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3 Theorie der Ionisationskammern* In diesem Kapitel werden die Grundlagen der Theorie der Ionisationskammern erläutert. Es werden zunächst die thermische Diffusion und Beweglichkeiten der Ladungen im Kammervo- lumen sowie die Vorgänge zur Ionenerzeugung dargestellt. Es folgen eine ausführliche Erläu- terung der Mechanismen der Rekombination und der Ladungsverluste sowie eine Darstellung der Grundlagen der Rekombinationstheorie. ____________________________ Die primär bei der Dosimetrie mit Ionisationskammern interessierende Größe ist die Zahl der Ladungsträgerpaare entlang der Bahnspur eines in das Füllgas eingeschosse- nen Teilchens. Gelingt es, diese Ladungen vollständig und ausschließlich nachzuwei- sen, kann aus der gesammelten Ladung mit Hilfe der Ionisierungskonstanten W (benö- tigte Energie zur Erzeugung eines Ladungsträgerpaares) auf die im Kammervolumen deponierte Energie geschlossen werden. Das Verhältnis dieser absorbierten Energie und der Masse des Füllgases ist dann die gesuchte Energiedosis. Die Ladungssammlung geschieht mit Hilfe von Spannungen, die an die Kammerelek- troden angelegt werden. Dadurch entsteht ein ausgerichtetes elektrisches Feld mit ei- ner Feldstärke E, die die Ladungen auf die jeweils entgegengesetzt gepolte Elektrode beschleunigt und sie dort dem Elektrometer zuführt. Die Feldstärken werden durch Linien symbolisiert, deren räumliche Dichte ein Maß für die Kraft auf ein elektrisch geladenes Teilchen im elektrischen Feld symbolisiert. Je höher die lokale Feldlinien- dichte ist, umso höher ist die dort ausgeübte Kraft. Der Höhe der Feldstärke und der Fig. 3.1: Geometrie und Feldstärkeverteilungen in Ionisationskammern: Links: Parallelplat- tenkammer mit idealisiertem ortsunabhängigem Feldlinienverlauf E im Inneren der Kammer. Der Elektrodenabstand beträgt d, die angelegte Spannung U. Auf der lin- ken Seite sind das Ausbeulen einer Feldlinie am Kammerrand und die dadurch ab- nehmende Kraft dargestellt. Mitte: Geometrie in einer Zylinder- oder Kugel-Ioni- sationskammer mit dem Radius der Zentralelektrode b, dem Radius der äußeren Elektrode a und der Entfernung des Aufpunktes r von der Kammermitte. Rechts: Idealisierter Feldlinienverlauf einer Kugel- oder Zylinderkammer. +U b a r E(r) +U E d + H. Krieger, Strahlungsmessung und Dosimetrie, DOI 10.1007/978-3-658-00386-9_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

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Page 1: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern* In diesem Kapitel werden die Grundlagen der Theorie der Ionisationskammern erläutert. Es werden zunächst die thermische Diffusion und Beweglichkeiten der Ladungen im Kammervo-lumen sowie die Vorgänge zur Ionenerzeugung dargestellt. Es folgen eine ausführliche Erläu-terung der Mechanismen der Rekombination und der Ladungsverluste sowie eine Darstellung der Grundlagen der Rekombinationstheorie. ____________________________

Die primär bei der Dosimetrie mit Ionisationskammern interessierende Größe ist die Zahl der Ladungsträgerpaare entlang der Bahnspur eines in das Füllgas eingeschosse-nen Teilchens. Gelingt es, diese Ladungen vollständig und ausschließlich nachzuwei-sen, kann aus der gesammelten Ladung mit Hilfe der Ionisierungskonstanten W (benö-tigte Energie zur Erzeugung eines Ladungsträgerpaares) auf die im Kammervolumen deponierte Energie geschlossen werden. Das Verhältnis dieser absorbierten Energie und der Masse des Füllgases ist dann die gesuchte Energiedosis.

Die Ladungssammlung geschieht mit Hilfe von Spannungen, die an die Kammerelek-troden angelegt werden. Dadurch entsteht ein ausgerichtetes elektrisches Feld mit ei-ner Feldstärke E, die die Ladungen auf die jeweils entgegengesetzt gepolte Elektrode beschleunigt und sie dort dem Elektrometer zuführt. Die Feldstärken werden durch Linien symbolisiert, deren räumliche Dichte ein Maß für die Kraft auf ein elektrisch geladenes Teilchen im elektrischen Feld symbolisiert. Je höher die lokale Feldlinien-dichte ist, umso höher ist die dort ausgeübte Kraft. Der Höhe der Feldstärke und der

Fig. 3.1: Geometrie und Feldstärkeverteilungen in Ionisationskammern: Links: Parallelplat-tenkammer mit idealisiertem ortsunabhängigem Feldlinienverlauf E im Inneren der Kammer. Der Elektrodenabstand beträgt d, die angelegte Spannung U. Auf der lin-ken Seite sind das Ausbeulen einer Feldlinie am Kammerrand und die dadurch ab-nehmende Kraft dargestellt. Mitte: Geometrie in einer Zylinder- oder Kugel-Ioni-sationskammer mit dem Radius der Zentralelektrode b, dem Radius der äußeren Elektrode a und der Entfernung des Aufpunktes r von der Kammermitte. Rechts: Idealisierter Feldlinienverlauf einer Kugel- oder Zylinderkammer.

+U

bar E(r)

+U

E d +

H. Krieger, Strahlungsmessung und Dosimetrie, DOI 10.1007/978-3-658-00386-9_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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56 3 Theorie der Ionisationskammern

räumliche Feldstärkenverlauf im Messvolumen einer Ionisationskammer ist von we-sentlicher Bedeutung für die Nachweiswahrscheinlichkeit der geladenen Teilchen und für eine möglichst vollständige Ladungssammlung. Für Parallelplattenkammern kann die Feldstärke als Quotient aus Plattenabstand d und angelegter Spannung U berechnet werden (Fig. 3.1 links). Sie ist unabhängig vom Ort r im Kammervolumen.

)r(fdUE für Parallelplattenkammern (3.1)

Für Zylinderkammern erhält man wegen der divergierenden Feldlinien eine von den Elektrodendurchmessern und dem Ort abhängige Feldstärkenverteilung. Für Elektro-denradien b für die Zentralelektrode und a für die äußere Elektrode erhält man am Ort r (Fig. 3.1 Mitte) den Feldstärkebetrag nach der folgenden Gleichung:

r1

)baln(r

U)r(E für Zylinderkammern (3.2)

Für Kugelkammern mit Elektrodenradien a für die äußere Elektrode und b für die Zentralelektrode erhält man am Ort r den mit dem Quadrat des Abstandes r abneh-menden Feldstärkebetrag nach der folgenden, etwas abgewandelten Formel:

22 r1

)ba(rbaU)r(E für Kugelkammern (3.3)

Für alle drei Geometrien sind die Feldstärken also proportional zur angelegten Span-nung. Für eine effektive Ladungssammlung mit geringen Rekombinationsverlusten sind möglichst hohe Spannungen zu verwenden. Es muss allerdings sichergestellt sein, dass der Arbeitspunkt der Ionisationskammer immer im Sättigungsbereich liegt, und nicht durch Gasverstärkung (beginnender Proportionalbereich) sekundäre Ladungen erzeugt werden.

3.1 Thermische Diffusion und Beweglichkeiten der Ladungen im Füllgas*

Geladene Teilchen unterliegen wie alle Atome oder Moleküle zunächst einer von der Gastemperatur abhängigen thermischen Bewegung, die durch gegenseitige Stöße mit anderen Teilchen ausgelöst wird. Diese stochastische Bewegung führt zu einer räumli-chen gaußförmigen Verteilung der primären Ladungsträger um ihren ursprünglichen Entstehungsort. Eine punktförmige Ladungserzeugungsstelle wird also in eine räumli-che radiale Gaußverteilung verwandelt, eine linienförmige Ladungsquelle wie die Io-nisationsspur eines Teilchens im Füllgas ergibt eine zylinderförmige radiale Gaußver-teilung der Ladungsträgerpaare um die Bahnspur des Teilchens. Die Breite der Gauß-

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3 Theorie der Ionisationskammern 57

verteilung nimmt mit der Zeit zu. Die kinetische Gastheorie liefert dazu einen einfa-chen Zusammenhang zwischen Halbwertbreite der Gaußverteilung und der abgelau-fenen Zeit t nach der Erzeugung der Ladungen.

tD2 (3.4)

Die Proportionalitätskonstante D heißt Diffusionskoeffizient. Dessen Wert kann aus der kinetischen Gastheorie vorhergesagt werden. Nach einer ausreichend langen War-tezeit kommt es für neutrale Atome oder Moleküle zu einer Gleichverteilung im Kammervolumen. Diese thermische Verteilung ist unabhängig von der Bauform der Ionisationskammer und überlagert sich der Ionenbewegung durch eventuell angelegte Kammerspannungen. Die kompakte Bahnspur geladener Teilchen in einem Kammer-gas verbreitert sich mit der Zeit daher stochastisch. Ohne weitere Wechselwirkungen oder Beschleunigungen durch das elektrische Feld im Kammervolumen wären die Ladungsträger wie die neutralen Teilchen des Kammergases nach einer ausreichend langen Zeit deshalb gleichmäßig über das Kammervolumen verteilt.

Driftgeschwindigkeit von Ladungen im Füllgas: Anders als im Vakuum werden geladene Teilchen in einem Füllgas durch ein externes elektrisches Feld nur solange beschleunigt, wie sie keiner Wechselwirkung mit anderen Teilchen unterliegen. Sol-che Wechselwirkungen können einfache Stöße oder auch Stöße mit einer Änderung des Ladungszustandes sein. Die Strecke im Füllgas bis zur nächsten Wechselwirkung kann mit der mittleren freien Weglänge beschrieben werden. Geladene Teilchen be-wegen sich trotz angelegter Sammelspannung dadurch im Mittel nur mit einer be-stimmten Geschwindigkeit, der so genannten Driftgeschwindigkeit vdr, die aus der Überlagerung der thermischen Bewegung und der durch das elektrische Feld bestimm-ten gerichteten Bewegung entsteht. Dabei werden die geladenen Teilchen nur im Mit-tel entlang der Feldlinien beschleunigt, durch die begleitenden Stöße kommt es, wie oben schon geschildert, zusätzlich zu einer gaußförmigen Verbreiterung der Bahnspur. Die Driftgeschwindigkeiten hängen vom Betrag der beschleunigenden Feldstärke E, der Teilchenart, der Teilchenladung, vom Gasdruck p und der Art des Füllgases ab.

pEvdr (3.5)

Die Proportionalitätskonstante dieser Gleichung wird als Beweglichkeit (engl.: mo-bility) bezeichnet. Für einfach geladene Ionen hat Werte zwischen 0,1 und 0,15 (m2·hPa s-1 V-1). Die Beweglichkeiten positiv oder negativ geladener Ionen unter-scheiden sich nur wenig. Die Beweglichkeit von Elektronen ist dagegen etwa um den Faktor 1000 größer, hat also Werte um 100 (m2·hPa s-1 V-1). Für Parallelplattenkam-mern mit dem Elektrodenabstand d und einer angelegten Spannung U, also einer räumlich konstanten Feldstärke E, erhält man mit (Gl. 3.1) für die Driftgeschwindig-keiten die folgende Beziehung.

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58 3 Theorie der Ionisationskammern

dpUvdr (3.6)

In der Literatur werden gelegentlich auch die Quotienten von Beweglichkeit und Gas-druck als Beweglichkeiten bezeichnet. Sie werden dann mit dem Symbol "k" gekenn-zeichnet und haben die Einheit (m2 s-1 V-1), was die Analysen der Verhältnisse bei konstantem Gasdruck z. B. atmosphärischen Standardbedingungen vereinfacht.

pk (3.7)

Man hat daher bei der Ableitung von Formeln streng auf die jeweilige Definition der Beweglichkeiten zu achten (s. z. B. die Theorie der Rekombinationen unten).

Beispiel 3.1: Driftgeschwindigkeiten einfach geladener Ionen und Elektronen in der Luft einer Parallelplattenkammer bei Normaldruck. Bei einer Kammerspannung von 300 V und einem Plattenabstand von 1 cm (10-2 m) erhält man aus (Gl. 3.6) für Ionen die Driftgeschwin-digkeit vdr = 0,1·300/(1013 0,01) = 3 m/s. Für Elektronen beträgt unter sonst gleichen Bedin-gungen wegen der um den Faktor 1000 höheren Beweglichkeit die Driftgeschwindigkeit be-reits 3000 m/s. Die Transferzeiten bzw. die maximalen Aufenthaltsdauern der geladenen Teil-chen im Gasvolumen berechnen sich für dieses Beispiel bei einem Plattenabstand von 1 cm für Ionen zu 3 ms, für Elektronen zu 3 μs. Verwendet man handelsübliche Parallelplattenkammern wie beispielsweise eine Markuskammer für die Elektronendosimetrie mit einem Elektrodenab-stand von nur etwa 2 mm, vermindern sich die Transferzeiten auf 0,6 ms für Ionen und 0,6 μs für Elektronen.

3.2 Ladungsaustausch und Rekombination*

Bei Anwesenheit geladener Teilchen werden die thermischen Bewegungen allerdings zusätzlich von den elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen den geladenen Teil-chen beeinflusst. Die Wärmebewegungen werden deshalb von einer Reihe besonderer Stoßprozesse mit simultanem Ladungstransfer begleitet (s. Fig. 3.2). Bei Stößen zwi-schen freien Elektronen und ungeladenen Teilchen kann es zum Einfang eines Elek-trons durch ein ehemals neutrales Teilchen kommen. Aus einem neutralen Atom oder Molekül und dem stoßenden Elektron entsteht also ein negativ geladenes Ion. Diese Elektronenanlagerung ist mit keinem Netto-Ladungsverlust verbunden; das schwere Teilchen ist wegen seiner deutlich größeren Masse aber wesentlich unbeweglicher als ein freies Elektron (Fig. 3.2a). Bevorzugte Reaktionspartner für diesen Prozess sind neutrale Atome oder Moleküle des Gasvolumens, die eine hohe Elektronenaffinität besitzen. Bei luftgefüllten Ionisationskammern sind das vor allem die Sauerstoffato-me. Edelgase oder Stickstoff weisen dagegen eine geringere Elektronenaffinität auf. Die negativen Ladungen in solchen inerten Füllgasen bleiben daher vorwiegend freie Elektronen.

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3 Theorie der Ionisationskammern 59

Es kann auch zu einem Ladungsaustausch zwischen einem negativ geladenen Teil-chen (Ion) und einem neutralen Stoßpartner kommen. Bei diesem Prozess wird ein Elektron vom negativen Ion auf das neutrale Teilchen übertragen. Sind beide Stoß-partner dieses Prozesses etwa gleich schwer, ändert sich nichts oder nur wenig an der Beweglichkeit der Ladungsträger (Fig. 3.2b). Auch hier bleibt die Ladungsbilanz un-beeinflusst.

Letztlich kann es auch zur Vereinigung entgegen gesetzter Ladungen zu neutralen Teilchen, zur so genannten Rekombination mit Ladungsverlust, kommen. Unter Re-kombination versteht man den Ladungstransfer mit dem Ergebnis ausschließlich neu-traler Atome oder Moleküle. Sind die beteiligten Teilchen entgegengesetzt geladene Ionen, wechselt einfach ein Elektron seinen Partner. Das Reaktionsergebnis sind dann zwei schwere ungeladene Teilchen (Fig. 3.2c). Wird ein freies Elektron durch ein ein-fach positiv geladenes Ion eingefangen, entsteht ein einzelnes schweres ungeladenes Ausgangsteilchen (Fig. 3.2d). In Luft ist der wichtigste neutrale Elektronenfänger das Sauerstoffmolekül (O2).

22 OeO (3.8)

Ein Sonderfall ist der Einfang des bei der Ionisation ausgelösten Elektrons durch sein Mutteratom, also die unmittelbare Wiedervereinigung der beiden Ladungen. Bei

Fig. 3.2: Ladungstransferprozesse bei Stößen geladener und ungeladener Teilchen im Füllgas einer Ionisationskammer. (a): Elektroneneinfang durch ein neutrales schweres Teil-chen, (b): Elektron-Transfer zwischen 2 schweren Teilchen, (c): Ladungsaustausch zweier entgegengesetzt geladener schwerer Teilchen, (d): Rekombination eines freien Elektrons mit einem positiven Ion. Die Prozesse (a) und (b) sind ladungsneutral, die Rekombinationen (c) und (d) sind dagegen mit einem Verlust freier Ladungen ver-bunden.

(b): Elektronaustausch - + +

(c): Rekombination von Ionen + + - +

(a): Elektroneinfang + - e-

(d): Rekombination Ion-Elektron + e- +

-

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60 3 Theorie der Ionisationskammern

allen Rekombinationsprozessen mit Ladungsneutralisation "verschwinden" also die primär beim Beschuss des Füllgases erzeugten freien Ladungen und mindern auf diese Art die Zahl der auf den Elektroden der Ionisationskammer sammelbaren Ladungen.

Die Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Ladungstransferprozesse hängen von den räumlichen Konzentrationen der jeweils beteiligten Teilchen (den Teilchendich-ten), speziell von der Ionen- und Elektronendichte, der Elektronenaffinität von Ionen oder neutralen Teilchen, dem Füllgasdruck und der zur Verfügung stehenden Wech-selwirkungszeit ab, die unter anderem von der Kammerspannung bzw. durch die damit erzeugte Feldstärke beeinflusst wird.

Beim Elektroneneinfang durch neutrale Sauerstoffmoleküle (Gl. 3.8) verändert sich die Zahl der Sauerstoffmoleküle und damit die Sauerstoffkonzentration im Füllgas wegen der geringen Reaktionsraten nur sehr wenig. Die Zahl der Rekombinationen zu einem bestimmten Zeitpunkt t ist daher nahezu ausschließlich proportional zur Dichte der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren freien Elektronen, der Elektronenkonzentration Ne(t). Für die Rekombinationsrate dN/dt pro Volumenelement erhält man deshalb die folgende Beziehung:

)t(Ndt

dNee

e (3.9)

Die Proportionalitätskonstante dieser Gleichung e ist der Rekombinationskoeffizient für den betrachteten Prozess. Integration von (Gl. 3.9) ergibt für die Konzentration der freien Elektronen im Füllgas eine exponentielle Abnahme mit der Zeit.

ee /t0,e

t0,ee eNeN)t(N (3.10)

Der Kehrwert des Rekombinationskoeffizienten e wird als mittlere Lebensdauer e der freien Elektronen bezeichnet. Sie hat in trockener Luft unter atmosphärischen Normalbedingungen nach experimentellen Untersuchungen Werte zwischen 1 10-8 und 3 10-8 s. Mit Hilfe der Driftgeschwindigkeit der freien Elektronen dr,e (s. Gl. 3.6 und Beispiel 3.1) kann man aus der mittleren Lebensdauer die mittlere freie Weglänge der Elektronen berechnen.

ee,dr (3.11)

Die Wahrscheinlichkeit p für ein Elektron, nach Durchlaufen einer Strecke x im elek-trischen Feld der Ionisationskammer noch frei zu sein, ist dann gerade:

x

e)x(p (3.12)

Page 7: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern 61

Die Konzentration der freien Elektronen nach Durchlaufen einer Strecke x erhält man damit zu:

e,dr

x

0,e

x

0,ee eNeN)x(N (3.13)

Mittelt man die freien Weglängen aller Elektronen in einem homogen bestrahlten Kammervolumen in einer Plattenionisationskammer, erhält man für einen Plattenab-stand d mit (Gl. 3.14) eine mittlere Sammelwahrscheinlichkeit für Elektronen von:

)e1(d

)d(p e,dr

de,dr (3.14)

Da die Driftgeschwindigkeiten proportional zur Feldstärke zunehmen, sind die Anzahl der freien Elektronen und der an den Elektroden nachweisbare Prozentsatz der erzeug-ten Elektronen abhängig von der angelegten Kammerspannung und dem Elektroden-abstand. Berechnungen nach (Gl. 3.14) ergeben Werte je nach Feldstärke zwischen wenigen Prozent (E um 300 V/cm, Plattenabstand 5 mm) bis etwa 75% freier Elektro-nen (E um 10000 V/cm, Plattenabstand 1 mm, [Boag 1987]).

Für die beiden Rekombinationsprozesse (c + d in Fig. 3.2) kann die zeitliche Verände-rung der Ladungsträgerdichten N+ und N- (den Ionen pro Volumeneinheit) zweier Teilchenarten mit folgender Gleichung beschrieben werden.

NNdt

dNdt

dNion (3.15)

Die Rekombination ist also proportional zu den jeweiligen Konzentrationen der beiden beteiligten Ionenarten mit positiver und negativer Ladung. Der Koeffizient ion wird als Rekombinationskoeffizient für die Ionenrekombination bezeichnet. Betrachtet man statt der Ladungsträgerkonzentrationen die Ladungskonzentrationen C± der beiden Ionenarten, muss (Gl. 3.15) mit einem modifizierten Rekombinationskoeffizienten

ion,e (= ion/e) berechnet werden.

CCdtdN

e,ion (3.16)

Rekombination etwa gleich schwerer Ionen ist um viele Größenordnungen häufiger als diejenige von Elektronen mit positiven Ionen, da die Elektronen wegen ihrer höheren Beweglichkeit entweder schnell durch das in der Ionisationskammer befindliche elek-trische Feld abgesaugt werden oder sich bei ausreichender Elektronenaffinität des Füllgases schnell und dauerhaft an dessen neutrale Atome oder Moleküle anlagern.

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62 3 Theorie der Ionisationskammern

Die freien Elektronen werden also durch eine gleiche Anzahl negativer Ionen ersetzt, die wegen ihrer größeren Masse weniger stark durch das anliegende elektrische Feld beschleunigt werden können. In der Theorie der Ionisationskammern wird nach der Anfangsrekombination entlang der Bahnspur des eingeschossenen Strahlungsquants und nach der Volumenrekombination bei homogener Verteilung der Ionisationspro-dukte im Gasvolumen unterschieden.

Anfangsrekombination: Entlang der Bahnspur eines einzelnen Teilchens im Füllgas der Ionisationskammer bilden sich lokale Ladungsanhäufungen, die so genannten Cluster. In diesen Clustern befinden sich die entgegengesetzt geladenen Teilchen (Elektronen, positiv oder negativ geladene Ionen) in großer räumlicher Nähe. Sie ha-ben daher eine große Wahrscheinlichkeit zur Rekombination. Da die Ladungsdichte von der Ionisierungsdichte bzw. dem linearen Energietransfer LET abhängt, haben dicht ionisierende Strahlungsarten wie Alphateilchen, Spaltfragmente oder sonstige schwere Ionen höhere Anfangsrekombinationsraten als locker ionisierende Strahlungs-arten. Die Anfangsrekombinationsrate (engl. initial recombination oder columnar re-combination) nimmt deshalb deutlich mit dem LET der Teilchen zu. Für atmosphäri-sche Normalbedingungen und bei den üblichen Feldstärken in klinischen Ionisations-kammern (Feldstärken größer als 100 V/cm) spielt die Anfangsrekombination für lo-cker ionisierende Strahlungen dagegen kaum eine Rolle. Da für die Anfangsrekombi-nation nur die Rekombination innerhalb einer einzelnen Bahnspur betrachtet wird, ist die Anfangsrekombinationsrate unabhängig von der Dosisleistung (DL) im Strah-lungsfeld.

Wird ein externes elektrisches Feld an die Elektroden der Ionisationskammer angelegt, trennt dieses die entgegengesetzt geladenen Teilchen und vermindert so die lokale Rekombinationsrate innerhalb der Bahnspur. Die Spuren werden zusätzlich über die durch Diffusion stochastisch entstehende "Ausfransung" hinaus geometrisch verbrei-tert. Die Anfangsrekombinationsrate nimmt wegen der kürzeren Verweildauern der Teilchen in der Bahnspur daher mit zunehmender Feldstärke ab. Nach der Theorie ist sie umgekehrt proportional zum Betrag der senkrecht zur Bahnspur wirkenden Kom-ponente E der Feldstärke E .

E1Rc und )DL(fRc (3.17)

Volumenrekombination: Verlassen die Ladungsträger ihre eigene Bahnspur, kommt es zu Wechselwirkungen von Ionen aus unterschiedlichen Bahnspuren und zu deren teilweiser Rekombination. Dieser Vorgang wird als Volumenrekombination be-zeichnet (engl.: volume recombination). Da die Ladungsträgerdichte im Gasvolumen mit zunehmender Dosisleistung ansteigt, ist die Volumenrekombinationsrate Rv ab-hängig von der Dosisleistung im Strahlungsfeld. Für kontinuierliche Bestrahlung er-

Page 9: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern 63

gibt die Theorie (s. u.) eine umgekehrte Proportionalität zum Quadrat senkrechten Komponente der Feldstärke und eine direkte Proportionalität zur Dosisleistung DL.

2v EDLR für kontinuierliche Bestrahlung (3.18)

Die Volumenrekombination spielt insbesondere bei gepulster Niedrig-LET-Strahlung aus Beschleunigern wegen der zeitlichen Konzentration der Ionisationen im Füllgas und der dadurch entstehenden hohen Ladungsträgerdichten eine dominierende Rolle. Für gepulste Strahlung ist die Volumenrekombinationsrate wie die Anfangsrekombi-nationsrate (Gl. 3.18) umgekehrt proportional zum Feldstärkebetrag.

EDLRv für gepulste Bestrahlung (3.19)

Bei sehr hohen Ladungsträgerdichten kommt es auch zur teilweisen Abschirmung (Verdrängung) des externen elektrischen Feldes der Ionisationskammerelektroden, was wegen der dann verminderten Teilchengeschwindigkeiten zu einer Verlängerung der Aufenthaltsdauern und somit zu einer zusätzlichen Erhöhung der Rekombinations-raten und der Ladungssammlungsverluste führen kann. Sättigungsverluste in Ionisati-onskammern müssen daher insbesondere bei der Dosimetrie gepulster Strahlung aus Linearbeschleunigern wegen der hohen zeitlichen und räumlichen Ladungsdichten sowie bei Hoch-LET-Strahlungen beachtet werden.

3.3 Grundzüge der Rekombinationstheorie*

Zur Ableitung der Formeln zur Abschätzung der Rekombinationsverluste betrachtet man (nach [Boag 1987]) Ionisationskammern bestimmter Geometrie, die Parallelplat-tenkammern, Kugelkammern und Zylinderkammern sowie Mischformen wie die Fin-gerhutkammer. Besonderheiten wie die speziellen Feldformungen durch Schutzelek-troden, Guardringe u. ä. werden nicht berücksichtigt. Die entsprechende Theorie ist deshalb nicht imstande, Details konkreter Ionisationskammern mit hoher Genauigkeit zu beschreiben. Sie zeigt vielmehr typische Trends des Sättigungsverhaltens der Ioni-sationskammern auf. Bei der Theorie ist nach kontinuierlichen Strahlungen und ge-pulsten Strahlungen zu unterscheiden. Der Grund für die Unterschiede liegt vor allem in den typischen Dosisleistungen, die bei gepulster Strahlung wegen der kurzen Strahlimpulsdauern deutlich höher sind als bei kontinuierlichen Strahlungsquellen.

Theorie bei kontinuierlicher Bestrahlung: Bei kontinuierlicher Bestrahlung mit konstanter Dosisleistung entsteht eine homogene Verteilung von Ladungsträgern bei-der Vorzeichen im Kammervolumen. Die pro Zeit- und Volumeneinheit erzeugten Ladungen, die Ladungsdichten q der Ionen beider Vorzeichen, sind für positive und negative Ionen gleich groß. Man betrachtet ein schlauchförmiges Teilvolumen (engl.

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64 3 Theorie der Ionisationskammern

tube of force), das durch Feldlinien begrenzt wird und Ionen beider Vorzeichen ent-hält. In einer Parallelplatten-Ionisationskammer ist dieser Schlauch ein von Feldlinien begrenzter Zylinder. Bei anderen Kammergeometrien hat die "tube of force" i. a. keine exakte Zylinderform (wie aus Darstellungsgründen in Fig. 3.3 unterstellt), sondern kann die Form eines Schlauchs mit örtlich wechselnder Querschnittsfläche haben. Bewegen sich die Ionen in Richtung der Elektroden, bleiben sie eingeschlossen durch die Feldlinien innerhalb dieses Kraftschlauchs. Unabhängig von der Dichte der Feldli-nien bleibt dabei die Ionenanzahl bzw. die elektrische Ladung in einem Volumenele-ment - die Ionendichte - innerhalb dieser "tube of force" konstant. Der Grund ist die

mit den Veränderungen der Feldliniendichte verbundene Krafterhöhung, die bei einer Querschnittsverringerung des Kraftschlauchs zu höheren Ionengeschwindigkeiten und somit zu einer größeren Längenausdehnung des Ionenschlauchs führt. Die Zahl der Ionen und somit auch die Zahl der Rekombinationen kann also durch einfache Volu-menintegration über die Ionendichten berechnet werden. Diese Ionendichten sind zwar unabhängig von der jeweiligen Querschnittsfläche, aber selbstverständlich proportio-nal zur Dosisleistung im Kammervolumen.

Fig. 3.3: Geometrie zur Berechnung der Rekombinationsraten bei kontinuierlicher Bestrah-lung: Der innere Zylinder stellt die "tube of force" dar, innerhalb derer die Ionen ge-fangen bleiben, während sie sich in Richtung zu den Elektroden bewegen. Er hat die Querschnittsfläche As an der Stelle s (schraffierte Fläche), die i. a. anders als in der vorliegenden vereinfachten Zeichnung auch mit dem Ort s wechseln kann. Der Zy-linder kann also auch divergent oder mit anders wechselndem Querschnitt versehen sein. Der Elektrodenabstand beträgt d. Die pro Sekunde und Volumeneinheit im be-strahlten Volumen durch Bestrahlung erzeugte Ladungsträgerdichte pro Zeiteinheit beider Vorzeichen ist q. An den Elektroden liegt die Spannung U mit positiver Pola-rität auf der rechten Elektrode.

+U 0 V

d

s

+

As

Page 11: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern 65

Sind q die pro Zeiteinheit und Volumenelement unter den gegebenen Bedingungen erzeugten Ladungsträgerdichten für positive Ionen bzw. negative Ladungsträger, er-hält man die in der "tube of force" zwischen der linken und der rechten Elektrode im Abstand d erzeugten Ladungen pro Zeiteinheit beider Vorzeichen, die Produktionsrate P, aus dem Produkt der Ionenkonzentration q und dem Integral über die - möglicher-weise je nach Geometrie der Ionisationskammer auch mit dem Ort veränderliche - Querschnittsfläche As. Ohne Rekombinationen entspricht diese Erzeugungsrate P ge-rade dem Ionenstrom an den beiden Elektroden.

dsAqPd

0s (3.20)

Um die Rekombinationsverluste zu bestimmen, müssen die Ionenströme an jedem Ort s des Kraftschlauchs berechnet werden. Die durch die Querschnittsfläche As fließen-den negativen Ladungen pro Zeiteinheit (der Ladungsträgerstrom) entstammen den Ionisationsprozessen im linken Teilvolumen zwischen der negativen Elektrode und der Stelle s. Man erhält daher den Ionenstrom negativer Ionen durch die Fläche As (die erzeugten Ladungen pro Zeiteinheit) durch Integration der Ionenkonzentration über das Teilvolumen zwischen der linken Elektrode und der Stelle s.

dsAqIs

0ss (3.21)

Entsprechend berechnet man den Ionenstrom in entgegen gesetzter Richtung, also den Strom positiver Ionen durch die Fläche As, durch Integration über das Teilvolumen zwischen der rechten positiven Elektrode und dem Ort s.

dsAqId

sssd (3.22)

Die Geschwindigkeiten der Ionen sind an der Stelle s (s. Gl. 3.5) bei konstantem Gas-druck proportional zu den Beweglichkeiten k- bzw. k+ und zur lokalen Feldstärke Es.

sEk)s(v sEk)s(v (3.23)

Da die Feldstärke innerhalb des Ionenschlauchs umgekehrt proportional zur lokalen Querschnittsfläche As ist, erhält man für die Driftgeschwindigkeiten der Ionen an der Stelle s die Beziehungen.

sAKk)s(v

sAKk)s(v (3.24)

Page 12: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

66 3 Theorie der Ionisationskammern

Die Proportionalitätskonstante K dieser Beziehung kann man aus dem Zusammenhang von Spannung U und Feldstärke berechnen.

dsA1KdsEU

d

0 s

d

0 (3.25)

Durch Umstellung dieser Beziehung erhält man für die Konstante K:

dsA1UK

d

0 s

(3.26)

und für die Driftgeschwindigkeiten der Ionen zusammen mit (Gln. 3.24):

dsA1A

Uk)s(vd

0 ss

- ds

A1A

Uk )s(vd

0 ss

(3.27)

Die Konzentrationen der Ionenladungen C-(s) und C+(s) an der Stelle s erhält man als Quotienten der Ionenströme (Gl. 3.21 und Gl. 3.22) und dem Produkt aus Quer-schnittsfläche As und Ionengeschwindigkeit (Gl. 3.27).

UAk

dsA1dsAq

)s(vAI)s(C

s

s

0

d

0 ss

s

s (3.28)

UAk

dsA1dsAq

)s(vAI)s(C

s

d

0

d

s ss

s

s (3.29)

Die Anzahl der Rekombinationen pro Sekunde im Volumenelement As ds ist nach (Gl. 3.16) proportional zu den Ladungskonzentrationen der beiden Ionenarten und dem Rekombinationskoeffizienten ion,e für die beteiligten Ionenarten.

dsA)s(C)s(Cdt

)s(dNse,ion (3.30)

Die Gesamtrekombinationsrate im Ionenschlauch R ist das Integral der ortsabhängigen Teilrekombinationsrate (Gl. 3.30) über das Schlauchvolumen.

Page 13: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern 67

d

0se,ion dsA)s(C)s(C

dtdNR (3.31)

Den relativen Rekombinationsverlust im Gesamtvolumen erhält man als Verhältnis der Rekombinationsrate R (Gl. 3.31) und der Ionenproduktionsrate P (Gl. 3.20).

d

0s

d

0se,ion

rec

dsAq

dsA)s(C)s(C

PR

dtdN (3.32)

Diese von der Form der Ionisationskammer unabhängige Formel kann jetzt auf typi-sche Geometrien wie Parallelplattenkammer, Zylinderkammer oder Kugelkammer sowie beliebige Kombinationen der Kammerformen (z. B. Fingerhutkammer, beste-hend aus Zylinderanteil und Kugelkalotte) angewendet werden.

Rekombinationsverluste in der Parallelplattenkammer: In Parallelplattenkammern ist der Querschnitt der "tube of force" unabhängig vom Ort (der gewählten Lage der Querschnittsfläche) und hat den konstanten Wert A (statt As). Durch diese Vereinfa-chung reduzieren sich die Gleichungen. (3.28 und 3.29) für die Ladungskonzentratio-nen zu:

Ukdsq)s(C

Uk)sd(dq)s(C (3.33)

Für die Rekombinationsrate R erhält man deshalb die Beziehung:

d

0se,ion dsA)s(C)s(C

dtdNR (3.34)

Einsetzen der Konzentrationen aus (Gl. 3.33) in (Gl. 3.32) und Ausführen des Integ-rals liefert die Beziehung für den relativen Rekombinationsverlust 2

par .

2

4e,ion2

par Uqd

kk6PR (3.35)

Der Rekombinationsverlust in Parallelplattenkammern ist für kontinuierliche Strah-lungen also umgekehrt proportional zum Quadrat der Sammelspannung U an den Elektroden der Ionisationskammer und hängt zudem von der Ionendichte q, den Io-nenbeweglichkeiten k und dem Rekombinationskoeffizienten des betrachteten Pro-

Page 14: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

68 3 Theorie der Ionisationskammern

zesses ab. Bei gegebener Spannung U vergrößern sich die Rekombinationsverluste zudem mit der 4. Potenz des Plattenabstandes d.

2parpar 1f (3.36)

Diese Differenz von 1 (100%) und der relativen Verlustrate 2 (nach Gl. 3.35) wäre der Wirkungsgrad fpar (efficiency) für die Ionensammlung, wenn die im Folgenden dargestellten Raumladungseffekte vernachlässigt würden. Bei Rekombinationsraten größer als 5% kommt es durch Raumladungseffekte zu einer deutlichen Verdrängung des externen von den Elektroden herrührenden elektrischen Feldes. Dies führt zu einer zusätzlichen Erhöhung der Rekombinationsrate, da die Verluste umgekehrt zum Quad-rat der Feldstärke bzw. Plattenspannung abnehmen. Die Theorie liefert für Sammel-wahrscheinlichkeiten oberhalb von 70% dafür den folgenden Ausdruck.

2par

par

par2par

)f1(10

41f1

f1 (3.37)

Der dimensionslose Parameter hat für dosimetrische Standardbedingungen der Wert = 3,56, so dass für realistische Dosimetriebedingungen der Ausdruck in der eckigen

Klammer mit nur kleinem Fehler durch 1 ersetzt werden kann. Dies ergibt:

par

par2par f1

f1 (3.38)

Nach geringer Umstellung der (Gl. 3.38) erhält man für den Sammlungswirkungsgrad fpar (im Bereich 0,7 < fpar < 1) die Gleichung:

2par

par 11f (3.39)

Die Zahl der erzeugten Ladungen q ist in der Regel nicht experimentell zugänglich, da bei Messungen nur die durch Rekombinationen verminderte Ladung fpar q nachgewie-sen wird. Ersetzt man in (Gl. 3.35) q durch fpar q, erhält man die reduzierte Sammel-Efficiency 2, die aus den nachgewiesenen Ladungen fpar q berechnet wird.

2par

4e2

parpar2

Uqfd

kk6f (3.40)

Aus den Gleichungen (3.39) und (3.40) berechnet man als Zusammenhang dieser Effi-ciency und dem Wirkungsgrad fpar:

Page 15: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

3 Theorie der Ionisationskammern 69

2parpar 1f bzw. 2

parparf1 (3.41)

Teilt man beide Seiten der rechten (Gl. 3.41) durch fpar q und setzt man (Gl. 3.40) für 2 ein, erhält man nach leichter Umstellung die wichtige Beziehung:

2

4e,ion

par Ud

kk6q1

qf1 (3.42)

Rekombinationsverluste in der Zylinderkammer: Die Gleichungen für Zylinder-kammern und Kammern mit sphärischer Geometrie (Kugelkammern) unterscheiden sich durch unterschiedliche Beziehungen für den äquivalenten Elektrodenabstand. Für Zylinderkammern ergibt die Theorie als äquivalenten Elektrodenabstand das Produkt aus Radiendifferenz (a-b, s. Fig. 3.1) und dem folgenden Geometriefaktor kzyl (Gl. 3.43).

2/1

zyl 2

)baln(

babak (3.43)

Für die Rekombinationsverluste erhält man damit:

2

4zyle,ion2

zyl Uqk)ba(

kk6 (3.44)

Und für den Sammlungswirkungsgrad für Zylinderkammern in Analogie zu (Gl. 3.39):

2zyl

zyl 11f (3.45)

Rekombinationsverluste in der Kugelkammer: Für Kugelkammern ist der äquiva-lente Radius das Produkt aus Radiendifferenz (a-b) und einem sphärischen Geometrie-faktor kkug. Der sphärische Geometriefaktor hat den Wert:

2/1

kug ab1

ba

31k (3.46)

Für die Rekombinationsverluste in Kugelkammern erhält man damit:

Page 16: Strahlungsmessung und Dosimetrie || Theorie der Ionisationskammern

70 3 Theorie der Ionisationskammern

2

4kuge,ion2

kug Uqk)ba(

kk6 (3.47)

und für den Sammlungswirkungsgrad für Kugelkammern wieder in Analogie zu (Gl. 3.39):

2kug

kug 11f (3.48)

Die gleichen Umwandlungen wie für (Gl. 3.42) ergibt für Zylinderkammern die For-mel:

2

4zyle,ion

zyl Uk)ba(

kk6q1

qf1 (3.49)

und für Kugelkammern die Formel:

2

4kuge,ion

kug Uk)ba(

kk6q1

qf1 (3.50)

Die Gleichungen (3.42, 3.49 und 3.50) sind also alle von einer ähnlichen Form:

2

4eff

Uconst

q1

qf1 (3.51)

Dabei steht eff für die jeweiligen äquivalenten Elektrodenabstände (d, (a-b) kzyl, (a-b) kkug). Die Größe q steht für die real erzeugten Ladungen im Puls, der Faktor f für den Sättigungsverlust. Das Produkt f q ist also die tatsächlich durch die Kammer ge-sammelte Ladung. Die Konstante "const" enthält alle Informationen über die Beweg-lichkeiten der Ionen, eff die Informationen über die Kammergeometrien, U ist die angelegte Kammerspannung. Gleichung (3.51) ist die Grundlage für die so genannten Jaffé-Diagramme und die daraus abgeleitete Zwei-Spannungs-Methode, mit Hilfe de-rer die Sammlungsverluste in der praktischen Ionisationsdosimetrie näherungsweise experimentell bestimmt werden können (s. Kap. 12.2.5).

Ergebnisse der Rekombinationstheorie bei gepulster Bestrahlung: Zur Ableitung der Rekombinationsformeln für gepulste Strahlenfelder muss zwischen langen und kurzen Strahlpulsen unterschieden werden. Die Bezeichnungen "lang" und "kurz" be-ziehen sich dabei auf die Ionen- und Elektronensammelzeiten in der vorgegebenen Geometrie. Sind die Pulse lang im Vergleich zur Ionensammelzeit, können die For-meln für kontinuierliche Strahlungsfelder verwendet werden. Dabei ist die mittlere

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3 Theorie der Ionisationskammern 71

Ladungsdichte während der Pulse zu verwenden. Sind die Pulse dagegen in der Grö-ßenordnung oder kürzer als die typischen Sammelzeiten, sind andere Verfahren von Bedeutung. Der Grund sind die wegen der zeitlich variablen Ladungsträgerdichten veränderten Rekombinationsverluste.

Typische Pulslängen an Elektronenlinearbeschleunigern liegen bei wenigen s, die Ionensammelzeiten liegen für handelsübliche Ionisationskammern für die klinische Dosimetrie bei 100 s bis zu mehreren Hundert s (s. Beispiel 3.1). In der Regel hat man also den Fall der kurzen Pulse zu betrachten. Da die Dosisleistungen in den kur-

Fig. 3.4: Zeitliche Entwicklung der Ladungsverteilung in einem bestrahlten Gasvolumen einer Ionisationskammer nach einem einzelnen Puls. Oben: Teilvolumen zum Zeitpunkt der Bestrahlung mit homogen verteilten Ionen positiver und negativer Ladungen. Der Überlapp (Ü) ist maximal. Mitte: Durch die angelegte Kammerspannung kommt es zur teilweisen Trennung der Ladungen entgegen gesetzten Vorzeichens. Der Über-lapp ist deutlich verringert, die Rekombinationswahrscheinlichkeit nimmt ab. Unten: Die Teilladungsvolumina sind völlig getrennt. Rekombinationen sind nicht mehr möglich.

+U 0V + -

+U0V + - Ü

+U0V + - Ü

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72 3 Theorie der Ionisationskammern

zen Strahlimpulsen vergleichsweise hoch sind, ist entsprechend auch mit großen Re-kombinationsraten zu rechnen. Für die theoretische Analyse muss außerdem die Be-dingung gelten, dass die Pausenzeiten zwischen den Pulsen größer sind als die typi-schen Ionensammelzeiten, da sonst bei nachfolgenden Pulsen Restladungen vorheriger Pulse vorhanden sind. Typische Puls-Pausenzeiten an modernen Beschleunigern lie-gen in der Größenordnung einiger ms.

Wird ein Gasvolumen einmalig in einem kurzen Puls bestrahlt, führt dies zunächst zu einer uniformen, also gleichmäßigen Verteilung der Ionen im Kammervolumen (Fig. 3.4 oben), also einer räumlich konstanten Ladungsdichte. Durch Anlegen einer exter-nen Spannung an die Ionisationskammer werden die in einem Strahlimpuls erzeugten Ionen räumlich getrennt und zu den entgegengesetzt gepolten Elektroden verschoben. Dadurch kommt es zu einer zeitlich gestaffelten Ladungstrennung im betrachteten Gasvolumen (Fig. 3.4 Mitte und unten). Rekombinationen sind nur solange möglich, wie die Teilladungsvolumina einen Überlapp aufweisen. Diese Überlappzeit hängt von der zur Verfügung stehenden Feldstärke und den Ionenbeweglichkeiten ab. Neben den geometrischen Beziehungen, die denen bei kontinuierlicher Strahlung ähneln, müssen die durch die Trennung der Teilladungen bedingten unterschiedlichen zeitlich abhän-gigen Rekombinationsraten durch Zeitintegration berechnet werden.

Die ausführliche Theorie soll hier aus Platzgründen nicht explizit dargstellt werden. Als Ergebnis der theoretischen Analyse erhält man für gepulste Strahlungen Bezie-hungen der Form:

Ukonst

q1

qf1 (3.52)

die sich im Wesentlichen durch den linearen Spannungsterm im Nenner auf der rech-ten Gleichungsseite von der Beziehung für kontinuierliche Strahlungen (Gl. 3.51) un-terscheiden. Die Konstante "konst" enthält wieder die Informationen über die Kam-mergeometrien und die Ioneneigenschaften. Wie Gleichung (3.51) ist auch die Bezie-hung (3.52) nur näherungsweise dazu geeignet, Sättigungsverluste experimentell zu bestimmen (s. u.). Exakt gültig sind die beiden Gleichungen erst bei nahezu unendlich großer Kammerspannung, eine Forderung, die in realen Geometrien schon wegen der Gasverstärkung illusorisch ist. Ein zweiter Grund für Abweichungen im Fall einer konkreten Ionisationskammer sind für die Funktion eigentlich unwesentliche Abwei-chungen in der Geometrie der Kammern, wie beispielsweise minimale radiale oder longitudinale Verschiebungen der Zentralelektrode. Dadurch kommt es zu erheblichen lokalen Feldstärkeänderungen mit daraus folgenden unterschiedlichen Ionengeschwin-digkeiten, Beweglichkeiten und Rekombinationsverlusten. Eine weitere Kritik für ge-pulste Strahlungen betrifft die vernachlässigten Raumladungen außerhalb des Über-lapps der beiden Teilzonen für positive und negative Ionen, die die Kontraktion des Überlapps behindern und somit zu höheren hier nicht berücksichtigten Rekombinati-

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3 Theorie der Ionisationskammern 73

onsraten führen. Die beiden Formeln (3.51) und (3.52) sind unabhängig von der Strah-lungsart, gelten also gleichermaßen für primäre Elektronen- oder Photonenstrahlun-gen.

Zusammenfassung

Ionisationskammern beruhen auf dem Ladungsnachweis der durch ionisierende Strahlungen in einem Gasvolumen erzeugten Ladungen durch Elektroden, an denen eine Gleichspannung anliegt.

Je nach Bauform spricht man von Flachkammern, Zylinderkammern, Kugelkammern oder Fingerhutkammern.

Ionisationskammern müssen im so genannten Sättigungsbereich be-trieben werden, in dem durch geeignete Kammerspannungen eine weitgehend vollständige Ladungssammlung erreicht wird, ohne durch Gasverstärkungseffekte Zusatzladungen zu erzeugen.

Eine vollständige Ladungssammlung ist nur näherungsweise möglich, da wegen der endlichen Zeitintervalle bis zum Erreichen der Elektro-den die primären Ladungen im Kammervolumen teilweise rekombi-nieren können. Sie gehen dadurch dem Sammlungsprozess verloren.

Man unterscheidet die Anfangsrekombination entlang der Bahnspur eines einzelnen Teilchens und die Volumenrekombination, bei der die Ladungen verschiedener Bahnspuren miteinander wechselwirken.

Anfangsrekombinationen sind unabhängig von der Dosisleistung im Strahlungsfeld; Volumenrekombination hängen wegen der gegenseiti-gen Beeinflussung einzelner Teilchenspuren von der Dosisleistung ab.

Das zentrale Problem bei der Ionisationsdosimetrie ist die Minimie-rung dieser Rekombinationsverluste durch geeignete Bauformen. Da-zu zählen der Einbau von Schutzelektroden und das Vermeiden feld-freier oder feldstärkeverminderter Räume in den Kammervolumina.

Rekombinationsverluste, die nicht vermieden werden können, müssen durch Sättigungsverlust-Faktoren korrigiert werden.

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74 3 Theorie der Ionisationskammern

Aufgaben

1. Welches sind die drei wichtigsten Bauformen von Ionisationskammern? Geben Sie für alle Formen die Ortsabhängigkeit der Feldstärken an.

2. Berechnen Sie die Feldstärkebeträge für die beiden Kammerformen mit Zentral-elektrode und dem Elektrodenradius von 1 mm für a = 2b, a = 10b, und a =100b bei einer Kammerspannung von 500 V jeweils an der Oberfläche der Zentral-elektrode und an der Innenseite des Kammeraußenwand.

3. Was ist die Beweglichkeit von Ladungen in einem Gasvolumen und wie hängt sie von der Teilchenmasse ab?

4. Was passiert mit der Driftgeschwindigkeit von Ladungen bei einer Veränderung des Gasdrucks in einem Gasdetektor?

5. Wenn an einer Ionisationskammer eine Spannung von 300 V angelegt wird, ha-ben die durch Strahlenexposition erzeugten Ladungsträger dann 300 eV Bewe-gungsenergie, wenn sie auf die jeweils entgegengesetzt geladene Kammerelek-trode auftreffen?

6. Erklären Sie die Begriffe Anfangsrekombination und Volumenrekombination.

7. Geben Sie die Abhängigkeiten der Anfangsrekombination und der Volumenre-kombination von der Dosisleistung und der elektrischen Feldstärke für kontinu-ierliche und gepulste Bestrahlungen an.

8. In welchem Bereich einer gleichmäßig bestrahlten Kugelkammer treten die höchsten lokalen Rekombinationsverluste auf?

9. Was versteht man unter dem Sättigungsbereich bei einem Ionisationsdetektor?