formen des Strafprozesses.

"Das Strafverfahren als gefährliche Veranstaltung muss der Dispo-sition einzelner, der Disposition des Richters, des Staatsanwaltsoder der Öffentlichkeit entzogen werden; es darf nicht zum Instru-ment oder zur Waffe in der Hand einzelner oder einzelner Gruppengegen andere werden. Im Strafverfahren müssen die Voraussetzun-gen für Ruhe, Distanz, Zurückhaltung (und wenn möglich: Ach-tung vor den anderen Verfahrensbeteiligten) geschaffen werden.Die rechtsstaatlich motivierte Verfahrenslehre des 19. Jahrhundertshat das schöne Wort 'schützende Formen' verwendet und damitzum Ausdruck gebracht, dass die Förmlichkeiten des Strafverfah-rens keine Formsache sind."HASSEMER, a.a.O., 136.

"Die schützenden Förmlichkeiten des Strafverfahrens sind keinSelbstzweck, sondern haben eine zentrale Bedeutung für die Ge-währleistung der Fairness des Verfahrens, indem sie Machtmiss-brauch und willkürlich-rechtsungleiche Behandlung ausschliessenund unangemessene Beeinträchtigungen der Verteidigungsrechteverhindern (.....)."WOHLERS, a.a.O., Art. 2, N 8.

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5) Der Funktionswandel des StrafprozessesDie ursprüngliche Zielsetzung des Strafprozesses als rechtlich gere-gelte Abklärung eines Tatverdachtes wird immer mehr von präventi-ven Zielsetzungen überlagert.

"Die Ausuferung des materiellen Strafrechtsschutzes hat durchausauch Konsequenzen auf der Ebene des Strafprozessrechts. Vorver-lagerung der Strafbarkeit durch Vorbereitungshandlungen und abs-trakte Gefährdungsdelikte verlangen nach Vorfeldermittlungen derPolizei. Es geht nicht mehr länger um die Wiederherstellung despunktuell gestörten Rechtsfriedens, sondern um die Abwehr uner-wünschter Angriffe auf die gesellschaftliche Ordnung. Das Straf-verfahren wandelt sich damit von einem Bestandteil rechtlicherSanktionierung abweichenden Verhaltens zu einem Instrument dervorbeugenden Verbrechensbekämpfung."N. OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl.,2005, N 19.

"Der repressive Verfolgungsauftrag .... und der präventive Auftraggehen immer mehr ineinander über. Die durchgehende Besetzungdes Vorfelds durch abstrakte Gefährdungsdelikte und die flächen-deckende Kriminalisierung gesellschaftlicher .... Fehlentwicklun-gen erschliessen dem Strafrecht Bereiche, in denen bis anhin nurdie Polizei Gefahrenabwehr betrieben hat. In diese Aufgabe teiltsie sich mehr und mehr mit den Strafverfolgungsbehörden."KRAUSS, Anmerkungen, 2003, 30.

Zum postmodernen Ansatz im Strafprozess: "Das Ziel ist letztlichdie Gewährleistung der Sicherheit, die Kontrolle über Personenund Räume insgesamt. Dabei kommt es nicht in erster Linie daraufan, dass Unrecht vergolten wird, nicht darauf an, dass Menschengebessert werden und auch nur am Rande darauf an, dass die Justizsichtbar stattfindet: Entscheidend ist, dass Menschen als Angehöri-ge von Risikogruppen identifiziert werden. Die moderne Polizei istganz auf Risikomanagement eingestellt."PIETH, Kontrollmodell, 2002, 428.

II) Präzisierung des Vorlesungsstoffes

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2. Teil: DIE UNTERSUCHUNGSHAFTLit.:P. ALBRECHT, Die Untersuchungshaft – eine Strafe ohne Schuld-

spruch?, in: FS Trechsel, 2002, 355 ff.

I) Einige Begriffe- Untersuchungs- / Sicherheitshaft: Art. 220 StPO;- polizeiliche Anhaltung: Art. 215 StPO;- vorläufige Festnahme: Art. 217 ff. StPO.Ergänzend dazu Botschaft, BBl 2006, 1224 ff.

II) Die Legitimation der Untersuchungshaft1) Das Legitimationsdilemma

Untersuchungshaft als schwerer Eingriff in die persönliche Freiheitmit der Unschuldsvermutung vereinbar?

2) Die Zwecke der Untersuchungshaft

a) Prozessuale ZweckeSicherung des ordnungsgemässen Verfahrens + ev. des Vollzu-ges einer Freiheitsstrafe bzw. einer freiheitsentziehenden Mass-nahme. Vgl. Art. 196 StPO.

b) Weitere ZweckePolizeilich-präventive Zwecke etc.

3) Die rechtliche Problematik

a) Konflikte mit der UnschuldsvermutungLit.:M. HÄRRI, Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf das Recht

der Untersuchungshaft, AJP 2006, 1217 ff.

aa) Inhalt und Tragweite der UnschuldsvermutungArt. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1StPO.¢ Normative Vorgabe für die Strafverfolgung und Justiz.

"Entgegen der ersten Assoziation, die der Begriff vielleicht weckt,geht es dabei nicht um eine tatsächliche Vermutung. Vorausset-zung jeden Strafverfahrens ist bekanntlich gerade gegenteilig einrechtsgenügender Anfangsverdacht, der im weiteren Verlauf ideal-typischerweise laufend konkretisiert wird. Das Strafverfahren wird

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durch die Konkretisierung des Tatverdachts gesteuert. SCHULZ hatdies jüngst prägnant formuliert: Die Unschuldsvermutung schliesstden Tatverdacht nicht aus, weil dieser 'die Voraussetzung für dieAnwendung der Unschuldsvermutung erst schafft'. Bis zu einemetwaigen Schuldspruch, für den der Staat die Beweislast trägt, giltder Angeklagte aber als unschuldig. Der Grundsatz trägt demnachnormativen Charakter: Ausgestaltung und Anwendung von straf-prozessualen (Zwangs-)Massnahmen dürfen immer nur soweit ge-hen, dass sie gegebenenfalls auch gegenüber einem Unschuldigennoch gerechtfertigt werden können, d.h. im Falle eines Freispruchsals gerade noch zumutbares Sonderopfer angesehen werden kön-nen. Die Unschuldsvermutung erweist sich damit als Kehrseite derPflicht zur Duldung der staatlichen Strafverfolgung."H. VEST, in: FS Trechsel, 2002, 795 f.

"Die Unschuldsvermutung verlangt allein, dass die staatlichen Stel-len ihr Verhalten bis zum Zeitpunkt einer rechtskräftigen Verurtei-lung daran orientieren, dass die Möglichkeit eines Freispruchs derbeschuldigten Person im Raum steht. Dies verbietet es, Massnah-men zu ergreifen und /oder die beschuldigte Person in einer Artund Weise zu behandeln, die dann nicht zu rechtfertigen wäre,wenn sich herausstellen sollte, dass die beschuldigte Person in Tatund Wahrheit unschuldig ist."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 10, N 2.

bb) Untersuchungshaft und Unschuldsvermutung

α) Anknüpfung am TatverdachtDen unmittelbaren Anknüpfungspunkt für die Untersu-chungshaft bildet der dringende Verdacht, ein bestimmtesDelikt verübt zu haben. Der Tatverdacht bedeutet einedem Ang. zurechenbare Störung der Rechtsordnung. Diestörende Wirkung dauert an, solange der Verdacht nichtentkräftet ist oder auf die begangene Tat keine staatlicheReaktion folgt. Daraus rechtfertigt es sich, den Verdächti-gen als "Störer" zur Aufklärung des vorhandenen Tatver-dachts hoheitliche in Anspruch zu nehmen, und zwar al-lenfalls auch mittels Untersuchungshaft.P. ALBRECHT, BJM 1999, 2 f., unter Hinweis auf KRAUSS.

"Im Tatverdacht findet sich die Legitimation für den Freiheitsver-lust des Beschuldigten (der als unschuldig zu gelten hat), weil derTatverdacht Grund und Anlass des Strafverfahrens ist und mithindas Element, das die Möglichkeit strafprozessualer Zwangsmass-nahmen, darunter auch die Untersuchungshaft, erst in die Weltsetzt."W. HASSEMER, StV 1984, 40.

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"Das Strafverfahren darf gegen den Verdächtigen eingeleitet undZwangsmassnahmen gegen qualifiziert Verdächtigen ergriffenwerden, weil er als 'Störer' der Rechtsordnung erscheint, auchwenn er als unschuldig gilt. Konsequenz dieser Betrachtungsweiseist, dass nur solche Zwangsmassnahmen zulässig sind, die notfalls– bei Einstellung oder Freispruch – auch gegenüber einem wirklichUnschuldigen noch als 'Sonderopfer' zu vertreten wären. Andern-falls müssen ex post betrachtet unberechtigte Übergriffe entschä-digt werden (Art. 431)."PIETH, Strafprozessrecht, 107.

Weitere Konsequenz aus der Unschuldsvermutung: Be-schränkung des legitimen Zwecks des Strafverfahrens aufdie Klärung des Tatverdachts (illegitim die Verfolgung vonStrafzwecken).

β) Problematik einer Präventivhaft- Bundesgericht:

"Nach der Praxis des Bundesgerichtes kann die Anordnung vonHaft wegen Fortsetzungsgefahr dem strafprozessualen Ziel der Be-schleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich das Verfah-ren durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht(.....). Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weitererDelikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr an-erkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit,Angeschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hin-dern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (.....)."BGE 135 I 71 ff. (72, E. 2.2).

- Kritik an den präventiven Haftgründen:Die Verhinderung deliktischer Rückfälle einer tatver-dächtigen Person ist ein durchaus berechtigtes Zielstaatlichen Handelns, hat aber nichts mit einer Siche-rung der Strafuntersuchung oder -vollstreckung zutun und bildet folglich einen Fremdkörper im Prozess-recht. Die Beseitigung der Rückfallgefahr ist ein spe-zialpräventives Anliegen, das typischerweise denStrafsanktionen obliegt und somit ein (rechtskräftiges)Urteil voraussetzt.ALBRECHT, in: FS Trechsel, 2002, 357 f.

".... stellt der Haftgrund der Fortsetzungs- oder Wiederholungsge-fahr einen eigentlichen Fremdkörper im System des Haftrechts dar.Mit diesem besonderen Haftgrund werden nicht Zwecke des Straf-verfahrens verfolgt, sondern es wird dem Angeschuldigten im Sin-ne einer vorbeugenden Massnahme, welche allein der Verhinde-rung weiterer Straftaten dient, die Freiheit entzogen. Der Haftgrundder Fortsetzungsgefahr erscheint angesichts der Tatsache, dass der

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Freiheitsentzug auf der Grundlage eines unbewiesenen – und zwarsowohl in Bezug auf die begangenen wie auch hinsichtlich der zubefürchtenden Straftaten – Verdachts erfolgt, unter rechtsstaatli-chen Gesichtspunkten nicht unproblematisch."N. OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl.,2005, N 999.

γ) Weitere Konflikte mit der Unschuldsvermutung

b) Konflikte mit dem materiellen StrafrechtStrafgestaltende Wirkungen des Untersuchungshaft.

aa) Präjudizierung der StrafsanktionEinfluss der Untersuchungshaft auf die Strafzumessung:Bei den Gerichten nicht selten die Tendenz, die Höhe derausgesprochenen Freiheitsstrafe so anzusetzen, dass sie dieDauer der bereits erlittenen Inhaftierung zumindest nicht un-terschreitet. Auf diesem Wege lässt sich die angeordneteUntersuchungshaft nachträglich "rechtfertigen" und zugleicheine allfällige Forderung nach Haftentschädigung von vorne-herein vermeiden.ALBRECHT, a.a.O., 360.

bb) Umgestaltung der StrafsanktionDeutliche Anzeichen, dass durch die Praxis der Untersu-chungshaft die Sanktionen des Strafgesetzbuches in einemhohen Masse umgestaltet werden, und zwar in die Richtungeines vorwiegend verwahrenden Freiheitsentzuges.ALBRECHT, a.a.O, 361.

III) Die materiellen Voraussetzungen der UntersuchungshaftÚ B e i l a g e 1

1) Der dringende Tatverdacht= Primäre Voraussetzung der Untersuchungshaft.Art. 221 Abs. 1 StPO.

¢ Unzulässig der sog. Ausforschungsbeweis("fishing expeditions").

2) Die (besonderen) Haftgründea) Allgemeines

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Art. 221 StPO.Stets konkrete Anhaltspunkte für einen Haftgrund erforderlich.

b) Die FluchtgefahrHaftgrund als Folge der Anwesenheitspflicht des Angeschuldigten.¢ Sicherung der Anwesenheitspflicht im Prozess + ev. des Voll-zuges einer Strafsanktion (insb. Freiheitsstrafe).

Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtspre-chung des Bundesgerichts die Höhe der dem Angeschuldigten dro-henden Freiheitsstrafe für sich allein nicht. Eine solche darf nichtschon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht inabstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dar-getan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern alswahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden Frei-heitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünsti-genden Tatsachen herangezogen werden (....)."BGE 125 I 60 ff. (62); im gleichen Sinne Pra 2000, Nr. 18, E. 4a.

Rspr.:BGE 125 I 60 ff.;Pra. 2000, Nr. 18.

c) Die Kollusionsgefahr (Verdunkelungsgefahr)Haftgrund als Folge des auf Wahrheitssuche verpflichteten Verfah-rens.¢ Kollusionsgefahr als Gefahr der widerrechtlichen Einflussnahmeauf die Wahrheitsermittlungen (Beeinflussung von Personen oderVerwischung von Spuren).

- Präzisierungen:Erforderlich die Gefahr einer Beweisvereitelung, nicht bloss ei-ner Gefährdung oder Erschwerung der Ermittlungen.P. ALBRECHT, BJM 1999, 3.Vgl. Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO: ".... um so die Wahrheitsfindungzu beeinträchtigen".

Problematisch die teilweise abweichende Gesetzgebung undRspr.

"Kollusion bedeutet nach der bundesgerichtlichen Praxis insbeson-dere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftsperso-nen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmensetzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dasser Spuren und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haftwegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigtedie Freiheit oder einen Urlaub dazu missbrauchen würde, diewahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu

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gefährden. Die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigtein Freiheit kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um die Fort-setzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter die-sem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizienfür die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Das Vorlie-gen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des jeweili-gen Einzelfalles zu prüfen (....).Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nachder Rechtsprechung des Bundesgerichtes namentlich ergeben ausdem bisherigen Verhalten des Angeschuldigten im Strafprozess,aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinenTatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie ausden persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belasten-den Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebli-che Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelungdroht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung be-drohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuch-ten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen(....).Nach Abschluss der Strafuntersuchung (und insbesondere nachDurchführung einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung) bedarfder Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigenPrüfung. Er dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafun-tersuchung. Zwar ist auch die richterliche Sachaufklärung vor un-zulässigen Einflussnahmen zu bewahren. Dies gilt insbesondere imHinblick auf die (in der Regel beschränkte) Unmittelbarkeit derBeweisaufnahme anlässlich der Hauptverhandlung (....). Je weiterdas Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sach-verhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderun-gen sind jedoch grundsätzlich an den Nachweis von Verdunke-lungsgefahr zu stellen (....)."BGE 132 I 21 ff. (23 f.).

- Wann liegen "konkrete Indizien" vor?"Bei der Beurteilung der Kollusionsgefahr ist in objektiver Hin-sicht die reale Kollusionsmöglichkeit und unter subjektiven Ge-sichtspunkten die konkrete Kollusionsbereitschaft zu prüfen. EineKollusion muss in Berücksichtigung der konkreten Beweislagenicht nur möglich sein; es müssen auch konkrete Anhaltspunktedafür vorliegen, dass der individuelle Angeschuldigte von dieserMöglichkeit Gebrauch machen könnte. Kollusionsgefahr ist des-halb in aller Regel nicht mehr gegeben, wenn die Beweissicherungbereits in einem Umfang vorgenommen worden ist, dass sie auchdurch allfällige Machenschaften des Angeschuldigten nicht mehrerschüttert werden kann."N. OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl.,2005, N 989.

"Die Tatsache allein, dass noch nicht alle Beweise erhoben bzw.die Mitverdächtigen dingfest gemacht werden konnten oder dass

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die beschuldigte Person die Aussage verweigert, genügt nicht. Indie Beurteilung einfliessen kann das Verhalten im bisherigen Vor-verfahren."SCHMID, Handbuch, N 1023.

In der Praxis Tendenzen einer extensiven Annahme von Kollu-sionsgefahr (bedenklich z.B. BGE 128 I 149 ff.).

Rspr.:BGE 132 I 21 ff. betr. Menschenhandel, Förderung der Prostitu-

tion etc.BGE 128 I 149 ff. betr. sexuellen Missbrauch von Kindern

(kritisch H. VEST, AJP 2003, 857 ff.).

d) Die Fortsetzungsgefahr (Wiederholungsgefahr)Zum Zweck des Haftgrundes:

"Zum einen soll er dazu beitragen, dass ein hängiges Verfahren ab-geschlossen werden kann, indem der beschuldigten Person verun-möglicht wird, durch stetige Delinquenz den Verfahrensabschlusshinauszuzögern oder sogar zu verunmöglichen. Zum andern kanner ausschliesslich der Gefahrenabwehr dienen; in diesem Sinn han-delt es sich somit eigentlich um eine sichernde, polizeilicheZwangsmassnahme."Botschaft, BBl 2006, 1229

Restriktive Formulierung in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO;dazu Botschaft, a.a.O.

Ebenso zurückhaltende Tendenzen in der BGer.-Praxis.Zur Voraussetzung der Fortsetzungsgefahr: Bei der Prüfung desVorhandenseins dieser .... Voraussetzung ist ein strenger Massstabanzulegen, wohnt doch dem Haftgrund der Fortsetzungsgefahr we-sensgemäss eine gewisse Gefahr des Missbrauchs inne. Allerdingsist zu beachten, dass Haft wegen Fortsetzungsgefahr gerade derBeschleunigung dient, d.h. es soll verhindert werden, dass sich dasVerfahren unerträglich in die Länge zieht, ....".BGE 105 Ia 30 ff. (31).

"Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechenoder erhebliche Vergehen begehen könnte, ist allerdings Zurück-haltung geboten. Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriffin das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einerhinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen In-teresse liegen und verhältnismässig sein (.....). Die Aufrechterhal-tung von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungsgefahr ist ver-hältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungüns-tig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natursind (.....). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weite-

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rer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügigeStraftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Prä-ventivhaft zu begründen."BGE 135 I 71 ff. (73, E. 2.3).

"Die Lehre bemüht sich um Eingrenzung. Wiederum muss die Ge-fahr konkret und nicht bloss theoretisch sein. Sie soll sich nach Ge-setz bereits in früherer gleichartiger Delinquenz manifestiert haben.Gesetz und Botschaft betonen weiter die qualifizierte Gefahr, die'durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderererheblich gefährdet'. Diese Formel deutet darauf hin, dass eine In-dividualgefahr erforderlich ist, selbst wenn sie sich in einem ge-meingefährlichen Delikt verbirgt."PIETH, Strafprozessrecht, 115.

Rspr.:BGE 135 I 71 ff.,BGE 125 I 60 ff.,BGE 123 I 268 ff.

e) Die Ausführungsgefahr"Der Gewaltprävention kommt in den Augen der Öffentlichkeit ei-ne grosse Bedeutung zu. Dieser Stimmung wollte der Gesetzgeberoffenbar Rechnung tragen, indem er in Abs. 2 den Haftgrund derAusführungsgefahr verankerte, losgelöst von der Frage einer aktu-ellen Strafuntersuchung. .....Die Untersuchungshaft wegen Ausführungsgefahr kann ohne be-sonderen Konnex zu einer laufenden Strafuntersuchung (z.B. we-gen Drohung nach StGB Art. 180 oder Vorbereitungshandlungnach StGB 260bis) angeordnet werden."M. HUG, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kommentar,Art. 221, N 40 f.

"Der Haft wegen Ausführungsgefahr liegt die Konstellationzugrunde, dass die Begehung eines schweren Verbrechens erst inAussicht gestellt wird, der Bezug zu einer bereits begangenenStraftat indes fehlt, weshalb hier kein dringender Tatverdacht vor-ausgesetzt werden kann. Verlangt ist deshalb vielmehr eine kon-krete Gefahr der Tatbegehung ('ernsthaft zu befürchten')."Botschaft, BBl 2006, 1229.

¢ Ebenfalls eine höchst problematische Präventivhaft."Systemwidrig ist der Haftgrund, weil es sich – ohne jeden Bezugauf eine konkreten Tatverdacht – um eine rein präventivpolizeili-che Massnahme handelt. Sie gehört nicht ins Strafprozessrecht,sondern ins Polizeirecht (vgl. den Polizeigewahrsam) und ist dendort geltenden Regeln zu unterwerfen.

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Verfassungswidrig ist der Haftgrund der 'Ausführungsgefahr', weildem Bund im präventivpolizeilichen Bereich schlicht die Kompe-tenz zur Verpflichtung der Kantone fehlt. Art. 221 Abs. 2 verletztdie verfassungsmässige Kompetenzordnung zwischen Bund undKantonen."PIETH, Strafprozessrecht, 115; zustimmend HUG, a.a.O., Art. 221,N 41.

"Es spricht ein Hauptgrund gegen die Einführung dieses Haftgrun-des: Bei schweren Delikten werden bereits strafbare Vorberei-tungshandlungen vorliegen, die ein selbständiges Delikt darstellen,das verfolgt werden kann. Bei diesen Delikten kann dann eineVerhaftung eben wegen der begangenen Vorbereitungsdelikte er-folgen und damit ist der Haftgrund der Ausführungsgefahr entbehr-lich.Ohne Vorbereitungsdelikt fehlen aber sämtliche Voraussetzungenfür die Anordnung von Haft. Damit Haft angeordnet werden kann,muss ein Strafverfahren gegen die zu inhaftierende Person einge-leitet sein oder unmittelbar vor der Einleitung stehen, d.h. es mussder Verdacht bestehen, dass die zu inhaftierende Person ein Deliktbegangen hat. Das fehlt nun aber an dieser Konstellation gerade."N. RUCKSTUHL, Anwaltsrevue 9/2002, 11.

Rspr.:BGE 125 I 360 ff. (bedenklich).

f) Die schwere Tat (bzw. der schwere Tatverdacht)Haftgrund der "kochenden Volksseele"; Verstoss gegen die Un-schuldsvermutung.

g) Apokryphe Haftgründe= Verborgene, verdeckte Haftgründe.

3) Die Verhältnismässigkeit der Hafta) Der Grundsatz

Art. 36 Abs. 3 und 4 BV,Art. 197 StPO,Art. 194 E StPO (dazu Botschaft, BBl 2006, 1216).

"Auf die Untersuchungshaft muss verzichtet werden, wenn ihreAuswirkung auf den Betroffenen in keinem vernünftigen Verhält-nis zum Haftzweck stehen. Sie lässt sich umso weniger mit derpersönlichen Freiheit und dem Verhältnismässigkeitsprinzip ver-einbaren, je geringer das Interesse an der Fortsetzung der Haft istund je eher der Tod oder eine dauernde, schwere Krankheit dieFolge der Untersuchungshaft wäre (....). Es ist demnach in jedem

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einzelnen Fall eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der ins-besondere der Zweck der Untersuchungshaft, die Schwere der ge-sundheitlichen Gefährdung, die Möglichkeit der medizinischenBetreuung im Gefängnis etc. zu berücksichtigen sind."BGE 116 Ia 420 ff. (423).

Rspr.:BGE 116 Ia 420 ff. betr. Untersuchungshaft bei einem aidskrankenund suizidgefährdeten Angeklagten.

"Die Tatsache allein, dass ein Untersuchungsgefangener Aids-krank und suizidgefährdet ist, hat im allgemeinen nicht ein derartgrosses, absolut wirkendes Gewicht, dass sie von vornherein jedemHaftzweck vorginge und die Entlassung aus der Untersuchungshaftrechtfertigte. Die Untersuchungshaft bedeutet für den Betroffenenimmer ein Übel - sie wird vom einen besser, vom anderen wenigergut ertragen. Würde Aids-Kranken generell Haftverschonung ge-währt, so liefe dies darauf hinaus, dass sich chronisch kranke odergebrechliche Personen Angriffe auf strafrechtlich geschützteRechtsgüter Dritter eher erlauben könnten, weil ihnen zwar eineVerurteilung drohte, sie aber weder in Untersuchungshaft noch inden Strafvollzug versetzt werden könnten. Dass dies nicht richtigsein kann, liegt auf der Hand. Die Untersuchungshaft kranker Per-sonen greift somit im allgemeinen nicht derart stark in die persön-liche Freiheit ein, dass diese völlig unterdrückt oder ihres Gehaltesals Institution der Rechtsordnung entleert würde (....)."Im vorliegenden, konkreten Fall ergeben sich weder aus der Be-schwerde noch den übrigen bundesgerichtlichen Akten Anhalts-punkte dafür, dass die Untersuchungshaft in ihrer Wirkung einerVernichtung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers gleichkämeoder ihm schwere psychische Schäden zufügte. Die Haftbelassungverletzt demnach den Kerngehalt der persönlichen Freiheit nicht(....). Somit ist auch im vorliegenden Fall, wo eine vorbestandeneKrankheit besteht, eine umfassende Interessenabwägung vorzu-nehmen zwischen dem Eingriff in die Rechtsgüter des Betroffenenund dem öffentlichen Interesse an seiner Sicherung."BGE 116 Ia 420 ff. (423 f., E. 3/b).

b) Die Notwendigkeit der Haft

aa) SubsidiaritätVgl. Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO.

Es "gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten- dass sie nur als 'ultima ratio' angeordnet oder aufrecht erhaltenwerden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werdenkann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehenund an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt werden(.....)."BGE 135 I 71 ff. (73, E. 2.3).

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bb) ErsatzmassnahmenVgl. Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. (insb. Art. 237 Abs.2) StPO.

"Lorsqu'une détention se prolonge uniquement en raison de lacrainte de voir l'accusé se soustraire par la fuite à sa comparutionultérieure devant ses juges, il échet d'élargir l'intéressé s'il peutfournir des garanties adéquates de représentation (art. 5 par. 3CEDH; art. 9 al. 3 Pacte ONU II; ….). Ces garanties ne se limitentpas au versement d'une caution financière; elles peuvent égalementconsister en des mesures de contrôle judiciaire, telles que l'obliga-tion de se présenter à une autorité déterminée ou le dépôt du passe-port ou des papiers d'identité, lorsque ces mesures sont propres àassurer la présence du prévenu aux actes d'instruction et aux débats(....).En tant qu'elles emportent une atteinte moins grave à la liberté per-sonnelle que la détention préventive, de telles mesures s'imposentmême en l'absence d'une base légale expresse, que ce soit directe-ment en vertu du droit du prévenu à être libéré moyennant des ga-ranties, tel qu'il est garanti à l'art. 5 par. 3 CEDH (….), du principe'in maiore minus' (….), du principe de la subsidiarité de la déten-tion préventive (….) ou encore de l'obligation pour les organes éta-tiques de garantir le respect des libertés individuelles (....). Cettesolution est dans l'intérêt du prévenu, car si l'autorité devait ne pasestimer suffisant le versement d'une caution pour pallier à tout ris-que de fuite, l'alternative ne consisterait pas nécessairement dans lalibération immédiate de l'intéressé, mais dans le maintien de la dé-tention préventive. L'autorité est tenue d'examiner d'office si lamise en liberté provisoire peut intervenir moyennant des mesuresde substitution (….)."BGE 133 I 27 ff. (29 f., E. 3.2).

Zum Electronic Monitoring als Ersatzmassnahme:Bundesstrafgericht vom 24. 11. 2009 i.S. Roman Polanskibetr. Auslieferungshaft, forumpoenale 2010, 224 ff.

c) Die Verhältnismässigkeit i.e.S.Vgl. allgemein zu den Zwangsmassnahmen: Art. 197 Abs. 1 lit. dStPO.

Keine Untersuchungshaft bei Bagatelldelikten.Vgl. Art. 221 Abs. 1 StPO: Ausschluss der Haft bei Übertretungen.

Die Untersuchungshaft "darf nicht angeordnet werden, wenn sie zuder Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Mass-regel der Besserung und Sicherung ausser Verhältnis steht".§ 112 Abs. 1 S. 2 der deutschen StPO.

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d) Zur Haftdaueraa) Gesetzliche Fristen

Im Allgemeinen: Befristung des Haftbefehls, aber (mehrfache)Verlängerung möglich; keine absoluten Fristen.

Höchst bedenklich Art. 227 Abs. 1 und 7 StPO;ebenso schon Art. 226 Abs. 1 und 7 E StPO

(dazu Botschaft, BBl 2006,1232 f.).

bb) Verhältnismässigkeit der HaftdauerWesentlicher Anknüpfungspunkt gemäss BGer. die Dauer derzu erwartenden Strafe.

"Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine instrafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, inner-halb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder währenddes Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine über-mässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkungdieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haftfrist diemutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehendenSanktion übersteigt. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit derHaftdauer ist namentlich der Schwere der untersuchten StraftatenRechnung zu tragen. Der Richter darf die Haft nur so lange erstre-cken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der (im Falle einerrechtskräftigen Verurteilung) konkret zu erwartenden Dauer derfreiheitsentziehenden Sanktion rückt. Im Weiteren kann eine Haftdie zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafver-fahren nicht genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl dasVerhalten der Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten inBetracht gezogen werden müssen. Nach der übereinstimmendenRechtsprechung des Bundesgerichtes und des Europäischen Ge-richtshofes für Menschenrechte ist die Frage, ob eine Haftdauer alsübermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der konkreten Ver-hältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (.....)."BGE 132 I 21 ff. (28 f.); ebenso BGE 133 I 168 ff.

Kritik gegenüber dem BGer.:"Mit dieser Praxis gerät die Untersuchungshaft in Gefahr, als 'vor-weggenommene Strafe' oder 'Verdachtsstrafe' die Unschuldsver-mutung zu verletzen."PIETH, Strafprozessrecht, 117.

"Nach der Praxis des EGMR sind für die Beurteilung der Zulässig-keit der konkreten (relativen) Maximaldauer der Untersuchungs-haft folgende Kriterien ausschlaggebend: analog der bundesge-richtlichen Praxis das Verhältnis zwischen Haftdauer und der an-gedrohten Strafe des in Frage stehenden Delikts sowie die Kom-plexität das Falles, zusätzlich die Folgen der Haft für den betroffe-

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nen Gefangenen, sein Verhalten sowie die Art der Behandlung desFalles durch die Untersuchungsorgane und die gerichtlichen In-stanzen (.....). Insoweit stellt sich die Frage, ob das BGer seine Pra-xis nicht verschärfen müsste, um den Anforderungen der Konven-tion weiterhin zu genügen. Sie ist zu bejahen, da Untersuchungs-haft nicht die Funktion einer Ersatzstrafe übernehmen darf. Bei derBestimmung der zulässigen Maximaldauer der Untersuchungshaftsind deshalb sowohl die Wahrscheinlichkeit der Gewährung des(teil-)bedingten Strafvollzuges als auch einer bedingten Entlassungaus dem Strafvollzug zu berücksichtigen (.....). Beides bildet in derPraxis den Regelfall, wobei der neue Art. 42 StGB ausdrücklichfesthält, dass unbedingte Strafen nicht aus spezialpräventivenGründen notwendig erscheine. In den entsprechenden Regelfällensollte Untersuchungshaft daher nur mit besonderer Zurückhaltungund nur für eine kurze Dauer angeordnet werden (.....)."H. VEST, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2.Auflage, 2008, Art. 31, Rz 32.

"Die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Praxis ergibt sich nichtallein aus der Unverhältnismässigkeit eines das Gleichheitsprinziptangierenden Sonderopfers. Vielmehr ist aus der Unschuldsvermu-tung zu folgern, dass es nicht Sache des Beschuldigten sein kann,darlegen zu müssen, dass der erkennende Richter keine unbedingteStrafe verhängen werde (.....). Art. 42 StGB begründet für sechs-monatige bis zweijährige Freiheitsstrafen vielmehr die Vermutungeiner günstigen Prognose. Eine längere Untersuchungshaft ist mitdieser Regelvermutung, die wenigstens bei Ersttätern im Allge-meinen zur Anwendung gelangen wird, nicht zu vereinbaren (.....).Die absolute Höchstgrenze dürfte bei einem Drittel der bedingtvollziehbaren Freiheitsstrafe liegen."A.a.O., Art. 32, Rz 14.

Die Verbindung der Verhältnismässigkeitsprüfung mit dem(zeitlichen) Mass der konkret zu erwartenden Sanktion lässtsich mit Art. 32 Abs. 1 BV kaum in Einklang bringen. Aus derUnschuldsvermutung ergibt sich nämlich, dass Massnahmengegen einen Verdächtigen "in ihrer Intensität, vor allem in ih-rer Dauer, nicht den Charakter einer Strafe erhalten" dürfen(SCHUBARTH). Dieses Prinzip wird nun aber missachtet, so-weit das Bundesgericht die zulässige Höchstdauer der Unter-suchungshaft unmittelbar nach dem im Falle einer Verurtei-lung zu erwartenden Strafmass bestimmt. Zu beanstanden isthier nicht, dass die in Aussicht stehende Sanktion überhauptals Kriterium herangezogen wird, sondern dass diese Bezug-nahme sozusagen deckungsgleich erfolgt, d.h. im Verhältniseins zu eins.

Gesetzliche Regelung:Art. 212 Abs. 3 StPO.

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Rspr. und Lit.:BGE 132 I 21 ff.,BGE 126 I 176 f.,HÄRRI, a.a.O., 1222 ff.;ALBRECHT, in: FS Trechsel, 2002, 358 f. und BJM 1999, 17;E. TOPHINKE, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, 2000,

383 ff.

Bemerkenswerte gesetzliche Regelung in § 78 StPO BL a.F.(d.h. vor dem 1. 1. 2004):"§ 78 VerhältnismässigkeitDie Untersuchungshaft darf, unabhängig vom Bestehen allfäl-liger Haftgründe, nicht angeordnet oder muss unverzüglichaufgehoben werden, wenn sie unverhältnismässig wäre odergeworden ist.Unverhältnismässig ist die Untersuchungshaft insbesondere,wenna. ....b. sie die Hälfte einer zu erwartenden unbedingt vollziehba-

ren Strafe oder einen Drittel einer zu erwartenden bedingtvollziehbaren Freiheitsstrafe erreicht hat."

Vgl. dazu RUCKSTUHL, Strafprozessrecht, Vorlesung, HS2007, 102 f., Fn. 89 und VEST, a.a.O., Art. 32, Rz 14.

IV) Das Verfahren der Haftanordnung und –verlängerung¢ Formelles Haftrecht.

1) Rechtsschutz durch VerfahrenProzeduraler Grundrechtsschutz: Detaillierte Verfahrensregelung alsGegengewicht zur Ausdehnung der materiellen Haftvoraussetzungen.

2) Die HaftkompetenzArt. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 31 Abs. 3 BV.Art. 225 StPO: Haftkompetenz beim Zwangsmassnahmengericht.

Mit der Zuweisung der Haftkompetenz an ein Gericht die Erwartungvon mehr Unabhängigkeit für die Haftentscheide verbunden. In derPraxis jedoch zumeist eine unrealistische Erwartung.

3) Die mündliche VerhandlungVgl. nochmals Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 31 Abs. 3 BV.Ferner Art. 225 StPO: Kontradiktorisches Haftprüfungsverfahren.

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Erwartung, dass in einer mündlichen Verhandlung die Angeschuldig-ten ihre Interessen besser zur Geltung bringen können (erhöhterGrundrechtsschutz).Von Bundesrechts wegen Anspruch auf mündliche Verhandlung fürHaftanordnung (nicht für Haftverlängerung).

4) Die Verteidigunga) Notwendige Verteidigung?

Keine Vorgaben in der BV und in der EMRK.

Gesetzliche Regelung:Art. 130 lit. a StPO: Notwendige Verteidigung, wenn "die Untersu-chungshaft einschliesslich einer vorläufigen Festnahme mehr alszehn Tage gedauert hat".Ähnlich auch schon Art. 128 lit. a E StPO:

"Buchstabe a stellt einen Kompromiss zwischen den bestehendenLösungen dar, welche im Fall der Untersuchungshaft die Verteidi-gung teilweise sofort, in der Regel aber erst nach Ablauf einer ge-wissen Zeit (bis zu einem Monat) für obligatorisch erklären. Diehier vorgeschlagene zehntägige Dauer entspricht der Lösung, wiesie im Vernehmlassungsverfahren mehrheitlich befürwortet wor-den ist. Angesichts der besonderen Situation, in der sich verhafteteBeschuldigte vor allem zu Beginn der Untersuchungshaft befinden,fragt sich indessen, ob nicht bereits früher eine notwendige Vertei-digung erforderlich ist. Dies könnte auch dazu beitragen, dass dieseZwangsmassnahme in der Praxis zurückhaltender angewandt wird.Der Entwurf trägt diesen Zweifeln insofern Rechnung, als bei einerUntersuchungshaft, die länger als drei Tage gedauert hat, für mit-tellose beschuldigte Personen immerhin die amtliche Verteidigungangeordnet werden kann (vgl. Art. 130 Abs. 2 Bst. a)."Botschaft, BBl 2006, 1178.

Meine Kritik gegenüber der StPO:Angesichts der weittragenden Bedeutung der Untersuchungshaftfür die Betroffenen sollte für die Haftrichterverhandlung stets einenotwendige Verteidigung vorgesehen werden.Ebenso N. RUCKSTUHL, Anwaltsrevue 2007, 326 f.

b) Amtliche (unentgeltliche) Verteidigung?Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK und Art. 29 Abs. 3 BV,Art. 130 Abs. 2 lit. a E StPO: "wenn die Untersuchungshaft ein-schliesslich einer vorläufigen Festnahme drei Tage gedauert hat".Keine entsprechende Regelung in der StPO.

5) Rascher Entscheid

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Nochmals Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 BV¢ Anspruch auf unverzügliche Vorführung bei einem Richter.

Vgl. die Regelung in der StPO: Art. 219 Abs. 4, 224 Abs. 2 und 221 Abs. 1.¢ Innerhalb von höchstens 96 Stunden der Entscheid des Zwangsmass-nahmengerichts.

Ú B e i l a g e 2

"Diese Zeitspanne mag lang erscheinen, allerdings erlaubt sie einezureichende Vorbereitung von Parteien und Gericht sowie eine ver-tiefte Auseinandersetzung mit den Haftgründen. Bei einer kürzerenFrist bestände die Gefahr, dass das Zwangsmassnahmengerichtroutinemässig die Haft auf Grund des ersten Eindrucks absegnenwürde."PIETH, Strafprozessrecht, 118.

"Zwischen der Anhaltung oder Festnahme und dem Entscheid desZwangsmassnahmengerichts können insgesamt höchstens 96 Stun-den liegen, nämlich je 24 Stunden zwischen Anhaltung oder Fest-nahme und Zuführung an die Staatsanwaltschaft (Art. 218 Abs. 4)und zwischen der Zuführung und dem Antrag der Staatsanwalt-schaft an das Zwangsmassnahmengericht (Art. 223 Abs. 2), sowiemaximal 48 Stunden zwischen dem Eingang des Antrags und demEntscheid des Zwangsmassnahmengerichts gemäss Absatz 1. Diesemaximal zulässige Dauer von 96 Stunden ist relativ lang. Sie lässtsich rechtfertigen aus dem Umstand, dass Artikel 224 Absatz 1 be-reits für das Verfahren der Haftanordnung (und nicht erst für dasder gerichtlichen Haftüberprüfung, Art. 226 und 227) ein Verfah-ren vorsieht, an dem neben der Staatsanwaltschaft und der be-schuldigten Person auch die Verteidigung teilnehmen kann, waseine entsprechende Vorbereitung bedingt (vgl. Art. 224 Abs. 2).Kürzere Fristen wären nur zu realisieren, wenn das Verfahren aufdie Zuführung und Anhörung der beschuldigten Person und einesummarische Prüfung ohne Beweisverfahren beschränkt würde."Botschaft, BBl 2006, 1231, zum E StPO.

6) Haftentlassungsgesuchea) Allgemein

Recht eines jederzeitigen Haftentlassungsgesuches (Art. 5 Ziff. 4EMRK, Art. 31 Abs. 4 BV).

"Nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheitdurch Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfah-ren zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst überdie Rechtmässigkeit der Haft entschieden und im Falle der Wider-rechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird (vgl. auch die ana-loge Bestimmung in Art. 9 Ziff. 4 des Internationalen Paktes überbürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 [UNO-Pakt II; SR 0.103.2, AS 1993 750]). Ist die Entscheidung, mit der

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dem Betroffenen die Freiheit entzogen wird, von einem Verwal-tungsorgan getroffen worden, kann dieser ohne weiteres eine ge-richtliche Prüfung der Rechtmässigkeit der Haft verlangen; wennursprünglich der Entscheid über die Freiheitsentziehung von einemGericht ausgeht, kann es angesichts der Natur des in Frage stehen-den Freiheitsentzuges notwendig sein, dass die Rechtmässigkeit invernünftigen Abständen überprüft wird (….).Der Angeschuldigte hat schon gestützt auf die persönliche Freiheitdas Recht, jederzeit oder zumindest "in vernünftigen Abständen"ein Haftentlassungsgesuch zu stellen und nötigenfalls eine richter-liche Haftprüfung zu beantragen. Dabei muss er insbesondere dasVorliegen ausreichender Haftgründe und die Verhältnismässigkeitder Haft überprüfen lassen können (….). Für die Frage, welcheAbstände zwischen periodischen Haftprüfungen als 'vernünftig' an-zusehen sind, kommt es auf die Verhältnisse des konkreten Fallesund auf die Besonderheiten der anwendbaren Prozessvorschriftenan (….)."BGE 123 I 31 ff. (37 f., E. 4/c), im gleichen Sinne BGE 126 I 26ff. (28 f., E. 2).

Gesetzliche Regelung: Art. 228 StPO.

b) Sperrfrist zulässig?"Zu Gunsten des Funktionierens der Strafjustiz und aus Gründender Verfahrensökonomie besteht .... ein öffentliches Interesse ander Nichtzulassung von rechtsmissbräuchlichen, trölerischen oderzum Vornherein unzulässigen Haftentlassungsgesuchen (....)."BGE 126 I 26 ff. (29, E. 2).

Regelung in der StPO: Art. 228 Abs. 5: Sperrfrist von längstenseinem Monat zulässig.

"Zweck dieser Beschränkung ist es, das fortlaufende Stellen miss-bräuchlicher und eindeutig aussichtsloser Entlassungsgesuche zuverhindern, die die beteiligten Behörden zu einem administrativenLeerlauf zwingen. Da das Zwangsmassnahmengericht ohnehinnicht verpflichtet ist, auf rechtsmissbräuchliche, trölerische undklar aussichtslose Gesuche einzutreten (....) bzw. diese mit einersummarischen Begründung abweisen kann, ist von dieser zusätzli-chen Beschränkungsmöglichkeit nur mit grosser ZurückhaltungGebrauch zu machen (....)."SCHMID, Praxiskommentar, Art. 228, N 9, unter Hinweis auf dieBotschaft; ebenso M. FORSTER, BSK StPO, Art. 228, N 9.

Meine Bedenken:Gefahr eines Missbrauchs durch die Untersuchungsbehörden (il-lustrativ hierfür die Sachverhalte in BGE 123 I 31 ff. und 126 I 26ff. sowie Pra 2006, Nr. 50).

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V) Der vorzeitige Straf- und MassnahmenvollzugRspr. u. Lit.:BGE 136 IV 70 ff.;BGE 126 I 172 ff.;HÄRRI, a.a.O., 1221 ff.

1) EinleitungVgl. Art. 236 StPO.

"Mit 'vorzeitig' ist gemeint vor einem rechtskräftigen Strafurteil.Vorzeitig erfolgt der Sanktionenantritt also nicht nur, wenn nochkein Strafurteil ergangen ist, sondern auch, wenn zwar ein Urteilgefällt worden ist, dieses wegen Einlegung eines Rechtsmittelsaber noch nicht rechtskräftig geworden ist."M. HÄRRI, BSK StPO, Art. 236, N 1.

"Der vorzeitige Massnahmeantritt stellt für das Sachgericht eineEntscheidungshilfe dar. Es ist nicht auf die Würdigung des psychi-atrischen Gutachtens beschränkt, sondern kann Erfahrungen, dieim vorzeitigen Massnahmevollzug gesammelt werden konnten, be-rücksichtigen. Der vorzeitige Massnahmeantritt ermöglicht über-dies, die Zeit der Untersuchung sinnvoll zu nutzen. Ausserdemlässt sich mit ihm vermeiden, dass die Therapiebereitschaft des Be-schuldigten durch eine längere Haft zerstört wird."BGE 136 IV 70 ff. (70, Regeste).

Zum vorzeitigen Massnahmenvollzug: "Es handelt sich dabei (wiebeim vorzeitigen Strafvollzug) um eine Form der strafprozessualenFreiheitsentziehung, die sich auf kantonales Strafverfahrens- undStrafvollzugsrecht stützt. Der vorzeitige (oder vorläufige) Sankti-onsvollzug kann mit Einverständnis des Angeschuldigten anstellevon Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft angeordnet werden, so-fern ausreichende strafprozessuale Haftgründe gegeben sind, derStand des Verfahrens die vorläufige Verbringung in eine Straf-bzw. Heil- und Pflegeanstalt erlaubt und eine längere unbedingteFreiheitsstrafe bzw. freiheitsentziehende Massnahme mit grosserWahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Mit dem vorläufigen Vollzugeiner sichernden Massnahme sollen einerseits die strafprozessualenHaftzwecke gewährleistet werden. Anderseits ermöglicht er schonvor Erlass des rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime, welchesauf die persönliche Situation des (massnahmebedürftig erscheinen-den) Angeschuldigten zugeschnitten ist, bzw. erste Erfahrungenmit der voraussichtlich sachlich gebotenen Vollzugsform zu sam-meln. Auch für den vorläufigen stationären Massnahmenvollzuggelten grundsätzlich die Verfahrensregeln des strafprozessualenHaftrechtes. Insbesondere stehen Angeschuldigte im vorzeitigenfreiheitsentziehenden Sanktionsvollzug unter dem Schutz der Un-

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schuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK) undder besonderen grundrechtlichen Garantien bei Freiheitsentziehung(….)."BGE 126 I 172 ff. (174, E. 3/a).

2) Die Funktionen des vorzeitigen Sanktionsvollzuges"Der vorzeitige Strafvollzug ist zugeschnitten auf Beschuldigte, diesich seit längerer Zeit in Untersuchungshaft befinden und eine län-gere unbedingte Freiheitsstrafe zu gewärtigen haben. Die Lebens-bedingungen sind für den Beschuldigten im Strafvollzug regelmäs-sig vorteilhafter als in der Untersuchungshaft. Im Strafvollzugkann er sich tagsüber unter Menschen bewegen und einer entlöhn-ten Arbeit nachgehen. Der vorzeitige Strafvollzug gibt ihm somitdie Möglichkeit, der Isolation und Beschäftigungslosigkeit in derUntersuchungshaft zu entgehen. Der vorzeitige Strafantritt ver-schafft dem Beschuldigten zudem Aussicht auf mildere Bestrafung.Damit zeigt dieser, dass er bereit ist, das begangene Unrecht zusühnen und zu arbeiten, statt seine Zeit untätig in der Untersu-chungshaft zu verbringen. Der vorzeitige Strafantritt kommt eben-so öffentlichen Interessen entgegen. Er verkürzt die für die Resozi-alisierung nicht nutzbare Zeit der Untersuchungshaft und erlaubtes, frühzeitig resozialisierend auf den Gefangenen einzuwirken.Damit steigen die Chancen einer erfolgreichen Resozialisierung.Der vorzeitige Strafantritt entlastet ferner die Untersuchungsge-fängnisse. ..........Der vorzeitige Massnahmenvollzug ermöglicht es, dem massnah-menbedürftigen Beschuldigten schon vor dem rechtskräftigen Ur-teil ein Haftregime anzubieten, das auf seine persönliche Situationzugeschnitten ist, und erste Erfahrungen mit der voraussichtlichsachlich gebotenen Vollzugsform zu sammeln. Das Gericht erhältdurch die Prüfung der Therapiefähigkeit der Beschuldigten vordem Urteil eine wesentliche Entscheidungshilfe zur Frage, ob dieAnordnung einer definitiven Massnahme zweckmässig sei. ....."HÄRRI, a.a.O., Art. 236, N 6 und 8.

3) Die rechtliche Problematika) Konflikte mit der UnschuldsvermutungFrage der Zulässigkeit einer antizipierten Sanktionsvollstreckung:Genügt die "freiwillige" Zustimmung der Angeschuldigten, um die Ein-wände aus der Unschuldsvermutung zu entkräften?

b) Weitere rechtsstaatliche Bedenken- Geständnisdruck,- Verfahrensverzögerungen,- Verminderung haftrechtlicher Freiheitsgarantien.

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c) Zusammenfassende KritikZutreffend die Bedenken von M. HÄRRI:

"Da der vorzeitige Vollzug die Zustimmung des Betroffenen vor-aussetzt, stellt er eine freiwillige strafrechtliche Sanktion dar. Einesolche ist ein Widerspruch in sich. Der vorzeitige Vollzug verstärktdurch die Vorwegnahme der Sanktion im Vorverfahren zudem diebedenkliche Tendenz, den Wert der Hauptverhandlung zu verrin-gern, und er präjudiziert – noch mehr als die Untersuchungshaft –das richterliche Urteil. Er lässt sich im Weiteren als Druckmittelzur Erzielung von Geständnissen missbrauchen und gefährdet da-mit ein faires Ermittlungsverfahren. Der Druck zur Ablegung einesGeständnisses ist umso grösser, je schlechter die Verhältnisse inder Untersuchungshaft und je besser sie im vorzeitigen Vollzugsind. Es bestehen ausserdem ernstliche Anzeichen dafür, dass sichdas Gebot der besonderen Beschleunigung in Haftsachen nach ei-nem vorzeitigen Sanktionsantritt in der Praxis schwer tut. Der vor-zeitige Vollzug behindert überdies eine wirksame Verteidigung,weil sich die Vollzugsanstalten häufig nicht am Ort befinden, wodas Strafverfahren geführt wird, und die Verteidiger deshalb zeit-aufwendige Fahrten unternehmen müssen, um sich mit den Be-schuldigten zu besprechen. Da die Dauer des vorzeitigen Strafvoll-zugs nicht feststeht, ist sodann eine sachgerechte Vollzugsplanungnach Art. 75 Abs. 3 StGB schwer möglich. Der vorzeitige Vollzughintertreibt ferner die Bestrebungen, die Verhältnisse im Vollzugder Untersuchungshaft zu verbessern. Steht des dem Beschuldigtenfrei, der Untersuchungshaft durch vorzeitigen Strafantritt zu entge-hen, verringern sich Anreiz und Notwendigkeit, in den Untersu-chungshaftvollzug zu investieren. Angesichts dieser Mängel wirdman dem Ausland den vorzeitigen Strafvollzug nicht zur Nachah-mung empfehlen können. Statt mit einer derart systemfremdenRechtsfigur den Unzulänglichkeiten der Untersuchungshaft zu be-gegnen, sollte man deren Defizite abbauen. Wo – wie es die Un-schuldsvermutung verlangt – wenig, schonend und kurz verhaftetwird, besteht für den vorzeitigen Sanktionenantritt kein Bedarf."A.a.O., Art. 236, N 33.

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3. Teil: DIE VERDECKTE ERMITTLUNG

I) Zur Terminologie1) Der Begriff

a) Keine Legaldefinition¢ Aber Zweckartikel in Art. 1 BVE.Ergänzend dazu Botschaft, BBl 1998, 4283:"Verdeckte Ermittlung ist das Knüpfen von Kontakten zu verdäch-tigen Personen, die darauf abzielen, die Begehung einer strafba-ren Handlung festzustellen und zu beweisen, wobei vorwiegendpassiv die deliktische Aktivität untersucht wird."

Definition des Bundesgerichts:"Verdeckte Ermittlung ist das Anknüpfen von Kontakten durch Po-lizeiangehörige zu verdächtigen Personen, die darauf abzielen, dieBegehung einer strafbaren Handlung festzustellen und zu bewei-sen, wobei die Polizeiangehörigen nicht als solche erkennbar sind(.....)........... Massgebend ist insoweit unter der gebotenen Berücksichtigungdes Schutzzwecks der Bestimmungen des BVE nicht der betriebe-ne Täuschungsaufwand, sondern der Umstand, dass der Verdächti-ge überhaupt getäuscht wird, weil der mit ihm zu Ermittlungszwe-cken kommunizierende Polizeiangehörige nicht als solcher erkenn-bar ist. Allein schon wegen dieser Täuschung bedarf die verdeckteErmittlung in jedem Fall einer besonderen gesetzlichen Regelung,ganz unabhängig davon, welche Eingriffsintensität die verdeckteErmittlung im konkreten Einzelfall aufweist."BGE 134 IV 266 ff. (275 f., E. 3.6.1 und 3.6.4).

Aus der Lehre:

"Jede Täuschung ist somit eine verdeckte Ermittlung; es kann undsoll nicht zwischen verdeckter Ermittlung und verdeckter Fahn-dung unterschieden werden. Gemäss Bundesgericht definiert sichfolgerichtig die verdeckte Ermittlung als 'das Anknüpfen von Kon-takten durch Polizeiangehörige, die darauf abzielen, die Begehungeiner strafbaren Handlung festzustellen und zu beweisen, wobei diePolizeiangehörigen nicht als solche erkennbar sind.' Dies trifft so-wohl auf den Chatteilnehmer zu, selbst wenn er keine weiteren(falschen) Details bekannt gibt, als auch auf den Drogen-Scheinkäufer, der mit dem Dealer evtl. nur zwei, drei Worte wech-selt. Eine aktive Täuschung z.B. durch Nennung eines falschenNamens, Alters, Berufs etc. wird also nicht verlangt, entscheidendsind lediglich zwei Merkmale: Der zivile Beamte kommuniziert mitdem Verdächtigen und gibt mindestens implizit vor, kein Polizist zu

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sein. Die Täuschung wird dadurch begangen, dass der Polizist wiejede andere Person auftritt und die Zielperson über die wahre Be-gebenheit nicht aufklärt. Es handelt sich dabei nicht nur um einUnterlassen: Wer sich etwa wie ein normaler Chatteilnehmer ver-hält, ruft den Irrtum hervor."L. VETTERLI, forumpoenale 2008, 368.

Zur Kritik gegenüber dem BGer.:TH. HANSJAKOB, in: Donatsch / Hansjakob / Leber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 286, N 19, und SCHMID, Handbuch, N 1183, jeweilsmit Hinweisen.

Eigene Meinung:Zustimmung zum BGer. Der Schutzzweck der gesetzlichen Rege-lung fordert eine weite Auslegung des Begriffs der verdeckten Er-mittlung (massgebend der Aspekt einer Täuschung durch den Po-lizeibeamten).

b) Abgrenzung gegenüber verwandten Begriffenaa) V-Mann, V-Leute etc.

bb) Agent provocateurcc) Observation und Fahndung in Zivil

2) Die praktische Bedeutung der Begriffsbildunga) Vorbemerkungenb) Betäubungsmittelscheinkauf

Z.B. BGer. vom 8. 3. 2010, 6B_743, E. 3.4.

c) ChatroomBGE 134 IV 266 ff. und ZR 2008, Nr. 15.

d) AlkoholtestkaufKantonsgericht BL, forumpoenale 2009, 139 ff.

e) Schlussfolgerungen

II) Der kriminalistische Bedarf"Geheime Ermittlungsmassnahmen wie Telefonüberwachung oderauch verdeckte Ermittlung sind wirksame Instrumente im Kampfgegen das organisierte Verbrechen. Mit den traditionellen Ermitt-lungsinstrumenten ist die Fahndung und Beweisführung in vielenFällen bei Straftaten schwierig, bei denen es keine unmittelbarenOpfer und Geschädigten gibt, sondern verbotene Geschäfte getätigt

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werden, z.B. bei Handel mit Betäubungsmitteln .... Diese Straftatenkönnen im Vorbereitungsstadium nur erfasst werden, wenn der In-formationsaustausch zwischen Tatbeteiligten überwacht wird (....)oder eine beteiligte Person mit den Strafverfolgungsorganen zu-sammenarbeitet (Einsatz der verdeckten Ermittlung). Die geheimeInformationsbeschaffung erlaubt anschliessend den polizeilichenZugriff während oder kurz nach der Tat oder ergibt Beweismateri-al."Botschaft, BBl 1998, 4245.

Mit Recht kritisch dazuPIETH, Strafprozessrecht, 137 f., mit Hinweisen.

III) Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage1) Der Fall Lüdi

a) BundesgerichtBGE 112 Ia 18 ff.

"Während die strafprozessualen Zwangsmassnahmen (wie Haft,Hausdurchsuchung usw.) klarerweise gegen den Willen der Betrof-fenen in eine geschützte Rechtssphäre eingreifen und die Überwa-chung des Telephon-, Post- und Telegrafenverkehrs - ohne Wissender Betroffenen - im Interesse der Strafverfolgung gesetzlich ge-schützte Geheimbereiche verletzt, liegt die Problematik des V-Mann-Einsatzes auf einer etwas andern Ebene: Der Betroffenewird weder in seiner persönlichen Freiheit beschränkt, noch musser irgendwelche andern Zwangsmassnahmen dulden, sondern ertritt mit einem ihm unbekannten Partner in Kontakt, mit welchemer aber nicht verhandeln würde, wenn er wüsste, dass dieser imDienste der Fahndung steht. ....Die verdeckte Fahndung greift nicht in ein durch die Verfassung(oder die EMRK) geschütztes Grundrecht ein. Der Betroffene ist inseinen Entschlüssen und seinem Verhalten gegenüber dem V-Mann frei; er wird jedoch über die Identität des Verhandlungspart-ners und über dessen Verbindung zur Polizei getäuscht. Der Straf-täter ist verfassungsrechtlich nicht davor geschützt, bei seinemrechtswidrigen Verhalten von einem für ihn nicht erkennbaren Po-lizeifunktionär beobachtet zu werden. Auch aus der EMRK (Art. 8)lässt sich kein Schutz des Delinquenten vor verdeckter Fahndungableiten."BGE 112 Ia 18 ff. (22).

b) EGMREGMR Pra 1993, Nr. 22.

c) Kritik

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2) Die verdeckte Ermittlung als GrundrechtseingriffLit.:L. VETTERLI, forumpoenale 2008, 367 ff.

Eingriff in die persönliche Freiheit bzw. Privatsphäre

"Mit der herrschenden Lehrmeinung und entgegen BGE 112 Ia 18(....) ist im Fall eines V-Mann-Einsatzes ein relevanter Grund-rechtseingriff bejahen. Berührt ist vorab das (ungeschriebene)Grundrecht der persönlichen Freiheit, insbesondere in seinen Teil-bereichen als Recht auf Willens- und Entscheidungsfreiheit sowieauf Schutz des Privat- und Geheimnisbereiches (....). Entscheidendist, dass durch diese Art der Fahndung bzw. der strafprozessualenErmittlung der Staat – ohne sich als solcher erkennen zu geben,d.h. mittels Täuschung – den Zweck verfolgt, die mit dem Verhal-ten des Betroffenen verbundenen Wahrnehmbarkeitshindernisse zuüberwinden, um belastendes Tatsachenmaterial sammeln und ver-werten zu können; dabei bleibt es aber nicht beim blossen Beo-bachten, sondern es kommt notwendigerweise im Rahmen des V-Mann-Einsatzes zu einer Interaktion im Sinne einer Beeinflussungder Willens- und Entscheidungsfreiheit der Zielperson (....)."KassGer ZH, ZR 1995, Nr. 65, Erw. II/3b.

"In Frage kommen zum einen die persönliche Freiheit und hierinsbesondere zwei Teilgehalte: Die Willensfreiheit und der Schutzdes Privatlebens.Art. 10 Abs. 2 BV schützt die geistige Unver-sehrtheit, genauer die 'Integrität des Bewusstseins im Sinne der un-beeinflussten Wahrnehmungs- und Entscheidungsfreiheit' (KIENER/ KÄLIN). Wenn der Verdächtige – mit welchen Mitteln auch im-mer – über die Identität seines Gegenübers getäuscht wird, ist seineWahrnehmungs- und Entscheidungsfreiheit bereits eingeschränkt:Er kann nicht mehr frei entscheiden, mit wem er in Kontakt tritt.Wegen seines Irrtums kommuniziert er mit der Polizei und gibtDinge bekannt, die er in einer offiziellen Vernehmung mit Hinweisauf das Schweigerecht nicht preisgeben würde und von denen beireiner Beobachtung nicht Kenntnis genommen werden könnte. Esist dabei nicht entscheidend, ob eine intensive Täuschung vorliegt,die aufgrund des entwickelten Vertrauens in die Nähe des Zwangesrückt, oder ob eine besondere Vertrauensbeziehung vorliegt.Eine verdeckte Ermittlung tangiert unter Umständen, wie Abhör-massnahmen, auch das Recht auf Schutz der Privatsphäre nach Art.13 BV, etwa dann, wenn die Zielperson und der verdeckte Ermitt-ler telefonieren oder sich im privaten Bereich eines Chatroomstreffen. Verglichen mit der Telefonüberwachung ist aber die ver-deckte Ermittlung wegen der Nähe zum Nemo-tenetur-Grundsatzeingriffsintensiver: Es wird nicht nur eine freiwillig geführteKommunikation abgehört, sondern die Kommunikation entstehterst wegen der Interaktion des Staates, ohne dass die Schutzmass-nahmen gelten, die für eine offizielle Einvernahme vorgesehensind."

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VETTERLI, a.a.O., 368.

¢ Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage;vgl. das BG über die verdeckte Ermittlung vom 20. 6. 2003 (BVE, SR312.8) sowie heute die Art. 286 ff. StPO.

IV) Die materielle ProblematikErkenntnis, dass die Tätigkeit der verdeckten Ermittler verschiedenegrundrechtliche Positionen und elementare prozessuale Rechte der An-geschuldigten beeinträchtigt. Es handelt sich vor allem um Eingriffe in diepersönliche Freiheit, konkret in Privat- und Geheimsphäre. Daneben wirdauch das Recht der Aussageverweigerung (sog. Nemo-tenetur-Prinzip)verletzt, indem die Zielpersonen einer Art von "verdecktem Verhör" aus-gesetzt sind. Problematisch ist dabei nicht primär die Heimlichkeit derErmittlungen, sondern die täuschende Einflussnahme der Beamten aufdie Willensbildung der Zielpersonen, d.h. der späteren Angeklagten.P. ALBRECHT, AJP 2002, 633.

"Die verdeckte Ermittlung geht in mehrfacher Hinsicht an dieGrenze des rechtsstaatlich Vertretbaren (Täuschung, verdecktesVerhör, Risiko der staatlichen Deliktsprovokation, Konflikt mitdem rechtlichen Gehör). Überdies werden während der Dauer desgeheimen Einsatzes (....) die Verteidigungsrechte umgangen. Daswäre nur vertretbar, wenn es wirklich darum ginge, gefährlichekriminellen Organisationen zu infiltrieren, dafür aber kann einrechtsstaatliches Strafverfahren im Ernst die Mittel nicht zur Ver-fügung stellen (....). Übrig bleibt im Wesentlichen der Einsatz ge-gen den Strassenverkauf von Betäubungsmitteln, ohne dass derNachweis erbracht wäre, dass von dort der Aufstieg zur Chefetageder Organisation je wirklich gelungen ist."PIETH, Strafprozessrecht, 137 f.

V) Die Voraussetzungen der verdeckten Ermittlung1) Der Verdacht eines schweren Deliktes

Art. 286 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 i.V.m. Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO.¢ Beschränkung der verdeckten Ermittlung auf die Aufklärung vonbereits begangenen Straftaten (dies in Abweichung vom BVE).

2) Die Subsidiarität der verdeckten ErmittlungArt. 286 Abs. 1 lit. c StPO.

3) Die Person des verdeckten ErmittlersArt. 287 Abs. 1 StPO.

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4) Das Anordnungsverfahren

VI) Der verdeckte Ermittler zwischen Legalität und Illegalität1) Was ist ihm erlaubt?

a) AllgemeinesRechtfertigungsgrund im Zusammenhang mit Scheingeschäftenim Betäubungsmittelhandel (Art. 294 StPO).Inwieweit darf sich der verdeckte Ermittler an Delikten beteiligen?

b) Die Grenzen zulässiger BeeinflussungArt. 293 Abs. 1-3 StPO.

"Nach der mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätz-lich in Einklang stehenden wohl vorherrschenden Auffassung inder Literatur und kantonalen Rechtsprechung muss der V-Mannbeim Scheinkauf nicht vollkommen passiv bleiben. Vielmehr wirdihm erlaubt, auf die Konkretisierung eines bereits vorhandenenTatentschlusses hinzuwirken: Es müsse ihm gestattet sein, gegen-über Personen, gegen die der begründete Verdacht des Drogenhan-dels bestehe, sein Kaufinteresse und auch seine Bereitschaft zurBezahlung eines marktgerechten Preises darzutun (....). Unbestrit-ten ist, dass V-Leute nicht motivierend auf die Zielperson einwir-ken dürfen (....). Darin liege der Unterschied zum Lockspitzel oderagent provocateur, der einen anderen vorsätzlich zu einer Straftatveranlasse, um ihn bei der Tatausführung überführen zu können.Eine solche Handlungsweise sei widerrechtlich und verboten (....).In der Literatur wie auch in den einschlägigen Urteilen kantonalerGerichte wird überwiegend die Auffassung vertreten, der unzuläs-sige V-Mann-Einsatz stehe einer Verurteilung des zur Begehungvon Straftaten Provozierten entgegen. Denn es sei unerträglich,dass der Staat, dem die Verbrechensprophylaxe obliege, durch ei-nen Beamten eine Straftat provoziere, um anschliessend das aufrechtswidrige Art veranlasste Delikt als Grundlage zur Durchset-zung eines Strafanspruchs zu verwenden. Während über die Folgeder Straflosigkeit in solchen Konstellationen weitgehende Einigkeitzu herrschen scheint, bestehen in der Begründung dieser Rechts-folge unterschiedlichste Auffassungen und wird sie von den ein-zelnen Autoren und kantonalen Gerichten uneinheitlich, teils mate-riell-rechtlich und teils prozessrechtlich, konzipiert (....)."BGE 124 IV 34 ff. (40 f.) zu Art. 23 Abs. 2 BetmG a.F.

2) Die rechtlichen Folgen einer Grenzüberschreitunga) Für den verdeckten Ermittler

Bestrafung nach Art. 19 i.V.m. 23 Abs. 1 BetmG.

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b) Für den angeschuldigten Drogenhändler- Strafzumessungslösung

"Nach konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung verpflichteteine verfassungs- und menschenrechtskonforme Auslegung vonArt. 63 StGB in den Fällen, in denen der Täter aufgrund einer ver-deckten Fahndung überführt wurde, bei der Bemessung der Strafejede durch V-Leute bewirkte Förderung der Straftaten angemessenzugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen (....). Ist das Dro-gengeschäft jedoch nicht durch aktives Handeln von V-Leuten ein-geleitet, sondern ausschliesslich von den Tätern initiiert worden,kann sich die auf eine Mitwirkung von V-Leuten zurückzuführendeErleichterung der Tatausführung auf die Höhe der auszusprechen-den Strafe nur begrenzt auswirken. Grundsätzlich ist dem Um-stand, dass verdeckte Beamte bei der Begehung strafbarer Hand-lungen mitgewirkt und diese erleichtert haben, in jedem Fall Rech-nung zu tragen, da das Verschulden selbst durch ein bloss passivesVerhalten von V-Leuten beeinflusst werden kann (....). Hat dieseErleichterung nicht zur Folge, dass ohne sie das strafbare Verhaltennicht oder nur in geringerem Ausmass ausgeübt worden wäre, son-dern bewirkt sie lediglich, dass der Täter weniger kriminelle Ener-gie aufwenden musste, erscheint das Verschulden nur unwesentlichvermindert und rechtfertigt dies entsprechend bloss eine geringfü-gige Herabsetzung des Strafmasses (....)."BGE 124 IV 39 f.

- Einstellung des Verfahrens

Bei der unzulässigen Tatprovokation durch einen Beamtenliegt die Widersprüchlichkeit des staatlichen Handelns darin,dass der Staat, dem die Verbrechensprophylaxe obliegt, sel-ber ein strafbares Verhalten veranlasst und anschliessend dasprovozierte Delikt als Grundlage zur Durchsetzung eines Straf-anspruchs verwenden will. Bedenklich ist hier nicht bloss,dass eine Behörde sich auf suspekte Art Beweismittel ver-schafft, sondern dass sie ausserdem auf illegale und sogarstrafbare Weise ein Delikt hervorruft. Mit einem gravierendenMangel behaftet ist also neben den erlangten Beweismittelnschon der Gegenstand der Anschuldigung. Dieser ist "so kon-taminiert", dass er "der weiteren strafprozessualen Verwen-dung entzogen sein muss" (KINZIG). Zusätzlich stellt sich hierin straftheoretischer Hinsicht die Frage, welche legitimen Zwe-cke eine Strafe verfolgen kann, die von staatlichen Behördenhervorgerufene Delikte sanktioniert. Das alles legt die Annah-me eines Beweiserhebungsverbotes nahe, welches zu einemVerfahrenshindernis führt.P. ALBRECHT, Die Strafbestimmungen des Betäubungsmittel-

gesetzes (Art. 19-28 BetmG), 2. Aufl., 2007, Art. 23, N 33.

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Aus der Praxis: StrGer BS, BJM 1984, 258 ff.

"Wird das in Art. 3 verankerte Prinzip von Treu und Glauben unddas Verbot des Rechtsmissbrauchs ernst genommen, darf die staat-lich provozierte Straftat in keiner Weise der Zielperson angelastetwerden. Es ist nicht Staatsaufgabe, den Bürger auf die Probe zustellen. Daher führt kein Weg an der Verfahrenseinstellung vorbei(....)."PIETH, Strafprozessrecht, 136;zustimmend T. KNODEL, BSK StPO, Art. 293, N 12.

- EGMR vom 9. 6. 1998, StV 1999, 127 f.

"Die Entscheidung des EGMR kann man als Feststellung einesBeweiserhebungs- und -verwertungsverbotes zu verstehen. ........ Durch die unzulässige staatliche Tatprovokation ist die zu ver-folgende Straftat so kontaminiert, dass die Tat als solche und alsBeweismittel der weiteren strafprozessualen Verwendung entzogensein muss. Dies gilt für alle potentiell strafbaren Konsequenzen,die durch das fehlerhafte Verhalten derjenigen Personen verursachtworden sind, deren Tätigkeit dem Staat zurechenbar ist."J. KINZIG, StV 1999, 288 ff. (292).

- Neu: Art. 293 Abs. 4 StPO.

"Der Gesetzgeber hat sich mit Art. 293 Abs. 4 klar gegen ein Be-weisverwertungsverbot entschieden ..... Er setzt sich damit in Wi-derspruch zu dem in Art. 141 Abs. 1 normierten Beweisverwer-tungsverbot. Art. 140 Abs. 1 regelt ausdrücklich, dass Täuschun-gen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheiteiner Person beeinträchtigen können, bei der Beweiserhebung un-tersagt sind. Gestützt auf Art. 141 Abs. 1 hat eine solche verboteneBeweiserhebungsmethode gem. Art. 140 Abs. 1 die Unverwertbar-keit des erlangten Beweises zur Folge. Ein Verwertungsverbot vonBeweismitteln, welche erlangt worden sind, weil der verdeckteErmittler das Mass der zulässigen Einwirkung gem. Art. 293 aufdie Zielperson überschritten und sich damit (unzulässig) täuschendverhalten hat, wäre die logischere Konsequenz und rechtsstaatlichzu begrüssen gewesen."T. KNODEL, BSK StPO, Art. 293, N 13.

¢ Eine verfassungs- und EMRK-konforme Gesetzesausle-gung verlangt – soweit Sachverhalte des Drogenhandels zurBeurteilung stehen –, dass die (rechtswidrige) polizeiliche Tat-provokation nicht bloss bei der Strafzumessung Berücksichti-gung zu finden hat. Vielmehr ist in solchen Fällen stets von ei-ner Strafe abzusehen (gemäss Abs. 4 am Ende).ALBRECHT, a.a.O., Art. 23, N 36.

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VII) Zufallsfunde1) Der Begriff

Art. 296 Abs. 1 StPO.

2) Die rechtliche Problematika) Das Verbot der Beweisausforschungb) Zufallsfund und Unschuldsvermutung

Zufallsfund im Widerspruch zur gebotenen Verdachtssteuerung."Es ist unvermeidlich, dass – wenn Zufallsfunde überhaupt berück-sichtigt werden sollen – bei einer ex post-Betrachtung das Kriteri-um des Tatverdachts hinfällig wird."PIETH, Strafprozessrecht, 137.

"Der Tatverdacht als Voraussetzung der verdeckten Ermittlungwird .... ausgehebelt, indem bei Zufallsfunden bei der Ex-post-Betrachtung der Zufallsfund selbst den Tatverdacht ersetzt und garkeine Ex-ante-Betrachtung mehr stattfindet."N. RUCKSTUHL, pläd. 1/2005, 36.

3) Die Verwertung des Zufallsfundes gemäss Art. 296 Abs. 1Beschränkte Verwertbarkeit als Beweis.

VIII) Der verdeckte Ermittler im Strafprozess1) Das prozessuale Problem

a) AllgemeinesAnonymität des verdeckten Ermittlers als Problem.

b) Fall Lüdi (als Beispiel)- Sachverhalt: Hinweise auf ein geplantes grösseres Kokainge-

schäft. Anordnung einer Telefonkontrolle + Einsatz eines Poli-zeifahnders unter dem Namen "Toni" als Scheinkäufer. Ver-haftung des L. Gestützt auf den schriftlichen Bericht des "Toni"und auf die Prot. der Telefonkontrolle gab L. seine Beteiligungam Kokaingeschäft zu; er wurde durch die Gerichte des Kt.Bern zu.Einwand vor BGer. (u.a.): Auf die Angaben des V-Mannes "Toni"dürfe nicht abgestellt werden, weil er nicht als Zeuge befragt wordensei.

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- Das BGer. sah hier keine Probleme und siedelte die prozes-suale Problematik auf die Ebene der Beweiswürdigung an.

"Die Geheimhaltung der V-Leute verstösst an sich weder gegenstrafprozessuale Prinzipien noch gegen verfassungsmässige Rech-te. Es ist Sache der richterlichen Beweiswürdigung, festzustellen,welches Gewicht den schriftlichen Angaben eines nicht vor Gerichterscheinenden V-Mannes im konkreten Fall zukommen kann, so-weit rechtlich relevante Tatsachen umstritten sind."BGE 112 Ia 18 ff. (24, E. 5).

- Urteil EGMR vom 15. 6. 1992 (Praxis 1993, Nr. 22):Verstoss gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. d und Ziff. 1 EMRK.

2) Die neuere RechtsprechungGrundsatzurteil BGE 125 I 127 ff. (betr. Kanton BL).Zusammenfassung:- Grundsätzlicher Anspruch der Ang. auf Befragung von Belas-

tungszeugen (Anspruch auf ein faires Verfahren, Wahrung derVerteidigungsrechte, vgl. Art. 6 Ziff. 3 EMRK).

- Wahrung der Verteidigungsrechte:

"Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass dieGelegenheit der Befragung eines Belastungszeugen angemessenund ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausge-übt werden kann. Der Beschuldigte muss in der Lage sein, dieGlaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert auf dieProbe und in Frage stellen können. Grundsätzlich muss es ihmauch möglich sein, die Identität eines Zeugen zu erfahren, um des-sen persönliche Glaubwürdigkeit sowie allfällige Zeugenaus-schluss- und Ablehnungsgründe (....) überprüfen zu können ...."A.a.O., 137.

- Anerkennung der Interessen für die Geheimhaltung der Identitätvon Zeugen.

Der Zeugenschutz darf aber "nicht zu einer untragbaren Schmäle-rung elementarer Verteidigungsrechte führen (....). Die gegenläufi-gen Interessen der Verteidigung und der anonymen Zeugen sind imEinzelfall gegeneinander abzuwägen. Die Schwierigkeiten der Ver-teidigung müssen gewissermassen durch das Verfahren und dessenAusgestaltung im Einzelfall kompensiert werden (....)."A.a.O., 139.

- Im Falle einer Befragung des verdeckten Ermittlers vor Gerichtsind Massnahmen zur Wahrung von dessen Anonymität prinzipiellzulässig.

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3) Schutzmassnahmen gemäss Art. 149 – 151 StPOKlarstellung, "dass nur notwendige Schutzmassnahmen ergriffenwerden dürfen. Zum Beispiel wenn das Gesicht, die Stimme usw.des verdeckten Ermittlers dem Beschuldigten bereits bekannt sind,besteht kein Grund zur akustischen und optischen Abschirmung,zumal es bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit gerade auf diepersönliche Reaktion auf einzelne Frage ankommen kann."PIETH, Strafprozessrecht, 137.

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4. Teil: DIE VERTEIDIGUNGSRECHTE

Lit.:P. ALBRECHT, Die Funktion und Rechtsstellung des Verteidigers im Straf-

verfahren, in: M.A. Niggli / Ph. Weissenberger (Hrsg.), Strafverteidi-gung, 2002, § 2;

N. RUCKSTUHL, Vertretung von Tatverdächtigen im Vorverfahren, in: M.A.Niggli / Ph. Weissenberger (Hrsg.), Strafverteidigung, 2002, § 3;

KRAUSS, Strafverteidigung, 117 ff.

I) Präzisierungen des Themas1) Die beschuldigte Person im Mittelpunkt des Verfahrens

Strafprozess als täterzentriertes Verfahren.

2) Verteidigungsrechte und Verfahrensstrukturen

II) Die Parteistellung der beschuldigten Person1) Die Abkehr vom Inquisitionsprozess

a) Exkurs zum Inquisitionsprozess"Inquisitionsprinzip meint, dass der Staat die Erforschung der ma-teriellen Wahrheit und die Verwirklichung materieller Gerechtig-keit als seine ureigene Aufgabe begreift und die Erfüllung dieserAufgabe gegen den Beschuldigten, ohne seine wesentliche Mitwir-kung also, durchsetzt."KRAUSS, Vergleich, 1985, 196.

"Das Inquisitionsprinzip steht für staatliche Verantwortungsüber-nahme, für die Prozesseinleitung und die Durchführung der Straf-untersuchung sowie für die Verfahrensleitung (einschliesslich Be-fragung) durch das Gerichtspräsidium im Hauptverfahren. Es wirals Gegenprinzip zum 'akkusatorischen' Prozess hingestellt, insbe-sondere dem Anklageprozess nach angelsächsischem Muster, indem die Wahrheitsfindung im Wesentlichen in der Hauptverhand-lung durch Parteibefragung stattfindet."PIETH, Strafprozessrecht, 26.

b) Die beschuldigte Person als ProzesssubjektAnerkennung der Parteistellung der Beschuldigten.

2) Die Mitwirkung bei der Wahrheits- und Rechtsfindung

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Mitwirkung des Angeschuldigten als kontradiktorisches Element beider Wahrheitsermittlung als diskursivem Prozess (spezifisch prozes-suales Wahrheitsverständnis).

3) Die Gewaltenteilung im Strafverfahren

III) Der Anspruch auf Beizug eines Verteidigers1) Die gesetzlichen Grundlagen

Anspruch auf formelle Verteidigung.Art. 127 Abs. 1 und 129 Abs. 1 StPO.

2) Die Ziele der formellen VerteidigungStärkung der Stellung des Angeschuldigten als Prozesssubjekt¢ Herstellung einer "verteidigungsbereiten Verfassung".ALBRECHT, Verteidiger, Rz. 2.9., unter Hinweis auf KRAUSS.

Es "besteht ein öffentliches Interesse daran, dass der Beschuldigtevon einer juristisch gebildeten Person, die ein Gegengewicht zuden professionellen Strafverfolgungsbehörden darstellen kann, un-terstützt wird".PIETH, Strafprozessrecht, 78.

"Im Bereich des Strafrechts, in dem der Staat dem Bürger vor al-lem im Vorverfahren mit seiner ganzen Machtfülle entgegentritt,ist der Betroffene in der Regel mangels Kenntnis seiner Rechte undmit Blick auf seine persönliche Situation gar nicht in der Lage, daszu seiner Verteidigung Notwendige selbst vorzukehren. Zwar istder Staatsanwalt nach dem Untersuchungsgrundsatz von StPO 6 IIverpflichtet, den entlastenden Umständen mit gleicher Sorgfaltnachzugehen wie den belastenden. Die Erfahrung zeigt aber, dasser bei allem guten Willen zu einer solchen Doppelrolle nur be-schränkt fähig ist. Im Interesse der Durchsetzung der materiellenWahrheit wie auch der richtigen Rechtsanwendung ist es deshalbnotwendig, dass den juristisch ausgebildeten Strafbehörden aufSeiten der beschuldigten Person eine fachlich gleich befähigte Per-son gegenübersteht."SCHMID, Handbuch, N 726.

3) Die prozessuale Rolle des Verteidigers

a) AllgemeinIm Vordergrund die Entlastungsfunktion der Strafverteidigung¢ Demnach hat der Rechtsanwalt die primäre Aufgabe, den ge-gen seinen Klienten erhobenen Tatverdacht – soweit möglich – zuentkräften, um die Einstellung des Verfahrens zu erreichen. Falls

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eine Anklage unausweichlich ist, muss er dann auf einen Frei-spruch oder ein möglichst mildes Urteil hinwirken.ALBRECHT, Verteidiger, Rz. 2.11.,unter Hinweis auf das BGer.

"Die Aufgabe der Verteidigung ist somit die legale Begünstigungder Klientschaft, indem sie alles in den Prozess einzubringen hat,was zugunsten der angeschuldigten Person spricht, und alles zu un-terlassen hat, was dieser in irgendeiner Art schaden könnte."N. RUCKSTUHL, Vorverfahren, Rz. 3.8.

b) Die Pflicht zur ParteilichkeitVerteidigung als streng einseitige Interessenwahrnehmung zuGunsten des Angeschuldigten (in den Schranken von Gesetz undStandesregeln).So deutlich z.B. Art. 128 StPO.

"Die Verteidigung ist zwar Teil der Rechtspflege und Dienerin desRechts; im Unterschied zu den Strafbehörden (vgl. Art. 6 Abs. 2)ist sie jedoch einseitig für die beschuldigte Person tätig. Die Be-stimmung macht es dementsprechend der Verteidigung zur Pflicht,sich in den Schranken des Rechts und der Standesregeln allein fürderen Interessen einzusetzen."Botschaft, BBl 2006, 1177, zu Art. 126 E StPO.

"Der Anwalt ist .... Verfechter von Parteiinteressen und als solchereinseitig für seinen jeweiligen Mandanten tätig. Das gilt insbeson-dere für den Strafverteidiger. Ihm obliegt es, dem staatlichen Straf-anspruch entgegenzutreten und auf ein freisprechendes oder mög-lichst mildes Urteil hinzuwirken. .... Der Anwalt hat seine Tätigkeitnicht am staatlichen Strafverfolgungsinteresse auszurichten, son-dern am Interesse des Beschuldigten an einem freisprechendenoder möglichst milden Urteil ...."BGE 106 Ia 100 ff. (105).

"Entgegen der gelegentlich anzutreffenden, aus Deutschlandstammenden Formel vom 'Organ der Rechtspflege' ist in allerDeutlichkeit festzuhalten, dass der Verteidiger Interessenvertreter,allerdings nicht blosses Sprachrohr des Beschuldigten ist."PIETH, Strafprozessrecht, 78.

"Die Bestimmung, dass die Verteidigung allein den Interessen derbeschuldigten Person verpflichtet ist, stellt klar, dass die Verteidi-gung nicht in irgendeiner Form 'Organ der Rechtspflege' ist, son-dern eine Hilfe an die beschuldigte Person bei der Wahrnehmungihrer Interessen. Sie ist deshalb nur berechtigt, sondern sogar ver-pflichtet, einseitig und nur zugunsten und im Interesse der beschul-digten Person tätig zu werden, und zwar nur entlastend, um einmöglichst günstiges Urteil für die Klientschaft zu erreichen."N. RUCKSTUHL, BSK StPO, Art. 128, N 1.

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Rspr.:BGE 106 Ia 100 ff.

c) Eine Verpflichtung zur Wahrheit?Limitierte Wahrheitspflicht des Verteidigers in der Form eines Lü-genverbots.ALBRECHT, Verteidiger, Rz. 2.20.

"Zu beachten ist ...., dass den Verteidiger weder eine Pflicht trifft,die Wahrheit zu offenbaren, noch eine solche, den Angeschuldig-ten zu deren Kundgabe zu veranlassen."BGE 106 Ia 219 ff. (223).

4) Das Recht auf freien Kontakt mit dem Verteidiger

a) Gründe und Inhalt des KontaktrechtesRecht auf freien Kontakt als elementare Voraussetzung eine fairenProzesses.Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK,Art. 14 Abs. 3 lit b IPBPR (SR 0.103.2).

"Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK räumt dem Angeschuldigten das Rechtauf den Beistand eines Verteidigers ein. Der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem die Schweiz betref-fenden Urteil vom 28. November 1991 erklärt, das Recht auf freien(nicht akustisch überwachten) Kontakt zwischen dem Verteidigerund dem verhafteten Angeschuldigten sei zwar in der EMRK nichtausdrücklich erwähnt. Es gehöre jedoch in einem demokratischenStaat zu den elementaren Voraussetzungen eines fairen Prozessesund sei aus Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK abzuleiten, denn das in dieserVorschrift gewährleistete Recht auf einen Verteidiger würde we-sentlich an Gehalt verlieren, wenn kein freier Kontakt und damitkeine vertraulichen Absprachen möglich wären (Urteil des EGMRvom 28. November 1991 i.S. S., Serie A, Band 220, Ziff. 48 =VPB 1991 Nr. 51 = EuGRZ 1992, S. 298 f. = RUDH 1991, S.571). Der Gerichtshof stützte sich bei der Auslegung des Art. 6Ziff. 3 lit. c EMRK unter anderem auf Art. 93 der Mindestgrund-sätze für die Behandlung der Gefangenen gemäss der Resolution(73) 5 des Ministerkomitees des Europarates vom 19. Januar 1973.Danach dürfen die Unterredungen zwischen dem Untersuchungs-gefangenen und seinem Verteidiger zwar optisch, nicht aber akus-tisch überwacht werden (....). Der Anspruch des inhaftierten Ange-schuldigten auf freien Verkehr mit seinem Verteidiger ergibt sichnach der Rechtsprechung der Strassburger Organe übrigens auchaus Art. 6 Ziff. 3 lit. b EMRK. Nach dieser Bestimmung muss derAngeschuldigte über ausreichende Zeit und Gelegenheit verfügen,

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um seine Verteidigung vorzubereiten, und das setzt voraus, dass ermit seinem Anwalt frei verkehren kann (....)."BGE 121 I 164 ff. (167 f.).

Gesetzliche Regelungen:Art. 159 Abs. 2, 223 Abs. 2 und 235 Abs. 4 Satz 1 StPO.

Der Ausschluss inhaltlicher Kontrolle verbietet die Überwachungvon Gesprächen, der Korrespondenz und allenfalls von Telefona-ten, verbietet aber nicht, dass unter Beachtung der Verhältnismäs-sigkeit im Besuchsraum eine Trennscheibe eingesetzt oder von derVerteidigung mitgeführte Taschen kontrolliert werden dürfen.Botschaft, BBl 2006, 1235.

b) Beschränkungen der freien KommunikationBeschränkungen der Kommunikation wegen Verdachts einesMissbrauchs des Verkehrsrechts?

Rspr.:EGMR EuGRZ 1992, 298 ff.;BGE 111 Ia 341 ff.,BGE 121 I 164 ff.

Einem "ausländischen Verteidiger in einem ausländischen Straf-verfahren" darf "der freie Verkehr mit seinem in der Schweiz in-haftierten Mandanten nur verweigert werden ...., wenn beim betref-fenden Verteidiger eine konkrete Gefahr besteht, dass er seine Ver-trauensstellung als Anwalt missbrauchen und zu Kollusionen bei-tragen könnte. Im hier zu beurteilenden Fall wird im Entscheid desErsten Staatsanwalts nicht dargetan, dass bei Rechtsanwältin S. ei-ne solche Gefahr gegeben sei. Das Argument, es bestehe nach An-sicht des Haftrichters bei der Beschwerdeführerin eine akute Kol-lusionsgefahr, vermag die beanstandete Massnahme nicht zu recht-fertigen. Nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe genügtder Umstand, dass beim verhafteten Angeschuldigten Verdunke-lungsgefahr besteht, nicht, um die Kontakte des Angeschuldigtenmit seinem Verteidiger vorübergehend nur unter Aufsicht zuzulas-sen. Es müssen zur Rechtfertigung einer solchen Massnahme An-haltspunkte dafür gegeben sein, dass gerade diese Kontakte vomVerteidiger missbraucht werden könnten (....)."BGE 121 I 164 ff. (171).

Gesetzliche Regelungen:Art. 235 Abs. 4 Satz 2 StPO.

c) "Verteidigung der ersten Stunde"¢ Frage nach einem Anspruch auf formelle Verteidigung im poli-zeilichen Ermittlungsverfahren.

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- Im bisherigen Recht grosse Zurückhaltung bei der Gewährungeiner "Verteidigung der ersten Stunde".Diese Verkürzung der Verteidigungsrechte in zeitlicher Hin-wischt tolerierte das BGer.Z.B. BGE 126 I 153 ff. (159 ff.).Vgl. dazu aber auch die neuere Strassburger Rspr., wonach derVerteidiger grundsätzlich bereits bei der ersten Einvernahmeanwesend sein soll.EGMR, EuGRZ 1996, 587 ff.

- Argumente für eine "Verteidigung der ersten Stunde":Gerade zu Beginn einer Strafuntersuchung – unmittelbar nachder Festnahme – sind die Angeschuldigte ganz besonders aufsachkundige Unterstützung angewiesen. Der frühzeitige Beizugeiner Verteidigerin ist umso bedeutsamer, als in der Praxis daspolizeiliche Ermittlungsverfahren zunehmend an Bedeutunggewinnt, währenddem die unmittelbare Beweisaufnahme in derHauptverhandlung abgebaut wird. Die massgebenden Wei-chenstellungen finden meistens in einem sehr frühen Verfah-rensstadium statt, und unrichtige Sachverhaltsermittlungen las-sen sich später oft kaum mehr korrigieren. Vor allem aber darfman nicht vergessen, dass der legitime Zweck der ersten Ein-vernahme primär darin besteht, dem Angeschuldigten die Mög-lichkeit einzuräumen, den gegen ihn erhobenen Verdacht zuentkräften.ALBRECHT, Verteidiger, Rz. 2.67.

"Wer befürchtet, der Anwalt der ersten Stunde behindere dieWahrheitsfindung, überschätzt die Rolle der Verteidigung in die-sem Verfahrensstadium masslos. Solange nicht bekannt ist, wel-cher Vorwurf der Klientschaft gemacht wird und wie die Aktenla-ge aussieht, , ist eine seriöse Beratung nicht möglich, schon garnicht bezüglich taktischer Aussagen. Die Aufgabe der Verteidi-gung beschränkt sich dann bei der ersten Einvernahme darauf si-cherzustellen, dass diese korrekt abläuft. Zu oft hören Verteidige-rinnen und Verteidiger, dass Klienten bei der ersten Einvernahmeunter Druck gesetzt wurden, mit falschen Versprechungen zu ei-nem Geständnis verleitet oder gar durch Drohungen, bspw. MitUntersuchungshaft bei weiterem Schweigen, zu einem solchen ge-bracht wurden etc., als dass all diese Fälle frei erfunden wären. DieAnwesenheit der Verteidigung dient damit der Rechtsstaatlichkeitund schützt auch die Staatsanwaltschaft vor ungerechtfertigtenVorwürfen, eben bspw. Gegen solche wegen ungesetzlicher Ein-vernahmemethoden."RUCKSTUHL, Anwaltsrevue 2007, 325.

- Gesetzliche Regelung:Art. 129 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1 StPO.

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¢ Anerkennung des Prinzips der "Verteidigung der erstenStunde".

"Art. 129 will nicht bestimmen, ab wann eine Verteidigung für diebeschuldigte Person tätig werden darf, das kann eine StPO auchnicht. Es kann sich jemand bereits dann 'verteidigen' lassen, wenner noch gar nicht weiss oder noch gar nicht sicher ist, ob und dassein Strafverfahren gegen ihn geführt wird. Die Bestimmung hateher das Umgekehrte im Auge, dass grundsätzlich eine Verteidi-gung nie ausgeschlossen werden darf. ....."Zur "Verteidigung der ersten Stunde i.S.v. Art. 159 Abs. 1: bereitsim polizeilichen Ermittlungsverfahren kann die beschuldigte Per-son verlangen, dass ihre Verteidigung ab der ersten Einvernahmeund bei allen weiteren Einvernahmen anwesend ist und demzufolgediejenigen Rechte ausüben kann, die ihr üblicherweise zustehen...... Die neue Rechtsprechung des EGMR zum Anwalt der erstenStunde ..... garantiert diesen Zugang zur Verteidigung ausdrück-lich. So muss eine polizeiliche Einvernahme unterbrochen und mitder Fortsetzung so lange zugewartet werden, bis die beschuldigtePerson sich rechtlich beraten lassen konnte, weil die beschuldigtePerson ohne fachliche Beratung insbesondere nicht darüber ent-scheiden kann, ob sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch machensoll oder nicht, was aber die weitere Verteidigung präjudiziere.Zudem gehe es bei der Verteidigung der ersten Stunde nicht nurum die Erstberatung, sondern um die Herstellung der Waffen-gleichheit."RUCKSTUHL, a.a.O., Art. 129, N 2, unter Hinweis auf das UrteilPihchalnikov v. Russia, auszugsweise in PF 2010, 87 ff.

5) Die amtliche Verteidigunga) Die rechtlichen Grundlagen

Herstellung einer gewissen Chancengleichheit zwischen armenund reichen Angeschuldigten.

Funktion des Instituts der unentgeltlichen: "Als Ausfluss des all-gemeinen Rechtsgleichheitsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) und des An-spruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) bildet es eineder zentralen Voraussetzungen dafür, dass in der Schweiz alle Per-sonen Zugang zu den Gerichten erhalten. Nur dank dem in Art. 29Abs. 3 BV garantierten Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflegeist sichergestellt, dass auch die Mittellosen tatsächlich die Mög-lichkeit haben, ihre Rechte durchzusetzen (....). Es handelt sichdeshalb beim fraglichen Institut um einen eigentlichen Pfeiler desRechtsstaates (....); dies gilt gerade mit Bezug auf das Strafverfah-ren und die (gegebenenfalls unentgeltliche) amtliche Verteidigung,drohen doch dem Angeschuldigten hier regelmässig empfindlicheEingriffe in seine Rechtsgüter."BGE 132 I 201 ff. (214).

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"Ziel der unentgeltlichen Rechtspflege ist es, eine gewisse Waffen-gleichheit zu gewährleisten; jeder Betroffene soll grundsätzlichohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation unter den von derRechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen Zugang zum Ge-richt und Anspruch auf Vertretung durch einen Rechtskundigenhaben (....)."BGE 131 I 350 ff. (356).

"Die amtliche Verteidigung (Offizialverteidigung) steht im Gegen-satz zur Wahlverteidigung und regelt diejenigen Fälle, in denen dieVerteidigung nicht von der beschuldigten Person frei gewählt, son-dern von einer Behörde bestellt wird. Auch wenn – anders als beider Wahlverteidigung - - somit kein privatrechtliches Auftragsver-hältnis, sondern ein durch hoheitlichen Akt begründetes öffentlich-rechtliches Auftragverhältnis zugunsten eines Dritten besteht (BGE130 I 220 = Pra. 95 [2006] Nr. 112 Erw. 2.4), trifft die amtlicheVerteidigung die gleiche Sorgfaltspflicht wie die Wahlverteidi-gung: Auch die amtlich verbeiständete beschuldigte Person hat An-spruch auf eine sachkundige, engagierte und effiziente Wahrneh-mung ihrer Interessen (.....). Auch ist der amtlich bestellte Vertei-diger in gleicher Weise wie der Privatverteidiger hinsichtlich derMandatsführung gegenüber dem Staat unabhängig (.....; im Hin-blick auf die Honorierung durch den Staat wird diese Unabhängig-keit immerhin faktisch tangiert, .....)."V. LIEBER, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kommentar,Art. 132, N 1.

b) Die Minimalgarantien der BV und der EMRKArt. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK.

aa) Bedürftigkeit der Angeschuldigten"Als bedürftig gilt, wer die Kosten eines Prozesses nicht aufzu-bringen vermag, ohne jene Mittel anzugreifen, deren er zur De-ckung des notwendigen Lebensunterhalts für sich und seine Fami-lie bedarf; dabei sind die Einkommens- wie die Vermögensverhält-nisse in Betracht zu ziehen (....)."BGE 124 I 97 ff. (98).

"Zur Prüfung der Bedürftigkeit sind sämtliche Umstände im Zeit-punkt der Einreichung des Gesuches zu würdigen; die entscheiden-de Behörde hat insbesondere zu berücksichtigen, welche Mittelbinnen welcher Frist aufzubringen sind (....). Massgebend ist diegesamte wirtschaftliche Situation zur Zeit der Gesuchstellung; dasheisst, es ist einerseits sämtlichen finanziellen Verpflichtungen desGesuchstellers Rechnung zu tragen, und es sind anderseits nichtnur die Einkünfte, sondern auch die Vermögenssituation des Ge-suchstellers beachtlich (....)."

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BGE 120 Ia 179 ff. (181).

bb) Notwendigkeit der Verbeiständung"Greift das Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen desBetroffenen ein, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbei-standes grundsätzlich geboten; dies ist nach der Rechtsprechung imStrafverfahren insbesondere dann der Fall, wenn eine schwerwie-gende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Freiheitsstrafedroht, deren Dauer den bedingten Vollzug ausschliesst (....)."BGE 129 I 281 ff. (285).

cc) Fehlende Aussichtslosigkeit des Verfahrensc) Gesetzliche Regelungen

Art. 132 StPO.

Ú B e i l a g e 3"Absatz 1 Buchstabe b sieht eine amtliche Verteidigung (auf An-trag der beschuldigten Person oder von Amtes wegen) ferner dannvor, wenn die beschuldigte Person nicht über die notwendigen Mit-tel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen ge-boten ist. Die Bestimmung setzt die Vorgaben der höchstrichterli-chen Rechtsprechung zu Artikel 29 Absatz 3 BV (aArt. 4 BV) undzu Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK um. Als Hauptbeispiele(«namentlich») nennt Absatz 2 den Fall einer länger als 3 Tagedauernden Untersuchungshaft (Bst. a) sowie Straffälle, die nichtmehr als Bagatellfälle zu qualifizieren sind und – kumulativ – beidenen sich tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten stellen, de-nen die beschuldigte Person nicht gewachsen ist (Bst. b). Absatz 3gibt Anhaltspunkte zur Auslegung des Begriffs des Bagatellfalls.Sie orientieren sich einerseits an der bisherigen Praxis, welche diekritische Grenze bei der Freiheitsstrafen von drei- bis fünfmonati-ger Dauer ansiedelt, und andererseits am neuen Sanktionensystemdes Allgemeinen Teils des StGB, wonach 1 Tag Freiheitsstrafe 4Stunden gemeinnütziger Arbeit oder 1 Tagessatz Geldstrafe ent-sprechen (Art. 39 Abs. 2 nStGB)."Botschaft, BBl 2006, 1179 f., zu Art. 130 E StPO.

d) Die Wirkungen der amtlichen Verteidigung

aa) Bezahlung der Verteidigung durch den Staat- Grundlegend zur Bemessung des Honorars:

BGE 132 I 201 ff. (Praxisänderung) mit ausführlicher Be-gründung.

"Es lässt sich heute nicht mehr rechtfertigen, den amtlichenRechtsvertretern bloss deren eigene Aufwendungen zu ersetzen;die Entschädigung für Pflichtmandate ist so zu bemessen, dass es

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den Rechtsanwälten möglich ist, einen bescheidenen (nicht blosssymbolischen) Verdienst zu erzielen. Das Bundesgericht geht alsFaustregel von einem Honorar in der Grössenordnung von 180Franken pro Stunde aus (....)."A.a.O, 201 (Regeste).

Die Regelung in der StPO: Art. 135,"Die Entschädigung der amtlichen Verteidigung bestimmt sichnach dem für das Verfahren massgebenden Anwaltstarif. Je nachKanton erhält die amtliche Verteidigung somit das gleiche Honorarwie eine frei bestellte Verteidigung oder aber ein reduziertes, amt-liches Honorar."BBl 2006, 1180, zu Art. 133 E StPO.

- (Zusätzliche) Entschädigung durch den Klientenunzulässig:

"Der amtlich bestellte Rechtsbeistand darf sich von der verbeistän-deten Partei nicht entschädigen lassen und ist insbesondere auchnicht befugt, sich eine zusätzliche Entschädigung zu derjenigenauszahlen zu lassen, welche er vom Staat erhält; eine Bezahlungdurch die verbeiständete Partei ist selbst dann ausgeschlossen,wenn die öffentlichrechtliche Entschädigung nicht einem vollenHonorar entspricht (....). Verstösst der unentgeltliche Rechtsbei-stand gegen diesen Grundsatz, macht er sich disziplinarrechtlichverantwortlich (....)."BGE 122 I 322 ff. (325 f.).

- Spätere Rückforderung durch den Staat möglich:

"Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, ...., garantiert demBedürftigen indessen keine definitive Übernahme der Kosten durchden Staat. Gelangt die bedürftige Partei im Laufe des Verfahrensoder aufgrund des Prozessausgangs in den Besitz ausreichenderMittel, kann ihr die unentgeltliche Rechtspflege verweigert oderwieder entzogen werden. Auf Grund der Rechtswohltat ausbezahlteBeträge können ferner selbst nach Erledigung des Prozesses zu-rückverlangt werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation desBegünstigten ausreichend verbessert hat (....)."BGE 122 I 322 ff. (324).

Im gleichen Sinne Art. 134 Abs. 1 und Art. 135 Abs. 4StPO.

bb) Beschränkte Freiheit bei der Wahl des Verteidigers- Aufgrund der BV kein absolutes Recht auf freie Wahl des

Verteidigers.BGE 125 I 161 ff. (164).

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Regelung in der StPO: Art. 133 Abs. 2.

- In der Praxis grosse Zurückhaltung bei der Bewilligung ei-nes Verteidigerwechsels.BGE 116 Ia 102 ff. (105).

Regelung in der StPO: Art. 134 Abs. 2.

"Absatz 2 regelt das praktisch bedeutsame, in der bisherigen Ge-setzgebung aber kaum ausdrücklich normierte Problem des Wech-sels in der Person der amtlichen Verteidigerin oder des amtlichenVerteidigers. Der Wechsel ist zuzulassen, wenn das Vertrauens-verhältnis mit der beschuldigten Person erheblich gestört oder einewirkungsvolle Verteidigung aus andern Gründen nicht mehr ge-währleistet ist. Die Regelung geht damit in gewisser Hinsicht überdie bisherige Praxis hinaus; sie trägt dem Umstand Rechnung, dasseine engagierte und effiziente Verteidigung nicht nur bei objektiverPflichtverletzung der Verteidigung, sondern bereits bei erheblichgestörtem Vertrauensverhältnis beeinträchtigt sein kann, also inFällen, in denen auch eine privat verteidigte beschuldigte Personeinen Wechsel der Verteidigung vornehmen würde."Botschaft, BBl 2006, 1180, zu Art. 132 Abs. 2 E StPO.

6) Die sog. notwendige Verteidigung

a) Weshalb eine notwendige Verteidigung?aa) Begriff

"Notwendig" bedeutet hier, dass im Prozess (bzw. in be-stimmten Verfahrensstadien) die Angeschuldigten unabhän-gig von ihrem Willen durch einen Rechtsanwalt verbeiständetsein müssen.

Vorerst ist in terminologischer Hinsicht festzuhalten, dass notwen-dige bzw. obligatorische Verteidigung im strafprozessualen Sinnbedeutet, dass der Betroffene in Anbetracht der rechtlichen und tat-sächlichen Umstände in den verschiedenen Stadien des Strafver-fahrens zwingend und auch ohne entsprechendes Ersuchen vertre-ten sein muss und dass er darauf auch mit einer persönlichen(Selbst-)Verteidigung nicht verzichten kann."BGE 131 I 350 ff. (352 f.).

bb) ZielsetzungDoppelte Funktion: Einerseits formulieren die Regelungender notwendigen Verteidigung die Voraussetzungen, unterwelchen ein Angeschuldigter eine unbedingte Verbeistän-dung beanspruchen darf. Andererseits wird ebenso vorge-

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schrieben, wann jemandem – notfalls auch gegen seinenWillen – eine sachkundige Person beigeordnet werden muss.ALBRECHT, Strafverteidiger, Rz. 2.96.

Institut der notwendige Verteidigung als Ausdruck staatlicherFürsorge und eines öffentlichen Interesses.

"Nach der heute herrschenden Rechtsauffassung liegt in der Bestel-lung eines besondern, von der Person des Angeklagten verschiede-nen Verteidigers in wichtigen Kriminalfällen nicht bloss eineRechtswohltat zugunsten des Angeklagten, auf die er verzichtenkann; vielmehr ist diese Verteidigung im öffentlichen Interesse ge-boten, und zwar nicht nur, um einen geordneten Ablauf des Ver-fahrens zu gewährleisten, sondern vor allem zur Erreichung desZwecks des Verfahrens, d.h. um es dem Gericht zu ermöglichen,die Wahrheit zu finden und ein gerechtes Urteil zu fällen (....). Dermoderne Anklageprozess verlangt grundsätzlich einen dem Staats-anwalt gleichgestellten Verteidiger, der alles vorbringt, was zu-gunsten des Angeklagten vorzubringen ist."BGE 95 I 356 ff. (361).

"Das Institut liegt .... zwar in erster Linie im wohlverstandenen In-teresse des Angeschuldigten, darüber hinaus indessen auch im Inte-resse der Rechtspflege an der Gewährleistung eines fairenStrafprozesses (....)."BGE 129 I 281 ff. (287).

Es trifft zu, dass es sich bei der notwendigen Verteidigung "um ei-nen Eingriff in die Autonomie des Beschuldigten handelt, aller-dings vertreten Praxis und Lehre schon seit geraumer Zeit die Auf-fassung, dass taugliche Verteidigung im Strafverfahren im öffentli-chen Interesse liege. Sie dient der Wahrheitsfindung, gerade durchdie pointierte Einseitigkeit des Interessenvertreters, als Gegenge-wicht zur Staatsanwaltschaft. Sodann gibt es Fälle, in denen dieFürsorgepflicht für den Beschuldigten zu einer (erzwungenen) Ver-teidigung nötigt."PIETH, Strafprozessrecht, 82.

"Als Grund für eine zwingende anwaltliche Verbeiständung wirderwähnt, dass in bestimmten Situationen die Verteidigung nichtmehr nur Rechtswohltat zugunsten des Beschuldigten darstelle,sondern der Rechtsstaatlichkeit diene; insofern bestehe ein Interes-se der Rechtsgemeinschaft an der Verkündung von gerechten Ur-teilen, die in einem justizförmigen Verfahren zustande kommen(....). Weder kommt es dabei auf die finanziellen Verhältnisse derbeschuldigten Person an, noch darauf, ob sie selber eine solcheVerteidigung wünscht oder sich ihr gar widersetzt; massgebend ist,dass eine sachkundige Verbeiständung insoweit im öffentlichen In-teresse liege (....)."

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V. LIEBER, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kommentar,Art. 130, N 2.

b) Die gesetzlichen VoraussetzungenKeine Vorgaben durch Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. cEMRK.BGE 131 I 350 ff. (355 ff.).

Ú B e i l a g e 3aa) Unfähigkeit, sich selber zu verteidigen

Art. 130 lit. c StPO.

bb) Beurteilung schwerer DelikteArt. 130 lit. b StPO.

cc) Untersuchungshaft von einer bestimmten DauerArt. 130 lit. a StPO.

dd) Staatsanwaltschaft vor GerichtArt. 130 lit. d StPO,

ee) Abgekürztes VerfahrenArt. 130 lit. e StPO,

c) Die WirkungenBei Missachtung der Vorschriften über die notwendige Verteidi-gung: Urteil nichtig ?

Vgl. Art. 131 Abs. 3 StPO.

"Entsprechend der Bedeutung der Fälle, die eine notwendige Ver-teidigung rechtfertigen, müssen auch Regeln aufgestellt werden,welche die rechtzeitige Bestellung der Verteidigung im konkretenFall sicherstellen. Diesem Zweck dient Artikel 129, Absatz 3 klärtdie praktisch wichtige, bisher nur selten ausdrücklich geregelteFrage, ob Beweisabnahmen gültig sind, die in Fällen der notwen-digen Verteidigung erfolgten, bevor diese bestellt worden ist. Nachder vorgeschlagenen Lösung ist zu unterscheiden, ob zum Zeit-punkt der fraglichen Beweisabnahme die Verteidigung erkennbarnotwendig war oder nicht. Im ersten Fall sind die Beweise unver-wertbar und die Abnahme muss in Anwesenheit der Verteidigungwiederholt werden, es sei denn, die beschuldigte Person würde aufdie Wiederholung verzichten. Im zweiten Fall, etwa wenn zu Be-ginn des Vorverfahrens die Tragweite des Straffalles, soweit für

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den Entscheid über die notwendige Verteidigung relevant, nochnicht erkennbar war, behalten die erfolgten Beweisabnahmen da-gegen ihre Gültigkeit."Botschaft, BBl 2006, 1179, zu Art. 129 Abs. 3 E StPO.

"Beweiserhebungen, die ohne Verteidiger durchgeführt werden,obwohl die Notwendigkeit bereits erkennbar war, sind nur gültig,wenn die beschuldigte Person auf eine Widerholung verzichtet.Sonst sind sie unverwertbar, und das Urteil, das sich auf die Er-gebnisse stützt, nichtig."PIETH, Strafprozessrecht, 82 f.

d) Konflikte mit der Autonomie der Beschuldigten

aa) Konkretes BeispielBGE 95 I 356 ff.:

"An den Vorschriften moderner Strafprozessordnungen, nach wel-chen dem Angeklagten in schweren Straffällen auch gegen seinenWillen ein Verteidiger zu geben ist, bestehen daher hinreichendeöffentliche Interessen, die schwerer wiegen als das Interesse, dasder Angeschuldigte an einer selbständigen Verteidigung habenkann.Schliesslich kann auch nicht gesagt werden, dass das System dernotwendigen Verteidigung die Freiheit des Angeklagten völlig un-terdrücke oder ihres Gehaltes entleere."A.a.O, 361, E. I.2/b.

bb) Rechtliche ProblematikZwangsverteidigung im Widerspruch zum Selbstbestim-mungsrecht der Angeschuldigten.Ausführlich dazu V. LIEBER, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber(Hrsg.), Kommentar, Art. 130, N 6 ff. und ALBRECHT, Strafvertei-diger, Rz. 2.104 ff.:

"Eine Zwangsverteidigung lässt sich mit Blick auf das Autonomie-prinzip lediglich dort legitimieren, wo der Angeschuldigte garnicht in der Lage ist, 'zur Frage einer zweckmässigen Verteidigungüberhaupt einen Willen zu bilden', also in den Fällen einer defektenAutonomie."ALBRECHT, Rz. 106, mit Hinweisen.

IV) Einzelne Verteidigungsrechte1) Das Aussageverweigerungsrecht

a) InhaltKeine Pflicht zur Aussage im Verfahren.

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¢ Nemo-tenetur-Prinzip.= "Kern des Autonomieprinzips"(PIETH, Strafprozessrecht, 48).

"Dass die beschuldigte Person nicht verpflichtet ist, aktiv an ihrereigenen Überführung mitzuwirken (nemo tenetur se ipsum accusa-re), wird vom BGer ..... aus dem Grundsatz der Unschuldsvermu-tung abgeleitet (.....). Im Anschluss an die Rechtsprechung desEGMR wird der Nemo-tenetur-Grundsatz allerdings von der heuteh.M. als zentraler Teilgehalt des Anspruchs auf ein faires Verfah-ren aus EMRK Art. 6 Ziff. 1 und BV Art. 29 Abs. 1 abgeleitet(.....)."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 10, N 3.

"Das Recht, während einer polizeilichen Vernehmung zu schwei-gen und das Recht, sich nicht selbst zu belasten, stellen zweifellosinternational anerkannte Grundsätze dar, die den Kern eines fairenVerfahrens gem. Art. 6 ausmachen, auch wenn Art. 6 diese Grund-sätze nicht ausdrücklich erwähnt (....). Durch Schutz des Beschul-digtem vor unzulässigem Zwang tragen diese Rechte dazu bei,Fehlurteile zu vermeiden und das von Art. 6 der Konvention ange-strebte Ergebnis zu garantieren."EGMR, EuGRZ 1996, 587 ff. (590), Ziff. 45.

"Als allgemeiner, bisher aus Art. 4 aBV abgeleiteter Grundsatz desStrafprozessrechts ist anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu sei-ner Belastung beizutragen. Der in einem Strafverfahren Beschul-digte ist demnach nicht zur Aussage verpflichtet. Vielmehr ist eraufgrund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zuschweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen(....)....."BGE 130 I 126 ff. (128 f., E. 2.1).

Konkret im Gesetz:Art. 113 Abs. 1 StPO.

Einzelheiten:- Verbot negativer Folgen bei Aussageverweigerung.

Insb. Frage nach den zulässigen Auswirkungen auf die Be-weiswürdigung.

"Ein innerstaatliches Gericht kann nicht zur Schuldfeststellung ein-fach nur deshalb kommen, weil sich der Angeklagte entschiedenhat zu schweigen. Nur für den Fall, dass die belastenden Beweisegeradezu nach einer Erklärung 'rufen', die der Angeschuldigte ohneweiteres geben können müsste, nur für diesen Fall kann die fehlen-de Erklärung, 'den Schluss erlauben, dass gesunder Menschenvers-tand zu keiner anderen Erklärung führen kann als zu der, dass derAngeklagte schuldig ist' (....)."

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EGMR, EuGRZ 1996, 587 ff. (591), Ziff. 51.

"Das Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten (....) lässt nichtzu, dass der Richter die möglichen Motive einer Aussagverweige-rung in die Beweiswürdigung einbezieht und daraus Schlüsse ge-gen die Glaubwürdigkeit des Angeklagten zieht."KassGer. ZH, ZR 1997, Nr. 19.

"Auch die Androhung negativer Konsequenzen für den Fall derAussageverweigerung ist unzulässig. Durch falsche Aussagen kannder Beschuldigte allenfalls Kostfolgen erleiden und sich in Aus-nahmefällen, etwa durch falsche Anschuldigungen, strafbar ma-chen (vgl. Art. 303 – 305 StGB). Problematisch ist aber auch dienach wie vor bestehende Praxis, den Beschuldigten für 'hartnäcki-ges Bestreiten' besonders scharf zu bestrafen."PIETH, Strafprozessrecht, 48.

- Vorbehalten bleiben die Duldungspflichten (insb. die gesetzli-che Zwangsmassnahmen).Vgl. Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO.

- Recht auf Lüge?Jedenfalls darf an eine Lüge keine direkte strafprozessualeSanktion geknüpft werden.

"Ob .... die beschuldigte Person einer Wahrheitspflicht unterliegt,wurde schon von jeher diskutiert. Die Frage kann jedoch offenbleiben: Einerseits auferlegt ihr die StPO .... nicht ausdrücklichWahrheitspflichten. Andererseits werden bei ihr entgegen demZeugen an Lügen keine unmittelbaren Sanktionen geknüpft. DasLügen findet allerdings seine klare Grenze dort, wo dadurch Straf-tatbestände gesetzt werden (....). Straflos ist jedoch die Selbstbe-günstigung, etwa durch das aktive Vernichten von Tatspuren durchdie beschuldigte Person.Indirekt können sich Lügen freilich für die beschuldigte Person ne-gativ auswirken: So ist mit Blick auf die Strafzumessungsregelnnach StGB 47 eine Bevorzugung des geständigen, einsichtigenStraftäters und damit im Ergebnis eine Benachteiligung des nichtGeständigen üblich, wenn auch nicht unumstritten. Eine Benachtei-ligung der lügenden beschuldigten Person ist im Ergebnis ebenfallsbei der Kostenauflage denkbar."SCHMID, Handbuch, N 159 f.

b) Behördliche Belehrungspflichten- Pflicht der Behörden, die Beschuldigten von Anfang an über ih-

re prozessualen Rechts (also auch über ihr Schweigerecht zuorientieren).BGE 130 I 129 ff. mit ausführlicher Begründung.

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Zur Gesetzgebung:Art. 158 (insb. Abs. 1 lit. b) StPO,

"Bereits auf Grund höherrangigen Rechts haben beschuldigte Per-sonen Anspruch darauf, über die gegen sie erhobenen Vorwürfeund ihre Rechte unterrichtet zu werden: Allerdings differenzierendie Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskon-vention diese Ansprüche danach, ob sich die betroffene Person inFreiheit befindet, oder ob ihr die Freiheit entzogen wurde: NachArtikel 32 Absatz 2 BV hat '[j]ede angeklagte Person […] An-spruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sieerhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden'. Personen, de-nen die Freiheit entzogen wurde, sind gemäss Artikel 31 Absatz 2BV und Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a EMRK zudem über denGrund des Freiheitsentzugs und über ihre Rechte zu orientieren.Absatz 1 konkretisiert diese Vorgaben und geht teilweise über siehinaus: So besteht die Pflicht zur Orientierung über die zustehen-den Rechte nicht nur gegenüber Personen, denen die Freiheit ent-zogen wurde, sondern gegenüber jeder beschuldigten Person. Diesentspricht – jedenfalls hinsichtlich der Belehrung über das Aussa-geverweigerungsrecht – geltendem kantonalen Recht und wurdeauch von der Expertenkommission postuliert. Hinsichtlich desZeitpunkts ergibt sich, dass bereits die Polizei die Orientierungs-pflicht zu beachten hat. .... Allerdings gilt die Orientierungspflichtnur für Einvernahmen, d.h. für protokollarisch vorzunehmende Be-fragungen; nicht einbezogen sind damit Fälle, in denen sich die Po-lizei etwa bei Verkehrsunfällen durch erste Fragen ein Bild von derSituation zu verschaffen sucht. In solchen Situationen ist die pro-zessuale Stellung der betreffenden Personen oftmals noch gar nichtgeklärt."Botschaft, BBl 2006, 1198, zu Art. 155 E StPO.

- Bei Unterlassung der Belehrung ein Verwertungsverbot hin-sichtlich der betreffenden Aussagen.So deutlich Art. 158 Abs. 2 StPO.Zurückhaltender das BGer. (gestützt auf die BV).

Es "ist bezüglich der Aufklärungspflicht von einer eigenständigenVerfahrensgarantie auszugehen, welche sich nicht nur aus dem An-spruch auf rechtliches Gehör ableiten lässt (....). Soweit die festge-nommene Person davor bewahrt werden soll, sich selber zu be-lasten, dient die Information über das Aussageverweigerungsrechtder Gewährleistung der Verteidigungsrechte. Aufgrund des for-mellrechtlichen Charakters dieser Verfahrensgarantie sind Aussa-gen, die in Unkenntnis des Schweigerechtes gemacht wurden,grundsätzlich nicht verwertbar. In Abwägung der entgegenstehen-den Interessen können Einvernahmen jedoch ausnahmsweise ....trotz unterlassener Unterrichtung über das Aussageverweigerungs-recht verwertet werden."BGE 130 I 126 ff. (132 f.).

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2) Das Akteneinsichtsrechta) Inhalt und Umfang der Akteneinsicht

Akteneinsicht als Teil des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV);unverzichtbarer Bestandteil jeder Verteidigungstätigkeit.Vgl. Art. 101 Abs. 1 und Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO.

Zum Umfang des Akteneinsichtsrechts:

"Grundsätzlich sind alle Akten i.S. von StPO 100 unter Einschlussder Beweisgegenstände nach StPO 192 (....) wie Ton- und Bildauf-nahmen (....), Tatwerkzeuge, gefundene Spuren usw. zur Einsicht-nahme zu öffnen, unabhängig davon, ob sie zu den Strafakten imengeren Sinn erhoben wurden. Geheimakten sind .... verboten. Zuöffnen sind sodann die beigezogenen Akten (....), ebenso jene ge-gen Mittäter, die als Belastungszeugen erscheinen."SCHMID, Handbuch, N 625.

"Im Bereich, in dem sich präventive und repressive Polizeitätigkeitberühren, ist nicht ohne weiteres zu bestimmen, welche Akten zumFall selbst und welche als Umfeldakten oder als rein ermittlungs-taktische Dokumente ausserhalb der Akte bleiben: Zumal gehen,wo eine (Drogen-)Szene observiert wird, nicht sämtliche Datenauch in die Akte des Einzelfalls ein. Wenn die Verteidigung trotz-dem sicheren Zugang zu entlastendem Material erhalten will, oderwenn die Zwangsmassnahmen- oder Sachrichter sich vor Manipu-lation durch die Polizei schützen wollen, müsste eigentlich eineneutrale Instanz .... die polizeiliche Aktenführung insgesamt unddie Zuweisung zur Fallakte überprüfen."PIETH, Strafprozessrecht, 76.

Akteneinsicht im Haftverfahren vor dem Zwangsmassnahmenge-richt: Art. 225 Abs. 2 StPO.

b) Zeitpunkt und Voraussetzungen der AkteneinsichtGemäss geltendem Recht: Im polizeilichen Ermittlungsverfahreni.d.R. kein Akteneinsichtsrecht, z.B.Art. 101 Abs. 1 StPO.¢ Rechtlich bedenkliche Regelung.

Im Haftverfahren Anspruch auf Einsicht in die haftrelevanten Ak-ten: Art. 225 Abs. 2 StPO.

"Aus Art. 101 Abs. 1 StPO "ergibt sich, dass das Gesetz den in derBotschaft signalisierten Ausgangspunkt in Frage stellt: Eine 'Ver-teidigung der ersten Stunde' ohne umfassende Aktenkenntnis bleibtäusserst prekär. Indirekt kann bei inhaftierten Beschuldigten dasHaftverfahren – zumal die 'Haftakte' sich notwendigerweise zum

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Tatverdacht äussern muss – der Verteidigung zu Hilfe kommen(Art. 225 Abs. 2)."PIETH, Strafprozessrecht, 77.

c) Weitere Einschränkungen des EinsichtsrechtesBeschränkung oder Ausschluss der Akteneinsicht zum Schutzehöherwertiger privater oder öffentlicher Rechte zulässig, z.B.Art. 108 StPO.

"Der erste Fall (Bst. a) ist der Rechtsmissbrauch. Die so motivierteEinschränkung ist zulässig, wenn ein begründeter Verdacht desMissbrauchs durch eine Partei oder ihren Rechtsbeistand vorliegt.Das in vielen geltenden Verfahrensgesetzen erwähnte, wenig fass-bare 'gefährdete Verfahrensinteresse' genügt somit allein nichtmehr, um das rechtliche Gehör vor allem in der Anfangsphase desVorverfahrens einzuschränken. Der zweite Fall (Bst. b) betrifft dieSicherheit von Personen und die Wahrung öffentlicher oder priva-ter Geheimhaltungsinteressen. Es handelt sich hier um allgemeineAusschlussgründe; ...."BBl 2006, 1164, zu Art. 106 E StPO.

3) Das BeweisantragsrechtLit.:H. VEST, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten oder der lang-

wierige Abschied vom Inquisitionsmodell, in: FS Trechsel, 2002,781 ff.

a) Inhalt und BedeutungBeweisantragsrecht als Bestandteil des rechtlichen Gehörs undeines fairen Verfahrens (Waffengleichheit).

"Die Funktion des Beweisantragsrechts besteht zum einen darin,die Aufklärungspflicht dadurch zu ergänzen, dass durch die Initia-tive der Verfahrensbeteiligten Fehleinschätzungen der Sachlagedurch die verfahrenstragenden Strafverfolgungsorgane korrigiertwerden können; zum andern – und vorrangig – ist das Beweisan-tragsrecht das zentrale Instrument, mit dem die Verfahrensbeteilig-ten den Anspruch umsetzen können, in angemessner Art und Weiseauf den Gang und das Ergebnis der Beweiserhebungen Einfluss zunehmen."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 139, N 6.

"Man muss, wenn man vorab die Frage nach der Rechtsnatur desBeweisantragsrechts stellt, den Mut zur Klarheit haben. Es gehtnicht um eine Anregung zur Vervollständigung der Untersu-chungsakten im Sinne einer Aktivierung der behördlichen Aufklä-rungspflicht. Es geht darüber hinaus um die Chance der Parteien,

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insbesondere des Beschuldigten, in einer Untersuchung, die eineWende genommen hat, die er oder sie ablehnt, eine unter Umstän-den radikale Alternative in 'Fleisch und Blut', d.h. mit konkretenBeweisen, einzubringen. Alsberg, der deutsche Klassiker des Be-weisantragsrechts, meint, von einem 'Recht' könne nur gesprochenwerden, wenn der Richter gezwungen sei, auch 'Beweise zu erhe-ben, die er prima facie für aussichtslos ansieht, und die er inner-lich ablehnt'."PIETH, Strafprozessrecht, 87.

Gesetzliche Regelung:Art. 107 Abs. 1 lit. e, 318, 331 Abs. 2 und 3 StPO.

"Heute wird das Recht, Beweis- und Beweisermittlungsanträge zustellen, durch Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV anerkannt, wobei das Bun-desgericht das Recht, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zuwerden, aus Art. 29 Abs. 2 BV ableitet (....). Diese verfassungs-rechtlichen Gebote werden durch Art. 6 EMRK 'überlagert'. In die-sem Zusammenhang ist insbesondere von Belang, wie das im Art.6 Abs. 1 EMRK verankerte Gebot des 'fair trial' sowie das in Abs.3 Bst. d) kodifizierte Recht, 'die Ladung und Vernehmung von Ent-lastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie siefür Belastungszeugen gelten' zu verstehen ist. Die Strassburger Or-gane interpretieren Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Bst. d)als zentralen Bestandteil für die Garantie eines insgesamt fairenStrafverfahrens. Das Bundesgericht ist dieser Auslegung gefolgt."VEST, a.a.O., 785 f.

"Das wohl wesentlichste Recht des Beschuldigten im Rahmen desihm zustehenden rechtlichen Gehörs und der Mitwirkungsrechte istdas Beweisantragsrecht. Es wird aber gerade mal in Art. 105 E-StPO in allgemeiner Art erwähnt, weiter in Art. 319 (....) und inArt. 332 (....). Der wesentlichste Mangel liegt darin, dass der Be-schuldigte nach dem Entwurf nie die Möglichkeit hat, die Abnah-me der von ihm beantragten Beweise auch durchzusetzen, sonderner hat immer nur ein Beweisantragsrecht. Das verstösst einerseitsgegen Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK (....), andererseits gegen die Waf-fengleichheit."RUCKSTUHL, a.a.O., 326, zum E StPO.

¢ Ausgestaltung des Beweisantragsrechtes "als eine Art Seismo-graph rechtsstaatlichen Prozessierens" (VEST, a.a.O., 782).

b) Die Ablehnung von Beweisanträgenaa) Problemstellung

bb) Die Ablehnungsgründe allgemein- Gesetzgebung:

Art. 318 Abs. 2 StPO.

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- Bundesgericht:

"Die Befragung von belastenden oder entlastenden Zeugen ist ....nicht absolut. Es kann mit der Natur eines fairen Verfahrens unterbesonderen Umständen vereinbar sein, von einer solchen Befra-gung abzusehen. Das gilt zum einen, wenn die Beweisanträge einenicht erhebliche Tatsache betreffen oder offensichtlich untauglichsind oder wenn sich der Richter auf Grund bereits abgenommenerBeweise seine Überzeugung willkürfrei gebildet hat (....)."BGE 124 I 274 ff. (285).

- Zum deutschen Recht:

"Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Bewei-ses unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehntwerden, wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit über-flüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für dieEntscheidung ohne Bedeutung und schon erwiesen ist, wenn dasBeweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist,wenn der Antrag zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt istoder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des An-geklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wä-re die behauptete Tatsache wahr."§ 244 Abs. 3 StPO

cc) Einzelne Ablehnungsgründe- Unzulässigkeit der Beweiserhebung.- Antrag wegen Offenkundigkeit der Tatsache überflüssig.- Mangelnde Rechtserheblichkeit der Tatsache.- Unerreichbarkeit des Beweismittels.- Wahrunterstellung.

"Die Artikel der Schweizerischen Strafprozessordnung, die dasBeweisantragsrecht des Beschuldigten regulieren (....), überlassenes dem Ermessen der Behörde, welche Anträge anzunehmen sind.Dabei wäre der Ausgangspunkt einer klaren Regelung in der Pro-zessordnung durchaus angelegt: Art. 139 Abs. 2 macht deutlich,dass 'über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig der Strafbehör-de bekannt oder bereits rechtsgenüglich erwiesen sind' nicht Be-weis geführt wird. Der gemeinsame Nenner dieser Anlehnungs-gründe ist, dass sie in abstracto, ex ante mit ausreichender Sicher-heit beurteilt werden können. Dies gilt insbesondere für die rechtli-che Unerheblichkeit oder die Unzulässigkeit. Einzig das Erwiesen-sein nimmt Beweisergebnisse vorweg. Zu Gunsten des Beschuldig-ten wäre das erträglich, wenn seine Beweisbehauptung als wahrunterstellt wird. Ebenfalls vertretbar ist die abstrakte Annahme vonAllgemein- und Gerichtsnotorietät."PIETH, Strafprozessrecht, 87.

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"Unproblematisch ist die Antizipation der Beweiseignung dann,wenn sie sich darauf beschränkt, die Beweisgeeignetheit eineskonkreten Beweismittels zu würdigen. Lässt sich dartun, dass daskonkrete Beweismittel definitiv untauglich ist, den Nachweis derTatsache zu erbringen, die der Antragsteller unter Beweis gestellthat, wäre die Erhebung des Beweises eine leere Förmlichkeit, dieauch durch den Anspruch auf rechtliches Gehör und ein faires Ver-fahren nicht geboten wird. Untauglich in diesem Sinne sind Be-weismittel allerdings erst und nur dann, wenn sie per se ungeeignetsind, den beantragten Beweis zu erbringen (.....). .....Rechtsstaatlich unbedenklich und prozessökonomisch geboten istes, Beweisanträgen dann nicht stattzugeben, wenn eine antizipierteBeweiswürdigung das Ergebnis erbringt, dass die beantragte Be-weiserhebung – im Falle der erfolgreichen Durchführung – zu ei-nem Ergebnis führen würde, das auf der Grundlage der bereits er-hobenen Beweise zur Überzeugung der Strafbehörde / des Gerichtsbereits feststeht. Hier reicht es aus, die entsprechende Erhebungder beantragten Beweise mit der Begründung abzulehnen, die ent-sprechenden Umstände seien bereits erwiesen (.....)."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 139, N 9 f.

dd) Die Problematik der antizipierte Beweiswürdigung- Bundesgericht:

"Nach der Rechtsprechung kann der Richter das Beweisverfahrenschliessen, wenn die Beweisanträge eine nicht erhebliche Tatsachebetreffen oder offensichtlich untauglich sind oder wenn er aufGrund bereits abgenommener Beweise seine Überzeugung gebildethat und ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigungannehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere Beweiser-hebungen nicht geändert würde."BGE 124 I 208 ff. (211).

- Kritik:Schwächung der Verteidigungsrechte und Konflikte mitder Unschuldsvermutung.

"Im Klartext heisst das, dass es der Staatsanwaltschaft oder demRichter freisteht, den Beweisvorgang jederzeit auch gegen denWillen des Beschuldigten abzubrechen, wenn er mit dem (vonihr/ihm) nach willkürfreiem Ermessen bisher Erhobenen zufriedenist: das Vorurteil wird zum Urteil. Das Bundesgericht sanktioniertdamit ein wichtiges Residuum des Inquisitionsprozesses undnimmt dem Beschuldigten unter Umständen die Chance einer ef-fektiven Verteidigung."PIETH, Strafprozessrecht, 88, zur bundesgerichtlichen Praxis.

"Eine beantragte Beweiserhebung mit der Begründung abzulehnen,die Strafbehörde / das Gericht sei auf der Basis der bereits erhobe-

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nen Beweise zu dem Schluss gekommen, dass die beantragte Be-weiserhebung nichts daran ändern würde, dass die Strafbehörde /das Gericht vom Gegenteil dessen überzeugt ist, was die beantragteBeweiserhebung erbringen soll, ist ..... höchst bedenklich (.....). EinVorrang der bereits erhobenen Beweise gegenüber den angebote-nen würde die Verteidigung benachteiligen und die Unschuldsver-mutung verletzen. Ein Verzicht auf die Beweiserhebung kann nurin zwei Fällen erfolgen: Zum einen dann, wenn ein Verfahrensbe-teiligter sein Beweisantragsrecht zur Verfahrensverschleppungmissbraucht (.....), zum andern dann, wenn das verfahrenstragendeOrgan unterstellt, dass die beantragte Beweiserhebung das mit ihrintendierte Ergebnis erbringen werde (Wahrunterstellung; .....),wobei dann im Rahmen der Beweiswürdigung dargetan werdenmuss, dass und warum das Gericht aufgrund der sonstigen Be-weismittel dennoch zweifelsfrei davon überzeugt ist, dass das Ge-genteil der beantragten Beweiserhebung zutreffend ist."WOHLERS, a.a.O., Art. 139, N 11.

- Gesetzgebungsvorschlag von VEST, a.a.O., 799 f.:"Antizipierte Beweiswürdigung zu Lasten des Beschuldig-ten ist grundsätzlich untersagt.Über offenkundige, von vornherein offensichtlich unerheb-liche oder von vornherein offensichtlich unerreichbare Tat-sachen wird nicht Beweis geführt.Offensichtlich zum Zwecke der Prozessverschleppung ge-stellte Beweisanträge werden abgelehnt."

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5. Teil: DIE PROZESSUALE STELLUNG DER GESCHÄDIGTEN

Lit.:F. BOMMER, Offensive Verletztenrechte im Strafprozess, 2006;DERSELBE, Warum sollen sich Verletzte am Strafverfahren beteiligen dür-

fen? ZStrR 2003, 172 ff.;K.-L. KUNZ, Opferschutz und Verteidigungsrechte, plädoyer, Sonderheft,

Oktober 2002, 2 ff.

I) Die Geschädigten als strafprozessuales Thema1) Terminologische Vorbemerkungen

a) Geschädigte PersonLegaldefinition in Art. 115 StPO.

"Üblicherweise ist dies die Trägerin des Rechtsgutes, welchesdurch das in einem Straftatbestand inkriminierte Verhalten verletztoder (beim Versuch) hätte verletzt bzw. gefährdet werden sollen.Typisch für die geschädigte Person ist, dass sie durch die Straftati.S. von OR 41 ff. geschädigt bzw. gefährdet wurde."SCHMID, Handbuch, N 682.

Ebenso schon in Art. 113 E StPO.

"Die vereinheitlichte Strafprozessordnung übernimmt für den Be-griff der geschädigten Person (gelegentlich auch verletzte Persongenannt; französisch le lésé; italienisch il danneggiato) die bewähr-te Umschreibung in den geltenden Strafprozessgesetzen und derherrschenden Lehre: Anknüpfungspunkt ist die unmittelbare Ver-letzung der rechtlich geschützten Interessen der betreffenden Per-son (Abs. 1). Bei den Straftatbeständen, die individuelle Rechtsgü-ter wie Leib und Leben, Vermögen, Ehre etc. schützen, sind diesdie so genannten tatbeständlich Verletzten. Absatz 2 hält präzisie-rend fest, dass die Verletzten, die nach Artikel 30 Absatz 1 nStGBzum Strafantrag berechtigt, also Träger des angegriffenen Rechts-guts sind, stets als Geschädigte zu betrachten sind."Botschaft, BBl 2006, 1169 f.

b) OpferLegaldefinition in Art. 116 StPO (aus dem OHG übernommen).Einzelheiten bei SCHMID, Handbuch, N 693, mit zahlreichen Pra-xishinweisen.

Gemäss Art. 2 Abs. 1 OHG ist Opfer, wer durch eine Straftat inseiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmit-telbar beeinträchtigt worden ist, unabhängig davon, ob der Täterermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat.

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Nach der Rechtsprechung muss die Beeinträchtigung von einemgewissen Gewicht sein. Bagatelldelikte wie z.B. Tätlichkeiten, dienur unerhebliche Beeinträchtigungen bewirken, sind daher vomAnwendungsbereich des Opferhilfegesetzes grundsätzlich ausge-nommen. Entscheidend ist jedoch nicht die Schwere der Straftat,sondern der Grad der Betroffenheit der geschädigten Person. Sokann etwa eine Tätlichkeit die Opferstellung begründen, wenn siezu einer nicht unerheblichen psychischen Beeinträchtigung führt.Umgekehrt ist es denkbar, dass eine im Sinne des Opferhilfegeset-zes unerhebliche Beeinträchtigung der körperlichen und psychi-schen Integrität angenommen wird, obwohl der Eingriff strafrecht-lich als leichte Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) zubeurteilen ist. Entscheidend ist, ob die Beeinträchtigung des Ge-schädigten in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen In-tegrität das legitime Bedürfnis begründet, die Hilfsangebote unddie Schutzrechte des Opferhilfegesetzes - ganz oder zumindest teil-weise - in Anspruch zu nehmen (....).Nach der Botschaft vom 25. April 1990 zum Opferhilfegesetz sindvon einer Ehrverletzung Betroffene nicht Opfer im Sinne von Art.2 OHG (....). Wie das Bundesgericht in BGE 120 Ia 157 erwog,kann fraglich erscheinen, ob dies auch in aussergewöhnlich schwe-ren Fällen von Ehrverletzungen zu gelten hat. Es hat die Frage injenem Entscheid offen gelassen (....)."BGE 128 I 218 ff. (220 f.).

2) Die Neutralisierung der Geschädigten

a) Das GesetzDie Opferinteressen durch den staatlichen Strafanspruch ersetzt.

"Staatliches Strafrecht entsteht mit der Neutralisierung des Opfers.Der Staat nimmt mit dem Strafmonopol dem Opfer das Recht, dieVerletzung seiner Interessen beim Täter zu ahnden .... Die staatlichgegen den Täter betriebene Strafverfolgung entfernt das Opfer ausder in der Tatsituation vorhandenen Polarität zum Täter und ersetztdessen Interessen durch den staatlichen Strafanspruch. Der Staatkann sich einseitig auf den Täter fokussieren, weil in der staatli-chen Reaktion die Opferinteressen im Wesentlichen als bereits be-friedigt gedacht werden."KUNZ, a.a.O., 2.

¢ Das Strafverfahren ist täterzentriert.

b) Die Praxis3) Die "Wiederentdeckung" der Geschädigten

4) Das Opferhilfegesetz als Meilensteina) Von der "Beobachter"-Initiative zum OHG

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OHG vom 4. 10. 1991 (SR 312.5).

b) Das Konzept des OHGArt. 1 OHG: Umfassende Hilfestellung für die Opfer:- Beratung,- Besserstellung im Strafverfahren,- staatliche Entschädigung und Genugtuung.

II) Die Geschädigten als Partei1) Zum Parteibegriff

Unterscheidung zwischen den "Parteien" und "anderen Verfahrensbe-teiligten":Art. 104 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1StPO.

"Obwohl man sich in der Strafprozessrechtslehre weitgehend einigist, dass der Begriff der Partei für das Strafverfahren wenig geeig-net ist und eigentlich die Bezeichnung Verfahrensbeteiligte vorzu-ziehen wäre, wird er nun in der StPO verwendet. Massgebend da-für waren vor allem Gründe der begrifflichen und sprachlichenVereinfachung. Diese Begriffswahl nimmt sodann besser auf dieromanischen Sprachen Rücksicht, in denen der Begriff des Verfah-rensbeteiligten nicht gebräuchlich ist, wohl aber jener der Partei."SCHMID, Handbuch, N 633.

2) Die Parteistellung der GeschädigtenArt. 118 ff. StPO: Privatklägerschaft.Ebenso schon Art. 116 ff. E StPO:

"Die Geschädigteneigenschaft kommt einer verletzten Person vonGesetzes wegen zu. Die Frage, ob diese automatisch erworbeneRechtsstellung genügt, um die damit verbundenen Verfahrensrech-te ausüben zu können, wird in den kantonalen Prozessordnungenunterschiedlich beantwortet. Verschiedene Gesetze bejahen dieFrage, mit der Folge, dass sich die geschädigte Person in irgendei-nem Stadium des Verfahrens, u.U. erst im Zusammenhang mit derErgreifung von Rechtsmitteln, auf ihre Stellung berufen kann, auchwenn sie sich in früheren Verfahrensstadien nicht am Verfahrenbeteiligt hat. Andere Verfahrensordnungen gewähren die Partei-rechte nur, wenn die geschädigte Person ausdrücklich erklärt hat,die Rechte ausüben zu wollen.Dieser zweite Lösungsansatz verwendet regelmässig den Begriffder Privatklägerschaft; damit wird deutlich, dass hier die geschä-digte Person gleichsam mit einer Klage ausdrücklich erklärenmuss, sich am Verfahren beteiligen und ihre Rechte wahrnehmenzu wollen. Der Entwurf folgt mit der Regelung in Artikel 116grundsätzlich diesem zweiten Modell. Dieses hat für die Strafbe-hörden und die beschuldigte Person den Vorteil, dass in einem re-

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lativ frühen Stadium, nämlich spätestens bis zum Abschluss desVorverfahrens (vgl. Abs. 3) geklärt werden kann, ob sich die ge-schädigte Person aktiv am Prozess beteiligen will oder nicht. EineBeteiligung ist – kumulativ oder alternativ – möglich als Straf-oder als Zivilklägerin (Art. 117 Abs. 2)."Botschaft, BBl 2006, 1171.

¢ Parteistellung von Geschädigten, die sich am Strafverfahren beteiligen(wollen) und dies ausdrücklich erklären, sich folglich als Privatkläger/in-nen konstituieren.

III) Die prozessualen Pflichten der Geschädigten1) Allgemein

Geschädigte als Informationsquelle (als Beweismittel):Einvernahme als Zeug/innen oder als Auskunftspersonen(Art. 166 und 178 lit. a StPO).

2) Die Zeugnispflichta) Grundsatz

Strafrechtlich sanktionierte Zeugnispflicht:Art. 163 Abs. 2 StPO.

b) ZeugnisverweigerungsrechteKonstellationen, in welchen die Erfüllung der Zeugenpflicht unzu-mutbar wäre:Art. 168 ff. StPO.

Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts:Art. 168 Abs. 4 StPO.

"Das Zeugnisverweigerungsrecht wird im Interesse derWahrheitsfindung sowie des Zeugen selbst bei schweren Deliktennach 168 IV lit. a in Fällen beschränkt, in denen sich eine solcheStraftat gegen eine der in 168 I-III genannten Personen richtet.Somit hat die Tochter im Verfahren gegen ihren Vater auszusagen,der beschuldigt wird, ihre Mutter (bzw. Ehefrau des Beschuldigten)umgebracht zu haben (.....)."SCHMID, Praxiskommentar, Art. 168, N 14.

Ebenso schon Art. 165 Abs. 4 E StPO.

"Absatz 4 enthält eine Einschränkung des Zeugnisverweigerungs-rechts, welche nur wenigen kantonalen Strafprozessordnungen be-kannt ist und die von der Expertenkommission angeregt wurde. DieRegelung beruht auf der Überlegung, dass das Zeugnisverweige-

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rungsrecht bei gewissen schweren Straftaten, die sich im Familien-kreis abgespielt haben, gegenüber den staatlichen Strafverfol-gungsinteressen zurückzutreten hat. Zunächst gilt die Einschrän-kung nur für Strafverfahren wegen der in Buchstabe a abschlies-send genannten Taten. Vorausgesetzt ist sodann, dass die Zeuginoder der Zeuge in jenem Verfahren einvernommen werden soll, daszur Abklärung der Straftat gemäss Buchstabe a dient, also bei-spielsweise wenn die Tochter im Verfahren gegen ihren Vater ein-vernommen wird, dem die Tötung der Ehefrau und Mutter der Zeu-gin vorgeworfen wird.Die Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts gilt jedochauch beim Vorliegen der Voraussetzungen nach den Buchstaben aund b nicht für das Opfer, soweit die Fragen seine Intimsphärebetreffen. Aus Artikel 166 Absatz 4 ergibt sich, dass das Zeugnis-verweigerungsrecht des Opfers vorgeht ('… in jedem Fall …')."Botschaft, BBl 2006, 1199.

Mit Recht kritisch gegenüber dieser Einschränkung PIETH:"Auch wenn man den Familientyrannen vor Augen hat, ist die .....eingeführte Ausnahme nach Abs. 4 lit. a, die im Schweizer Rechtbisher kaum Anwendung fand, wenig tauglich: Bei schweren De-likten in der Familienbeziehung (zum Beispiel bei Verdacht aufsexuellen Missbrauch der Tochter durch den Vater) soll etwa dieMutter des Opfers zur Aussagen gezwungen werden können.Demgegenüber wären Betreuung, Zeugenschutz und freiwilligeAussage die wesentlich bessere Option. Die Konfliktlage der Fami-lienangehörigen müsste gerade in so zugespitzten Fällen besondersernst genommen werden."Strafprozessrecht, 156.

c) Geschädigte als Auskunftspersonenaa) Allgemein zur Auskunftsperson

Neue Beweisfigur: Personen, die weder als Zeugen noch als Be-schuldigte einvernommen werden können.

"In welcher Eigenschaft eine Person in einem Strafverfahren ein-vernommen wird, bestimmt sich primär nach dem gegen sie beste-henden Tatverdacht: Besteht ein Verdacht, ist die Person als be-schuldigte Person zu behandeln und einzuvernehmen; steht sie aus-serhalb jeden Verdachts, so ist sie als Zeugin zu befragen. In ge-wissen Fällen erweist sich diese Beschränkung auf bloss zweimögliche prozessuale Stellungen wegen der damit verbundenenRechte und Pflichten als zu eng. So kann sich etwa die Situationergeben, dass gegen eine einzuvernehmende Person zwar kein hin-reichender Tatverdacht besteht, um sie als beschuldigte Person er-scheinen zu lassen, aber gleichzeitig eine Tatbeteiligung nichtgänzlich ausgeschlossen werden kann. Würde diese Person alsZeugin einvernommen, könnte sie wegen der Pflicht zur wahr-heitsgemässen Aussage in einen Konflikt zwischen Selbstbelastung

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einerseits und Verstoss gegen die Wahrheits- oder Aussagepflichtandererseits geraten. Im Weiteren erschiene es nicht sachgerecht,eine urteilsunfähige Person als Zeugin, also unter Wahrheitspflichteinzuvernehmen, denn die Urteilsunfähigkeit würde eine Bestra-fung wegen falschen Zeugnisses ausschliessen. Aus diesen Grün-den erweist es sich als notwendig, im Strafprozess mit der Aus-kunftsperson eine Figur zu schaffen, welche zwischen der beschul-digten Person und der Zeugin oder dem Zeugen steht. Dabeibestimmen sich die Pflichten dieser Auskunftsperson danach, obsie auf Grund der jeweiligen Situation näher bei einer beschuldig-ten Person oder bei einer Zeugin oder einem Zeugen steht."Botschaft, BBl 2006, 1208.

Kritisch dazu PIETH:

Anders als die umliegenden Länder legt die Schweiz grosses Ge-wicht auf eine Aussageperson, die sich zwischen die beschuldigtePerson und den zeugen schiebt und damit eine erhebliche Miss-brauchsgefahr mit sich bringt: Beide klassischen Personalbeweiseleben von ihrer Formalität. Wer Beschuldigter ist, verfügt über(weitreichende) Verfahrensrechte, wer Zeuge ist, steht unter Pflichtund Sanktionsdrohung, kann sich im Ausgleich aber, unter den vonGesetz abschliessend aufgezählten Umständen, der Aussagepflichtentschlagen.Die Schweizer Vorliebe für die Auskunftsperson – trotz aller Risi-ken – ist ein weiteres Überbleibsel aus der zweit der Inquisition. Esist offenbar wichtiger, dass jemand (wenn auch formlos) aussagt,als dass die Formvorschriften für Beschuldigte und Zeugen ge-wahrt werden."Strafprozessrecht, 160.

bb) Inwieweit und weshalb die Geschädigten nicht Zeugen,sondern Auskunftspersonen?Gesichtspunkt der eigenen Befangenheit wegen der persönlichenBetroffenheit.Art. 166 und 178 lit. a StPO.

3) Weitere Pflichten

IV) Die prozessualen Rechte der Geschädigten1) Allgemein2) Dispositionsbefugnisse

a) StrafanzeigeArt. 301 Abs. 1 StPO.

b) Strafantrag

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Art. 30 ff. StGB.

c) Privatstrafklageverfahren¢ "Teilprivatisierung des Strafverfahrens" (KUNZ).

"Der Staat tritt hier gewissermassen die Strafverfolgung an die ge-schädigte Person ab. Es ist ihre Sache, die Anklage zu erheben, dieBeweise zu produzieren, die Kosten zu tragen etc. Die geschädigtePerson muss m.a.W. das Strafverfahren selbst und auf eigenes Kos-tenrisiko betreiben. In einzelnen Kantonen werden zwar solche An-tragsdelikte im Offizialverfahren verfolgt, doch geht diesem einVermittlungsverfahren beim Friedensrichter voraus; andere Kanto-ne sehen vor, dass das Privatstrafklageverfahren in den Formen desZivilprozesses abgewickelt wird."Botschaft, BBl 2006, 1111.

Die StPO verzichtet auf das Privatstrafklageverfahren,ebenso schon der E StPO:

"Zur Vereinfachung des Strafverfahrens verzichtet der Entwurf aufdas Privatstrafklageverfahren. Im 8. Titel erscheinen nur die be-sonderen Verfahren, die entweder sachlich erforderlich sind (....)oder von denen zu erwarten ist, dass sie erheblich zur Entlastungdes ordentlichen Strafverfahrens beitragen können (z.B. das Straf-befehlsverfahren, ....). Letzteres ist beim Privatstrafklageverfahrenbei einer gesamthaften Würdigung der Belastung der Strafbehör-den (also Staatsanwaltschaft und Gerichte) kaum der Fall. Im Üb-rigen macht das Privatstrafklageverfahren je nach kantonaler Aus-gestaltung mehr oder weniger starke Anleihen beim Zivilprozess,vor allem dort, wo nach zivilprozessualem Muster der Strafunter-suchung ein Vermittlungsversuch vor einem Friedensrichter vo-rauszugehen hat. Diese Vermischung von zivil- und strafprozessua-len Elementen ist fragwürdig, nicht zuletzt dort, wo zusätzlicheBehörden (Friedensrichter, Vermittler) tätig werden müssen, diesonst im Strafverfahren keine Funktionen haben."Botschaft, BBl 2006, 1111.

3) Informationsrechte

a) Zur Rechtfertigungb) Information über die Verfahrenseinstellung

Art. 321 Abs. 1 StPO.

c) Information über das UrteilArt. 351 Abs. 3 i.V.m. Art. 84 StPO.

d) Zusätzliche Rechte der Opfer

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Vgl. Art. 117 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 305 und 330 Abs. 3 StPO.

4) Persönlichkeitsschutza) Vorbemerkungenb) Allgemeine Regelung zu Gunsten der Opfer

aa) ProblemstellungDer Persönlichkeitsschutz des Opfers im Konflikt mit demstaatlichen Strafverfolgungsinteresse (Interesse der Wahr-heitsfindung) und den Verteidigungsrechten des Angeschul-digten.¢ Schwierige Interessenabwägungen.Markante Verbesserung der Opfersituation durch Art. 117Abs. 1 StPO.

bb) Ausschluss der ÖffentlichkeitVgl. Art. 117 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO.Beachte aber hinsichtlich Urteilseröffnung Art. 70 Abs. 4StPO.

cc) Vermeidung einer Begegnung zwischen Opfer undBeschuldigtemVgl. Art. 117 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 152 Abs. 3 und 4 sowieArt. 153 Abs. 2 StPO.

Aus der Rspr.: BGE 129 I 151 ff. betr. OHG.

dd) Einvernahme des Opfers durch eine Person gleichenGeschlechtsVgl. Art. 117 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 153 Abs. 1 StPO.

ee) Begleitung durch eine VertrauenspersonVgl. Sinne Art. 117 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 70 Abs. 2 und 152Abs. 2 StPO.

ff) Recht auf AussageverweigerungVgl. Art. 117 Abs. 1 lit. d i.V.m. Art. 169 Abs. 4 StPO.¢ Inhaltliche Beschränkung der Zeugnispflicht.

"Dieses Zeugnisverweigerungsrecht (....) glt absolut, geht also bei-spielsweise auch den Assagepflichten nach 168 IV vor (.....). Esgilt jedoch nur bei der Verfolgung von Straftaten gegen die sexuel-le Integrität i.S.v. StGB 187 ff., bezieht sich indessen nicht nur aufdas Delikt selbst, sondern allgemein, also z.B. bezüglich des Vor-

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lebens, des allgemeinen sexuellen Verhaltens etc. Damit erhält die-ses Zeugnisverweigerungsrecht absoluten Charakter."SCHMID Praxiskommentar, Art. 69, N 13.

gg) Zusammensetzung des GerichtsArt. 117 Abs. 1 lit. f i.V.m. 335 Abs. 4 StPO.

c) Besonderer Kinderschutzaa) Erhöhtes Schutzbedürfnis

"Art. 154 regelt besondere Massnahmen, die dem Schutz kindli-cher Opfer(zeugen) dienen sollen, die – insbesondere durch mehr-fache Und/oder nicht kindergerecht durchgeführte Vernehmungen– traumatisiert werden können (.....). Besondere gesetzliche Mass-nahmen zum Schutz kindlicher Opfer(zeugen) sind auch dann zu-lässig, wenn dies die Wahrheitsfindung und/oder der Wahrneh-mung der Verteidigungsrechte erschwert (.....)."W. WOHLERS, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber (Hrsg.), Kom-mentar, Art. 154, N 1.

bb) Gegenüberstellung von Kind und BeschuldigtemVgl. Art. 154 Abs. 4 lit. a StPO.¢ Grösste Zurückhaltung, vor allem bei Straftaten gegen diesexuelle Integrität.

Allgemein zu Art. 154 Abs. 4 StPO:"Diese Regeln sind entgegen dem früheren OHG nicht mehr zwin-gend anzuwenden, sondern nur dann, wenn die Einvernahme bzw.Gegenüberstellung nach 146 II für das zu befragende Kind er-kennbarerweise eine schwere seelische Belastung zur Folge habenkönnte. ..... Im Vordergrund bei der Anwendung von 154 IV stehenauch hier die Delikte gegen die sexuelle Integrität nach StGB 187ff. An die Voraussetzungen und die Erkennbarkeit der möglichenBelastungen (die von den Gegebenheiten des Einzelfalls, u.U. demAlter des Opfers abhangen) sind keine hohen Anforderungen zustellen. Im Zweifelsfall sind sie als erfüllt zu betrachten (.....)."SCHMID, Praxiskommentar, Art. 154, N 4.

cc) Einvernahme des KindesVgl. Art. 154 Abs. 2 und 4 StPO.

"154 lit b und c sind jedenfalls als Ordnungsvorschriften i.S. von141 III zu verstehen. Sind im Interesse der Wahrheitserforschung(6) zwingend weitere Einvernahmen erforderlich, sind solche zu-lässig, und das Opfer kann sich nicht weigern, daran teilzunehmen,es sei denn, es sei nach 169 IV ohnehin berechtigt, Aussagen zuverweigern. Weitere Einvernahmen sind etwa denkbar, wenn nach-

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träglich neue Beweise auftauchen. (Zusätzliche) gerichtliche Ein-vernahmen nach 343 dürften ebenfalls zulässig sein; es ist fraglich,ob diese überhaupt unter die Schranken dieser Normen fallen."SCHMID, Praxiskommentar, Art. 154, N 8.

dd) Einstellung des VerfahrensVgl. Art. 117 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 319 Abs. 2 StPO.

5) Beteiligungsrechte

a) Allgemeinb) Strafklage

"Die Strafklage macht den Geschädigten zur Partei (vgl. Art. 104Abs. 1 lit. b) Der Geschädigte erhält damit die Verfahrensrechtenach Art. 107 (insbesondere die Akteneinsicht, die Teilnahmerech-te bei Beweiserhebungen, das Beweisantragsrecht, allenfalls einge-schränkt durch Art. 108) sowie das Recht einen Rechtsbeistandbeizuziehen (Art. 127) Allerdings ist die unentgeltliche Rechts-pflege nach Art. 136 Abs. 1 auf die Zivilklage beschränkt. Die ge-schädigte Person ersetzt die Strafverfolgungsorgane nicht, selbstwenn der Staatsanwalt zur Hauptverhandlung dispensiert ist (keinesubsidiäre Anklagebehörde). Sie ist bestenfalls 'Nebenklägerin').Die prinzipale Privatstrafklage ist abgeschafft worden."PIETH, Strafprozessrecht, 96.

c) Zivilklage (Adhäsionsverfahren)Vgl. Art. 122 ff. StPO.

aa) Bedeutung des AdhäsionsverfahrensZivilprozess im Rahmen eines Strafverfahrens, zu welchemdie durch die Tat unmittelbar Betroffenen legitimiert sind.¢ Rechtfertigung: Gedanke des Sachzusammenhangs ei-nerseits und Gesichtspunkte der Prozessökonomie anderer-seits.

"Die gemeinsame Verhandlung des aus der Straftat erwachsendenZivilanspruchs mit der Strafsache beruht im Wesentlichen auf zweiÜberlegungen. Zunächst erscheint es nahe liegend, dass ein tat-sächliches Geschehen in der juristischen Aufarbeitung nicht in Tei-le auseinander gerissen werden soll, deren Grenzen zwar über-kommener rechtlicher Aufgabenteilung, aber nicht der Einheit deszu beurteilenden Lebenssachverhalts entsprechen. Es ist dieser Ge-danke des Sachzusammenhangs, der die Adhäsionsklage intuitivals auch rechtlich gebotene 'Lösung in einem Aufwasch' erscheinenlässt. Zum zweiten gilt der Adhäsionsprozess als ein Verfahren,das der Prozessökonomie unter verschiedenen GesichtspunktenRechnung trägt: Man verspricht sich von ihm – Aufs Ganze gese-

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hen eine Verfahrensbeschleunigung, wenn der ohnehin mit derStrafsache befasste Richter das dabei gewonnene Wissen zur Beur-teilung des Zivilanspruchs nützen kann."BOMMER, Verletztenrechte, 36.

bb) BeurteilungsanspruchÚ B e i l a g e 4

α) GrundsatzArt. 126 Abs. 1 StPO.¢ Zwingende Verpflichtung über die Adhäsionsklage zuentscheiden.

β) Aufschub der BeurteilungArt. 126 Abs. 4 StPO.¢ Zweiteilung des Verfahrens (nur) bei Ansprüchen desOpfers nach Art. 116 StPO.

γ) Verweisung auf den ZivilwegArt. 126 Abs. 2 StPO.

"Eine solche Verweisung bedeutet, dass es Aufgabe der geschädig-ten Person ist, ihre Klage auf dem Weg des Zivilprozesses durch-zusetzen. Die geschädigte Person hat, wenn sie diesen Weg be-schreiten will, das Zivilverfahren selbst in den dafür vorgesehenenWegen einzuleiten: Es erfolgt keine Überweisung an den Zivilrich-ter von Amtes wegen."SCHMID, Handbuch, N 712.

δ) Partielle Verweisung auf den ZivilwegArt. 126 Abs. 3 StPO.¢ Möglichkeit, "die Zivilklage nur dem Grundsatz nach"zu entscheiden und im Übrigen auf den Zivilweg zu ver-weisen.

"Anwendbar ist 126 III auf Fälle, in denen die sachverhaltsmässigeBeurteilung, vor allem das Zusammentragen der erforderlichenBeweise zur Schadenshöhe (.....) unverhältnismässig aufwändigwäre.Allgemein formuliert sind hier Fälle relevant, in denen über dieSchuld- und Strafpunkte hinaus noch erhebliche zusätzliche Bewei-se erforderlich wären, um den Zivilpunkt (in erster Linie umfang-mässig) beurteilen zu können."SCHMID, Praxiskommentar, Art. 126, N 15 f.

cc) Rechtsmittel

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Möglichkeit der Berufung gegen die Abweisung der Zivilkla-ge.

V) Die Opfer als Fremdkörper im StrafprozessLit.:P. ALBRECHT, Opfer und Strafprozess: was hilft den Opfern? in: Schwei-zerische Arbeitsgruppe für Kriminologie (Hrsg.), Kriminologie – Wissen-schaftliche und praktische Entwicklungen: gestern, heute morgen, 2004,235 ff. (241 ff.).

1) Konflikte mit vorgegebenen Verfahrensstrukturen2) Prozessökonomische Gesichtspunkte

3) Auf dem Weg zum "opferlosen" Prozess?

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6. Teil: DIE UNMITTELBARKEIT DER HAUPTVERHANDLUNG

Lit.:D. KRAUSS, Die Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung im schwei-

zerischen Strafverfahren, recht 1986, 73 ff. und 1987, 42 ff.;P. ALBRECHT, Was bleibt von der Unmittelbarkeit?, ZStrR 2010,

180 ff.

I) Unmittelbarkeit / Mittelbarkeit1) Zur Problemstellung

Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung als elementarer Grundsatz zuGestaltung des Strafprozesses

"Es geht dabei um die Ausgestaltung der Beweisaufnahme des ur-teilenden Gerichts oder konkreter: um die Frage, inwieweit die fürdas Urteil erheblichen tatsächlichen Feststellungen von den urtei-lenden Richtern selbst getroffen werden müssen. Thematisiert sinddie Funktion der Hauptverhandlung und deren Verhältnis zumVorverfahren."ALBRECHT, a.a.O.,181.

2) Begriffliche Differenzierungen"Die Beweisabnahme (.....) in der erstinstanzlichen Hauptverhand-lung kann zwei verschiedenen Grundsätzen folgen. Gemäss demPrinzip der Unmittelbarkeit bildet das Gericht seine Überzeugungaufgrund eigener Anschauung in der Hauptverhandlung und nimmtalle Beweise selbst unmittelbar ab. Insbesondere führt es Einver-nahmen von Zeugen und Auskunftspersonen selbst durch (formelleUnmittelbarkeit). Ausserdem werden möglichst tatnahe Beweismit-tel abgenommen, indem z.B. der Tatzeuge vor den Zeugen vomHörensagen gestellt wird oder Protokolle früherer Einvernahmennicht verlesen werden, sondern die befragte Person selbst einver-nommen wird (materielle Unmittelbarkeit). Bei Personalbeweisen(Aussagen beschuldigter Person, Zeugen, Auskunftspersonen,Sachverständigen) ist dieses Prinzip eng mit dem Grundsatz derMündlichkeit verknüpft.Dem steht der Grundsatz der Mittelbarkeit gegenüber: Das Gerichtnimmt keine oder nur ausnahmsweise Beweise ab. Diese werdenvielmehr vorgängig von der Untersuchungsbehörde zusammenge-tragen und liegen dem Gericht in Form von Akten vor, z.B. Ein-vernahmeprotokolle, schriftliche Gutachten oder andere Urkunden.Das Gericht stützt sich bei der Entscheidfindung allein auf die ihmvorliegenden Beweise ab."M. HAURI, BSK StPO, Art. 343, N 1.

a) Formelle Unmittelbarkeit

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¢ Eigenständige richterliche Beweisaufnahme in derHauptverhandlung.

"Zu den zentralen Punkten einer Strafprozessordnung gehört dieFrage, ob sich das urteilende Gericht seine Überzeugung auf Grundeigener Anschauung in der Hauptverhandlung zu bilden hat (Un-mittelbarkeitsprinzip), oder ob es sich auf die im Vorverfahren er-hobenen Beweise abstützen darf (Mittelbarkeitsprinzip)."Botschaft, BBl 2006, 1283.

"Gemäss dem Unmittelbarkeitsgrundsatz hat das Gericht alle fürdie Urteilsbildung wesentlichen Fakten möglichst selbst, unvermit-telt und direkt in der Hauptverhandlung zur Kenntnis zu nehmen.Die richterliche Überzeugung soll sich auf eigene sinnliche Wahr-nehmung stützen (....)."BGE 116 Ia 305 ff. (308, E. 3).

b) Materielle Unmittelbarkeit¢ Forderung nach dem bestmöglichen Beweis.

Dieser Grundsatz "zielt darauf, die richterliche Beweisaufnahmemöglichst 'tatnah' durchzuführen, also nach Möglichkeit (nur) sol-che Beweismittel zu benutzen, die den Tathergang direkt, ohneweitere Zwischenträger oder 'Beweismittler' belegen".KRAUSS, a.a.O., 1986, 73.

"Der Stoff des Verfahrens darf nicht durch Beweisersatz mittelbar -also etwa durch Verlesen früher erstellter Protokolle – eingeführtwerden."SCHMID, Handbuch, N 288.

c) MittelbarkeitUrteil gestützt in erster Linie auf die Ergebnisse des Vorverfah-rens.

3) Aus der Praxis: BGE vom 5. 11. 2001, 1P.538/2001Fall aus dem Kantons Basel-Stadt.Vgl. §§ 121 Abs. 3, 125 Abs. 3 und 127 Abs. 1 Satz 1 StPO/BS.

Sachverhalt: Der angeklagte E. wurde von den wegen Verkaufs von40 gr. Kokain an F. verurteilt. Dabei verzichtete das Strafgericht aufdie beantragte Ladung des Hauptbelastungszeugen und stütztesein Urteil auf die in den Akten festgehaltenen Einvernahmen (samtdirekter Konfrontation).Das Appellationsgericht bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.Der Verurteilte zog das Urteil mit staatsrechtlicher Beschwerde andas BGer. weiter und machte "im Wesentlichen geltend, das Straf-gericht habe das Unmittelbarkeitsprinzip verletzt, weil es seinen An-

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trag abgelehnt habe, den Hauptbelastungszeugen F.... in derHauptverhandlung einzuvernehmen".

Das BGer. kassierte das vorinstanzliche Urteil wegen willkürlicher An-wendung des kantonalen Rechts.Begründung:

"Nach dem Sinn und Zweck von § 125 Abs. 3 StPO darf das Un-mittelbarkeitsprinzip grundsätzlich nur ausnahmsweise durchbro-chen werden, wenn die unmittelbare Erhebung von Beweisendurch das Gericht in dem Sinne mit einem unverhältnismässigenAufwand verbunden wäre, dass z. B. ein Belastungszeuge im fer-nen Ausland wohnt oder sonstwie schwer greifbar ist. Andernfallswürde der wichtige Grundsatz der unmittelbaren Beweiserhebungseines Gehaltes entleert, ....Der Zeuge Y. war auch nach Auffassung des Appellationsgerichtsfür das Strafgericht offensichtlich verfügbar und hätte mithin ohnebesonderen Aufwand vorgeladen werden können. Seine Aussagewar für die Verurteilung des Beschwerdeführers entscheidend. DieBeweislage war, wenn überhaupt, nur unter Berücksichtigung die-ser Zeugenaussage 'klar'; es erscheint fraglich, ob der Beschwerde-führer ohne deren Verwertung hätte überführt werden können. Eslässt sich somit nicht sagen, die gerichtliche Vorladung Y.'s hättemangels Erheblichkeit dieses Beweismittels unterbleiben könnenoder hätte eine leere Formalität dargestellt......Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass offensichtlich keinesachlich haltbaren Gründe gegeben sind, aus welchen der Hauptbe-lastungszeuge Y. entgegen der Regel von § 121 Abs. 3 und § 125Abs. 3 StPO ausnahmsweise nicht unmittelbar an der gerichtlichenHauptverhandlung hätte einvernommen werden müssen. DasStrafdreiergericht ist daher in Willkür verfallen, indem es Y. nichtals Zeugen zur Hauptverhandlung vorlud, und das Appellationsge-richt, indem es dieses Vorgehen schützte."BGE vom 5. 11. 2001, 1P.538/2001, E. 2c und d.

II) Die gesetzliche Regelung, Art. 343 StPO1) Verfassungs- oder völkerrechtliche Vorgaben?

"Im übergeordneten Recht verlangen weder die BV, die EMRKnoch der IPBPR ein unmittelbares Verfahren vor dem urteilendenGericht. Zwar haben beschuldigte Personen etwa nach Artikel 6Absatz 3 Buchstabe d EMRK das Recht, «Fragen an Belastungs-zeugen zu stellen oder stellen zu lassen», daraus folgt jedoch wedernach der Praxis des Bundesgerichts noch nach jener des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte die Pflicht zur Unmittel-barkeit im Hauptverfahren. Vielmehr ist es zulässig, Urteile aufBeweise zu stützen, die im Vorverfahren erhoben worden sind."Botschaft, BBl 2006, 1283.

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"Allgemein spricht der Gerichtshof davon, dass alle Beweise nor-malerweise in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichenVerhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterungvorgebracht werden müssen. Das bedeutet indessen nicht, dass einZeuge stets vor Gericht und öffentlich auszusagen hätte. Daher istdie Verwendung von Aussagen, die im Vorverfahren gemachtworden sind, als solche nicht unvereinbar mit den Garantien vonArt. 6 EMRK, sofern die Rechte der Verteidigung respektiert wor-den sind. In der Regel erfordern diese Rechte, dass der Angeklagteeine angemessene und ausreichende Gelegenheit zur Widerlegungund Befragung eines Belastungszeugen entweder zu dem Zeit-punkt, zu dem dieser seine Aussage macht, oder in einem späterenVerfahrensstadium erhält (....).Das Bundesgericht hat sich in seiner Rechtsprechung verschiedent-lich zur Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ausgesprochen(....). Es hat in Anlehnung an die Urteile des Gerichtshofes ausge-führt, dass Beweise im Hinblick auf ein kontradiktorisches Verfah-ren grundsätzlich in Anwesenheit des Beschuldigten zu erhebenseien, indessen auch ein Abstellen auf Aussagen aus der Vorunter-suchung zulässig sei. Voraussetzung für ein rechtsstaatliches Ver-fahren sei, dass der Beschuldigte belastende Aussagen bestreitenund den Zeugen in kontradiktorischer Weise Fragen stellen kann.Eine einmalige Gelegenheit hierfür genüge. Erforderlich sei dabei,dass die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann.In gleicher Weise wie der Gerichtshof stellt auch das Bundesge-richt den Anspruch auf Befragung von Belastungszeugen in denZusammenhang mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren undder Wahrung der Verteidigungsrechte (....). Es soll ausgeschlossenwerden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestütztwird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemesse-ne und hinreichende Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis inZweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen (....). Die-ser Anspruch wird heute auch als Teilgehalt aus Art. 4 BV abgelei-tet (....)."BGE 125 I 127 ff. (132 f., E. 6/b), unter Hinweis auf den EGMR.

"Die Unmittelbarkeit der Beweisführung in der Hauptverhandlungist die Norm, die Regel; Abweichungen von dieser Regel sind nichtausgeschlossen, aber sie bedürfen einer Begründung, einer Recht-fertigung."St. TRECHSEL, AJP 2000, 1369.

2) Die Entwicklung auf eidgenössischer Ebenea) E StPO

"Entsprechend den Empfehlungen der Expertenkommission folgtdie Vorlage dem Grundsatz der beschränkten Unmittelbarkeit, dif-ferenziert das Beweisverfahren in der Hauptverhandlung jedochnach der Schwere des zu beurteilenden Falles: In der Regel be-herrscht die Unmittelbarkeit das Hauptverfahren (Art. 344); bean-

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tragt die Staatsanwaltschaft weder eine unbedingte Freiheitsstrafenoch eine freiheitsentziehende Massnahme, so kann das Gerichtjedoch grundsätzlich auf die im Vorverfahren erhobenen Beweiseabstellen (Art. 345)."Botschaft, BBl 2006, 1283.

Unterscheidung zwischen ordentlicher und vereinfachter Beweis-abnahme (Art. 344 und 345).

Kritik:

"Dieses Konzept von 'Unmittelbarkeit' in der Hauptverhandlung istvon seinem Konstrukt her nicht Urteilsfindung, sondern blosseRechtskontrolle, und auch diese beschränkt auf Willkür, .... indemdas Gericht eben bloss die korrekte Beweisabnahme prüft, im übri-gen aber auf das Beweisergebnis einer Beweiserhebung, die voneiner anderen Behörde vorgenommen wurde, abstellt. Das hatnichts mehr mit richterlicher Tätigkeit zu tun, denn diese bestehtim Strafprozess vornehmlich darin, über Schuld der angeschuldig-ten Person zu bedingen. Diese Tätigkeit setzt voraus, dass sichRichterinnen und Richter selbst ein eigenes Bild über den Wert dergefundenen Beweismittel machen, was man nur tun kann, wennman sich die Beweismittel eben auch selbst vorführen lässt."N. RUCKSTUHL, Anwaltsrevue 2007, 327.

b) StPOArt. 343 StPO.

"In dieser Norm gelangt – inhaltlich betrachtet – das Prinzip einerunmittelbaren Hauptverhandlung angesichts der grossen richterli-chen Ermessensspielräume nur sehr rudimentär und ziemlich un-verbindlich zum Ausdruck. Parallel dazu regelt Art. 350 Abs. 2StPO unter dem Titel 'Grundlage des Urteils', dass das Gericht dieim Vorverfahren und im Hauptverfahren erhobenen Beweise zu be-rücksichtigen habe."ALBRECHT, a.a.O., 188.

"Die genannten Materialien zeigen, dass die heutigen Mindestan-forderungen für die Beweisaufnahme im erstinstanzlichen Haupt-verfahren insb. aus Gründen der Effizienz und Prozessökonomieeinem stark beschränkten Unmittelbarkeitsprinzip folgen. Im Vor-verfahren müssen die Akten gem. Art. 308 Abs. 3 auf einen Standgebracht werden, der es dem Gericht erlaubt, sein Urteil imSchuld- und Strafpunkt ohne zusätzliche Beweiserhebungen zu fäl-len; die Akten sind dem Gericht entscheidungsreif zu übermitteln.Die Untersuchung ist vollständig zu führen. Von den Parteien imVorverfahren beantragte erhebliche Beweise sind bereits im Vor-verfahren abzunehmen (art. 318). Mit Ausnahme der obligatori-schen Befragung der beschuldigten Person (Art. 341 Abs. 3) kanndaher das Gericht grundsätzlich auf die im Vorverfahren korrekt

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erhobenen Beweise abstellen, ohne sie ein zweites Mal erheben zumüssen. Bestrebungen, wenigstens der nicht geständigen Personeinen Anspruch auf unmittelbare Beweisaufnahme in der Haupt-verhandlung einzuräumen, setzten sich nicht durch. Auch der Pub-likumsöffentlichkeit wurde weniger Gewicht beigemessen."M. HAURI, BSK StPO, Art. 343, N 12.

III) Ziele der formellen Unmittelbarkeit1) Funktionale Gliederung des Verfahrens

¢ Zweiteilung des Verfahrens: Vorverfahren und Hauptverfahren(Überwindung des Inquisitionsprozesses).

"Die Durchführung der Hauptverhandlung ist Aufgabe des Ge-richts. Für Ermittlung, Einstellung oder Anklage im Vorverfahrensind andere Behörden (Polizei, Untersuchungsrichter, Staatsan-walt) zuständig."KRAUSS, a.a.O., 1986, 77.

2) Richterliche Entscheidungskompetenz"Formelle Unmittelbarkeit schafft die verfahrensmässigen Bedin-gungen für die Verwirklichung richterlicher Entscheidungskompe-tenz. Der Grundsatz zielt darauf ab, dass der erkennende Richternicht nur die anstehenden Rechtsfragen beantwortet, sondern auchdie entscheidungserheblichen Tatsachen in eigener Verantwortungfeststellt."KRAUSS, a.a.O.

Verfassungsrechtliches Gebot, "dass die rechtsprechende Gewalttatsächlich den Richtern anvertraut ist, dass also ein Strafrechtsfallinsgesamt vom Richter entschieden wird" (KRAUSS, a.a.O., 1986, 77f.).

3) Mündliche VerhandlungMündliche Verhandlung als Gebot des Unmittelbarkeitsprinzips.

Die Regeln der Entscheidungsfindung "stellen sicher, dass die Be-weisaufnahme durch die sinnliche Wahrnehmung aller Beteiligtererfolgt. Das ermöglicht Gericht und Parteien, jede beweiserhebli-che Tatsache 'zur Sprache zu bringen'. Die formelle Unmittelbar-keit verlangt also das Medium der Mündlichkeit. Die sprachlicheAuseinandersetzung wird zum vorgeschriebenen Weg der richterli-chen Überzeugungsbildung.Diese sprachliche Interaktion schafft zugleich hinreichende Trans-parenz der Urteilsfindung."KRAUSS, a.a.O., 1986, 78.

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Transparenz der Urteilsfindung; öffentliche Hauptverhandlung.

4) Beteiligung der Parteien an der WahrheitsfindungGemeinsame diskursive Wahrheits- und Rechtsfindung vor einemunabhängigen Gericht.

Die (bis zu einem gewissen Grade notwendige) Einseitigkeit derErmittlungen im Vorverfahren "will der Grundsatz der formellenUnmittelbarkeit in der Hauptverhandlung korrigieren. Über denAnklagevorwurf soll nunmehr verhandelt werden, seine Stichhal-tigkeit soll in gemeinsamer Auseinandersetzung überprüft werden.An die Stelle des inquisitorischen Vorgehens tritt der kritische,vorurteilsfreie Dialog aller Verfahrensbeteiligten."KRAUSS, a.a.O., 1986, 79.

IV) Ziele der materiellen Unmittelbarkeit1) Erkenntnistheoretische Erwägungen

Schutz der Beweismittel vor Realitätsverlust durch Interpretation undVermittlung.

"Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit besagt, dass einentscheidungserheblicher Umstand um so besser zu beweisen ist, je'direkter' er angegangen wird. Das 'tatnächste' Beweismittel führtdanach am unmittelbarsten zu 'Richtigkeit' und 'Wahrheit' einerbeweisbedürftigen Tatsache. Jeder weitere Zwischenschritt, jedeblosse Vermittlung einer Feststellung verschlechtert den Beweis-vorgang."KRAUSS, a.a.O., 1986, 82.

2) Weitere AspekteSicherung der Mitwirkungsrechte der Parteien (insb. der Angeklag-ten).

V) Kritik am Unmittelbarkeitsprinzip1) Der Verfahrensaufwand

Lange Verfahrensdauer, Doppelspurigkeiten, hohe Kosten.

2) Die Problematik der richterlichen BeweisaufnahmeQualitätsverlust der Zeugenaussagen infolge Zeitablaufs; richterlicheHauptverhandlung nicht immer geeignet, das Beweisverfahren zu op-timieren.

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VI) Die eigene Stellungnahme1) Ein Plädoyer für die unmittelbare Hauptverhandlung

Im Vordergrund verfassungsrechtliche Erwägungen:

"Für mich persönlich unterliegt die neue Regelung der Strafpro-zessordnung in erster Linie deshalb der Kritik, weil sie die in Art.30 Abs. 1 BV statuierte richterliche Entscheidungskompetenz in-frage stellt. Der vorgesehene Abbau der unmittelbaren Hauptver-handlung wird nämlich einen markanten Bedeutungsverlust derrichterlichen Funktionen und der Unabhängigkeit der Gerichte be-wirken. Die Abhängigkeit der Justiz von den Ermittlungsergebnis-sen der Staatsanwaltschaft, also von der Exekutive, wird deutlichwachsen. Es besteht die reale Befürchtung einer weitgehenden Be-schränkung der richterlichen Aufgabe auf eine blosse Akten- undRechtskontrolle, währenddem die eigenständige Rechtsfindungverloren geht. In Aussicht steht 'eine höchst unbefriedigende Ver-lagerung der Entscheidfunktion vom Richter auf den Staatsanwalt'(PIETH). Ganz offensichtlich besteht hier ein Mangel an unabhän-giger Rechtsprechung, welche diesen Namen wirklich verdient."ALBRECHT, a.a.O., 192 f.

2) Die Forderung einer verfassungs- und EMRK-konformenAuslegung des Art. 343 StPOSiehe ALBRECHT, a.a.O., 194 ff.

"Die Gerichte sind ..... angehalten, die ihnen zustehenden Ermes-sensspielräume zur möglichst weitgehenden Verwirklichung einerunmittelbaren Beweisabnahme zu nutzen. Dies ergibt sich nament-lich aus dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot, dass dierechtsprechende Gewalt tatsächlich von den Mitgliedern der Ge-richte wahrzunehmen sei. Oder anders formuliert: Wer seine Auf-gabe als unabhängiger Richter verantwortungsvoll wahrnehmenwill, sollte die unmittelbare Beweisabnahme hochhalten."A.a.O., 195.

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7. Teil: BESONDERE (VEREINFACHTE) VERFAHREN

I) Der Trend zu kurzen ProzessenIn der Strafprozessgesetzgebung heute starke Bemühungen um eineVerfahrensbeschleunigung.

Lit.:P. ALBRECHT, Brauchen wir "Schnellrichter" in der Strafjustiz? AJP 2004,

899 ff.

"Verfahrensbeschleunigung ist ein Mittel, um die Belastungen ei-nes Prozesses so gering wie möglich zu halten (oder ein Urteil vorAblauf der Verjährung zu ermöglichen). Zudem ist das Vertrauenin die Justiz von deren Fähigkeit abhängig, Verfahren innert nützli-cher Frist zu einem Abschluss zu bringen, insofern ist Effizienz derStrafrechtspflege ein bedeutender Wert. Aber sie stellt keinen Wertan und für sich dar, sondern erst im Verbund mit ihrem Gegens-tand, d.h. mit der (anders als die Verfahrensdauer schwer messba-ren) rechtsstaatlichen Qualität des Verfahrens und des Urteils. An-ders formuliert: Hohe Erledigungszahlen oder verkürzte Verfah-rensdauern um den Preis von unsorgfältig geführten Verfahren und(damit) ungerechten Urteilen untergraben das Ziel, das sie eigent-lich befördern sollten. Der Verfahrensbeschleunigung einen gene-rellen Vorrang zulasten sorgfältiger Sachverhaltsermittlung einzu-räumen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum."F. BOMMER, ZSR 2009 II, 115.

II) Das StrafbefehlsverfahrenLit.:M. SCHUBARTH, Zurück zum Grossinquisitor? Zur rechtsstaatlichen Prob-

lematik des Strafbefehls, in: M.A. Niggli / J. Hurtado Pozo / N. Queloz,Festschrift für Franz Riklin, 2007, 527 ff.

S. GLESS, Der Strafbefehl – in der Schweizerischen Strafprozessord-nung, in: M. Heer (Hrsg.), Schweizerische Strafprozessordnung .....,2010.

M. THOMMEN, Unerhörte Strafbefehle, ZStrR 2010, 373 ff.

1) VorbemerkungenVgl. Art. 352 ff. StPO.

2) Der Zweck und die Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens

a) Verfahrensvereinfachung als Ziel

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Beschränkung des Justizaufwandes im Bereich der Kleinkriminali-tät.

"Die Vorteile des Strafbefehlsverfahrens bestehen in seiner Ein-fachheit, Raschheit und Billigkeit. Die Strafe wird umgehend ver-hängt. Zeugen- und Sachverständigen Entschädigungen entfallen.Zudem bleiben dem Beschuldigten die Unannehmlichkeiten eineröffentlichen Gerichtsverhandlung erspart. Dieses beschleunigteVerfahren bringt eine Entlastung der Gerichte und ermöglicht so-mit mehr Ressourcen für die Verfolgung der schwereren Delikte."G. GILLIÉRON / M. KILLIAS, FS Riklin, 2007, 383.

"In der Praxis der Strafjustiz hat wohl jenes Vereinfachungsmodelldie weitaus grösste Bedeutung, das in dieser Abhandlung die Be-zeichnung 'Strafbefehl' trägt. Unter diesem Begriff werden hieralle Erledigungsformen verstanden, bei denen die zuständige Be-hörden (Strafbefehlsinstanz) ohne Durchführung einer Hauptver-handlung einen (vorläufigen) Entscheid fällen kann, der zum defi-nitiven Urteil wird, sofern der Betroffene (oder ein anderer hiezuLegitimierter) nicht die Fortsetzung des ordentlichen Verfahrens,also vor allem die Durchführung einer mündlichen Hauptverhand-lung verlangt."H. DUBS, FS Rehberg, 1996, 140.

"Das Strafbefehlsverfahren ist ein vereinfachtes schriftlichesVerfahren, mit dem man der Masse der weniger schwerwiegendenund oft auch weniger umstrittenen Straffälle mit einemverminderten Verfahrensaufwand prozessual begegnen will. Es istein wichtiges Institut zur ökonomischen Verfahrenserledigung. Esfindet keine Anklage vor Gericht und keine Hauptverhandlung undmeist auch kein Beweisverfahren statt. Erlassbehörde ist dieStaatsanwaltschaft, wobei durch Einsprache eine gerichtlicheBeurteilung veranlasst werden kann. Dieses Verfahren ist raschund billig, führt zur Entlastung der Justiz und erspart denBetroffenen die Unannehmlichkeiten einer Hauptverhandlung."F. RIKLIN, BSK StPO, N 1 vor Art. 352 ff.

"Mit dem Strafbefehlsverfahren wird typischerweise nicht nur dieHauptverhandlung eingespart. Bereits im Vorverfahren wird aufSparflamme gekocht. Schon traditionellerweise wurden Strafbefeh-le, zum Teil ohne weitere Beweiserhebungen, allein gestützt aufeinen Polizeirapport erlassen."PIETH, Strafprozessrecht, 194.

"Einfach ist die Erledigung eines Strafverfahrens durch Strafbefehlvor allem, weil der Sachverhalt nicht durch verschiedene Instanzenund in einer kontradiktorischen Auseinandersetzung, sondern –praktisch alleine – durch die Strafbehörden festgestellt wird."GLESS, a.a.O., 57.

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b) Zur praktischen BedeutungSehr grosse praktische Relevanz in quantitativer Hinsicht; erhebliche Entlastung für die Justizbehörden.

"Strafbefehlsverfahren sind – quantitativ betrachtet – die Regel,das Normalverfahren stellt die Ausnahme dar."DUBS, a.a.O., 141.

"Der Strafbefehl hat sich in der Schweiz zum einen aus strukturel-len Gründen als Erfolgskonzept erwiesen. Denn der Wunsch nachEffizienz und Verfahrensbeschleunigung angesichts eines Anstie-ges von Strafverfahren findet sich zwar in allen europäischen Staa-ten. In der Schweiz gab es dafür aber – anders als in europäischenNachbarländern – nur ein einziges Ventil: den Strafbefehl. Dieneue Strafprozessordnung eröffnet über das "gemässigte Opportu-nitätsprinzip" (Art. 8 StPO) und das abgekürzte Verfahren mitWiedergutmachung (Art. 53 StGB i.V.m. Art. 316 StPO) zwarweitere Möglichkeiten. Den Strafbefehl können aber diese nicht er-setzen.Zum andern passt das Strafbefehlsverfahren in die aktuelle rechts-politische Diskussion, die vor allem eben von dem Wunsch nachEffizienz und Verfahrensbeschleunigung geprägt ist."GLESS, a.a.O., 61 f.

"Mit der Obergrenze von sechs Monaten Freiheitsstrafe gem. Art.352 sind über 95 % aller Straftaten grundsätzlich strafbefehlstaug-lich. Im Ergebnis lässt sich aus der Sicht des maximal möglichenStrafrahmens feststellen, dass Strafbefehle nicht nur auf blosse Ba-gatellfälle beschränkt sind, sondern weit in den Bereich der mittel-schweren Kriminalität eindringen."RIKLIN, a.a.O., N 3 vor Art. 352 ff.

3) Die Ausgestaltung des Verfahrensa) Anwendungsbereich

Beschränkung auf "Kleinkriminalität"?Art. 352 StPO.

"Eine andere Frage ist, bis zu welcher Strafhöhe ein Strafbefehl zu-lässig sein soll. In der jüngeren Strafprozessrechtsentwicklung istdie Tendenz erkennbar, die maximal mögliche Sanktion sukzessiveheraufzusetzen. Waren früher nur sehr kurze Freiheitsstrafen zuläs-sig, kann heute in einigen Kantonen eine Gefängnisstrafe von biszu 6 Monaten ausgesprochen werden. Dem Vorschlag der Expertenund der Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer folgend, trägtder Entwurf dieser Entwicklung Rechnung, indem er ein Maximumvon sechs Monaten Freiheitsstrafe (Bst. d) bzw. eine dieser Straf-höhe entsprechende Geldstrafe von 180 Tagessätzen (Bst. b) odergemeinnützige Arbeit von 720 Stunden (Bst. c) vorsieht. Bei derBerechnung der maximalen Strafhöhe ist in den Fällen der Buch-

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staben b–d eine allfällig zu widerrufende bedingte Sanktion oderbedingte Entlassung mitzuzählen. Damit wird ein Mittelweg vorge-schlagen zwischen der Lösung, die bei zu widerrufenden Sanktio-nen den Erlass eines Strafbefehls ausschliesst, und derjenigen, diefür diese Fälle eine Gesamtstrafe zulässt, die über die für denStrafbefehl vorgesehene maximale Strafhöhe hinausgeht. Die mitt-lere Lösung erlaubt es, in einfachen Fällen ein Strafbefehlsverfah-ren durchzuführen, auch wenn ein Widerruf zur Diskussion steht."Botschaft, BBl 2006, 1290.

b) StrafbefehlsbehördeStrafbefehl i.d.R. durch eine Untersuchungs- oder Anklagebehör-de erlassen.Art. 352 StPO: Staatsanwaltschaft.

c) Konsensuales ElementStrafbefehlsverfahren zugeschnitten auf einfache und klare (i.d.R.unbestrittene) Fälle.Art. 352 Abs. 1 StPO;

Verfahrenserledigung unter Einsprachevorbehalt; Strafbefehl alsbedingtes Urteil.

"Der Strafbefehl stellt im Grunde einen Vorschlag zur ausserge-richtlichen Erledigung des Straffalles dar. Einzig möglicherRechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondernlöst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigungder im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird."Botschaft, BBl 2006, 1291.

".... enthält das Strafbefehlsverfahren ein konsensuales Element,indem der Bestrafte durch Verzicht auf einen Einspruch, den 'Ur-teilsvorschlag' akzeptiert mit der Folge, dass er zum rechtskräftigenUrteil wird, das einem auf dem ordentlichen Prozessweg ergange-nen gleichgestellt ist. Die Bedeutung dieser Verankerung des Ver-tragsgedankens im Strafprozess nimmt in dem Ausmass zu, wie derStreitwert des Strafbefehlsverfahrens, scil. Art und Höhe der indiesem Verfahren verhängbaren Strafe oder Massnahme, erweitertoder erhöht wird."F. BOMMER, Verletztenrechte, 4.

Der Strafbefehl ist .... eine Art provisorisches (bedingtes) Urteiloder eine Art 'Vergleichsvorschlag' (genauer. Ein Urteilsvor-schlag), jedoch ohne förmliche Anklage, ohne Hauptverhandlungund oft gestützt auf ein summarisches Beweisverfahren und ohnedie Garantie eine hinreichenden Verteidigung. Zwischen Strafbe-fehl und Strafurteil bestehen also in rechtsstaatlich zentralen Fra-gen grosse Unterschiede.

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Dennoch mutiert der Strafbefehl zu einem ordentlichen Urteil beiEintritt der negativen Bedingung, dass der Beschuldigte innert Fristkeine förmliche Einsprache erhebt, wenn er also, wie fingiert wird,stillschweigend dem Urteilsvorschlag zustimmt."SCHUBARTH, a.a.O., 527 f.

d) Verfahren gemäss Art. 352 ff. StPOÚ B e i l a g e 5

4) Die rechtsstaatliche Problematik des Strafbefehls

a) Zur Konstruktion eines bedingten UrteilsStrafbefehlsverfahren gemäss h.L. und Rspr. mit der EMRK undder BV vereinbar (Hinweis auf die Einsprachemöglichkeit).

"Zwar verlangt Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Beurteilung von straf-rechtlichen Anklagen durch ein unabhängiges und unparteiischesGericht; die Bestimmung verbietet indessen nicht, dass dem Straf-verfahren ein Strafbefehls- oder ähnliches Verfahren vorgeschaltetwird, welches von einer Administrativbehörde durchgeführt wird,solange sichergestellt ist, dass der Betroffene wegen jeder so er-gangenen Entscheidung ein Gericht anrufen kann, welches den An-forderungen von Art. 6 EMRK genügt; dies bringt nicht nur eineEntlastung der Gerichte mit sich, sondern erspart dem Beschuldig-ten auch die Umtriebe und Peinlichkeiten eines öffentlichen Ver-fahrens (BGE 114 Ia 143 E. 7a S. 150 mit Hinweisen auf dieRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrech-te)."BGE 124 IV 234 ff. (238 f.).

Typisch für die Erledigungsform des Strafbefehls "ist, dass die un-tersuchende Strafbehörde, also nicht ein Gericht, den Strafbefehlerlässt. Die Strafverfolgungsbehörde, vorab der Staatsanwalt ge-niesst in diesem Bereich zwar richterliche Unabhängigkeit nachStPO 4. Der Staatsanwalt wird aber dadurch nicht zum Richter.Vor allem ist der Strafbefehl kein richterliches urteil, sondern nurein Angebot an die Parteien zur Verfahrenserledigung."SCHMID, Handbuch, N 1352.

Kritik:- Der Verzicht auf eine Einsprache bedeutet nicht ohne weiteres die

Akzeptanz des Strafurteil.

"Die 'Zustimmung' des Beschuldigten zeigt sich im Verzicht aufden Rechtsbehelf der Einsprache, wodurch der Strafbefehl zumrechtskräftigen Urteil wird. Trotzdem sind Vorbehalte am Platz.Erwähnt sei die Tatsache, dass nach der PISA-Studie 10-20% derBevölkerung entweder nicht lesen kann oder jedenfalls keine kom-

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plizierten Texte versteht. Zu denken ist auch an fremdsprachigeBeschuldigte."F. RIKLIN, GA 2006, 505 f.

"Der Strafbefehl ist ein (suspensiv) bedingtes Urteil. Der betroffe-ne Empfänger des Strafbefehls, der den Zwitterstatus eines nochbedingt Beschuldigten und zugleich bedingt Verurteilten hat, kannalso – so das etwas naive, in der Regel nicht hinterfragte Konzeptdes Strafbefehls – das drohende rechtsstaatlich problematischeVerdikt durch simple Einsprache aus der Welt schaffen.Doch wird er dies auch tun? Das System des Strafbefehlsverfah-rens beruht auf der Fiktion einer Handlungskompetenz des Betrof-fenen, die er vielfach nicht hat und deren Vorliegen – in Verlet-zung des für den rechtsstaatlichen Strafprozess grundlegenden Für-sorgeprinzipes – nicht überprüft werden kann."SCHUBARTH, a.a.O., 531.

- Ausserdem: Das Einspracheverfahren ist kein vollwertiger Er-satz für das ordentliche Verfahren.

b) Rechtliches GehörÜberaus problematisch, dass (vor Erlass des Strafbefehls) eineEinvernahme nicht zwingend erforderlich ist; namentlich auchnicht, soweit es um Freiheitsstrafen geht.

Mit Recht sehr kritisch z.B. ein Teil der Lehre:

"..... sollte mit Rücksicht auf die Bedeutung des rechtlichen Gehörsin einem Verfahren, das nur noch rudimentäre Fehlerkontrollenenthält, für die künftige Praxis gelten, dass die Strafbehörden diebeschuldigte Person regelmässig einvernehmen müssen, ausser inden Fällen, in denen durch andere Massnahmen rechtliches Gehörgewährt wurde."GLESS, a.a.O., 45......"..... sehen die Regelungen in der StPO eine Einvernahme der be-schuldigten Person – anders noch als im Entwurf zur Strafprozess-ordnung (vgl. Art. 356 E-StPO) – zwar nicht zwingend vor. Einesolche sollte jedoch schon deshalb regelmässig durchgeführt wer-den, um ausreichend rechtliches Gehör zu gewährleisten. Da nichtohne weiteres davon ausgegangen werden darf, dass die Adressa-ten von Strafbefehlen deren Inhalt und Bedeutung tatsächlich invollem Umfang zur Kenntnis nehmen."A.a.O., 46.

"Bereits unsere Sprache suggeriert, dass die Verfügung über einePerson ohne deren Anhörung etwas 'Unerhörtes' ist. Das Recht aufAnhörung ist ein strafprozessuales Fundamentalprinzip. Eine Ver-urteilung ohne Anhörung war in Frankreich bereits im 'AncienRégime' verpönt. Rechtshistorisch emanzipierte die Anhörung den

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Angeschuldigten vom blossen Inquisitionsobjekt zum teilnehmen-den Verfahrenssubjekt. Sie ist ein Zeichen des minimalen Re-spekts, der 'selbst' einem Straftäter geschuldet ist. Insofern ist dieAnhörung auch ein Gebot der Menschenwürde. Die Strafbehördensollten deshalb routinemässig und von sich aus Einvernahmendurchführen, bevor sie einen Strafbefehl erlassen. So kann sicher-gestellt werden, dass die Angeschuldigten sowohl den Ernst derLage als auch ihre Gegenwehrmöglichkeiten verstehen."THOMMEN, a.a.O., 393.

c) Anspruch auf richterliche BeurteilungKritik an der zunehmenden Demontage der Gerichte im Strafpro-zess.ALBRECHT, a.a.O., 900 f.

"Rechtspolitisch erscheint die Verdrängung des unabhängigenRichters, der aus eigener Anschauung des Beweismaterials überdie Sache entscheidet, aus dem Regelstrafverfahren fragwürdig.Denn die beschuldigte Person – und langfristig auch ein Teil derÖffentlichkeit – könnten an der Ergebnisoffenheit des Strafverfah-rens zweifeln, wenn zu Beginn (und gleich als mögliches Ende) dervon den Strafbehörden alleine ermittelte Sachverhalt als Grundlageeines Strafangebotes steht. Hier gilt es auch zu bedenken, dass dieWirkung von Strafrecht eng mit einer gewissen Prozessdramatur-gie zusammen hängen könnte, zu welche notwendigerweise dieEntscheidung durch einen unabhängigen Richter gehören könnte."GLESS, a.a.O., 60 f.

"Noch prägnanter kann man die abnehmende Bedeutung gerichtli-cher Verfahrenserledigung am steigenden Stellenwert des Strafbe-fehlsverfahrens ablesen. Der 'Streitwert' von Strafbefehlen lag ur-sprünglich bei den damals noch Bussen genannten Geldstrafen.Vor Freiheitsstrafen ist das Strafbefehlsverfahren lange zurückge-schreckt. Als sie einmal eingeführt waren, haben fast sämtlicheKantone diese Zurückhaltung abgelegt. Zuerst noch verschämt biszu einem Monat. Dann ist diese Schwelle im Laufe der Zeit auf 3Monate hinaufgeklettert. Seit einiger Zeit sind sogar 6 Monate sa-lonfähig geworden, und auf dieser Marke steht auch die neueStrafprozessordnung (Art. 352 StPO). Diese Masse der Strafbefeh-le ist das Reich der Staatsanwaltschaft. In diesem Feld vermag sieihre Auffassung von guter Strafrechtspflege weitgehend ungehin-dert umzusetzen."F. BOMMER, Kurzer Prozess, 168.

d) Öffentliche HauptverhandlungZur Bedeutung der Öffentlichkeit und insb. der öffentlichen Urteils-verkündung: BGE 124 IV 234 ff. (238 ff.).

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e) Materiell-rechtliche VorgabenBedenken gegen Strafbefehlsverfahren, insb. soweit es um Frei-heitsstrafen geht.

f) Erhöhtes Risiko von Fehlurteilen"Insbesondere muss man feststellen, dass das Strafbefehlsverfahren– anders als das ordentliche Verfahren – an keiner Stelle daraufausgerichtet ist, Defizite in der Kommunikation zwischen Hoheits-trägern und Rechtsunterworfenen überhaupt festzustellen. Das bes-tätigen eben auch die Ergebnisse der (wenigen) bisher durchge-führten empirischen Studien. Letztlich fehlt es sogar an einem In-strument, das verlässlich die Prozessfähigkeit eines Beschuldigtennach Art. 106 StPO feststellt. Dies ist aber jedenfalls Vorausset-zung, damit der Beschuldigte den Strafbefehl annehmen kann. Dar-in liegt das besondere Fehlurteilsrisiko begründet. Auch diesspricht dafür, immer eine Einvernahme durchzuführen. Denn wennsich in den Sachverhalt, der dem Strafbefehl zugrunde gelegt wird,ein Fehler einschleicht, kann er im weiteren Verfahren nur mit er-heblichem Aufwand oder gar nicht mehr korrigiert werden."GLESS, a.a.O., 58.

"GILLIÉRON / KILLIAS (FS-Riklin, 379 ff.) haben in einem Aufsatzzu einem Nationalfondsprojekt über Fehlurteile in der Schweiz, diezur Bestrafung Unschuldiger geführt hatten und aufgrund von Re-visionsverfahren entdeckt wurden, festgestellt, dass die Fehlerquo-ten bei 'Strafbefehlsurteilen' v.a. wegen des häufigen Verzichts aufdie Anhörung der beschuldigten Person besonders hoch sind undbei sorgfältigerer Sachverhaltsaufklärung hätten vermieden werdenkönnen."RIKLIN, a.a.O., Art. 352, N 2.

g) Zusammenfassende kritische BemerkungenTrotz der rechtsstaatlichen Einwände in der Gesetzgebung einstarker Trend zu Strafbefehlsverfahren.

Seitens der Wissenschaft leider erst in neuester Zeit kritischeStimmen aufgetaucht.Zutreffend beispw. M. SCHUBARTH:

"Der Strafbefehl ist ein Musterbeispiel dafür, wie durch die Kumu-lation von einzelnen Verfahrensvereinfachungen, die jede für sichallein genommen möglicherweise noch hingenommen werdenkann, im Ergebnis eine unter rechtsstaatlichen Gesichtspunktenproblematische, wenn nicht sogar inakzeptable Regelung entsteht.....Für einen überwiegenden Teil der Straffälle werden durch dasStrafbefehlsverfahren Grundprinzipien des rechtsstaatlichen Straf-verfahrens aus den Angeln gehoben.

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.....Ein Strafbefehlsverfahren, mit welchem ein Grossteil der Strafver-fahren schnell und einfach durch einen Grossinquisitor – denn derurteilende Staatsanwalt des Strafbefehlsverfahrens .... ist nichts an-deres als ein keiner Kontrolle unterliegender Grossinquisitor – li-quidiert werden soll, stellt in seiner heute zur Diskussion gestelltenForm einen Rückfall in die Inquisition längst vergangen geglaubterTage dar."A.a.O., 533 und 535 f.; zustimmend PIETH, a.a.O., 195 undRIKLIN, a.a.O., N 5 vor Art. 352 ff.

"Die institutionelle Machtverteilung auf verschiedene unabhängigeJustizorgane ist im vereinheitlichten Strafbefehlsverfahren aufge-hoben. Das Strafbefehlsverfahren fällt insoweit zurück in die 'In-quisition längst vergangener Tage', als der Staatsanwalt darin Un-tersuchungsrichter, Ankläger und Richter ist. Es wird zwar immerwieder betont, dass der Strafbefehl nicht ein Urteil, sondern blossein zustimmungsbedürftiger Urteilsvorschlag ist, doch ändert diesnichts daran, dass die meisten Strafbefehle mangels Einsprachezum Urteil werden."THOMMEN, a.a.O., 377.

III) Das abgekürzte VerfahrenLit.:F. BOMMER, Kurzer Prozess mit dem abgekürzten Verfahren?, in: M.

Heer (Hrsg.), Schweizerische Strafprozessordnung ....., 2010, 149 ff.

1) Der Deal zwischen den Parteien anstelle eines Urteilsa) Kriminalpolitischer Hintergrund

Entlastung der Strafbehörden: Keine oder bloss eine reduzierteStrafuntersuchung sowie eine summarische (oder gar keine)Hauptverhandlung; Absprache zwischen den Parteien als zentra-les Element des abgekürzten Verfahrens.

"Der Name 'abgekürztes Verfahren' gibt das Hauptziel der Rege-lung offen preis: Der neue Strafprozess soll kürzer sein, den häufignicht nur überlasteten (dies vor allem durch die teilweise politischmotivierte Pönalisierung immer neuer Lebenssachverhalte), son-dern auch überforderten Strafverfolgungsbehörden weniger Arbeitverursachen."C. HAUSHERR, forumpoenale 2008, 309 f.

"Die Schweizerische Strafprozessordnung kennt eine Prozedur, diesich 'abgekürztes Verfahren' nennt. Man könnte auch sagen 'kurzerProzess'. Unter einem kurzen Prozess verstehen wir ein Verfahren,das auf Beweiserhebungen ganz oder weitgehend verzichtet. Dasist beim abgekürzten Verfahren nicht anders: Art. 361 Abs. 4 StPO

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sagt kurz und knapp: 'Ein Beweisverfahren findet nicht statt.' Rich-terin und Richter sind also einer ihrer Hauptaufgaben enthoben, derErhebung und Würdigung der Beweise. Ganz ohne Beweiserhe-bung geht es indessen auch beim abgekürzten Verfahren nicht. Nurfindet sie nicht vor dem erkennenden Gericht statt, sondern früher,bereits in der Phase der Strafverfolgung, wie man es vom Strafbe-fehlsverfahren her kennt."BOMMER, a.a.O., 149 f.

"Das abgekürzte Verfahren ist ein vereinfachtes, auf rasche Erledi-gung zielendes verfahren, das der Staatsanwaltschaft bei mittel-schweren bis schweren Verbrechen und Vergehen, welche nichtper Strafbefehl erledigt werden können (.....), ermöglicht, mit derbeschuldigten Partei eine Absprache (Vereinbarung, 'Deal') überden Inhalt der Anklageschrift, die vorgeworfenen Taten, die da-durch erfüllten Straftatbestände, die Sanktionen und Nebenfolgen,zu treffen. Prototypisch geht es um einen Tausch: Geständnis undAnerkennung der Zivilforderungen (zumindest im Grundsatz) ge-gen Reduktion der Tatvorwürfe und Strafminderung."CHR. SCHWARZENEGGER, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber(Hrsg.), Kommentar, Art. 358, N 1.

"Mittlerweile kennen drei Kantone (Tessin, Basel-Landschaft undZug) die Möglichkeit von Absprachen in der Art, wie sie hier vor-geschlagen wird. Ausser bei der Regelung des Kantons Tessinscheinen die Erfahrungen eher positiv zu sein. Es ist allerdings da-von auszugehen, dass auch in andern Kantonen ohne entsprechen-de Regelung informelle Absprachen zwischen den Untersuchungs-behörden und der beschuldigten Person vorkommen. Namentlichim Bereich der Wirtschaftskriminalität mit komplizierten Sachver-halten, umfangreichem Beweismaterial und mitunter unklarerRechtslage dürfte die Überlastung der Strafverfolgungsbehördenzunehmen. Dies dürfte dazu führen, dass die Neigung und Bereit-schaft zu Absprachen zwecks Verfahrensvereinfachung auch ohnegesetzliche Regelung steigen wird. Nach Auffassung des Bundes-rates ist es ehrlicher, für derartige Absprachen gesetzliche Rege-lungen zu schaffen und damit den bisherigen Grau- oder besser:Schwarzbereich zu beseitigen, anstatt ein solches Vorgehen zwargesetzlich nicht vorzusehen, es aber in der Rechtswirklichkeit zutolerieren."Botschaft, BBl 2006, 1295.

Konkret zu den Chancen des abgekürzten Verfahrens:"1. Für die StrafverfolgungsbehördenVom abgekürzten Verfahren wird eine Entlastung der Justiz er-hofft. Die Staatsanwaltschaft kann eine verkürzte, einfachere Vor-untersuchung durchführen und auch die Hauptverhandlung ist in-haltlich stark begrenzt, was die Gerichte entlastet. Zudem sind dieRechtsmittelmöglichkeiten der Parteien eingeschränkt. Insbesonde-re in umfangreichen und international verflochtenen Wirtschafts-

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prozessen, in welchen die Untersuchung sehr aufwändig sein kannund Straftaten oftmals während hängigem Verfahren zu verjährendrohen, ist der Vorteil nicht zu unterschätzen. Wesentlich dürftenauf Seiten der Staatsanwaltschaft auch die Einsparung von Verfah-renskosten (Expertisen, Zeugen aus dem Ausland etc.) sein.2. Für die beschuldigte PersonDie beschuldigte Person erhält innert kurzer Frist ein Urteil. NachJAGGI wird die beschuldigte Person neben der 'Rechtswohltat' desabgekürzten Verfahrens und der damit verbundenen Verkürzungenund Vereinfachungen an sich regelmässig auf eine geringere Strafehoffen. Unsicherheiten insb. betreffend die Frage einer bedingtenoder teilbedingten Strafe können im abgekürzten Verfahren schnellbeseitigt werden. Das Verfahren wird damit für die beschuldigtePerson kalkulierbarer. Einen Vorteil könnte man mit dem Stich-wort 'Sicherheitsgefühl' umschreiben. Ein rasches Urteil verhindertauch , dass eine allenfalls bereits eingetretene Resozialisierung zu-nichte gemacht wird. Von einer Begrenzung der Kosten und desAufwandes profitiert neben dem Staat auch die beschuldigte Per-son. ....."G. GREINER / I. JAGGI, BSK StPO, N 35 f. vor Art. 358 ff.

b) Prozessrechtliche ProblematikDer Deal im Strafprozess als dogmatischer Fremdkörper.

"Im Strafprozess rühren Absprachen zwischen der Staatsanwalt-schaft und der beschuldigten Person darüber, welcher Sachverhaltdem Gericht zur Beurteilung unterbreitet werden soll und welcheSanktionen dem Gericht beantragt werden sollen, an Grundsätzedes Strafverfahrensrechts, auf denen auch dieses Gesetz fusst. Be-troffen sind insbesondere der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6),nach welchem die Strafbehörden alle für die Beurteilung der Tatund der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen abzuklärenhaben, sowie der Grundsatz des Verfolgungszwangs (Art. 7), wo-nach bei hinreichendem Tatverdacht ein Verfahren eingeleitet unddurchgeführt werden muss."Botschaft, BBl 2006, 1294.

2) Die Regelung der Art. 358 ff. StPO

Ú B e i l a g e 6

"Ein kurzer Prozess benötigt keine lange gesetzliche Regelung.'Form follows function', würden Architektur und Design dazu sa-gen, und so haben offenbar auch die Architekten und Designer desGesetzes gedacht: Kurzer Prozess braucht kurzes Gesetz. In ganzenfünf Artikeln regelt die Strafprozessordnung das abgekürzte Ver-fahren."BOMMER, a.a.O., 150.

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a) Antrag an die StaatsanwaltschaftVgl. Art. 358 Abs. 1 StPO.

"Die Initiative für die Durchführung eines abgekürzten Verfahrensmuss von der beschuldigten Person ausgehen; hingegen ist es derStaatsanwaltschaft nicht erlaubt, die beschuldigte Person mit Ver-sprechungen unter Druck zu setzen, um ein abgekürztes Verfahreneinleiten zu können. Voraussetzung für die Durchführung sind einGeständnis über den wesentlichen Sachverhalt sowie eine Aner-kennung allfälliger Zivilansprüche entweder bloss dem Grundsatznach oder auch hinsichtlich der Höhe. Die Anerkennung kanndurch Erklärung zu Protokoll oder durch einen Vergleich mit derPrivatklägerschaft erfolgen."Botschaft, BBl 2006, 1295, zu Art. 365 E StPO.

Ausschluss des abgekürzten Verfahrens, wenn die Staatanwalt-schaft eine Freiheitsstrafe von mehr als 5 Jahren verlangt.Art. 358 Abs. 2 StPO.

"Die vorgesehene Obergrenze von fünf Jahren Freiheitsstrafe (Abs.2) macht deutlich, dass das abgekürzte Verfahren durchaus auchfür mittelschwere Straffälle in Betracht kommt und weit über denAnwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens hinausgeht."Botschaft, BBl 2006, 1295, zu Art. 365 E StPO.

b) Verfahren bei der StaatsanwaltschaftArt. 359 f. StPO.

c) Gerichtliches VerfahrenArt. 361 f. StPO.¢ Bestätigungsverfahren.

3) Ein Modell für die Zukunft?a) Attraktivität des abgekürzten Verfahrens

Im Vordergrund die Beschleunigung des Verfahrens (Zeitgewinnund Kostenersparnis).

b) Konflikte mit Prozessmaximen

aa) Vorbemerkungen"Zum einen werden die Grundsätze der Justizgewährleistungs-pflicht ausgehöhlt: Das Offizialprinzip, das Gleichbehandlungsge-bot, das Legalitätsprinzip und der Grundsatz der materiellen Wahr-heit stehen in Frage. Auch die grundsätzlichen Schutzpositionendes Beschuldigten, namentlich das 'nemo tenetur'-Prinzip und dieUnschuldsvermutung, werden in Frage gestellt. .....

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Schliesslich werden die traditionellen Garantien der Öffentlichkeitder Hauptverhandlung, soweit sie überhaupt bestehen, durch dassummarische Verfahren abgeschafft, auch wenn die Bestätigungs-verhandlung formal öffentlich bleibt."PIETH, Strafprozessrecht, 200.

"Fast jede für das ordentliche Strafverfahren fest verankerte Ver-fahrensmaxime sieht sich im abgekürzten Verfahren erheblichenAnfechtungen ausgesetzt. Für sich allein besagt dieser Befund frei-lich noch nicht viel : Kaum einer der Prozessgrundsätze lässt sichungeschmälert verwirklichen, besser soll ungeschmälert verwirk-licht werden, weil solche Verwirklichung unweigerlich zu Defizi-ten in denjenigen Bereichen führt, deren Berücksichtigung der ent-sprechende Grundsatz übergeht. Vielmehr geht es darum, sie (jefür bestimmte Fallgruppen) in ein gegenseitiges Verhältnis prakti-scher Konkordanz zu bringen und so dafür zu sorgen, dass die kon-fligierenden Interessen der Prozessbeteiligten und der Allgemein-heit zu einem Ausgleich kommen. Das gilt auch für das abgekürzteVerfahren und seine Beteiligten. Doch was sich im ordentlichenVerfahren als ein Abwägen der hinter den einzelnen Grundsätzensteckenden Wertgesichtspunkte ausnimmt, wird im abgekürztenVerfahren zu deren Übergehen, weil sein Hauptziel, die Verfah-rensbeschleunigung, alle anderen prozessualen Wertentscheidun-gen in den Hintergrund rückt."F. BOMMER, ZSR 2009 II, 27 f.

bb) LegalitätsprinzipVgl. Art. 7 StPO.

"Das Legalitätsprinzip wird ausser Kraft gesetzt, weil nicht mehrdas Gesetz, sondern der übereinstimmende Willen der Parteienmassgebend ist."N. OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl.,2005, N 715.

"Die Einschätzung, das Legalitätsprinzip werde vom abgekürztenVerfahren .... berührt, hat ihren Grund darin, dass die übereinstim-mende Willensäusserung der Parteien an die Stelle des Gesetzestrete. Doch ist die staatsanwaltschaftliche Willensäusserung ihrer-seits an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebunden, so dassbei deren Einhaltung das Legalitätsprinzip mittelbar doch beachtetist. Der Verdacht, das Legalitätsprinzip werde durch das abgekürz-te Verfahren geritzt, erhält Nahrung natürlich durch die Vermu-tung, dass – eben entgegen dem Legalitätsprinzip – zur Erzielungeiner Einigung strafrechtlich relevante Sachverhalte unter denTisch fallen, denen an sich nachzugehen wäre. Diese nicht ganzunplausible Spekulation gründet ihrerseits auf der Vermutung, dassein abgekürztes Verfahren seine Funktion – Verfahrensverkürzungund Aufwandvermeidung – nur erfüllen kann, wenn die Staatsan-

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waltschaft über einzelne tatverdachtsbegründende Umstände hin-wegsieht (.....)."BOMMER, ZSR 2009 II,, 28.

cc) UntersuchungsgrundsatzGefährdung der Suche nach der materiellen Wahrheit (vgl.Art. 6 StPO: Untersuchungsgrundsatz).

"Der Untersuchungsgrundsatz wird aufgehoben, da nicht mehrnach der Wahrheit gesucht, sondern auf konsensualem Weg eineformelle Wahrheit konstruiert wird."OBERHOLZER, a.a.O.

"Den Anforderungen des abgekürzten Verfahrens .... genügt, poin-tiert ausgedrückt, eine gewissermassen ausgehandelte Wahrheit,deren Zustandekommen aufgrund der Vorabsprachen unter den Be-teiligten für das Gericht und die Öffentlichkeit zudem kaum er-kennbar ist."D. JOSITSCH / P. BISCHOFF, FS Riklin, 2007, 433 f.

dd) Grundsatz der öffentlichen Hauptverhandlung"Der Öffentlichkeitsgrundsatz wird umgangen, da Heimlichkeitund Verschwiegenheit die typischen Begleiterscheinungen jederstrafprozessualen Abspreche bilden."OBERHOLZER, a.a.O.

".... wenn in dieser Hauptverhandlung nur noch erörtert wird, obdie Voraussetzungen für das abgekürzte Verfahren erfüllt sind, undnicht mehr darüber gestritten, ob der Tatbestand erfüllt ist, ob Vor-satz, Fahrlässigkeit oder eine Notwehr vorgelegen haben, dann ent-schwindet der Öffentlichkeit der Gegenstand, den sie kontrollierensollte; die Hauptverhandlung verkommt als reine Bestätigung zumpotemkinschen Dorf. Und Absprachen zwischen Strafverfolgungund Beschuldigtem kommen ohnehin nicht zur Sprache, weil essie, nach dem Gesetz zu urteilen, nicht gibt: Der Gegenstand derAbsprache bleibt ungeregelt."BOMMER, a.a.O., 164.

"Im Gegensatz zum Recht auf ein öffentliches Verfahren kann derBeschuldigte auf die öffentliche Urteilsverkündung nicht wirksamverzichten, da dieses Recht nicht nur ihm, sondern auch der All-gemeinheit zusteht. Damit die Öffentlichkeit aber die Kontroll-funktion, die mit diesem Recht verbunden ist, wahrnehmen kann,muss sie über alle sachlichen Grundlagen des Verfahrens infor-miert werden. Die Staatsanwaltschaft ist hier gefordert, den we-sentlichen Inhalt der Absprache zu protokollieren und den Aktenbeizulegen, damit dieser später bei der Urteilsverkündung vorge-tragen werden kann. Die Bestimmungen zum abgekürzten Verfah-

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ren sehen zwar keine solche Verpflichtung vor, da die Absprache –obwohl sie den wichtigsten Abschnitt des Verfahrens darstellt – imGesetz nicht geregelt wird. Gestützt auf Art. 6 EMRK und Art. 30Abs. 3 BV sollte dennoch ein entsprechendes Vorgehen gewähltwerden. Diese Forderung dient wiederum nicht nur dem Schutz desBeschuldigten, sondern liegt zugleich im öffentlichen Interesse:Gerade die Phase der Absprache zwischen der Staatsanwaltschaftund dem Beschuldigten dürfte es sein, die bei Aussenstehenden dasgrösste Misstrauen hervorruft. Diese Verhandlung der öffentlichenKontrolle zu unterstellen, indem die Aufzeichnungen darüber inder Urteilsverkündung vorgetragen werden, ist elementar, um dasVertrauen in die Justiz zu wahren."C. HAUSHERR, forumpoenale 2008, 311.

ee) UnmittelbarkeitsprinzipVerletzung des Unmittelbarkeitsprinzips, da in der richterli-chen Bestätigungsverhandlung kein Beweisverfahren statt-findet (z.B. Art. 361 Abs. 4 StPO).

"Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zählt nicht mehr, da Beweisenicht erhoben, sondern abgesprochen werden."OBERHOLZER, a.a.O.

ff) UnschuldsvermutungVgl. Art. 10 Abs. 1 StPO, Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2EMRK.

"Im Antrag des Angeklagten an die Staatsanwaltschaft, den Wegdes abgekürzten Verfahrens einzuschlagen, liegt .... ein Verzichtauf die Unschuldsvermutung in dem Sinne, als damit der Verfah-rensausgang 'Freispruch' versperrt wird. Ein abgekürztes Verfahrenlässt sich überhaupt nur führen in der allseitigen Übereinstimmung,dass die beschuldigte Person die eingestandene Tat tatsächlich be-gangen hat; vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung ist essinnlos. An die Stelle der Unschulds- tritt somit die Schuldvermu-tung, und das abgekürzte Verfahren wäre treffender als ein 'Straf-verfahren' ein 'Bestrafungsverfahren' zu nennen."BOMMER, ZSR 2009 II, 31.

gg) Nemo-tenetur-PrinzipVgl. Art. 113 Abs. 1 StPO.

"Die Einvernahmegrundsätze werden preisgegeben, indem dieSelbstbelastung Voraussetzung jeder einvernehmlichen Lösungbildet."OBERHOLZER, a.a.O.

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"Entgegen dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare wirdder Beschuldigte in solchen Fällen .... faktisch dazu gezwungen, anseiner eigenen Überführung mitzuwirken. In diesem Zusammen-hang wird denn auch von einem der Unschuldsvermutung zuwider-laufenden institutionalisierten Geständnisdruck gesprochen."JOSITSCH / BISCHOFF, a.a.O., 435.

hh) Gebot der GleichbehandlungVgl. Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 8 BV.

"Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird verletzt, da nur derjenigeüber das Verfahrensergebnis verhandeln kann, der auch etwas zubieten hat."OBERHOLZER, a.a.O.

c) Verhandelbares Strafmass (als Beispiel)

d) Eigene BewertungAngesichts der Konflikte mit den zentralen strafprozessualen Ma-ximen meinerseits erhebliche Bedenken gegenüber dem abge-kürzten Verfahren (inkl. Absprachen).

Zutreffend BOMMER:

"Die Hauptgefahr liegt in der Vervollkommnung der exekutivi-schen Machtfülle. Nicht nur ist die Staatsanwaltschaft Herrin überdie Masse der Strafbefehle, sie hat es nun, bei gegebenen bzw. zubeschaffenden Voraussetzungen, auch in der hand, bis in den Be-reich der schweren Kriminalität hinein ihre Vorstellungen von ge-rechter Vergeltung und notwendiger Prävention durchzusetzen. DieKorrekturmöglichkeiten der traditionellen Hüter von Recht undGerechtigkeit, der Gerichte sind beschränkt: ....."A.a.O., ZSR 2009 II, 113 f.

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