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Studien zur Popularmusik - Buch.de€¦ · Wiora 1950, 1959; Haas 1957:88; Kayser 1975:10-11; Bandur 1995:388)3• Das Populare dagegen wird meistens ... Der Begriff musica popular

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Julio Mendivil Ein musikalisches Stück Heimat

Studien zur Popularmusik hrsg. v. Thomas Phleps und Helmut Rösing

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Julio Mendivil (Dr. phil.) ist Vertretungsprofessor für Musikethnologie am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln. Seine Forschungs­schwerpunkte sind Musikarchäologie aus den Anden, Geschichte der Musik­ethnologie sowie Popwarmusik in Deutschland, Peru und Brasilien.

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JULIO ME NO IVIL

Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager

[ transcript]

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Julio Mendivil

Satz: Victor Mendivil Druck: Majuskel Medienprodulction GmbH, Wetzlar

ISBN 978-3-89942-864·3

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

irifo@transcript·verlag.de

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INHALT

Ein Indiojunge aus Peru (Einleitung)

Teil I

Unter fremden Sternen: Das ••zivilisierte Denken•• oder über das westliche Paradigma der (Musik-)

11

Ethnologie und den Fremden als Ethnologen 36

Ein bisschen Spaß muss sein:

Popularmusikforschung und Musikwissenschaft 62 Malinowskis Tod: Multilokalität, Feldforschung im Sessel

und »nicht-teilnehmende Beobachtung" 62 Vom Warenfetischismus zur kulturellen Bedeutung der musikalischen Ware 93

Teil II

Das große Buch des deutschen Schlagers: Klänge lesen

oder die musikalische Darstellung sozial erlernter Bilder 118

Liebe auf Triebe 137

Schlag auf Schlag: Der Schlager als Begriff 137 Ich find' Schlager toll: Der deutsche Schlager als Diskurs 162

Schlager gibt es immer wieder: Der Schlagerdiskurs durch die Zeit 182

Das Land des Lächelns 233 Dort, wo die Blumen blüh'n: Die entbettete Heimat

und die Rebellion der Konservativen 233 So a Stücker! heile Welt oder die Konstruktion von Heimat

mit dem deutschen Schlager 276

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Wir wollen niemals auseinandergeh'n (Schlussworte)

Bibliographie

Im Text genannte audiovisuelle Medien

Liedverzeichnis

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DANKSAGUNG

Meine Forschung und dieses Buch wären nicht möglich gewesen ohne die

wertvolle Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen.

Die Heinrich-Böli-Stiftung finanzierte einen großen Teil meiner Forschung und ermöglichte mir wichtige Kontakte zu Wissenschaftlern

aller Disziplinen. Besonders danken möchte ich Christiane Bornstedt und

Kerstin Simonis, die mich von Seiten der Stiftung betreut haben.

Dem Rechenzentrum der Universität zu Köln verdanke ich die mehr­

malige Wiedergutmachung meiner Tollpatschigkeit im Umgang mit der Datensicherung.

Carl Mahlmann und Susanne Schulte von EMI Music Germany nahmen

mich großzügig in das EMI-Team auf und führten mich in die für mich

unbekannte Welt der Musikindustrie ein. Darüber hinaus scheuten sie

keine Anstrengungen, mich in jeder Hinsicht zu unterstützen. Judith

Coen verdanke ich den Eintritt in die mediale Welt des Schlagers. Geli Bozny-Wongard wies mich stets auf Informationen, CDs und DVDs für

meine Forschung hin. Ihnen allen danke ich für ihre Geduld, für die

erübrigte Zeit und vor allem für ihre Freundschaft.

Patrick Frölicher und Nicola Laure-Al-Samarai haben aus der Distanz

die Arbeit kapitelweise gelesen und mit ihren Anregungen bereichert.

Meine Freunde und Kollegen, Oliver Seibt, Kerstin Klenke und Maurice Menget haben bei Musik und bei Wein unzählige Theorien und

Methoden mit mir diskutiert und dadurch dieses Buch entscheidend

beeinflusst. Besonders möchte ich mich bei Oliver Seibt bedanken, der

das Buch in jeder Phase begleitet und das Manuskript korrigiert und kom­

mentiert hat.

Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Rüdiger Schumacher, danke ich

besonders dafür, dass er mich dezidiert unterstützt hat, obwohl meine

Methoden wie auch mein Schreibstil nicht immer konventionell für die

deutsche Musikethnologie sind.

Jutta Krings danke ich für die mühsame Arbeit bei der Transkription

von Interviews. Worte allein können nicht die Dimension der Dankbarkeit ausdrü­

cken, die ich gegenüber meiner Frau Jana Jahnke fühle. Ohne ihre

Unterstützung, ihr Verständnis, ihre Liebe und ihre fachlichen

Anregungen hätte ich dieses Buch niemals geschrieben.

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Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage »was ist deutsch?« niemals ausstirbt.

Friedrich Nietzsche

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EINLEITUNG

EIN INDIOJUNGE AUS PERU

Während der Sommerferien des Jahres 1998 rief mich ein spanischer Freund an, der wie ich sein Studium in Deutschland mit verschiedenen Nebentätigkeiten finanzierte, und erzählte mir, dass er dieses Mal einen Job im Lager eines Kölner Musikverlages gefunden habe. Die Bezahlung sei gut und die Arbeit leicht, berichtete mein Freund. Seine neue Beschäftigung bestehe allein darin, die Bestellungen aufzuneh­men, ins Lager zu gehen und die entsprechenden Exemplare aus den Bergen unverkaufter Musikbücher und Partituren auszugraben. Bei einer Suche, fügte er hinzu, habe er etwas gefunden, dass mich als Musiker und lange in Deutschland lebenden Peruaner sehr interessie­ren sollte. Als wir uns einige Tage später trafen, durfte ich feststel­len, dass meine Befürchtungen, mein Freund würde mir eine gedruck­te Version von EI Condor pasa auf Deutsch überreichen, unbegründet waren. Was ich erhielt, war die Partitur eines deutschen Liedes, das von einer mir damals unbekannten Sängerin namens Katja Ebstein gesungen und berühmt gemacht worden war. Ein Indiojunge aus Peru' - so der Titel des Liedes - war tatsächlich weit davon entfernt, eine deutsche Fassung des berühmten Stückes von Daniel Alomia Robles zu sein, selbst wenn es, wie das bekannte peruanisehe Stück, auch mit simulierten quenas und einem Quartsprung anfing. Der von den Herausgebern als »Moderato-Beat .. bezeichnete Song war in meinen Augen ein ganz gewöhnlicher deutscher Schlager.

Gelegentlich hatte ich , während ich durch die deutsche Fern­sehlandschaft zappte, einige Musiksendungen mit Schlagern oder volkstümlicher Musik erwischt, hatte aber auch im Verlaufe meiner Sozialisation als ausländischer Student in Deutschland von meinen

Wie Wicke anmerkt, verbindet sich Popmusik »in der Regel mit Namen von Interpreten, während die Autoren in der Öffentlichkeit vielfach nahezu unbe­

kannt sind« (Wicke 1997:429). Dadurch übernimmt der Interpret die Rolle eines Pseudoautors. Da ich die Perspektive der Informanten beibehalte, ordne

ich die Lieder den Interpreten zu. Ausführliche diskographische Angaben zu den genannten Liedern findet der Leser im Liedverzeichnis im Anhang.

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EIN MUSIKALISCHES STÜCK HEIMAT

Kommilitonen gelernt, dass jene Musikrichtung, die das Adjektiv »deutsch« für sich reklamiert, politisch suspekt sei und deswegen nicht dem guten Geschmack »aufgeklärter, liberaler Leute" entsprä­che. Im Gegenteil: Für einen typischen Ausdruck spießbürgerlicher Deutscher gehalten, gilt der Schlager kaum als Musik, noch weniger als Kultur, sondern allein als rein wirtschaftliches Produkt der Musikindustrie, das, um Adernos Urteil zu benutzen, lediglich zer­streute und dekonzentrierte »Unterhaltungshörer" einfangen kann (vgl. Adorno 1992:31 ). Trotz des negativen Bildes, das ich von meiner Umgebung übernommen hatte, oder vielleicht gerade deswegen, sah ich mir flüchtig einige Sendungen an, denn als Musikethnologe war ich daran gewöhnt, mich der Faszination des Fremden hinzugeben. Und diese Aufzeichnungen mit ihren gutgelaunten, in »typische<< Trachten gewandeten und lächelnden Musikanten waren für mich mehr als fremd, geradezu exotisch.

Während der 1980er Jahre ließen mich mein musikethnologisches Interesse an der indianischen Musik meines Landes und meine Sympathie für Mantle Hoods Konzept der bi-musicality selber zum Interpreten andiner Musik in Peru werden und ich arbeitete als Charango-Spieler mit unterschiedlichen Ensembles und Solisten der Region um Ayacucho zusammen. Zu dieser Zeit genoss die andine Musik in Peru als kultureller Ausdruck der Unterdrückten eine große politische Bedeutung, die sogar die musikalische Praxis unpolitischer Interpreten gegenüber der angloamerikanischen Popularmusik2 als nahezu widerständig erscheinen ließ. Das war keineswegs eine parti­kuläre Entwicklung meines Landes. Seit Ende der 1960er Jahre sahen zahlreiche lateinamerikanische, linksorientierte Komponisten und Interpreten Musik als ein Mittel des Widerstandes gegen die kulturim­perialistische Penetration der Region seitens der USA: Die Nueva Canci6n Chilena, die Musica Popular Brasileira oder das Movimiento

de Musica Popular Argentina predigten die Durchführung einer quasi archäologischen Arbeit in der kulturellen Arena des Kontinentes, die alte, traditionelle Musikformen ausgraben sollte, um sie - mit politi-

2 ln der deutschen Musikforschung sind sowohl der Begriff populäre Musik (vgl. Wicke 2001) als auch der Begriff Popularmusik (vgl. Klenke 2000, Seibt 1997) gebräuchlich. Das Adjektiv " populär" besitzt aber einen quantitati­ven Charakter, der nicht immer für das so bezeichnete Lied zutrifft. Aus diesem Grund habe ich mich für den Begriff Popularmusik entschieden und benutze das Adjektiv "populär", wenn ich ein Lied nach einem quantitati­ven Kriterium beurteile.

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EIN INDIOJUNGE AUS PERU

sehen Texten versehen- für den ideologischen Widerstand und für die Konstruktion einer befreiten nationalen Identität nutzbar zu machen (vgl. Schreiner 1982:11 0). Dass eine Musikrichtung wie der Schlager, die als Popularmusik verstanden wird, mit einem nationalen Adjektiv in Verbindung gesetzt wird, war mir deswegen nicht neu. Was mir aber am deutschen Schlager vor allem unbegreiflich blieb, war die Vor­stellung, dass er irgendwie nicht widerständig war.

Aber das war nicht das einzige Hindernis, das meinem Verständnis des Phänomens des deutschen Schlagers im Wege stand. Für Fehlschlüsse sorgte auch die Willkür der sprachlichen Zeichen, denn das Adjektiv "popular" duldet unterschiedliche Lesearten, je nach­dem, wo und von wem es benutzt wird. Das Adjektiv "populär,, im Deutschen besitzt differenziertere semantische Konnotationen als das Substantiv »Volk", obwohl beide Wörter sich angeblich auf die gleiche Kollektivität beziehen. Als abstraktes Subjekt der nationalen Staaten, das die Ungleichheit der Menschen dieser sozialen Formationen ver­birgt, weist das Substantiv »Volk,, so wie seine Derivate ·>Volksdich­tung,, oder "Volksmusik,, in der deutschen Sprache noch heute eine eher positive Bedeutung auf (vgl. Wiora 1950, 1959; Haas 1957:88; Kayser 1975:10-11; Bandur 1995:388)3 • Das Populare dagegen wird meistens mit " Pöbel<< verbunden und deshalb häufig als ein Problem thematisiert, das »die sittlichen Grundlagen des Staates unterminiert<< (Wicke 2001: 13). Diese Differenzierung ist auch im musikwissenschaft­liehen Diskurs zu finden, wo die Volkslyrik häufig durch die loyale Union des Schöpfers mit seiner wohlgesinnten, selbstlosen Muse portraitiert wird, während die Popularmusik nicht selten in der Figur einer Prostituierten dargestellt wird, die auf unverschämte Weise das Mediale - also das Künstliche - für ihr »Schmutziges<< Geschäft benutzt (vgl. Hess 1963:36; Bartetzko 1997:154). Eine weitere Differenz zwi­schen den Begriffen »Volk<< und "popular,, im Deutschen findet sich in einer ihrer geographischen Assoziationen, die das Volk vorzugsweise auf dem Land und das Populäre in der Stadt situiert. Dies impliziert die

3 Das Substantiv .. volk,, ruft im Deutschen allerdings negative Konnotationen hervor, da dieses Wort und seine Derivate von den Nationalsozialisten im Zusammenhang mit der Rassentheoriepolitik stark instrumentalisiert wur­den. Während der Wende ließ sich hingegen eine eher positive Konnotation feststellen, wie die Prominenz des Slogans .. wir sind das Volk<• zeigt. Dennoch lässt sich behaupten, dass .. volk,, als Attribut im wissenschaft­lichen Diskurs über den Schlager in Opposition zu .. populär,, fast immer positiv konnotiert wird.

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EIN MUSIKALISCHES STÜCK HEIMAT

Annahme, dass das Ländliche einen Naturzustand zumindest teilweise bewahrt hat, während das Metropolenleben diesen unwiderruflich ver­loren hat. Im Gegensatz zum Deutschen besitzt das Adjektiv popular im Spanischen eine starke Ambiguität, da sowohl das Adjektiv »popular«

als auch das Substantivpueblo (Volk), auf das es sich bezieht, auf die gleiche etymologische Wurzel des lateinischen populus zurückgehen. Aus diesem Grunde kann sich das "populare« in Lateinamerika sowohl auf die kulturelle Produktion der marginalen sozialen Schichten bezie­hen als auch auf ein als Masse verstandenes Publikum, das Popularität gewährt. Selbst wenn einige lateinamerikanische Musikethnologen eine Trennlinie zwischen traditioneller Musik und Popularmusik zu ziehen versuchen (vgl. Romero 1985; Acosta 1989), erweist es sich seit Jahrzehnten als sehr schwierig, beide Musikbereiche endgültig zu cha­rakterisieren, da ihre territorialen und diskursiven Grenzen sich stän­dig überlappen. Der Begriff musica popular wurde und wird in Peru so diffus verwendet, dass unter diese Kategorie mal höchst traditionelle, ländliche huaylias - Gesänge für das Reinigen der Bewässerungsgräben in den südlichen Anden- mal ein modernes, städtisches "Mischprodukt<< wie eine tecnocumbia fallen. Der politische Inhalt des Wortes war damals, als ich Peru verließ, ebenfalls äußerst ambivalent. Während es für einige doch als Bezeichnung für mediale Musik galt, schrieben die meisten Musiker meines Umfeldes, die ihre Tätigkeit als popular ver­standen, diesem dynamischen Begriff eine klare widerständige Relevanz zu. Popular hieß für sie Gleichberechtigung fordernd, demo­kratisch, antiimperialistisch, identitätsbildend und vor allem politisch (vgl. Mendivil Z001: 1 0) .< Selbst die für viele Peruaner als entfremdet geltende Rockmusik, mit der ich mich von der Generation meiner

4 Diese Ambiguität des Terminus popular erklärt, warum Adornos Thesen (Adorno & Horkheimer 1947; Adorno 1992) in den lateinamerikanischen Cultural Studies sehr früh in Frage gestellt wurden, denn die Reduktion des Volkes seitens des deutschen Soziologen auf ein passives, unkreatives Subjekt, das von der Kulturindustrie herumkommandiert wird, entsprach nicht der lateinamerikanischen Realität, die zahlreiche Beispiele einer erfindungsreichen, aktiven Popularkultur vorzuweisen hatte (vgl. Martin Barbero 1987; Garcia Canclini 1995). Ein ähnliches Unbehagen befiel die Musikethnologen, da durch den oben beschriebenen Gebrauch von musica popular die »Musik des Volkes<• von der Musik der Medien sprachlich nicht eindeutig unterschieden werden konnte. Aus diesem Grunde versuchte der kubanische Musikwissenschaftler Leonardo Acosta ohne Erfolg, den Begriff musica pseudo-popular (Pseudo-Popularmusik) für den Fall Lateinamerikas

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