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Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit Von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. 1994 Kagyü-Dharma Verlag ISBN 3-89233-016-6 Titel der englischen Ausgabe: Progressive Stages of Meditation on Emptiness Khenpo Tsültrim Gyamtso und Shenpen Hookham Bild der englischen Ausgabe Bearbeitet 2004 by David Lehmann

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Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit

Von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. 1994 Kagyü-Dharma Verlag

ISBN 3-89233-016-6

Titel der englischen Ausgabe:

Progressive Stages of Meditation on Emptiness Khenpo Tsültrim Gyamtso und Shenpen Hookham

Bild der englischen Ausgabe

Bearbeitet 2004 by David Lehmann

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Inhalt Vorwort ........................................................................................................................ - 1 - Einführung ................................................................................................................... - 3 -

Drei Stufen in der Entwicklung von Erkenntnis ........................................................ - 3 - Drei Gebiete der Untersuchung ............................................................................... - 3 - Drei Wege des Beseitigens von Zweifel................................................................... - 4 - Drei Texte als Grundlage ......................................................................................... - 4 - Die Wichtigkeit der relativen Wahrheit ..................................................................... - 5 - Absolute Wahrheit.................................................................................................... - 6 - Stufenweise Meditationserfolge über Leerheit ......................................................... - 6 -

Erstes Stadium: Shravaka ........................................................................................... - 8 - Shravaka-Meditation über die Abwesenheit eines Selbst ........................................ - 8 - Traumbeispiel ........................................................................................................ - 11 - Untersuchungsmethoden....................................................................................... - 12 - Fünf Aggregate ...................................................................................................... - 15 - 1. Aggregat der Form............................................................................................. - 15 - 2. Aggregat der Empfindung .................................................................................. - 16 - 3. Aggregat des unterscheidenden Erkennens ...................................................... - 17 - 4. Aggregat der Geistesfaktoren ............................................................................ - 18 - 5. Aggregat der Primärbewusstseinsarten ............................................................. - 21 - Endanalyse ............................................................................................................ - 24 - Ergebnis der Shravaka-Übung............................................................................... - 25 - Meditationsverlauf .................................................................................................. - 26 -

Zweites Stadium: Chittamatra.................................................................................... - 30 - Methode des Chittamatra....................................................................................... - 30 - Traumbeispiel ........................................................................................................ - 33 - Subjektive Natur der Zeit........................................................................................ - 35 - Fehlende Übereinstimmung ................................................................................... - 36 - Lehrmeinung des Chittamatra................................................................................ - 36 - Ergebnis des Chittamatra....................................................................................... - 42 - Untersuchungsmethoden....................................................................................... - 43 - Meditationsverlauf .................................................................................................. - 44 -

Drittes Stadium: Svatantrika-Madhyamaka................................................................ - 46 - Methode des Svatantrika-Madhyamaka................................................................. - 46 - Traumbeispiel ........................................................................................................ - 50 - Untersuchungsmethoden....................................................................................... - 51 - Meditationsverlauf .................................................................................................. - 54 -

Viertes Stadium: Prasangika-Madhyamaka............................................................... - 57 - Methode des Prasangika-Madhyamaka................................................................. - 57 - Traumbeispiel ........................................................................................................ - 58 - Untersuchungsmethoden....................................................................................... - 60 - Grundlage, Weg und Ergebnis............................................................................... - 63 - Meditationsverlauf .................................................................................................. - 63 -

Fünftes Stadium: Madhyamaka Shentong................................................................. - 65 - Methode des Madhyamaka Shentong ................................................................... - 65 - Absicht hinter der Unterweisung des Tathagata-Garbha ....................................... - 68 -

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Grundlage, Weg und Ergebnis............................................................................... - 69 - Lehre des Ratnagotra Vibhaga .............................................................................. - 69 - Lehre des Mahayana-Sutralamkara....................................................................... - 71 - Lehre des Madhyanta-Vibhaga .............................................................................. - 71 -

I. Drei Seinsweisen............................................................................................. - 71 - II. Drei Arten der Leerheit ................................................................................... - 72 - III. Drei Arten der Wesenlosigkeit ....................................................................... - 73 -

Begriffsloser Weisheitsgeist ................................................................................... - 74 - Traumbeispiel ........................................................................................................ - 75 - Untersuchungsmethoden....................................................................................... - 75 - Meditationsverlauf .................................................................................................. - 76 -

Schlusswort ............................................................................................................... - 77 -

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Vorwort Zur englischen Ausgabe: Der Ehrwürdige Abt Khenpo Tsültrim Gyamtso folgte im Jahre 1977 der Bitte S.H. des 16. Karmapa, in Europa zu lehren. Innerhalb der Karma-Kagyü-Schule zählt er zu den Gelehrten mit dem profundesten Wissen und zu den aussergewöhnlich verwirklichten Yogis. Er ist besonders angesehen für die Weite seiner Sicht und die Klarheit seiner Dharma-Auslegungen. Im Jahr 1978 unterrichtete er in Europa die stufenweise Meditationsfolge über Leerheit, und im Laufe der darauf folgenden Jahre lehrte er dieses Thema wiederholte Male bei mehreren Gelegenheiten in verschiedenen Ländern, unter anderem 1985 in Amerika. Er hatte mich im Jahr 1979 gebeten, seine Belehrungen, die er in jenem Jahr den Schülern des Kagyüpa-Institutes für Mahayana-Studien (tib.: Kagyü Tekchen Shedra) in Brüssel gegeben hatte, in ein Buch zu fassen. Da die Umstände mich zwangen, das Buch sehr schnell herzustellen, wurde es in vielerlei Hinsicht unzulänglich. Dennoch wurde es gut aufgenommen und unmittelbar in Französisch und Griechisch übersetzt. Der französische Übersetzer Jerome Edou hatte durch Rücksprachen mit Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche die Möglichkeit, mehrere Punkte im Buch zu erweitern. Diese sind in der zweiten Ausgabe der englischen Version enthalten. Nach mehreren Jahren, die seit der ersten Ausgabe verstrichen sind, hat mir Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche zahlreiche Fragen beantwortet und mich gebeten, die Erklärungen in diese Ausgabe aufzunehmen. Ebenfalls sind mit seiner Erlaubnis einige Punkte enthalten, die in den Diskussionen zwischen mir, meinem Mann Michael Hookham und Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche in Brüssel und Oxford 1984 und 1985 entstanden sind. Der vorliegende Text stellt aus diesen Gründen eine überarbeitete und erweiterte Fassung des ursprünglich transliterierten Seminars dar. Der ganze Text wurde umgeschrieben und anders gegliedert, um an geeigneten Textstellen das neue Material aufnehmen zu können, ohne dabei den Lesefluss zu stören. Ich hoffe, dass es mir in dieser Weise geglückt ist, in einer lesbaren Form alle Punkte der Belehrungen Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoches klar und fehlerfrei wiederzugeben. Zusätzlich wurden auch Diskussionen über übliche westliche Ansichten eingearbeitet. Ich stellte fest, dass einige intelligente und auffassungsfähige Korrekturleser Schwierigkeiten hatten, eine Beziehung zum Thema herzustellen, weil sie sich - vom westlichen Denken geprägt - eine falsche Auffassung von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoches Aussagen bildeten. Da ich erlebt habe, dass derartige Fragestellungen oft an ihn gerichtet werden, habe ich versucht, Missverständnisse zu umgehen, indem ich diese Fragen formuliert habe und aufzeige, in welchem Bezug sie zum Thema stehen. Im allgemeinen stellen die Textstellen, in denen auf die Perspektive westlicher Leute hingewiesen wird, meine eigenen Hinzufügungen dar. Weiter sei erwähnt, dass in dieser Präsentation Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoches viel vom Inhalt des Textes "Enzyklopädie des Wissens" (tib.: Shes bya kun khyab) stammt. Dessen Verfasser, Jamgön Kongtrul, war ein bedeutender Lehrer der Kagyü-

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Schule im späten 19. Jahrhundert. Er ist berühmt für seine Bemühungen, Tendenzen zur sektiererischen Isolierung in den tibetisch-buddhistischen Schulen durch Herausstellung der allen Schulen gemeinsamen Grundlagen und Praktiken entgegenzuwirken.

Shenpen Hookham Oxford, Mai 1986

Zur Übersetzerin: Bevor Shenpen Hookham dem Ehrwürdigen Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche im Jahre 1977 begegnete, hatte sie bereits 10 Jahre lang unter der Leitung von Kagyü-Lamas studiert und praktiziert. Unter seiner Leitung widmete sie sich dann für 9 Jahre dem Studium und wurde Mitglied der Kagyü Tekchen Shedra (die 1978 von ihm gegründet wurde). Von 1979-86 arbeitete sie an der Universität in Oxford an einer Doktorarbeit, die sich mit der Lehre des Tathagata-Garbha, entsprechend der Shentong-Interpretation des Textes "Ratnagotravibhaga", beschäftigt und die als Buch mit dem Titel "The Buddha within erschienen ist. Zur deutschen Übersetzung: Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche hat während der Jahre seit der Herausgabe der englischen Version das Thema dieses Buches anhand von zahlreichen Texten und in gereimten Versen im Detail als auch in zusammengefassten Darstellungen erklärt. Vieles könnte davon in dieses Buch mit einbezogen werden. Doch da die Idee dieses Buches, eine kurze Präsentation der stufenweisen Praktiken und Lehren über shunyatha (Leerheit) beibehalten werden soll, wurden in der deutschen Übersetzung lediglich essentielle Dinge hinzugefügt. Auch wurden einige Textstellen nochmals mit ihm besprochen und mit seiner Erlaubnis sowohl Text- und Worterklärungen als auch Fussnoten hinzugefügt und abgeändert. Darüber hinaus bat er, die Erklärung des klishta-manah (der mit Störfaktoren verblendete Geist) korrekt wiederzugeben und den englischen Text auf Unklarheiten hin nochmals genau durchzuarbeiten. Da von ihm mehrfach betont wurde, dass es detaillierter Angaben bedarf, um erfolgreich über die fünf skandhas (Aggregate) meditieren zu können, wurden diesem Kapitel zusätzliche Erklärungen beigefügt. Während eines längeren Aufenthaltes in Deutschland wurden kritische Textstellen der englischen Fassung mit dem Gelehrten Khenpo Chödrak Tenpel Rinpoche, der am Nalanda-lnstitut für höhere buddhistische Studien in Rumtek/Sikkim unterrichtet, eingehend diskutiert. Seine Erklärungen wurden der deutschen Übersetzung in der Hoffnung einverleibt, zum Verständnis des Themas beizutragen.

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Einführung Der tibetische Begriff tong nyi gom rim (transliteriert: stong nyid sgom rim) bedeutet in etwa: stufenweise Meditationsfolge über Leerheit. Das Ziel einer Reihe meditativer Übungen über einen speziellen Aspekt der Lehren Buddha Shakyamunis liegt darin, zunächst mit gewöhnlichem, nur grob unterscheidendem Verstand Entwicklungsstufen zu durchlaufen, die zunehmend subtiler und geläuterter werden, um schliesslich zu einer vollständigen und vollkommenen Einsicht vorzudringen. Jede Entwicklungsstufe bereitet wiederum den Geist für die nächste vor, indem jeder Schritt durch Kontemplation voll in das eigene Verständnis integriert wird.

Drei Stufen in der Entwicklung von Erkenntnis In der Entwicklung von Erkenntnis ist Meditation als die letzte der drei Entwicklungsstufen anzusehen. Die erste Stufe schliesst das interessierte Zuhören oder das Studieren der buddhistischen Lehre ein; dies sollte mit einem offenen und aufnahmebereiten Geist geschehen, der das, was gehört oder studiert wurde, unverfälscht aufnimmt. Die zweite Stufe umfasst den Verlauf der Reflexion; sorgfältig denkt man über das Vermittelte nach, um die wahre Bedeutung der Aussage zu erhellen. Innerhalb der dritten Phase, und zwar der der Meditation, wird das neu erworbene Wissen in das eigene Sein oder in den Charakter integriert. In gewisser Hinsicht ist man bei der Meditation um eine Umsetzung der erworbenen Erkenntnis bemüht. Diese Erklärung entspricht dem tibetischen Wort gom (sgom), das in westlichen Sprachen meist als "Meditation" übersetzt wird. Sich in Meditation zu üben bedeutet nicht, dass man diese eines Tages vervollkommnet hat und nun imstande ist, eine perfekte Vorführung zu geben. Meditation ist Ausübung mehr im Sinne tatsächlichen Tuns oder Seins im Gegensatz zum blossen Nachdenken.

Drei Gebiete der Untersuchung Das gesamte buddhistische Lehrgebäude gliedert sich in dieses dreifache Training von Lernen, Nachdenken und Meditation. Während sich buddhistische Schriftgelehrte konzentrativ dem Studium der Lehrmeinung Buddhas widmen, erlernen die Logiker konkrete, gültige Methoden der Erkenntnis und der Beweisführung - die Werkzeuge für die Reflexion und für die Kenntnis des Unterschiedes zwischen Wahrem und Falschem. Dieses Bemühen stimmt mit der Stufe der Reflexion überein. Yogis oder Meditierende sind diejenigen, die durch Lernen und Nachdenken das, was den Tatsachen entspricht, festgestellt haben und die nunmehr damit beschäftigt sind, sich in der Kunst des Aufgebens ihrer Verblendung zu üben. Mittels logischer Beweisführung zu bestimmen, was wahr sein muss, ist eine Sache, doch die Welt auch tatsächlich in dieser Weise zu sehen ist eine andere. Wenn man sich in diesen drei Praktiken übt und die eine benutzt, um die andere zu verstärken, werden die Nebel der Verwirrung und die Wolken der Unkenntnis

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schwinden. Kenntnis und Einsicht können dann ungehindert strahlen, wie die Sonne, die den Dunst der Morgendämmerung durchbricht.

Drei Wege des Beseitigens von Zweifel Eine Person, die sich im Stadium des Lernens befindet, sollte Buddha Shakyamunis Aussagen in den Sutras und in den Kommentaren studieren und sich dabei den Erklärungen qualifizierter Lehrer, die die eigenen Zweifel klären können, anvertrauen. Im Stadium der Reflexion wird man weiterhin auf Gebiete stossen, die der Klärung bedürfen; die Anleitung durch einen Lehrer wird noch einmal notwendig sein. Wenn man intensiv über die buddhistische Lehre nachdenkt, können hin und wieder erneute Bedenken entstehen. Dieser Vorgang muss solange wiederholt werden, bis man eine Gewissheit über den Sinn und die Bedeutsamkeit des Gelehrten erlangt hat, was schwierig zu erreichen sein kann. Mit einer derartigen Sicherheit oder Vertrauen wird man imstande sein, mit dem Meditieren zu beginnen. Die Meditation dient der Einübung von Sichtweisen. Treten dabei erneut Zweifel und Verunsicherungen auf, sollte man sich wiederum dem Vorgang des Lernens und Nachdenkens zuwenden. Sobald alle Bedenken zerstreut sind, erfährt man unmittelbar die wahre Bedeutung des Gelehrten, so dass sich die eigene Meditation stabilisiert - frei von Unschlüssigkeit und Verunsicherung. Obwohl sich die Menschen darin unterscheiden, wieviel Zeit sie für jedes Studium benötigen, so braucht jeder alle Stadien des Prozesses, um Befreiung zu erlangen. Meditation, ohne je den Unterweisungen aufmerksam gefolgt zu sein und ohne tief darüber nachgedacht zu haben, ist blind. Studieren und Nachdenken ohne Meditation gleicht dem Zustand, Augen, aber keine Beine zu besitzen.

Drei Texte als Grundlage Jeder Entwicklungsstufe liegen buddhistische Schriften zugrunde. Der tibetische Text "Juwelenschmuck der Befreiung" (tib.: Drags po thar gyan) von Gampopa (1079-1153, Gründer der monastischen Tradition der Kagyü.pa) erklärt zum Beispiel die Wege und Stufen eines Bodhisattvas (skr., bodhi, Erleuchtung, sattva, Wesen) entsprechend den Mahayana-Sutras. Dieser Text, der von zahllosen Aspekten der relativen Wahrheit oder Wirklichkeit berichtet, wie karma (skr.: Handlung), Unbeständigkeit, Liebe und Mitgefühl, entspricht dem Stadium des Studierens. Anhand dieses Textes kann man durch systematisches Nachdenken eine stufenweise Meditationsfolge durchführen. So kann man durch das Studieren dieses Textes über den relativen Wahrheitsgehalt der Dinge ernsthaft nachdenken und darüber meditieren. Der von Chandrakirti (8. Jh.), einem bedeutenden Vertreter der "Philosophie des Mittleren Weges" verfasste Text "Madhyamakavatara" (tib.:dBu ma la 'jug pa, Eintritt in den Mittleren Weg) beinhaltet eine logische Darstellung über die uneingeschränkt gültige Wahrheit der Leerheit. Nach dem Studium dieses Textes kann man über die absolute Wahrheit nachdenken und darüber meditieren. Dieses Buch "Stufenweise Meditationsfolge über Leerheit" ist mit der Absicht geschrieben worden, die Entwicklung der absoluten Leerheitserkenntnis des Meditierenden zu fördern.

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Der Text "Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra" (auch unter dem Sanskrit-Titel "Ratnagotravibhaga" bekannt; tib.: 'rGyudbla. ma'. Höchste Kontinuität) geht zurück auf Maitreya (skr., "der Liebevolle", der fünfte, zukünftige Buddha dieses Zeitalters) . Er führt den Meditierenden in die Lehre über tathagata-garbha (skr.. Buddhanatur) ein, die sich mit der Klaren-Licht-Natur des Geistes befasst. Dieser Text unterstreicht, dass man sein eigenes wahres Wesen unmittelbar erfahren haben muss, um die letztendliche Verwirklichung eines Buddhas (skr., der Erwachte) zu erreichen, ohne dass sich der mit Begriffen operierende Verstand darum bemüht, von der Verblendung frei zu kommen oder einen erleuchteten Zustand herbeizuführen. Dieser Text lehrt, dass man die vollständige Befreiung solange noch nicht erreicht hat, wie das volle Ausmass der Kräfte des "erleuchteten Geistes" noch nicht Bestandteil der eigenen Erfahrung geworden ist. Dieses ist eine subtilere Unterweisung als die, die lediglich aufzeigt, dass alle Phänomene leer von einer Eigennatur sind. Sie sollte im Anschluss an die stufenweise Meditationsfolge über Leerheit, die in diesem Buch in groben Zügen dargestellt wird, studiert und angewandt werden. Die Lehre über Tathagata-Garbha, die im Text "Mahayana-Uttara-Tantra-Shastra" im Überblick wiedergegeben wird, bildet die Grundlage sowohl für das Verstehen als auch für die Ausübung der Lehren des Vajrayana (mit "Vajra" ist etwas gemeint, das nicht zerstörbar ist; "Vajra-Fahrzeug", eine Schulrichtung des Buddhismus, die sich innerhalb des Mahayana-Buddhismus entwickelte) und insbesondere der Mahamudra-Lehre (wörtl.: "Grosses Siegel", eine der höchsten Lehren des Vajrayana). Diese Unterweisungen setzen voraus, dass der Praktizierende die vielfältigen Aspekte der relativen Wahrheit und die leere Natur aller Erscheinungen (skr.: dharma, tib.: chos) bereits verstanden hat und somit bereit ist, in der Klaren-Licht-Natur des Geistes, einfach wie sie ist, hier und jetzt, entspannt zu verweilen, wobei er alle Erlebnisse benutzt, um das gewonnene Verständnis mehr und mehr zu erhellen.

Die Wichtigkeit der relativen Wahrheit (skr.: samvrtisatya, tib.: km rdzob bdenpa) Das zuvor Erklärte macht deutlich, dass man als Vorbereitung zur stufenweisen Meditationsfolge über Leerheit den "Juwelenschmuck der Befreiung" oder einen ähnlichen Text studieren, darüber gründlich nachdenken und meditieren sollte. Ohne die vielzähligen Aspekte der relativen Wahrheit oder Wirklichkeit richtig begriffen zu haben, kann Meditation über Leerheit irreführend und sogar gefährlich sein. Obwohl Verständnis schnell entstehen mag, baut sich Stabilität jedoch nur langsam auf. Die relative Wahrheit verhilft uns zu einer Sichtweise in Bezug auf das Leben und die Welt. Während diese mit unseren gewöhnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit übereinstimmt, ist sie uns für das Erlangen des vollkommen erwachten Zustandes, der jenseits von diesen liegt, dienlich. Die relative Wahrheit bildet die Grundlage der gesamten Unterweisungen Buddhas, da sie ein richtiges Verständnis darüber vermittelt, was aufzugeben und was zu kultivieren ist. Indem man negative Handlungen aufgibt und heilsame kultiviert, schafft man die notwendigen Bedingungen, damit Studieren, Reflektieren und Meditieren fruchtbar

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werden. Auf diese Art und Weise, nämlich durch Beachten der relativen Wahrheit, kann die höchste, uneingeschränkt gültige Wahrheit oder Wirklichkeit verwirklicht werden.

Absolute Wahrheit (skr.: paramarthasatya, tib.: don dam bdenpa) Im Buddhismus bedeutet "absolute Wahrheit" oder "absolute Wirklichkeit" den Schlusspunkt der eigenen Analyse, in anderen Worten: das grundlegendste Element der Existenz oder Erfahrung. Als Beispiel mag ein Tontopf dienen. Ein Töpfer würde ihn absolut gesehen als Ton bezeichnen, aber ein Wissenschaftler als eine Anhäufung von Atomen. Präziser jedoch würde er sagen, selbst die Atome bestünden aus subatomaren Teilchen, die sich im Raum bewegen. Doch auch dies wäre lediglich eine grobe Annäherung an die Wirklichkeit. Heutzutage können Atomteilchen nicht mehr präzise festgelegt werden. Sie können nicht als dies oder das, als hier oder dort bestimmt werden; man muss sie in Wahrscheinlichkeitsbegriffen ausdrücken. Zweifellos werden sie von Wissenschaftlern im Laufe der Zeit wieder anders benannt werden. Auf die gleiche Art stellt sich die absolute Wahrheit den Praktizierenden in den verschiedenen Stadien ihrer Übung jeweils anders dar. Genauso wie sich die absolute Wahrheit in der Erfahrung eines individuell Praktizierenden offenbart, geschieht dies historisch in der Weise, dass die buddhistischen Schriften als eine Abfolge zunehmend subtilerer Lehren auftreten.

Stufenweise Meditationserfolge über Leerheit In diesem Buch werden die Schlüsselstadien buddhistischer Erfahrung über Leerheitserkenntnis in fünf Stufen eingeteilt:

1. Shravaka-Stadium 2. Chittamatra-Stadium 3. Svatantrika-Madhyamaka-Stadium 4. Prasangika-Madhyamaka-Stadium 5. Shentong-Madhyamaka-Stadium

Diese Stadien werden zwar nach den buddhistischen philosophischen Schulen, die diese formulierten, benannt, aber tatsächlich repräsentieren sie die Entwicklungsstufen eines Individuums im Verstehen der Leerheit. Wir sind hier nicht daran interessiert, in scholastische und philosophische Debatten darüber verwickelt zu werden, wie genau eine jede Schule ihr System im Detail ausgearbeitet hat. Wesentlich ist, dass diese Stadien fünf unmittelbar zu erkennende Etappen darstellen, die - ausgehend von einer groben Einsicht - zu zunehmend subtileren Verständnisebenen fortschreiten. Im Allgemeinen sollte einem Praktizierenden eine Belehrung gegeben werden, die seiner Intelligenz und seiner Verständnisebene entspricht. Mit Ausnahme von einzelnen, ausgesprochen begabten Praktizierenden, können die meisten Menschen nicht sofort

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die äusserst subtilen und tiefgründigen Belehrungen begreifen und sich darin schulen. Stattdessen müssen sie durch eine Serie von Stufen fortschreiten und mit den grundlegendsten Lehren anfangen, genauso wie man mit der ersten Schulklasse beginnt und sich von dieser ausgehend stufenweise emporarbeitet. Am Beispiel eines komplexen technischen Gegenstandes kann man sich klarmachen, dass niemand erwarten würde, die von Experten diskutierten Feinheiten verstehen zu können, ohne die Grundprinzipien studiert zu haben. Ebenso ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Person zu einem genauen Verständnis der äusserst tiefgründigen Unterweisungen Buddhas gelangen kann, ohne durch die fortschreitenden Stufen der Belehrungen gegangen zu sein, die zu dieser Erkenntnis hinführen. Man kann sich die stufenweise Meditationsfolge über Leerheit als Stadien im Prozess der Gewinnung von Gold aus Erz vorstellen. Am Ausgangspunkt des Prozesses steht zuerst eine sehr grobe Bearbeitung, die nichtsdestoweniger sehr effektiv ist, woraufhin zunehmend feinere folgen, bis schliesslich das vollständig gereinigte Gold selbst zum Vorschein kommt. Das Gold wird hier mit der absoluten Wahrheit der Leerheit verglichen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Meditationsstufen eine Weiterentwicklung vom Groben zum Feinen darstellen, ist das einer Person, die angewiesen wird, eine auf einem Berg liegende Nadel zu finden. Als erstes benötigt sie, um die ungefähre Richtung zu finden, in der der Berg liegt, eine Karte mit einem grossen Massstab. Sobald sie den Berg gefunden hat, muss sie sich einer Karte mit kleinerem Massstab bedienen, um die exakte Stelle der Nadel entdecken zu können. Diese kann zum Beispiel in der Nähe eines Felsens liegen. Sobald sich die Person dorthin begibt, kann ihr der richtige Baum gezeigt werden, unter dem sich die Nadel befindet. Unter dem Baum angelangt, muss ihr die genaue Stelle gezeigt werden. Schliesslich muss die Person jedoch mit ihren eigenen Augen die Nadel entdecken. Durch die anfänglichen Stufen der Meditationsfolge wird man in ähnlicher Weise immer näher an die wahre Erkenntnis der Leerheit herangeführt, doch letztendlich ist es die eigene direkte Wahrnehmung, die die Leerheit schaut.

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Erstes Stadium: Shravaka

Shravaka-Meditation über die Abwesenheit eines Selbst »Die Sichtweise der Vaibhashika (wörtl.: derjenigen, die hauptsächlich der Erklärung des "Mahavibhasha" folgender Partikularisten): Es kommt durch Zerstörung beziehungsweise gedankliche Analyse nicht mehr dazu, dass etwas als solches erfasst wird, (und zwar als) grobe Entitäten und Bewusstseinskontinua; sie sind die konventionelle Wahrheit, Teilloses ist die absolute Wahrheit.« »Die Sichtweise der Sautrantika (wörtl.: derjenigen, die sich hauptsächlich auf die Sutras, die Lehrreden Buddhas stützen): Spezifisch Charakterisiertes, das fähig ist, absolut eine Funktion zu erfüllen, und allgemein Charakterisiertes, das dazu nicht fähig ist.« Man sollte nicht annehmen, dass die erste Meditationsfolge, die als Shravaka (skr., Hörer)-Stadium bezeichnet wird, weil sie den Kern des Shravaka-Fahrzeuges ausmacht, für die anderen buddhistischen Fahrzeuge unwichtig sei: Milarepa (1052-1135), der grosse Vajrayana-Meister Tibets, lehrte einem seiner Schüler, einem einfachen Schafhirten, die Shravaka-Meditiation über das Nichtvorhandensein eines Selbst (skr.: anatman, tib.: bdag med), nachdem dieser Zeichen einer grossen, natürlichen meditativen Begabung gezeigt hatte. Es wird berichtet, dass er angewiesen wurde, sich auf eine kleine Buddhastatue zu konzentrieren. Für die Dauer von einer Woche gelangte er, ohne den Zeitverlauf zu bemerken, in meditative Versenkung (skr.: samadhi). Als er aus dem Samadhi herauskam, kam es ihm vor, als ob er nur ein paar Sekunden lang meditiert hätte. Im ersten Stadium bedenkt man noch nicht die Leerheit aller Phänomene, sondern nur die Leerheit oder das Fehlen eines "Selbst" im Individuum. Das Wesentliche bei dieser Betrachtung liegt im Fixiertsein auf die Idee, dass man ein eigenständiges, dauerhaftes, unabhängiges, wahrhaft existierendes Selbst habe, das die Hauptursache für die gesamten eigenen Leidformen ist. Man braucht nicht eine ausdrücklich oder klar formulierte Vorstellung von einem "Selbst", um sich so zu verhalten, als hätte man eins. "Selbst" bedeutet hier das implizierte Selbst, das man auch als inhärent im Verhalten eines Tieres erkennen kann. Tiere identifizieren sich genauso wie wir mit ihrem Körper und ihrem Bewusstsein und sind ständig auf der Suche nach körperlichem und geistigem Wohlergehen, indem sie versuchen. Unangenehmes zu meiden und Schmerz zu lindem. Sowohl Tiere als auch Menschen handeln auf eine Weise, als ob sie ein Selbst hätten,

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das es zu beschützen und zu bewahren gelte; dieses Verhalten betrachtet man sowohl als automatisch und instinktiv als auch als normal. Sobald Schmerz oder Unbehagen entstehen, reagiert man automatisch mit dem Versuch, sie zu beseitigen. Sie gehören nicht zum Selbst, und die stillschweigende Folgerung daraus ist, dass das Selbst auf ganz natürliche Weise glücklich wäre, wenn aller Schmerz und alles Leid beseitigt wären. Wenn wir jedoch versuchen, unser Verhalten in Bezug auf dieses "Selbst" zu analysieren, entdecken wir seltsamerweise, wie sehr wir uns im Unklaren darüber befinden, um was es sich bei diesem "Selbst" nun wirklich handelt. Von nicht-buddhistischen Denkern wurde das Selbst verschiedentlich definiert als etwas, das sich im Gehirn, Blut oder Herzen befindet, das Eigenschaften wie eine wahre oder transzendentale Existenz innerhalb oder ausserhalb des Geistes oder des Körpers besitzt. Ein derartiges Selbst muss, um überhaupt irgendeinen Sinn zu haben, dauerhaft sein, denn wenn es in jedem Augenblick zugrunde gehen würde, so würde man sich nicht darum kümmern, was ihm im nächsten Augenblick zustossen könnte; es wäre dann nicht mehr das eigene Selbst. Weiterhin muss es sich um etwas Einzelnes handeln, denn warum sollte man sich mehr Sorgen über das eigene Selbst als über das von irgendjemand anderem machen, wenn man keine separate Identität hätte? Ausserdem muss es unabhängig sein, denn sonst würde kein Sinn in der Aussage liegen wie: »Ich habe dies getan« oder »Ich besitze jenes«. Ohne eine unabhängige Existenz gäbe es niemanden, der die Handlungen und Erfahrungen als seine eigenen beanspruchen würde. Wir alle reagieren so, als ob wir ein dauerhaftes, separates und unabhängiges Selbst hätten und es unsere Hauptbeschäftigung wäre, es zu beschützen und zu pflegen. Es handelt sich hierbei um eine gedankenlose Gewohnheit, die die meisten Menschen höchstwahrscheinlich nicht in Frage stellen oder zu erklären suchen. So ist all unser Leid mit dieser Hauptbeschäftigung verbunden. Unser gesamter Gewinn und Verlust, unsere Freude und unser Schmerz entstehen aufgrund unserer derart engen Identifikation mit diesem vagen Gefühl von Selbstheit, das wir haben. Wir sind so sehr gefühlsmässig dann verwickelt und mit diesem Selbst verbunden, dass wir es als selbstverständlich vorhanden annehmen. Der Meditierende spekuliert nicht über dieses "Selbst". Er hat keine Theorien darüber, ob es existiert oder nicht. Er übt sich stattdessen leidenschaftslos darin zu beobachten, wie sich sein Geist an die Idee von "Selbst" und "mein" klammert und wie sich all sein Leid aus dieser Anhaftung heraus entwickelt. Gleichzeitig forscht er sorgfältig nach diesem "Selbst". Er versucht, es von all seinen anderen Erfahrungen zu isolieren. Er will es finden und identifizieren, da es das Schuldige an all seinem Leid ist. Die Ironie ist, dass er nichts vorfindet, das dem "Selbst" entspricht, wie intensiv auch immer er danach sucht. Westliche Menschen verwechseln oft "Selbst" in diesem Zusammenhang mit Person, Ego oder Persönlichkeit. Sie argumentieren, die Person, Persönlichkeit oder das Ego hielten sie nicht für eine dauerhafte, separate und unabhängige Wesenheit. Dieses Argument geht am wesentlichen Punkt vorbei. Die Person, Persönlichkeit oder das Ego als solches stellt nicht das Problem dar. Man kann sie durchaus rational auf ihre

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einzelnen Bestandteile hin untersuchen. Hierzu gibt es in der westlichen Tradition alle möglichen Verfahren. Die buddhistische Methode bedient sich der fünf skandhas (skr., Aggregate), der achtzehn dhatus (skr., Bestandteile) oder der zwölf ayatanas (skr., Tore oder Erlebnisgrundlagen der Wahrnehmung). Es geht nicht darum, ob die Person, Persönlichkeit oder das Ego eine wandelbare, zusammengesetzte Kette von Vorkommnissen ist, die durch zahlreiche, komplexe Faktoren bedingt wird, oder nicht. Jegliche verstandesmässige Analyse zeigt uns, dass dem so ist. Die Frage ist eher die, warum wir uns gefühlsmässig so verhalten, als sei unser Selbst dauerhaft, separat und unabhängig. Wenn wir folglich nach dem Selbst Ausschau halten, so ist es sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass es sich hier um eine emotionale Reaktion handelt, die wir untersuchen. Wenn man auf Ereignisse reagiert, als hätte man ein Selbst, sich z.B. verletzt oder angegriffen fühlt, dann sollte man sich fragen, wer und was sich verletzt oder angegriffen fühlt. Sollten Sie nicht davon überzeugt sein, dass Sie sich emotional so verhalten, als ob Sie ein dauerhaftes, eigenständiges und unabhängiges Selbst hätten, dann ist es wichtig, sich mit dieser Frage erst einmal auseinanderzusetzen, bevor Sie dazu übergehen, sich mit der Doktrin des Nicht-Selbst zu befassen. Denken Sie gründlich über Schmerz und Leid nach und fragen Sie sich selbst, wer oder was es ist, das da leidet. Wer hat Angst vor dem, was geschehen wird; wer fühlt sich schlecht wegen dem, was geschah; warum erscheint uns der Tod als eine derartige Drohung, wenn die Gegenwart mit jedem Moment entschwindet und kaum die Möglichkeit hatte, in Erscheinung zu treten? Sie werden feststellen müssen, dass Ihr Denken voller Widersprüche, Unbeständigkeiten und unlösbarer Paradoxa ist. Das ist normal. Jeder (ausgenommen vielleicht der Geistesgestörte) hat im Sinne des gesunden Menschenverstandes einen Begriff davon, was oder wer er ist. Dies befähigt einen (mehr oder weniger), wie ein normales menschliches Wesen zu funktionieren. Trotzdem kann der Meditierende, wenn er seine Konzentration auf dieses "Selbst" richtet, es nicht finden. Nach und nach, ganz allmählich dämmert es ihm, dass er es aus dem Grunde nicht vorfinden kann, weil es nicht existiert und niemals existierte. Es gibt einen gewaltigen emotionalen Widerstand gegen diese Erkenntnis. Deshalb dauert es lange Zeit, bis man ihn überwunden hat, aber wenn es einmal dazu gekommen ist, dann tritt unmittelbar ein Befreitsein von Verkrampfung und Leiden ein. Die Ursache dafür ist verschwunden. Sie wurde durch geistiges Haften an etwas hervorgerufen, das nicht existiert. Der Widerstand gegen diese Erkenntnis nimmt manchmal die Form von Irritation an. Man hat sich daran gewöhnt, die Dinge vernunftgemäss erklären zu können. Da das Erlebnis vom "Selbst" so direkt und in gewisser Hinsicht so offensichtlich ist, scheint es keinen Grund zu geben, es in das eigene rationale Erklären der Dinge mit einzuschliessen. Wenn man jedoch den Versuch unternimmt, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wird die ganze Sache so irritierend subjektiv, dass es den Anschein hat, als ob man zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis vorstossen könnte. Statt den Geist im tatsächlichen Erleben dieses Paradoxons ruhen zu lassen, wird man über die Unfähigkeit, keine stichhaltige Erklärung zu finden für das, was das "Selbst" ist, frustriert und irritiert. Es ist wichtig, davon Kenntnis zu nehmen und sich dessen bewusst

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zu sein. Sollte man jedoch versuchen, diese Irritation einfach aus dem eigenen Geist zu verdrängen, wird man niemals eine tiefe Erkenntnis vom Nichtvorhandensein des "Selbst" haben. Das Festhalten an der Vorstellung von einem "Selbst" ist vergleichbar damit, dass man sich der Vorstellung hingibt, ein Stück Seil im Dunkeln sei eine wirklich vorhandene Schlange. Sobald das Licht angeschaltet wird und man sieht, dass dort keine Schlange ist, verschwinden Furcht und Leiden, die dadurch entstanden, dass man die Schlange für wirklich hielt. Sie existierte von Anfang an nicht, und somit war es ganz einfach das Haften an dieser Vorstellung, die Leid hervorrief, und nichts anderes. Die Weisheit, die das Nicht-Selbst erkennt, gleicht dem enthüllenden Licht, durch das die Schlange als ein Stück Tau identifiziert werden kann. Um dem eigenen Leid endlich ein Ende zu setzen, gilt es nichts Wichtigeres zu erkennen als die Tatsache, dass man Körper und Geist gedankenlos Attribute zumisst, die sie einfach nicht haben, wenn man sich so herhält, als ob Körper und Geist ein dauerhaftes, separates und unabhängiges Selbst darstellten. Im gesamten Strom psychischer und physischer Erscheinungen, die unsere Erfahrung von Körper und Geist ausmachen, gibt es nichts, das die Eigenschaft einer getrennten, unabhängigen, dauerhaften Existenz hat. Alles befindet sich im Wandel, ist Son einem Augenblick zum anderen vergänglich, und insofern kann nichts davon "Selbst" sein. Es ist unser eigenes, zähes Bemühen, das die Veränderlichkeit der körperlichen und geistigen Aggregate so behandelt, als ob es anders wäre, und nur aus diesem Grund werden sie zu einem unaufhörlichen Strom von Leid (skr.: duhkha). Die Erkenntnis, dass das " Selbst" nicht existiert, ist der erste Schritt, die leere Natur aller Erscheinungen zu verstehen. Aus diesem Grunde behandelt die erste Lehrrede Buddhas die "Drei Kennzeichen des Daseins", nämlich Leid, Vergänglichkeit und Nicht-Selbst. Keine der ; physischen oder psychischen Komponenten eines Individuums ist das "Selbst", da sie vergänglich sind, und was vergänglich ist, bedingt Leid.

Traumbeispiel Buddha benutzte oft, um seine Lehre über Leerheit zu veranschaulichen, das Beispiel vom Traum. Diese Illustration kann mit zunehmender Verfeinerung in jedem Stadium der stufenweisen Meditationsfolge über Leerheit angewandt werden. Sie dient als ein gutes Beispiel um aufzuzeigen, wie die beiden Wahrheiten oder Wirklichkeiten - die konventionelle und die absolute - ineinandergreifen. Im Traum besteht das Gefühl, eine Person mit Körper und Geist zu sein, die in einer Welt von Dingen lebt, von denen man sich - je nachdem, wie sie auftreten -angezogen oder abgestossen fühlt. Solange man nicht erkennt, dass es sich um einen Traum handelt, erscheinen alle diese Dinge als wirklich, und man empfindet darüber Freude oder Leid. Beispielsweise mag man träumen, von einem Tiger gefressen oder von Feuer verbrannt zu werden. In der absolut gültigen Wirklichkeit gibt es niemanden, der aufgefressen oder verbrannt wird, aber noch unter dem Einfluss des Traumes mag man wirklich leiden, so als ob es sich zugetragen hätte. Dieses Leiden entsteht einfach durch die Tatsache, dass man sich selbst mit der Person im Traum identifiziert. Sobald man sich dessen

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bewusst wird, dass es nur ein Traum ist, so ist man frei zu denken: »Es macht nichts, es ist nur ein Traum - in Wirklichkeit geschieht mir nichts«, selbst dann, wenn der Traum nicht aufhört. Die Person, die im Traum litt, entstand lediglich als eine vorübergehende Erscheinung; sie war von der Bedingung abhängig, sich des Traumes nicht gewahr zu sein. Sie besass kein separates, unabhängiges, dauerhaftes Selbst. Intellektuelles Verstehen ist jedoch nicht ausreichend, um sich von der stark verwurzelten Gewohnheit freizumachen, sich an den eigenen Geist und Körper als ein getrenntes, unabhängiges und dauerhaftes Selbst zu klammem. Man muss den Strom des eigenen geistigen und körperlichen Erlebens wiederholte Male untersuchen und über das Vorgefundene oder Nichtaufzufindende nachdenken, bis man vollständig Überzeugung und Sicherheit erlangt hat. Ist man von dem, was zutrifft, überzeugt, dann muss man meditieren, indem man den Geist in diesem neu entdeckten Wissen verweilen lässt, bis schliesslich die von gewohnheitsmässigen Gedankenmustem verursachten Schleier aufgelöst sind. An diesem Punkt entsteht die unmittelbare, unmissverständliche Erkenntnis vom Nichtvorhandensein des Selbst, und es ist diese echte Erfahrung, die tatsächlich vom Leiden befreit.

Untersuchungsmethoden Instinktiv identifizieren wir uns mit unserem Körper und unserem Geist. Obwohl unsere ganze Vorstellung von diesem "Selbst" und von "mein" äusserst vage und verwirrt ist, haften wir emotional sehr stark an diesen an. Sind wir krank, so sagen wir beispielsweise: »Ich bin krank«, und dennoch äussern wir im nächsten Atemzug: »Mir tut nämlich der Kopf weh«. Aber was meinen wir damit? Wollen wir damit sagen, dass das "Ich" eine Sache ist und der Kopf eine andere? Oder sind wir der Meinung, dass der Kopf das "Ich" ist? Mit diesen sehr gängigen, gewöhnlichen Vorstellungen vom "Ich", und zwar vom "Ich", dem Handelnden, oder vom "Ich", dem Erlebenden, sollte man seine Untersuchung beginnen. Stellen Sie sich beispielsweise vor, dass Ihnen Gliedmassen oder Organe entfernt oder transplantiert würden. Wenn man das Herz eines anderen verpflanzt bekäme, würde dieser Eingriff das "Ich" wirklich beeinflussen? Natürlich denken wir, dass das "Ich" (der Erlebende oder der Handelnde) nun ein neues Herz erhalten hak Dabei stellt man sich aber nicht vor, dass in das "Ich" als solches ein neues Herz transplantiert wurde. Wie weit lässt sich dieser Gedankenprozess fortführen? Bei der Betrachtung der Körperteile und Organe wird ziemlich klar, dass das "Ich" eine separate Entität ist. Doch wie steht es mit dem Gehirn? Angenommen, das Gehirn eines anderen Menschen würde einem in den Schädel verpflanzt werden. Würde dies das "Ich" beeinträchtigen? Man müsste sich fragen, ob "Ich" (der Erlebende oder der Handelnde) tatsächlich das Gehirn eines anderen gebrauchen und doch noch dieselbe Person bleiben könnte. Man müsste sich fragen, ob sich einige der Handlungen, die vom jetzigen "Ich" bestimmt werden, von den Handlungen des "Ichs" der Person, der das Gehirn entnommen wurde, unterscheiden liessen. Selbstverständlich kann man das Ergebnis einer derartigen Transplantation nicht wissen, falls sie überhaupt jemals vollzogen werden kann; doch unwillkürlich spüren wir, wie wichtig es ist, zu wissen, ob das "Ich" hierdurch beeinflusst werden könnte oder nicht.

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Obwohl dies so wichtig erscheint, befinden wir uns immer noch im Unklaren darüber, was dieses "Ich" sein könnte. Man mag sich fragen, ob es vielleicht nur ein kleiner, lebenswichtiger Teil des Gehirns ist. Wenn man jedoch hierüber nachdenkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass man emotional nicht an der Idee eines winzigen Mechanismus in den eigenen grauen Gehirnzellen haftet. Wenn diese Zellgruppe für all unser emotionales Anhaften verantwortlich wäre, dann wäre es doch leicht, sie zu entfernen und mit ihr alles Leiden. Weder brauchte das Dasein einen bestimmten Sinn, noch hätte das menschliche Leben einen besonderen Wert. Es gäbe keine Notwendigkeit, sich mit einem Dasein voll Leiden und Frustration herumzuplagen. Eine derartige Anschauung erscheint uns jedoch als gänzlich nihilistisch und erniedrigend. Das "Ich" fühlt, dass es eine grössere Bedeutung hat. Das "Ich", an dem wir gefühlsmässig haften, scheint einen Schritt zurückzutreten und das Leben zu betrachten, indem es Erfahrungen einschätzt und wünscht. Leiden zu vermeiden. Wir erleben oder behandeln das "Ich" nicht auf die gleiche Art, wie wir mit einem Körperteil umgehen, zum Beispiel mit dem Gehirn. Unserem allgemeinen Wissen nach, das wir von anderen übernommen haben, befindet sich das Gehirn im Kopf. Physisch kann es lokalisiert, berührt und gemessen werden. Es hat eine gewisse Beziehung mit dem Geist, denn sobald unser geistiger Zustand wechselt, kann oft eine Veränderung im Gehirn entdeckt werden. Jedoch was auch immer Wissenschaftler über das Gehirn herausfinden, über die Beziehung zwischen Geist und Gehirn können sie nur Teilaussagen machen. Sie können es sich anschauen, in es eindringen und messen, um Fakten über die Aktivität des Gehirns herauszurinden, doch wie wollen sie wissen, was der Geist erlebt, wenn er auf diese oder jene Art und Weise beschäftigt wird? Beispielsweise können sie in der Lage sein, etwas über die Stärke der Aktivität auszusagen, die in der einen oder anderen Region des Gehirns vor sich geht, wenn sich die Person die Farbe Rot vorstellt. Aber wie können sie wissen, dass die Person wirklich "Rot" erlebt? Die Person selbst kennt zweifellos die Natur ihrer Erfahrung. Sie mag sie rot nennen oder auch nicht. Sie mag sie vielleicht überhaupt nicht bezeichnen. Sie wird niemals wissen, ob jemand anders jemals irgend etwas in der Weise erlebt wie sie selbst, sogar dann, wenn jeder darin übereinstimmt, das Erlebnis, das er hat, mit demselben Wort zu bezeichnen. Wer anders als der Erlebende selbst kann wissen, wie er irgend etwas erlebt? Ein Wissenschaftler kann behaupten, das Gehirn funktioniert so, als ob es die Farbe Rot erleben würde, weil das Gehirn so reagiert, wie es immer reagiert, wenn Menschen Rot erleben. Wer wird wissen, ob sie in irgendeinem speziellen Fall recht haben oder nicht? Nur der Erlebende selbst kann dessen gewiss sein. Der Wissenschaftler beruft sich auf gut belegte Vermutungen. Gewisse Theorien werden als erwiesen angesehen, weil sie Ereignisse sehr gut zu erklären scheinen. Der hauptsächliche gedankliche Vorstoss des Buddhismus hat jedoch mit Theorien nichts zu tun. Er baut auf Erfahrung. Er befasst sich insbesondere mit der Erfahrung vom Leiden. Der Buddhismus hat entdeckt, dass die Erfahrung vom Leiden stets mit einem starken emotionalen Haften an ein vages Gefühl von einem "Selbst" verbunden ist. Der Buddhismus wendet somit seine Aufmerksamkeit dieser starken emotionalen Reaktion zu, die mit der Empfindung einer Entität verbunden ist, und fragt danach, wie

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dieses "Selbst" tatsächlich erfahren wird. Wo wird das "Ich" erfahren? »Im Gehirn« mag vielleicht die Antwort sein. Jedoch benötigt man keine Kenntnis über das Gehirn, um Leiden zu erfahren. Auch ein Kind oder ein Hund leiden. Sie haben keine Theorien über das "Selbst", doch ihr Verhalten deutet daraufhin, dass sie ein Gefühl von "Selbst" haben. Wenn sie es nicht hätten, warum würden ein Kind oder Hund, welche in dem einen Augenblick existieren, sich um Kind oder Hund sorgen, welche im nächsten Augenblick existieren? Sicherlich deshalb, weil das Kind oder der Hund des nächsten Augenblickes in ihrer Vorstellung unbewusst immer noch im gewissen Sinne "sie selbst" sind und verschieden von irgend jemand anderem. Sobald sie sich einer Gefahr für ihr Leben oder Wohlergehen ausgesetzt sehen, weichen sie davor zurück. Unbewusst denken sie, dass "sie" dieser Bedrohung entgehen und ihre Existenz irgendwo an einem angenehmeren Platz fortsetzen könnten; dies zeigt, dass sie das Gefühl besitzen, eine unabhängige Existenz zu haben. Man könnte argumentieren, dass das Zurückweichen vor unangenehmen Reizen von lebenden Organismen niederer Formen einfach eine mechanische Reaktion sei, genauso wie sich Bäume im Wind wiegen. Das mag für primitive Lebensformen zutreffen, doch hat es keine Beziehung zu dem Problem des Leidens überhaupt. Wenn wir lediglich komplexe mechanische Einrichtungen wären, dann könnte man argumentieren, dass Leid - objektiv gesehen - keine Rolle spielen würde. Das wäre eine ausserordentlich verarmte Einstellung zum Leben und eine nicht sehr überzeugende. Man könnte glauben, dass wir mit unserer Aussage, Leiden werde im Gehirn erfahren, eigentlich meinen, dass es im Geist erlebt wird. Da man (in der modernen westlichen Gesellschaft) automatisch annimmt, dass sich der Geist im Gehirn lokalisieren lässt, und da die eigene Vorstellung vom Geist sowieso sehr vage ist, scheint kein grosser Unterschied darin zu liegen, ob wir vom Geist oder vom Gehirn sprechen. Sie können jedoch nicht synonym sein, selbst wenn letztendlich entdeckt würde, dass sie vom gleichen Stoff oder von gleicher Natur sind. Um die Frage, was wir eigentlich unter Geist verstehen, kommen wir nicht herum. In unserem gewöhnlichen, alltäglichen Sprachgebrauch gehen wir damit äusserst vage und ungenau um. Es hat manchmal den Anschein, als ob wir uns mit unserem Geist identifizieren, beispielsweise mit der Aussage, glücklich oder traurig zu sein. Obwohl wir meinen, der Geist ist glücklich oder traurig, machen wir wirklich keinen Unterschied zwischen unserem "Selbst" und unserem Geist. Nichtsdestoweniger hören wir uns Dinge sagen wie: »Ich konnte meinen Geist nicht kontrollieren«. Gelegentlich äussern wir auch: »Ich konnte mich nicht kontrollieren«, so als ob man zwei "Selbst" besässe. Hier scheint es sich um den gleichen Mangel an Klarheit zu handeln, der uns einmal veranlasst, so zu sprechen, als ob das "Selbst" der Geist wäre, und das nächste Mal, als ob das "Selbst" den Geist besässe. An diesem Punkt mag man versucht sein, damit zu beginnen, über die Natur des Geistes und über die des Selbst zu spekulieren. Vielleicht wird man ins Philosophieren geraten und über Aussagen wie: »Ich denke, also bin ich« nachdenken. Da jedoch »Ich bin« lediglich ein Gedanke ist, ist das Einzige, dessen wir wirklich sicher sind, die Erfahrung von Gedanken. Somit ist das einzige sichere Mittel, mit dessen Hilfe wir herausfinden können, um was es sich bei dieser Erfahrung wirklich handelt, sie so

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genau und leidenschaftslos wie möglich zu erleben. Folglich läuft die Vorgehensweise des Shravaka auf die Untersuchung von Erfahrung hinaus, und zwar, indem man sich ihrer in jedem Moment in hohem Masse bewusst ist.

Fünf Aggregate Um diese Untersuchung so ausführlich und systematisch wie möglich durchzuführen, haben buddhistische Lehrmeister Erfahrung in eine Anzahl umfassender Kategorien angeordnet. Eine dieser Kategorien wird auf Sanskrit als die "fünf skandhas" bezeichnet, was wörtlich "fünf Anhäufungen" oder "fünf Bündel" bedeutet. Bei leidenschaftsloser Betrachtung treten unsere gesamten Erfahrungen von einem Augenblick zum anderen als isolierte, unpersönliche Ereignisse auf. Nach ihrem Erscheinen, das so schnell vonstatten geht, dass es simultan zu sein scheint, sind wir emotional involviert und produzieren ein ganzes Drehbuch zum Thema "Selbst" gegen "die Welt" oder "die Anderen". Die fünf Aggregate bestehen jeweils als ein Bündel aus vielen Phänomenen ähnlicher Art, die sich ständig im Wandel befinden. Sie konstituieren das, was allgemein als "Persönlichkeit" oder "Selbst" angesehen wird. Es handelt sich hier um eine physische Komponente und vier geistige Komponenten:

1. Aggregat der Form 2. Aggregat der Empfindung 3. Aggregat des unterscheidenden Erkennens 4. Aggregat der Geistesfaktoren 5. Aggregat der Primärbewusstseinsarten

Der Ablauf der Skandhas bringt ununterbrochen karmische Wirkungen hervor, die wiederum Anlass zu weiteren Auswirkungen sind. Karma sowie die grundlegende Unwissenheit (skr.: avidya, tib.: ma rig.pa, wörtlich: nicht erkennen) und Begierde, die alle Anhäufungen durchziehen, verursachen das Entstehen dieser fünffachen Struktur.

1. Aggregat der Form (skr.: rupaskandha, tib.: gugs.kyi phung.po) "Form" bezieht sich sowohl auf die Körperlichkeit des Objektes, das erfahren und wozu ein Kontakt hergestellt werden kann, wie die vier Elemente von Erde, Feuer, Wasser, Luft, auf die grobe feinstoffliche Qualität des Objektes von Form, Gestalt, Farbe, Klang, Geruch, Geschmack, Tastbarem, als auch auf die Körperlichkeit des Subjektes, den Körper, seine fünf Sinnesorgane und Sinnesfähigkeiten von Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Der Formskandha bezieht sich also auf den Körper der Person und auf die Umwelt. Wir nehmen als selbstverständlich an, dass es eine Welt "da draussen" jenseits unserer Sinne gibt und dass unser Körper daran teilhat. Unser Körper erscheint dem Geist als eine einzelne, solide, von seiner Aussenwelt unabhängige Wesenheit. Mit dieser Vorstellung haften wir am intensivsten am Körper als dem "Selbst", pflegen und hegen ihn und versuchen, ihn vor Gefahren zu beschützen.

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Sobald wir uns zur Meditation niedersetzen, sind es zuerst der Körper und seine Umgebung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Somit können wir unsere analytische Untersuchung, die man auf verschiedene Weise durchführen kann, auch an dieser Stelle beginnen: »Ich sitze hier, weil mein Körper hier sitzt.« Ist jenes "Ich" deshalb der Körper? Man könnte den Körper systematisch untersuchen, indem man sich Glied für Glied und Organ für Organ und Zelle für Zelle vornimmt: »Ist meine Hand "Ich"? Bin ich noch "Ich" ohne meine Hand? Ohne meine Beine? Ohne den einen oder anderen Körperteil oder dieses oder jenes Organ?« Auch der Körper, an dem wir als "Selbst" haften, muss als solcher aufzufinden sein. Was ist "der Körper" eigentlich? Ist der Arm der Körper, der Bauch, die Brust? Wo befindet sich "der Körper" zwischen seinen Körperteilen? Was ist ein Körperteil, zum Beispiel die Hand? Ist sie ohne Finger immer noch eine "Hand"? Ohne Haut? Ohne Knochen? Ohne Fleisch? Wenn man sie in dieser Weise zerlegt hat, wird man feststellen, dass "die Hand" lediglich ein passender Begriff für ihre spezielle Funktion ist. Ein Ding wie "Hand" existiert nicht als solches. Das gleiche gilt für den Körper, für jeden Körperteil, bis zur kleinsten Zelle, zum kleinsten Atom und zum winzigsten subatomaren Teilchen, wie es Wissenschaftler nur zu gut kennen. Je eingehender man untersucht, desto mehr Teile wird man finden. Nachdem jeder Partikel eine Bezeichnung erhalten hat, wird man entdecken, dass sich jedes Teilchen wiederum spaltet. Der Prozess ist endlos. Untersucht man den Körper in dieser Weise, mag man zu dem Schluss gelangen, dass "Ich" und "Körper" dem Geist als "Ich" und "Körper" erscheinen, doch nicht objektiv von sich aus existieren und lediglich geeignete Konzepte sind, um mit der Welt und seiner Erfahrung umzugehen. Sie haben eine gewisse relative Wirklichkeit, aber sie sind nichts Absolutes. In konventioneller Hinsicht sind sie ein Strom von Ereignissen, die wir als "Ich" oder "Körper" identifizieren und etikettieren. Von diesem "Ich" und "Körper" kann jedoch nicht behauptet werden, dass sie eine unveränderliche, separate und unabhängige Existenz haben. Wenn der Körper eine derartige Seinsweise hätte, könnten wir ihn als das "Selbst" bezeichnen, aber er hat sie nicht. Wie intensiv wir auch immer danach suchen werden, wir werden sie niemals vorfinden. Der Körper ist nicht das "Selbst" und das "Selbst" ist nicht der Körper. Selbstverständlich lässt sich die gleiche Betrachtung auch auf das Gehirn anwenden.

2. Aggregat der Empfindung (skr.: vedanaskandha, tib.: tshor.wa iphung.po) Der erste Berührungsmoment der fünf Sinne mit einem Objekt, die individuell seine jeweilige Qualität auf eineunmittelbare Art und Weise wahrnehmen, geschieht durch die Dynamik des Aggregates der Form, gefolgt vom zweiten Moment, dem der Empfindung. Im Aggregat der Empfindung sind alle körperbezogenen Gefühle oder Erlebnisse der fünf Sinne - Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut – enthalten sowie auch die geistigen Empfindungen. Grundsätzlich liegt der Empfindung die dualistische Differenzierung der Dinge zugrunde. Sobald der Geist mittels der Sinne mit einem Objekt Kontakt aufnimmt, taucht die differenzierte Gefühlsreaktion von angenehm oder unangenehm auf, wobei

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die Tendenz entsteht, anziehende Erfahrungen beibehalten zu wollen und von abstossenden frei zu werden. Eine unbeteiligte oder indifferente Empfindung ist die dritte Reaktionsmöglichkeit auf ein Sinneserlebnis hin. Die Empfindungen des Ich-haftenden Geistes dienen als Grundlage für die in Handlungen resultierenden so genannten "drei Gifte" des Geistes: begehrendes Anhaften, Abneigung und Unwissenheit. Die vollständigen Ergebnisse dieser Handlungen reifen wiederum am Aggregat der Empfindung, nämlich positive Taten in der Empfindung von Freude, negative in der von Schmerz und indifferente in neutralen Empfindungen. Wenn wir den fünf Sinnen und dem Geist die drei Grundarten von angenehmer, unangenehmer oder neutraler Empfindung hinzurechnen, ergeben sich achtzehn Empfindungsmöglichkeiten. Beispielsweise meditieren wir und fühlen uns dabei wohl und möchten so verweilen, oder wir fühlen uns unwohl und möchten aufstehen. Die dritte Möglichkeit ist, dass uns weder die eine noch die andere Empfindung kümmert. Wir erleben stets eines dieser drei Gefühle, weil jeder Wahmehmungsmoment von einem dieser drei begleitet ist. Da es sich um ein Bündel von vielzähligen, sprunghaft wechselnden Empfindungsmomenten handelt, kann das "Selbst" nicht damit identifiziert werden, weil keines von ihnen die dauerhafte Eigenschaft besitzt, nach der wir suchen.

3. Aggregat des unterscheidenden Erkennens (skr.: samjnaskandha, tib.: 'du shes.kyi phung.po) Beim Akt des Erkennens handelt es sich um ein Zusammentreffen von mehreren Umständen. Er beruht auf intakten Sinnesorganen, Sinnesobjekten und dem gerade zuvor versiegten Moment einer der sechs Primärbewusstseinsarten (s. fünftes Skandha), wodurch ein neuer Gewahrseinsmoment entstehen kann. Die Tätigkeit des Skandha der Empfindung beginnt mit dem ersten Kontakt eines Objektes. Durch diese Berührung entwickelt sich Erkennen. Ein Erkennungsmoment erfasst die Kennzeichen eines Objektes und hat sowohl die Funktion, ein Objekt von anderen Objekten zu unterscheiden als auch die Objekte als dieses oder jenes zu identifizieren. Ein Erkennen kann korrekt oder fehlerhaft sein. Die gesamten Störfaktoren des Geistes sowie auch die daraus resultierenden negativen Handlungen, sei es auf der Ebene des Körpers, der Rede oder des Geistes, geschehen auf der Grundlage fehlerhaften Erkennens oder Beurteilens, und zwar deshalb, weil die Aggregate fälschlich als eine Entität, als ein "Selbst" identifiziert werden. Die sechs Möglichkeiten des Erkennens, die mit den sechs Primärbewusstseinsarten assoziiert sind, begleiten ebenfalls jeden Gewahrseinsmoment. Wenn man eine Farbe sieht, beispielsweise Blau, erkennt man diese als blau; verspürt man ein Kribbeln, nimmt man diese Empfindung deutlich wahr; oder wenn man das Geräusch eines startenden Autos hört, kann man diesen Laut zuordnen. Das gleiche lässt sich auf Geruch und die anderen Sinne anwenden. Während unseres gesamten Wachzustandes erleben wir, wie

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ein unablässiger Strom von Erkennen, Unterscheiden und Beurteilen durch unsere Sinne fliesst. Entweder hören wir einer bestimmten Sache zu, oder wir betrachten etwas, identifizieren einen Gegenstand mit unserem Tastsinn als angenehm oder unangenehm, schmecken oder riechen etwas, oder es entsteht ein Bild von einem Objekt in unserem Geist. Während der Meditation mag man die Ein- und Ausatmung wahrnehmen, Gedanken und Erinnerungen fliessen im Geist, oder wir werden zweier Stimmen gewahr und erkennen sie deutlich als die einer Frau und die eines Mannes. Obwohl wir annehmen, dass es das eigene Selbst ist, das diese Dinge erkennt und unterscheidet, so denken wir doch nicht, dass diese Tätigkeit des Geistes das "Selbst" ist. Keines von ihnen trägt das Kennzeichen von "Selbst", da keines dauerhaft ist.

4. Aggregat der Geistesfaktoren (skr.: samskaraskandha, tib.: 'du.byed.kyi phung.po) Während der Ablauf der Skandhas weiter fortschreitet, wird das Zusammenkommen von Ursachen und Umständen immer vielschichtiger. Beim vierten Aggregat handelt es sich um den Geist, der sich selbst aktiviert und die Eigenschaft hat, sich teilweise auf eine besitzergreifende Weise auf die Objekte hinzubewegen und sich mit ihren charakteristischen Merkmalen auseinanderzusetzen. Diese Bewegung, die sich gänzlich auf ein Objekt einlässt, geschieht vom Hauptgeist (tib.: gtso sems) aus und ist von ihm abhängig, wie die Wellen die Bewegung des Flusses selbst sind. Sie werden "geistige Ereignisse" oder "Geistesfaktoren" (skr.: caitta, tib.: sems byung) genannt. Die Sanskrit-Bezeichnung samskara hat die spezifische Bedeutung von "Anlage" im Sinne von geistigen Spuren, die von ehemaligen Handlungen verblieben sind und die das gegenwärtige Denken und Verhalten bedingen. Beim tibetischen Begriff 'du byed dreht es sich generell um geistige Formationen jedweder Art, die in den anderen Aggregaten nicht enthalten sind. Geistesfaktoren, von denen es unzählige gibt, werden allgemein in 51 Hauptaspekten beschrieben, die hier nur zusammenfassend erklärt werden. Sie konditionieren mit ihrer Vielfalt von positiven, negativen und neutralen psychischen Neigungen den sogenannten Charakter einer Person oder die Persönlichkeit. Die 51 Geistesfaktoren sind in sechs Funktionsgruppen unterteilt:

1. Fünf so genannte "allgegenwärtige Geistesfaktoren" haben die Funktion, das Erfassen eines Objektes überhaupt erst möglich zu machen. Jeder Gewahrseinsmoment der Primärbewusstseinsarten wird von diesen Faktoren gemeinsam begleitet. Der Geistesfaktor Absicht spielt die Hauptrolle in jeder Aktivität. Er involviert den Hauptgeist und die mit dem jeweiligen Gewahrseinsmoment zusammenhängenden Geistesfaktoren mit dem Objekt. Alle Handlungen, seien sie geistiger, sprachlicher oder körperlicher Art, hängen von der Triebkraft des Geistesfaktors Absicht ab, in anderen Worten: er bildet die Basis für die karmische Tätigkeit. Mit dem Geistesfaktor Kontakt ist das Zusammentreffen von einem Primärbewusstsein, dem entsprechenden Sinnesorgan und dem Sinnesobjekt, das das Entstehen der drei Empfindungsarten verursacht, gemeint. Der Geistesfaktor Aufmerksamkeit richtet

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den Geist auf die besonderen Attribute eines Objekts. Die Geistesfaktoren Empfindung und Erkennen sind ebenfalls stets notwendig, um einen geistigen Fokus auf das Objekt zu ermöglichen. In dieser fünffachen Anordnung der Skandhas werden sie jedoch ihrer Bedeutsamkeit wegen separat als die Aggregate von "Empfindung" und "Erkennen" aufgeführt.

2. Die Funktion der fünf "vom Objekt überzeugten Geistesfaktoren" ist es, sich

Gewissheit über das Objekt zu verschaffen, indem sie durch Nachforschen die besondere Eigenschaft des Objektes feststellen. Der Geistesfaktor Aspiration hat Interesse an einem Objekt und wünscht, es zu erreichen, Überzeugung kennt die Qualität einer Sache, Vergegenwärtigung beobachtet ein Objekt und behält die Kontinuität des ursprünglich Erkannten bei, Konzentration bringt den Geist dazu, sich kontinuierlich einsgerichtet auf das Objekt zu richten, und der Geistesfaktor Intelligenz, die Durchdringungskraft des Geistes, hat die Funktion, die subtilen Unterscheidungen der Objekte zu ermitteln.

Sowohl bei der ersten als auch der zweiten Gruppe, der allgegenwärtigen und der vom Objekt überzeugten Geistesfaktoren, handelt es sich um grundlegende, selbsttätige Eigenschaften des Geistes, die, da sie selber keine eigene Qualität besitzen, sowohl positiv als auch negativ beeinflusst werden können.

3. Diejenigen geistigen Faktoren, die aufgrund ihrer eigenen Natur heilsam sind, in Frieden und Wohlergehen sowohl für einen selbst als auch für andere resultieren, sind "positive geistige Ereignisse", von denen es elf Hauptaspekte gibt. Der Geistesfaktor Hingabe und Vertrauen, mit den Aspekten von Überzeugung, Klarheit und Sehnen, ist die Grundlage für die Entwicklung von positivem Bemühen und wirkt als direktes Gegenmittel gegen Misstrauen. Der Geistesfaktor Selbstachtung bewirkt, dass man sich aufgrund persönlicher Besinnung von negativem Verhalten zurückhält. Beim Geistesfaktor Rücksichtnahme handelt es sich um die Besinnung, die anderen keinen Schaden oder keine Enttäuschung bereiten möchte. Der Geistesfaktor Entsagung hat die Funktion, sowohl begehrendes Anhaften an den Erscheinungen zu verhindern als auch aktiv entgegenzuwirken. Hasslosigkeit ist ein Geisteszustand, der frei von der Absicht ist zu verletzen und das Entstehen von Hass tatsächlich überwindet. Beim Geistesfaktor frei von Verblendung handelt es sich um die klare und genau arbeitende Qualität des Geistes, die als Gegenmittel gegen Verblendung wirkt. Positiver Enthusiasmus ist ein Geistesfaktor, der dadurch bestimmt wird, dass er Freude am Erlangen geistiger Tugenden hat und Trägheit aufhebt. Der Geistesfaktor Geschmeidigkeit befähigt den Geist zur Flexibilität, beseitigt Schwere und Trägheit. Mit dem Geistesfaktor Achtsamkeit oder Überlegtheit ist die grundlegende, vor negativen Einflüssen schützende Qualität des Geistes gemeint sowie die, die positive Eigenschaften bewahrt und kultiviert. Gleichmut ist ein Geistesfaktor, der den Geist in Balance bewahrt, frei von Dumpfheit und Erregung. Dem Geistesfaktor Gewaltlosigkeit mangelt jegliche Absicht zu schaden, er ist eine Form von Mitempfinden.

4. Es gibt sechs "grundlegende Störfaktoren" des Geistes (skr.: mula-klesha, tib.:

rtsa nyen), die für jede Form von Leid und Unzufriedenheit verantwortlich sind.

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Der Geistesfaktor begehrendes Anhaften überbewertet das Attraktive an Sinnesobjekten, haftet daran und möchte sie erlangen. Der Geistesfaktor Ärger überbewertet den abstossenden Aspekt von Sinnesobjekten, wühlt den Geist auf und sucht Schaden zuzufügen. Der Geistesfaktor Stolz überbewertet die eigenen Qualitäten oder Errungenschaften und verursacht, dass man sich anderen gegenüber arrogant verhält. Der geistige Störfaktor Unwissenheit gilt als die nährende Wurzel aller vorhandenen Störfaktoren. Er wird definiert als der unwissende Aspekt des Geistes, der sich über die Natur eines Objektes im Unklaren befindet. Der Geistesfaktor Zweifel zählt dann zu den grundlegenden Störfaktoren, wenn die Art des Zweifelns den Geist beunruhigt, verwirrt und die Entwicklung geistiger Tugenden hemmt, insbesonders der Zweifel über Karma und die beiden Wirklichkeiten. Der Geistesfaktor störende Sichtweise, wie extreme, Entität-fixierte, intellektuell falsch formulierte Sichtweisen, ist die Grundlage für alle inkorrekten Ansichten in Bezug auf die Wirklichkeit.

5. Die folgenden zwanzig "sekundären Störfaktoren", die den Geist aufwühlen und

Schaden für einen selbst und andere herbeiführen, sind Erweiterungen der "grundlegenden Störfaktoren", insbesondere von begehrendem Anhaften, Ärger und Unwissenheit. Die Definition des ? Geistesfaktors Wut ist der Wunsch, anderen unmittelbar Schaden zuzufügen, sei es körperlich oder sprachlich. Beim Geistesfaktor Rachsucht handelt es sich um die Absicht, Möglichkeiten zu finden, um erhaltenen Schaden zu vergelten. Verdrängung ist ein Störfaktor des Geistes, der eigene Fehler aufgrund von Anhaftung oder negativer Absicht nicht eingestehen will. Der Geistesfaktor Gehässigkeit trägt das Verhalten anderer nach und äussert verletzende Worte. Neid ist ein Störfaktor des Geistes, der es nicht ertragen kann, wenn er beispielsweise Qualitäten oder den Besitz anderer sieht. Der Geistesfaktor Geiz wird dadurch bestimmt, dass er unfähig ist, eigene Sachen wegzugeben. Heuchelei ist ein Geistesfaktor, der aufgrund von Anhaftung andere täuschen will. Der Geistesfaktor Unehrlichkeit hat ebenfalls die Absicht, ein falsches Bild von sich zu geben und andere irrezuführen, indem er die eigenen Fehler vertuscht. Der Geistesfaktor Selbstgefälligkeit ist ausschliesslich um den eigenen Körper und die eigenen Errungenschaften besorgt. Der Geistesfaktor Boshaftigkeit hat die Punktion, andere herabzusetzen und ihnen Schaden zuzufügen. Skrupellosigkeit ist ein Störfaktor des Geistes, der ohne jeglichen Selbstrespekt vor keinem Fehlverhalten zurückschreckt. Der Geistesfaktor Rücksichtslosigkeit schreckt vor keinem Fehlverhalten in Bezug auf andere zurück und führt dazu, dass andere ihre Achtung vor einem verlieren. Geistiger Stumpfsinn ist ein unempfindlicher Geistesfaktor, der sich nicht klar und eindeutig auf ein Objekt ausrichtet und Körper und Geist schwer macht. Aufgrund von begehrendem Anhaften erlaubt der Störfaktor geistige Erregung dem Geist nicht, an einem positiven Objekt zu verweilen, sondern lässt ihn umherschweifen. Der Geistesfaktor mangelndes Vertrauen weist kein Verlangen nach religiösen Werten auf und besitzt keinen Respekt vor dem, was wert des Vertrauens ist. Die Definition des Geistesfaktors Faulheit ist Unlust an heilsamen Handlungen, motiviert durch Anhaftung an weltlichem Vergnügen. Gewissenlosigkeit ist ein Geistesfaktor, der ungehalten das zu tun wünscht, wonach es ihn verlangt, ohne den Geist vor Fehltritten zu bewahren. Vergesslichkeit ist dann ein Störfaktor, wenn er den Geist zu negativen Objekten abschweifen lässt und seine heilsame

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Ausrichtung vergisst. Aufgrund von Begierde, Ärger oder Unwissenheit zerstört der Geistesfaktor Abgelenktsein die Konzentration, die positiv ausgerichtet ist. Mangelnde Selbstbeobachtung setzt sich unzureichend mit dem eigenen Verhalten auseinander.

6. Die letzte Gruppierung der Geistesfaktoren umfasst die vier variablen geistigen

Zustände Schlaf, Reue, allgemeine Untersuchung und detaillierte Prüfung eines Objektes, die, abhängig von der eigenen Motivation, vorteilhaft, nachteilig oder neutral sein können.

Obwohl wir geistige Formationen oder Ereignisse in keiner Weise als das "Selbst" betrachten, tendieren wir dennoch dazu, unser "Selbst" mit dem zu identifizieren, was wir uns als unsere Persönlichkeit vorstellen. Sobald ein Teil unserer Persönlichkeit kritisiert wird, reagieren wir gefühlsmässig in der Annahme, dass wir (unser Selbst) kritisiert worden seien. Wenn man jedoch die Beschaffenheit der eigenen Persönlichkeit sehr sorgfältig und leidenschaftslos untersucht, wird man feststellen, dass diese weitaus unbestimmbarer ist als der Körper. Beim Körper war man sich wenigstens soweit gewiss, welche Körperteile ihn ausmachen, obschon keiner von ihnen als das "Selbst" identifiziert werden konnte. Bei der Persönlichkeit hat man es jedoch mit einem Strom von sich ständig wandelnden Formationen und Ereignissen zu tun. Man neigt dazu, bestimmte, mehr oder weniger konstante Eigenschaften dieses Stromes als Kennzeichen einer individuellen Persönlichkeit auszuwählen, und wenn sie sich manifestieren, fühlt man, dass die Person sie selbst ist. Sobald sich bei ihr ganz andere Charakterzüge offenbaren (wiederum in einer mehr oder weniger konstanten Form), so sprechen wir von ihr als von jemandem, bei dem sich ein Wandel der Persönlichkeit vollzogen hat. Wir sagen von ihr, dass sie nicht in ihrer richtigen geistigen Verfassung oder zeitweilig verwirrt ist und so weiter. Stillschweigend folgern wir hieraus, dass es da eine Person oder "Selbst" geben muss, die sich von der gegenwärtigen Persönlichkeit oder ihrem geistigen Zustand unterscheidet. Und genau dieses "Selbst" ist es, das wir zu einer Untersuchung heranziehen. Es ist eindeutig nicht die Persönlichkeit oder irgendeiner der Geistesfaktoren, die es (das Selbst) ausmachen, da keines von ihnen ein separates, unabhängiges, dauerhaftes Element aufweist, das als "Selbst" bezeichnet werden könnte.

5. Aggregat der Primärbewusstseinsarten (skr.: vijnana skandha, tib.: mam shes kyiphungpo) Die Primärbewusstseinsarten im Kontinuum einer Person werden "Primärbewusstsein" oder "Hauptgeist" genannt, um sie von den Sekundärbewusstseinsformen, den Geistesfaktoren, zu unterscheiden, die die Arten des Primärbewusstseins ständig begleiten und ihren Einfluss über die Gesamtheit des Geistes ausüben. "Geist" wird definiert als etwas, das leer und klar ist und die Fähigkeit des Erkennens besitzt. Leerheit und Klarheit bezieht sich auf seine lichte, nicht-materielle Natur, die dem offenen Raum ähnlich ist, jedoch ungleich diesem bewusst Dinge erfassen kann. Entsprechend der buddhistischen Überlieferung ist "Geist" ein vielfaches Phänomen. Er wird im Lehrsystem des Shravaka als sechsfach beschrieben, und zwar in fünf sinnlich erfassenden Primärbewusstseinsarten und in einer geistigen. Bei den

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Primärbewusstseinsarten der Sinne handelt es sich um die fünf Wahrnehmungen der Sinne: Die Sehwahrnehmung erlebt die Eigenart einer Form durch die so genannten "Sinneskräfte" oder Fähigkeiten der Augen. Die Hörwahrnehmung erlebt die Eigenart eines Klanges durch die Sinneskräfte der Ohren. Die Geruchswahrnehmung erlebt die Eigenart eines Geruchs durch die Sinnesfähigkeit der Nase. Die Geschmackswahrnehmung erlebt die Eigenart eines Geschmacks durch die Sinnesfähigkeit der Zunge. Die Wahrnehmung des Körpers registriert die Eigenart eines Reizes durch die Fähigkeit des Haut- und Tastsinns, der den ganzen Körper durchzieht. Die fünf Sinneswahrnehmungen stimmen mit dem ersten Wahrnehmungsmoment der fünf Sinne überein, die die Natur ihres Objektes auf eine unmittelbare Weise erkennen, d.h. ohne sich gedanklich mit dem erfassten Gegenstand auseinanderzusetzen, denn weder die Sinne noch die Sinneswahrnehmungen besitzen intellektuelle Fähigkeiten. Sie werden mit einer Person verglichen, die zwar sehen kann, aber stumm ist. Die Voraussetzung für das Entstehen der fünf Sinneswahrnehmungen sind u.a. unversehrte Sinnesorgane und die entsprechenden Objekte der Sinne. Das Entstehen des sechsten, geistigen Primärbewusstseins ist nicht von einem psychischen Sinnesorgan abhängig, sondern von der sensorischen Information, die es von den verschiedenen Sinneswahrnehmungen empfängt. Das geistige Bewusstsein kann sich mit einem Sinnesbewusstsein einlassen, zum Beispiel an einem angenehmen Geruch haften, doch ihm fehlt der direkte Kontakt mit dem äusseren Objekt. Das, was das geistige Primärbewusstsein erlebt, sind Phänomene, die von geistiger Natur sind. Sobald eine der Sinneswahmehmungen ein Objekt aus seinem natürlichen Zusammenhang mit dem Ganzen ausschnitthaft aussondert, übermittelt sie in einem Bruchteil von Sekunden dieses Bild an das geistige Primärbewusstsein, das sich im darauffolgenden Augenblick eine begriffliche Vorstellung davon macht, indem es diese Information mit seiner eigenen, subjektiven Projektion davon vermischt, sie als "angenehm" oder "unangenehm" usw. bezeichnet. Die begriffliche Erfassungsweise des Primärbewusstseins befindet sich in einem ständigen Irrtum, da sie von individuellen Eindrücken ausgeht und der Seinsweise des Objekts nicht mehr entspricht. Das geistige Primärbewusstsein wird mit einer Person umschrieben, die äusserst scharfsinnig und redegewandt, jedoch blind ist. Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass es sich beim Aggregat der Primärbewusstseinsarten um sechs Entitäten handelt. Das visuelle Primärbewusstsein ist ein Strom von temporär erfassten Momenten von Formen und Farben aller Ausmasse und Schattierungen und die Hörwahrnehmung eine Ansammlung vernommener Momente jeglicher Klangart wie laute und leise, hohe und tiefe Klangmomente usw. Die Geruchs-, Geschmacks- und Körperwahrnehmung besteht aus aufeinanderfolgenden, wahrgenommenen Augenblicken verschiedenartigster Gerüche, Geschmacksnuancen und Berührungsempfindungen. Und beim klaren, äusserst unbeständigen geistigen Primärbewusstsein handelt es sich um eine Fluktuation von Momenten geistiger Wahrnehmung. Im Buddhismus bezieht sich also der Begriff "Primärbewusstsein" auf einen einzigen dieser Erlebnismomente. Wenn wir über die zuvor aufgelisteten vier Skandhas nachdenken, mag man das Gefühl nicht loswerden, dass hinter diesen ein ihnen gemeinsames Kontinuum, eine Art

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Bewusstheit oder Erkennendes liegt. Wir sind vielleicht sogar dazu geneigt, es als den Geist selbst anzunehmen, der mit den in ihm auftretenden Ereignissen nicht identisch ist. Möglicherweise vermuten wir, dass es nun wirklich das ist, war wir mit "Ich" oder "Selbst" meinen. Es scheint sich um eine unwandelbare, separate, unabhängige Bewusstheit zu handeln, die die Grundlage unserer gesamten Erfahrung ist. Sie ist das "Ich, der Macher". Diese Idee gilt es sorgfältig zu untersuchen. Im allgemeinen stellen wir uns unser Leben und unsere Erfahrung als etwas Dahinfliessendes vor, als eine Art Strömung innerhalb von Zeit und Raum. Man hat das Gefühl von Anfang und Ende, und ein Ereignis folgt auf das andere. Obwohl wir einen Erfahrungsmoment nicht als etwas betrachten, der Ecken um sich herum hat, haben wir trotzdem das Gefühl, dass er irgendwo endet, denn sonst würde er einfach mit allem anderen verschmelzen. Unsere Erfahrung und unser Gefühl von "Selbst" ist demnach eindeutig von Zeit und Raum begrenzt. Es müsste also im Bereich des Möglichen liegen, Raum und Zeit in die kleinsten mit den Sinnen zu erfassenden Teilchen und in den kleinsten wahrnehmbaren Zeitmoment zu zerlegen. Um sicherzugehen, dass auf der Suche nach einem fortdauernden und separaten Selbst kein Aspekt übersehen wird, versucht man in der Shravaka-Herangehensweise des kleinsten wahrnehmbaren Erfahrungsmomentes gewahr zu werden. Dabei wird man herausfinden, dass jeder Augenblick der Erfahrung zwei Aspekte hat. Wenn er diese beiden Aspekte nicht hätte, könnte er schwerlich als ein Erfahrungswert zählen. Und was sind diese beiden Aspekte? Erstens muss es etwas geben, das erlebt, und zweitens etwas, das erlebt werden kann. In anderen Worten: es gibt stets etwas, das erkennt und etwas, das erkannt wird. Wenn eines dieser Elemente fehlen würde, könnte keine Erfahrung zustande kommen. Der Sanskrit-Begriff für diese kleinsten zu erfassenden Momente des Gewahrseins, die in Abhängigkeit von ihren korrespondierenden, flüchtigen Objekten des Gewahrseins auftreten, ist vijnana (tib.: mam shes). Die Silbe vi bedeutet in etwa partiell oder geteilt. Beim wahrnehmenden Geist handelt es sich dementsprechend um ein partielles oder geteiltes Wissen. Im Gegensatz zu dieser Bezeichnung bedeutet der Sanskrit-Begriff jnana (tib.: ye shes. Ursprüngliches Wissen) ganz einfach nur Wissen oder Weisheit. In den späteren Stadien der Meditationsfolge über Leerheit bekommt der Unterschied zwischen jnana und vijnana grosse Bedeutung. Das Endergebnis dieser ziemlich langen Diskussion über die Bedeutung des Primärbewusstseins im Buddhismus ist, dass man sich bei der Untersuchung der Vermutung, die fortlaufende Bewusstheit hinter der gesamten eigenen Erfahrung sei das "Selbst", auf den Strom der Vijnanas beziehen muss. Man mag in dieser Weise den Geist nicht so tief analysiert haben, doch solange man eine gewöhnliche Vorstellung von Zeit und Raum akzeptiert, muss die Natur des Bewusstseins, wie oben beschrieben, zerlegbar sein. Da ausserdem jeder Moment des Gewahrseins auf ein anderes Objekt gerichtet ist, ist jeder wahrnehmende Augenblick separat und verschieden. Ob es sich um ein Gewahrsein von Form oder um ein geistiges Bild handelt, es ist, welcher Art auch immer es sein mag, von irgendeinem anderen wahrnehmenden Moment, der zuvor auftaucht oder dabei ist, nach diesem zu entstehen, völlig verschieden. Der vorhergehende Moment ist verschwunden, und der Augenblick, der auf ihn folgt, existiert noch nicht. Aus diesem Grunde kann es sich beim Primärbewusstsein einzig und allein

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um etwas Flüchtiges handeln, und ein derartig rasch vorüberziehendes Phänomen kann niemals geeignet sein für den Titel "Selbst". Somit kann der Geist oder die Bewusstheit, die sich hinter unserer gesamten Erfahrung zu befinden scheint, ebenfalls nicht als das "Selbst" bestimmt werden.

Endanalyse Wenn das Selbst des Individuums konkret existieren würde, dann müsste es, wie zuvor beschrieben, ein von anderen Erscheinungen separates und E unabhängiges Phänomen sein, unabhängig zum Beispiel von Ursachen oder seinen Teilen. Demzufolge müsste es mit den fünf physisch-psychischen Komponenten gänzlich identisch oder vollkommen verschieden davon sein - eine andere Lösung zu dieser Problemstellung gibt es nicht. Wenn wir die erste Möglichkeit untersuchen, werden wir deutlich zur Überzeugung gelangen, dass unser Ich-Gefühl, an dem wir haften, kein fünffaches, sondern ein einzelnes ist. Es kann sich also beim "Selbst" nicht um die fünf Aggregate handeln. Wenn das "Selbst" die fünf Aggregate wäre, dann müsste es demzufolge fünf "Selbst" geben. Darüber hinaus bedienen wir uns im gewöhnlichen Sprachgebrauch der fünf Anhäufungen in einer besitzenden, erfahrenden und kontrollierenden Weise. Wir sprechen von "unserem" Körper, "unserem" Geist und "unseren" Gefühlen, »die wir im Griff haben«. Dieses zeigt deutlich, dass das Selbst des Individuums etwas anderes als die fünf Aggregate sein muss und nichts mit ihnen gemein haben kann. Wenn das "Selbst" jedoch von den Skandhas vollkommen verschieden wäre, müsste sich das dann klar herauskristallisieren, sobald wir die fünf Erfahrungsgruppen abgelegt haben. Wenn wir uns jedoch unserer körperlichen und geistigen Komponenten entledigen würden, dann würde von uns nichts mehr übrig bleiben. Das "Selbst" kann also nicht getrennt von den fünf Aggregaten existieren. Am Ende unserer Analyse kommen wir zum Ergebnis, dass das Selbst einfach ein vages und zweckdienliches Konzept ist, das wir mal hier und mal dort auf einen Strom von Erlebnissen projizieren; das Selbst besteht weder in sich noch aus sich selbst. Man mag den Wunsch hegen, das Selbst als eine Art Kontinuität von strömenden körperlichen und geistigen Erlebnissen, die die Persönlichkeit ausmachen, aufrechtzuerhalten. Dieser Art von Selbst fehlen die Kennzeichen von etwas Dauerhaftem, Abgetrenntem und Unabhängigem. Jedoch auch dieser wiederholte Versuch, das Selbst neu zu definieren, ermöglicht uns nicht im geringsten, unser emotionales Verhalten zu erklären. Der Buddhismus geht in seiner Aussage nicht so weit, den Menschen zu sagen, was sie glauben sollen - dass sie z.B. ein "Selbst" oder kein "Selbst" haben. Er sagt vielmehr aus: Wenn man sich die Art und Weise anschaut, in der wir leiden, denken und emotional auf das Leben reagieren, so sieht es so aus, als ob wir glauben, dass es ein "Selbst" gibt, das dauerhaft, separat und unabhängig ist; wenn man die Sache genau untersucht, so kann man trotzdem kein derartiges "Selbst" isolieren oder vorfinden. Die Skandhas sind, um es in anderen Worten auszudrücken, leer (skr.: shunya, tib.: stong.pd) von einem "Selbst". Diese Schlussfolgerung ist sehr wichtig für das korrekte Verständnis der Leerheit. Das Phänomen an sich wird nicht geleugnet! Selbstverständlich gibt es eine Person, die von

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Körper und Geist abhängig ist, die in Handlungen verwickelt ist und das Ergebnis ihres Tuns erfahren wird. Deshalb ist auch nichts gegen ein gesundes Gefühl von Identität einzuwenden! Sobald wir jedoch untersuchen, wie dieses Selbst existiert, dann stimmt die Endanalyse mit dem festen Bild, das wir von uns haben, nicht mehr überein. Wir haften an etwas, das nicht existiert! Dieses begrenzte, emotional verhaftete Wirklichkeitsbild wird durch unsere geistigen Muster und Gewohnheiten der Gedanken genährt und gestärkt. Darüber hinaus führen die Handlungen, die man in dem Glauben tätigt, dass es sich um das "Selbst" handelt, das da agiert, dazu, die "Welt" zu schaffen, in der man sich befindet. In anderen Worten: Auch wenn im absoluten Sinne kein Selbst besteht, muss man doch auf der relativen Ebene die Ergebnisse seiner vergangenen guten und schlechten Handlungen erfahren. Der Vergleich mit einer Kerzenflamme kann diese Aussage veranschaulichen. Man kann beispielsweise sagen: »Diese Flamme hat den ganzen Tag gebrannt.« Im uneingeschränkt gültigen Sinne jedoch gibt es keine Flamme, die den ganzen Tag gebrannt hat. Die Flamme war von einem Moment zum anderen niemals dieselbe. Es gab überhaupt keine separate, unabhängige, dauerhafte Flamme. Es existiert kein Ding wie "eine Flamme" als solche, aber dessen ungeachtet ist es trotzdem sinnvoll, von der Flamme zu sprechen. Während der Meditation über die Leerheit der physisch-psychischen Aggregate betrachtet man diese einfach als das, was sie sind; sie besitzen keine solide Eigenschaft und haben keine absolute Existenz. Keines dieser Aggregate kann als das dauerhafte, unabhängige, separate "Selbst" identifiziert werden, ihre Verbindung ist nicht das "Selbst" noch existiert in ihnen ein derartiges "Selbst". Es ist ähnlich wie in einem Traum, in dem man beispielsweise die Qual erfährt, verbrannt oder von einem Tiger verfolgt zu werden: Das ganze Leiden, das damit verbunden ist, verschwindet, sobald man feststellt, dass die Person im Traum nicht man selbst ist. Auf die gleiche Weise wird das gesamte Leiden, das durch die Annahme entstand, die Skandhas seien das "Selbst", abidingen, sobald man seine Aufmerksamkeit nach innen auf das Nichtvorhandensein des "Selbst" in den Skandhas richtet. Dann kann der Geist mit vollkommenem Vertrauen und Gewissheit friedvoll im leeren Raum ruhen. Alle subtilen Zweifel werden sich durch eine derartige Meditation erschöpfen, und der Geist vermag natürlich in der Leerheit zu verweilen.

Ergebnis der Shravaka-Übung Die Ursache für all unsere Leiden ist unser instinktives, emotionales Haften oder Festklammem an der vagen Vorstellung eines "Selbst". Aus der Vorstellung eines "Selbst" resultiert die von "Anderen". Wenn der "Andere" durch seine Verhaltensweise unser "Selbst" stabilisiert, schenken wir ihm unsere Zuneigung und suchen seine Nähe. Wenn jedoch der "Andere" durch sein Verhalten unsere "Ich-Struktur" bedroht, weisen wir ihn von uns ab. Dem "Anderen", der weder unser Selbst stabilisiert noch bedroht, stehen wir gleichgültig gegenüber. Nur aus dieser Interaktion von "Selbst" und "Anderen" entstehen die drei Gifte von Begierde, Abneigung und Verblendung. Es gibt

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viele Formen der Begierde - Habgier, Neid und Geiz sind darin Inbegriffen. Hass kann die Form von Eifersucht, Ärger und Verdruss annehmen, Verblendung umfasst geistigen Stumpfsinn, Dummheit und Verwirrung. Aus diesen unheilsamen geistigen Zuständen resultieren die dadurch motivierten Handlungen und ihre Ergebnisse. Deren Resultate, denen man nicht entkommen kann, solange man sich mit dem leidenden "Selbst" identifiziert, nehmen jegliche Form von Leid an. Aus diesem Grunde verbleibt als einziger Weg, um das eigene Leiden zu beseitigen, das Nichtvorhandensein des "Selbst" zu verstehen. Der Weisheitsgeist, der Nicht-Selbst erkennt, gleicht dem Licht, das die Dunkelheit beseitigt. Genauso wie Finsternis nicht in Helligkeit bestehen kann, kann Leiden im Licht des Weisheitsgeistes nicht fortdauern. Wo immer Leiden vorkommt, muss auch Haften am "Selbst" vorliegen. Wo auch immer Haften am "Selbst" besteht, muss Unwissenheit über Nicht-Selbst vorhanden sein. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, Leidsituationen ein Ende zu setzen: die Ignoranz, die die Ursache für das Haften am Selbst ist, zu beseitigen. Die Tilgung von Leiden ist demnach das Ziel des Shravakas, und dieses Ziel nennt er nirvana (skr.. Verlöschen). Der Shravaka ist weder darum bemüht, auch das Leiden aller anderen lebenden Wesen zu beseitigen, noch versucht er, den erwachten Zustand des Buddha zu erreichen. Er verfügt weder über die Vision, das Verständnis, noch über das notwendige Vertrauen, um derartig motiviert zu sein. Sein Ziel ist relativ bescheiden. Es handelt sich dabei schlicht um die Beseitigung der Ursache für sein eigenes Leiden. Man kann jedoch nicht behaupten, seine Leerheitserkenntnis sei nicht ausreichend tiefgründig. Es heisst, dass sie mit der eines Bodhisattvas vom ersten bis zum sechsten Bhumi korrespondiert. Sie beseitigt die Schleier der Ignoranz und der Verwirrung, die tiefere und subtilere Ebenen der Leerheit so unerreichbar machen. Indem man nicht mehr an der irrigen Auffassung von einem inhärenten, natürlich existierenden "Selbst" in den Skandhas festhält, bereitet man damit auch den Weg für die "höheren Fahrzeuge", deren Ziel es ist, nicht nur das eigene Leiden, sondern auch das aller Wesen zu beseitigen.

Meditationsverlauf Wenn man Belehrungen über die stufenweise Meditationsfolge über Leerheit erhält, hat man zwar häufig zu wenig Zeit, um über eine Stufe ausreichend meditieren zu können, bevor man mit der nächsten bekannt gemacht wird, doch ist es von grösserem Vorteil, sich jede Etappe einzeln vorzunehmen und sich darin solange zu schulen, bis man zu einer eindeutigen Erfahrung vorgedrungen ist, die die Theorie des Nicht-Selbst bestätigt. Die Fähigkeit, über Leerheit zu meditieren, erwirbt man sich durch Übung in den drei Stufen der analytischen, alternierenden und stabilisierenden Meditation. Die erste Stufe der analytischen Meditation dient dazu, ein klares und tiefes Verständnis der Leerheit zu gewinnen. Die philosophische Debatte, die in einigen Schulen einen bedeutenden Teil der buddhistischen Ausbildung ausmacht, ist ebenfalls eine Form der analytischen Meditation. Für denjenigen, der sich als Anfänger in der Meditation betrachtet, ist diese untersuchende Vorgehensweise äusserst wichtig. Bei der stabilisierenden Meditationsstufe, die von jeglicher gedanklichen Tätigkeit frei ist, handelt es sich um die eigentliche Meditation, in der jedoch nur ein Geübter lange

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konzentriert zu verweilen vermag. Der mit der Praxis Beginnende bedient sich ausgiebig der zweiten Stufe, wobei er geschickt die analytische Meditation mit der stabilisierenden abwechselt. Sollte sich der Meditierende hauptsächlich und ausgiebig allein der Analyse bedienen, wird sein Geist von Gedanken bewegt bleiben, doch falls er die analytische Meditation nicht durchführen und nur die stabilisierende Meditationsstufe kultivieren sollte, besteht die Gefahr, dass er das Interesse am Ergründen der Dinge verliert und sein Geist dumpf und unscharf werden kann. Ein Anfänger übt sich in dieser zweiten Meditationsstufe, indem er zuerst mittels analytischem Denken nach dem Objekt der Meditation sucht, wobei das Meditationsobjekt im Stadium des Shravaka das Nichtvorhandensein eines konkreten Selbst ist. Während der Analyse gilt es mit unnachlässiger Aufmerksamkeit am Objekt der Beobachtung zu verbleiben und nicht zu anderen Objekten hin abzuschweifen. Sobald der Meditierende mit Überzeugung zum Meditationsobjekt vorgedrungen ist, hebt er es deutlich im Geist hervor, richtet seine Konzentration einsgerichtet darauf und verweilt in der vorgefundenen Leerheit des Selbst. Durch den wiederholten Prozess der Altemation von analytischer und stabilisierender Meditation wird sich "Durchdringende Einsicht" (skr.: vipashyana, tib.: lhag mthong) oder prajna (tib.: shes rab), die Erkenntnisfähigkeit des Geistes, die der Meditation entspringt, entwickeln. Anfangs verhält es sich bei der Meditation genauso wie mit dem Studium und der Reflexion; denn ein gewisses Ausmass an Regelmässigkeit, Ausdauer und Fleiss ist erforderlich. Jedoch sollte man den eigenen Geist niemals zu sehr anspannen. Nehmen Sie als Beispiel einen Musiker, der die Saiten seines Instrumentes stimmt. Die Spannung muss genau richtig sein, nicht zu straff und nicht zu locker. Im allgemeinen ist es besser, für kurze Abstände konzentriert zu meditieren, als uneffektiv für lange Perioden; am besten beginnt man mit einer Dauer von 10-30 Minuten. Suchen Sie sich am Morgen und am Abend einen bestimmten Zeitpunkt für die Meditation aus. Setzen Sie sich in guter Meditationshaltung hin und beginnen Sie stets damit, sich gedanklich in den Schutz von Buddha, Dharma (skr., die Lehre des Buddha) und Sangha (skr., die buddhistische Gemeinschaft) zu begeben und die Bodhicitta-Motivation (skr., das altruistische Streben nach höchster Makellosigkeit und Vollkommenheit) zu kultivieren. Während einer Meditationssitzung von beispielsweise 30 Minuten sollten Sie anfangs 20 Minuten der Analyse und 10 Minuten der stabilisierenden Meditation widmen. Da es sich bei den fünf Aggregaten um vielfältige Phänomene handelt, ist es vorteilhaft, diese einfach und schrittweise zum Thema Ihrer Untersuchung zu machen. Beginnen Sie mit dem Skandha der Form. Nehmen Sie sich den Körper vor, zuerst die Glieder: Kopf, Arme, Rumpf, Beine und so weiter, dann die Körperorgane und die Körperzellen. Forschen Sie nach dem "Selbst", wie es Ihnen zuvor erklärt wurde. Sind meine Körperteile das "Ich"? Eventuell der Kopf? Wenn der Kopf das "Ich" wäre, dann könnten logischerweise die restlichen Körperteile nicht das "Ich" sein. Wenn alle Körperteile das "Ich" wären, dann gäbe es viele "Ichs".

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Wenden Sie die gleiche Aufmerksamkeit in Ihren Sitzungen den achtzehn Empfindungen des zweiten Aggregates zu. Ist die angenehme Qualität des Erlebens, sobald sich der Sehsinn auf eine attraktive Form richtet, das "Ich"? Ist die unangenehme Qualität des Erlebens, sobald sich der Sehsinn auf eine abstossende Form richtet, das "Ich"? Ist die indifferente Qualität des Erlebens, sobald sich der Sehsinn auf eine neutrale Form richtet, das "Ich"? Oder eventuell die angenehme, unangenehme oder die neutrale Qualität des Erlebens eines Klanges, eines Geruchs, eines Geschmacks, eines tastbaren Objektes oder vielleicht eines geistigen Bildes? Wenn die erstgenannte angenehme Empfindung das "Selbst" wäre, was wäre dann die Folge? Dann dürfte sie sich niemals wandeln. Wir müssten stets Formen als angenehm erleben. Wenn alle drei Grundempfindungen das "Selbst" wären, dann gäbe es notwendigerweise drei "Selbst". Sie können nicht das "Selbst" sein, da sie niemals gemeinsam als eine Entität auftreten. Untersuchen Sie, ob eine der sechs Arten des dritten Aggregates, des Aggregates des unterscheidenden Erkennens, das "Selbst" sein kann. Wenn beispielsweise das visuelle Erkennen eines Objektes als weiss mit dem "Selbst" identisch wäre, was wäre dann die Folge? Dann müsste die Sehwahrnehmung Objekte stets als weiss erkennen. Oder wenn das Identifizieren einer Person als Freund oder Feind mit dem "Selbst" identisch wäre, dann müssten konsequenterweise Personen stets als Freund oder Feind wahrgenommen werden. Oder wenn wir uns beispielsweise als schwach oder stark ansehen, unfähig oder äusserst fähig, eine geistige Entwicklung anzustreben, und diese jeweilige Schwäche oder Stärke das "Selbst" wäre, dann müssten wir uns immerzu als schwach oder immerzu als stark ansehen. Wenn die gesamten sechs Arten des unterscheidenden Erkennens mit dem "Selbst" identisch wären, dann müsste es sechs "Selbst" geben. Es kann sich hier nicht um die Entität "Selbst" handeln, da die Variation der Erkennungsmomente niemals zusammen, sondern getrennt voneinander auftreten. Wenn Sie die jeweiligen Geistesfaktoren des vierten Aggregates analysieren, werden Sie feststellen, dass Sie sich in der Tat alltäglich, mehr oder weniger, mit einem jeden dieser Faktoren identifizieren. Befragen Sie sich selbst: Ist dieser oder jener Geistesfaktor das "Ich", oder kann die Gesamtheit der Geistesfaktoren die Entität "Ich" sein? Vielleicht ist die Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast- oder die geistige Wahrnehmung das "Ich"? Wenn beispielsweise die Hörwahrnehmung mit dem "Ich" identisch wäre, dann müssten wir immerzu nur hören. Um uns von der Vorstellung zu befreien, dass alle sechs Arten von Primärbewusstsein ein und dasselbe wie das "Ich" sind, müssen wir uns auf eine analytische Weise der Erfahrung selbst zuwenden. Handelt es sich beim Bewusstsein oder bei der Erfahrung, die hinter allem Erleben zu existieren scheint, um ein sich von Moment zu Moment wandelndes Phänomen oder um eine Entität? Um sich selbst davon zu überzeugen, dass objektiv gesehen die Erfahrung oder das Bewusstsein keine Entität ist, sondern aus winzigen, aufeinander folgenden Erlebnissen mit einem erlebenden und erlebten Aspekt besteht, ist es unumgänglich, sich in der Meditation eines jeden Erfahrungsmomentes gewahr zu werden. Schliesslich richten Sie Ihre Konzentration auf das "Selbst", das eventuell als etwas ausserhalb der Skandhas identifiziert werden könnte.

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Sobald sich etwas Vertrauen und Verständnis entwickelt hat, dass die Aggregate leer sind, ähnlich dem offenen Himmelsraum, halten Sie sich nicht mit fortgesetzter Analyse auf, sondern begeben Sie sich geradewegs in die stabilisierende Leerheitsmeditation. Nachdem Vertrauen entstanden ist, gleicht die wiederholte Zuwendung zum analytischen Teil der Meditation dem ständigen und damit sinnlosen Ein- und Ausschalten eines Lichtschalters. Lassen Sie das Licht, sobald es angeschaltet ist, brennen. Während der eigentlichen Meditationsphase Ihrer Übung sollte es keinen Grund mehr für Nachdenken geben. Sie sollten frei von jeglicher Unschlüssigkeit in Meditation verweilen. Widmen Sie zum Abschluss einer jeden Meditationssitzung die Verdienste, die aus dieser Übung entstanden sind, der Erleuchtung aller Wesen. In der Zeit zwischen den Meditationssitzungen denken Sie bitte immer wieder darüber nach, dass kein "Selbst" in den Skandhas existiert; behalten Sie den traumartigen Charakter aller Erscheinungen im Sinn, die einem Film oder einer magischen Täuschung gleichen. Die Erscheinung eines "Selbst" ist zwar präsent, aber im wirklichen Sinn ist ein "Selbst" unauffindbar. Reflektieren Sie folgendermassen: Wie können Störfaktoren des Geistes wie Begierde, Aversion und Verblendung entstehen? Wenn diese nicht auftreten, wie kann dann Leiden entstehen? Nutzen Sie Ihre täglichen Leidsituationen, um anhand dieser die Erkenntnis über die Abwesenheit eines konkreten "Selbst" in Ihr Leben zu integrieren. Forschen Sie nach dem Leidträger. Befindet er sich im Geist? Im Körper? Wenn Sie den Leidträger weder im Körper noch im Geist vorfinden können, kann es keinen konkreten Leidenden geben. Lassen Sie den Geist in diesem Nichtvorfindenkönnen klar und einsgerichtet ausgeglichen ruhen. Wenn Sie Leiden und Frustration im täglichen Leben aufgrund von Gegnern erfahren, forschen Sie nach demjenigen, der da grosse Aversion gegenüber dem Gegner verspürt. Oder wenn Sie Leiden und Frustration aufgrund von Anhaftung an Freunde erleben, suchen Sie nach demjenigen der da an Freunden haftet. Wo kann er gefunden und als was Identifiziert werden? Ist er mit den geistigen Aggregaten identisch? Mit dem Körper? Wenn der Abwehrende oder der Anhaftende weder mit Geist noch Körper identisch ist, dann kann "der Abwehrende oder der Anhaftende" nicht existieren. Die Aggregate sind leer von einem Abwehrenden" oder "Anhaftenden". Lassen Sie den geplagten Geist in dieser Leerheit, die dem offenen Himmelsraum gleicht, einsgenchtet und ausgeglichen ruhen. Das ist das Mittel, um den Geist zu beruhigen und zu entspannen.

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Zweites Stadium: Chittamatra

Methode des Chittamatra »Die Sichtweise der Chittamatrins (der Nur-Geist-Vertreter): Die Darstellung als dualistisches Erscheinen von Erfassendem und Erfasstem, (das heisst als) Subjekt und Objekt, sowie als Bewusstsein ohne Dualität.« Während das Shravaka-Stadium zum so genannten Hinayana (skr., Kleines Fahrzeug) zählt, gehört das Chittamatra-Stadium dem Mahayana an. Mahayana bedeutet wörtlich "Grosses Fahrzeug", da das, was mit seiner Hilfe erreicht werden soll, der vollständig und vollkommen erwachte Zustand aller Wesen ist. Das steht im Gegensatz zum Ziel des Hinayana, bei dem es sich schlichtweg um das Aufhören des eigenen, persönlichen Leidens handelt. Der Hinayana ist aus der Sicht des Mahayana ein auf der Wahrheit beruhendes und gültiges Mittel, das Haften am "Selbst“ zu beseitigen, durch das die geistigen Störfaktoren (skr. :klesha wörtlich Plagen) die die allem Leiden zugrunde liegenden Ursachen sind, hervorgerufen werden. Der Mahayana akzeptiert auch, dass der Hinayana die Schleier der Unbewusstheit auflöst, die der Erkenntnis über die wahre Natur der Skandhas. Die leer eines Selbst sind, im Wege stehen. Der Mahayana erklärt jedoch, dass der Hinayana Unbewusstheit nicht vollständig beseitigt. Er tilgt einfach die grobe Unbewussthei, und zwar die, die die Ursache für die geistigen Störfaktoren und für Leiden sind. Technisch ausgedrückt heisst es, er beseitige einfach die Behinderungen, durch die die negativen Emotionen und falschen Vorstellungen hervorgerufen werden, wobei die weitaus subtileren, als Wissensschleier bezeichneten, bestehen bleiben. Geistige Störfaktoren und Leiden erschöpfen sich wie die Flamme einer Kerze, deren Wachs sich völlig verbraucht hat, der Meditierende tritt in einen Friedenszustand ein, den er Nirvana nennt. Eine Person, die den Mahayana-Weg kultiviert, erkennt jedoch, dass in diesem Zustand des geistigen Friedens noch eine subtile Art von Ignoranz vorhanden ist. Es ist die Unbewusstheit über die wahre Natur der Wirklichkeit, und diese Unbewusstheit verdeckt die Fülle des Potentials, über die ein menschliches Wesen verfügt. Ein menschliches Wesen besitzt in der Tat die Fähigkeit, einen geistigen Zustand vollkommenen und vollständigen Erwachens zu erreichen, durch den es mit allen Kräften eines Buddhas ausgestattet ist. Damit sind die gesamten Kräfte gemeint, die für das Wohlbefinden aller empfindenden Wesen tätig sind und die sie schliesslich zum vollendeten Erwachen hinführen. Mitempfinden mit anderen und der Wunsch, ihr Leiden zu beseitigen, sind somit die

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Motive, um weitere Fortschritte machen zu können. Jedoch ist Mitgefühl allein nicht ausreichend; notwendig ist die Einsicht, dass sich die Kraft, mit der man andere befreien kann, aus der erleuchteten Erkenntnis der wahren Natur der Wirklichkeit entfaltet. Das eigene Streben muss darauf hinauslaufen, die gesamten eigenen subtilen Schleier der Unbewusstheit zu beseitigen und den höchsten erwachten Zustand des Buddha zu erreichen. Diese als Wissensschleier bezeichneten Trübungen der Ignoranz sind zwar von einer subtilen Beschaffenheit, doch sie sind sehr machtvoll. Sie durchdringen und entstellen die Art und Weise, in der wir die Gesamtheit unserer Erfahrung sehen und verstehen und hindern uns daran, die Dinge im absoluten Sinn korrekt zu erkennen. Der Bodhisattva ist also von einer zweifachen grossartigen Einstellung erfüllt: Auf der einen Seite bemüht er sich um die Befreiung aller empfindenden Wesen vom immer wiederkehrenden, leidbedingten Dasein, und auf der anderen Seite will er die tiefgründige Leerheit aller Erscheinungen erkennen, die gleichbedeutend mit dem Erreichen des völlig erwachten Zustandes ist (skr.: Buddha). Die Bezeichnung für dieses doppelte Streben ist: "den erleuchteten Geist entstehen lassen" (skr.: bodhi-cittot-pada, tib.: byang chub sems bskyed). Mit dieser Einstellung als Grundlage schreitet er zur nächsten, zweiten Stufe der Meditation über Leerheit fort. Chittamatra bedeutet "Geist allein" oder "bloss Geist". Sowohl während des Shravaka als auch während des Chittamatra-Stadiums stellt man sich den eigenen Geist als einen Strom von Gewahrseinsmomenten mit einem erfassenden und einem erfassten Aspekt vor. Im Shravaka-Stadium nimmt man eine Welt "da draussen", jenseits der Sinne, als selbstverständlich an, während dies jedoch im Chittamatra-Stadium in Frage gestellt wird. Der Chittamatrin hegt nicht die Sichtweise eines Solipsisten (lat: solus ipse, Ich oder das Subjekt allein), wonach die Welt seine eigene Erfindung ist und nach der es nichts gibt, das ausserhalb von ihm existiert. Das würde einer Art Wahn gleichen. Der Chittamatrin meidet den Solipsismus, da er die Leerheit eines Selbst erkannt hat. Ein Selbst, das der Schöpfer einer derartigen Phantasiewelt sein könnte, existiert nicht. Die Methode des Chittamatra - wie auch jede andere Betrachtungsweise innerhalb des Buddhismus - basiert hauptsächlich auf direkter Erfahrung. Das Stadium des Chittamatra schliesst sich dem Vorbild des Shravaka an in dem Versuch, sich in jedem entstehenden Moment einer der Primärbewusstseinsarten voll gewahr zu sein; der Meditierende erkennt, dass die Unterteilung eines jeden Augenblickes der Wahrnehmung und Vorstellung in einen inneren erfassenden Geist und in ein äusseres erfasstes Objekt eine begriffliche Erfindung ist. In einem Traum erlebt man in jedem Augenblick innerlich erfassende Momente der Wahrnehmung, die sich anscheinend äusserer Objekte gewahr werden, wobei man aber beim Erwachen erkennt, dass es keine äusseren wahrgenommenen Objekte gab, die vom Geist verschieden waren. Sowohl bei innerlich erfassenden Momenten der Wahrnehmung und Vorstellung als auch bei äusseren erfassten Objekten handelte es sich um verschiedene Manifestationen des Geistes. Dies zeigt, dass die blosse Erscheinung eines anscheinend aussen erfassten Objektes kein Beweis dafür ist, dass diese Dinge, absolut gesehen, vorhanden sind. In der Tat gibt es keinen Beweis dafür, dass irgendwo eine Substanz existiert, die etwas anderes als Geist ist. Ausserdem hat Buddha selbst gelehrt: »Die Daseinsbereiche sind von Natur nur Geist.« Nachdem zuvor erwiesen

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wurde, dass kein persönliches Selbst in den Skandhas besteht, richtet sich nun die Aufmerksamkeit des Chittamatrins mit grösserer Präzision auf die Skandhas selbst. Es wird nicht nur das Vorhandensein eines "Selbst" im Sinne einer dauerhaften, separaten, unabhängigen Person geleugnet, sondern auch der Unterschied zwischen der Natur des Geistes und der des Stofflichen. Das Stoffliche ist leer von einer separaten, unabhängigen Natur. Jeder Erfahrungsmoment ist also im absoluten Sinn leer von einem Unterschied in der Natur des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Der Geist, den wir ausschliesslich als den sehenden oder betrachtenden Aspekt eines Erfahrungsaugenblickes ansehen, ist vielmehr auch der Inhalt dieser Erfahrung. Der Geist ist gleichzeitig sowohl wirklich als auch leer. Da alle Erfahrungen grundsätzlich eine Manifestation des Geistes sind, kann er als wirklich angesehen werden. Leer ist er in dem Sinne, in dem er keine dauerhafte, separate und unabhängige Wesenheit besitzt. Stattdessen hat er die Eigenschaft eines Stromes von vorbeiziehenden, in Abhängigkeit entstehenden Momenten der Primärbewusstseinsarten. Das Chittamatra lehrt, dass man den Geist unter zwei Gesichtspunkten verstehen muss: Er hat sozusagen zwei gleichzeitig auftretende Seiten, eine nach aussen hin gewendete und eine nach innen orientierte, womit der "Selbsterhellende Aspekt" gemeint ist, der etwas später erklärt werden soll. Mit der erstgenannten ist die Wahrnehmung und Vorstellung von Subjekt und Objekt gemeint; in anderen Worten: sie sind alle von ihrem Wesen her Geist. Die Gesamtheit des Seins ist leer von einer substantiell bestimmten Dualität zwischen Geist und Materie. Das bedeutet, dass es keine Begrenzung für die Einwirkungskraft des Geistes gibt, und es gibt keinen Grund, warum eine Person die vollständig uneingeschränkte Kraft der Buddha-Erleuchtung nicht verwirklichen und sich für die Befreiung aller Wesen vom Leiden einsetzen könnte. Bei näherer Betrachtung wird man verstehen, dass die Shravaka-Herangehensweise der Bewältigung von Leiden in einem Traum gleicht, indem man erkennt, dass es sich bei der Person im Traum nicht wirklich um einen selbst handelt. Die Methode des Chittamatra gleicht der Beseitigung von Leiden im Traum, indem man versteht, dass die Ursache „ des Leidens, zum Beispiel das Feuer oder der Tiger, ebenso wie die leidende Person, nichts anderes als das Spiel des Geistes sind. Wenn i man diesen Vergleich versteht, sieht man ein, dass das Feuer oder der Tiger wie auch der Leidende leer davon sind, eine ihnen eigene Wirklichkeit zu haben. Darüber hinaus könnte man es sich aussuchen, jeden beliebigen Traum zu träumen, sobald man erkannt hat, dass es der Geist selbst ist, der beides hervorbringt. Man wird nicht nur von der Täuschung, dass es eine Entität "Selbst" gibt, befreit sein, sondern auch vom l Gefühl der Machtlosigkeit. Dieses Gefühl der Ohnmacht hindert einen daran, die eigene wahre Natur zu erkennen, und zudem begrenzt es die eigene Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Es ist wichtig, die Chittamatra-Sichtweise nicht als eine Art Solipsismus zu verstehen. Chittamatra sagt nicht aus, dass das Ich allein das erkennbare Sein in seinem Bewusstsein oder in seiner persönlichen Erfahrung trägt. Es gibt eine Welt, die man mit anderen teilt. Das Anliegen des Chittamatra liegt darin, klar darzustellen, dass die aussen wahrgenommene Welt von keiner anderen Substanz als der des Geistes ist. Diese Lehrmeinung wird sehr plausibel in der Diskussion über die Art und Weise, wie

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das erfassende Bewusstsein, das von geistiger Natur ist, Materie wahrnehmen kann. Zwischen unserem Erleben und dem, was wir uns als stoffliche Welt vorstellen, besteht ein mangelnder Zusammenhang. Als Beispiel mag hier die Erfahrung von Widerstand und die Vorstellung von Festigkeit dienen. Beispielsweise erleben wir einen Widerstand und stellen uns etwas Stabiles vor. Es ist unmöglich, Festigkeit als solche zu erleben. Vielmehr ist es so, dass es der Geist ist, der sich ein Bild von etwas Stabilem macht. Dichte stoffliche Dinge können nicht in den Geist eintreten und in ihm herumtreiben, und der Geist vermag nicht eine Art Fühler in die materielle Welt auszustrecken, um sie zu erleben. Der Geist erlebt einfach geistige Ereignisse; er deutet sie inhaltlich als so etwas wie eine stoffliche Welt und fährt fort, sich diese vorzustellen. Recht viele moderne Wissenschaftler, Philosophen und Leute, die sich zum wissenschaftlichen Denken geneigt fühlen, sind der Meinung, dass die Aufspaltung in Geist/Materie nur mit der Feststellung aufzuklären sei, dass es sich beim Geist um nichts anderes als um Materie handle, oder der Geist das Gehirn oder eine Funkdon des Hirns sei. Entsprechend ihrer Sichtweise kann alles in Bezug auf die materielle Welt erklärt werden. Das Interessante an dieser Theorie ist nicht nur die Interpretation des eigenen Erlebens, das an einer stofflichen Welt jenseits der Sinne teilhat, sondern auch, dass die materielle Welt Gedanken, Emotionen und geistige Bilder - in der gleichen Weise wie es der eigene Geist vermag - erzeugen und erfahren kann. Diese Gedanken, Gefühle und Vorstellungsbilder gehören dazu auch noch der materiellen Welt an. Es bleibt einem anheimgestellt, darüber nachzugrübeln, was "stofflich" in diesem Zusammenhang wohl bedeuten mag. Obwohl sie die Geschichte von Pinocchio, in der ein einfaches Stück Materie, ein Stock, auf unerklärliche Weise Geist mit dem Erleben von Hoffnungen, Ängsten, Freuden, Leiden usw. entwickelt, nicht ernst nehmen, würden sie es aber nicht eigenartig finden, wenn Sub-Atome oder Moleküle damit beginnen würden, Gedanken und Gefühle hervorzubringen. Es gibt zum einen keine wissenschaftliche Gewissheit darüber, dass ein derartiges Phänomen überhaupt möglich wäre, zum anderen führt diese Anschauung auch die semantische Verwirrung über Begriffskategorien vor Augen. Sprachwissenschaftlich gesehen gibt es da die Kategorie "Geist" und das, was nicht Geist ist, in anderen Worten: "Materie". Die Materie (oder die stoffliche Welt) ist das, was sich "da draussen", jenseits der Sinne, befindet. Wenn sie nicht unabhängig von den Sinnen existieren kann, wie kann sie dann als Materie eingeordnet werden? Wie kann es sich bei einer ausserhalb der Sinne existierenden stofflichen Welt gleichzeitig um die Sinne handeln, die diese sinnlich erfassen und erleben? Eine derartige Theorie bietet keine entscheidenden Lösungen. Sie schickt sich noch nicht einmal zur Lösung der Frage an, um was es sich bei bewusster Erfahrung überhaupt handelt, ganz abgesehen von der Unklarheit darüber, was ausserhalb von ihr existiert oder nicht existiert.

Traumbeispiel Das Traumbeispiel ist das beste Mittel, das es gibt, um die Chittamatra-Erkenntnisstufe der Leerheit zu verstehen. Um zu erkennen, wie treffend dieses Beispiel ist, befragen Sie sich selbst, wieso Sie sich so sicher sind, in diesem Augenblick nicht zu träumen. Folgende Antworten mögen Ihnen in den Sinn kommen: »Weil Träume niemals so intensiv wie das Leben sind; Farben besitzen keine derartig starke Ausstrahlung;

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Formen, Laute, Gerüche, Berührungen und die Geschmacksarten sind nicht so klar und eindeutig.« Es wird sich jedoch gewiss jemand finden lassen, der damit nicht übereinstimmt und behauptet, seine Träume seien viel lebhafter als seine Erfahrungen zur Tageszeit. Würde das nun bedeuten, dass es sich bei seinen Träumen um Tageserlebnisse und bei seinem Wachzustand um einen Traum handelt? Oder wenn Ihre Sinneskraft so sehr Schaden erleiden würde, dass Sie die Dinge nicht mehr klar und genau erleben könnten, würde das dann bedeuten, dass Ihr Leben ein Traum ist? Nach längerem Nachdenken werden Sie vielleicht auf die Kontinuität Ihres Lebens hinweisen, und aus diesem Grunde sind Sie sich sicher, dass Sie gerade nicht träumen. Alles befindet sich an voraussagbarer Stelle, es gibt ein Gefühl für Ursache und Wirkung, für einen gleichmässigen Ablauf, für ein festgelegtes Muster von Ereignissen und so fort. Sie mögen behaupten, dass Träume von einer ganz anderen Beschaffenheit sind. Sie sind unberechenbar, sie können ohne jegliche Warnung und ohne einen triftigen Grund auf eine bizarre Art und Weise wechseln. Im Traum existiert keine echte Kontinuität, man findet sich an irgendeinem Platz vor, zu welcher Tageszeit auch immer, in irgendeiner Figur oder Form. Meinen Sie damit, dass der Traum zum Wachzustand und der Wachzustand zum Traum geworden ist, sobald sich ein Traum mit seiner Ereignisfolge stabilisiert und somit Kontinuität und ziemlich vorhersagbare Erlebnismuster aufweist und für einen langen Zeitraum andauert oder Ihre Erlebnisse im wachen Zustand nur für eine kurze Zeitspanne anhalten, in der Sie sehr verwirrt sind und sich nicht mehr zurechtfinden? Ausserdem ist es nicht ungewöhnlich, dass Leute von ganz gewöhnlichen Situationen träumen, zum Beispiel dass sie aufgestanden sind, gefrühstückt haben und zur Arbeit gegangen sind und so fort. Über den Hinweis, dass Sie gerade nicht träumen, werden Sie vielleicht lachen. Angenommen, Sie würden jetzt schlafen und träumen, so stellen Sie sich sicherlich vor, dass jedermann unmittelbar aufhören würde, mit Ihnen zu interagieren. Beim Aufwachen würde man Ihnen gewiss bestätigen, dass Sie geträumt haben, und demnach dürfte es keine Möglichkeit geben, Träume mit dem wachen Zustand verwechseln zu können. Es gibt jedoch keine natürliche Begründung, weshalb Sie nicht träumen sollten, dass Leute Sie aufwecken und Ihnen mitteilen, dass Sie gerade vom Traum erwacht sind. Wohl oder übel muss man schliesslich zugeben, dass es eindeutige Kennzeichen, die die Wacherfahrung von der des Traumes unterscheidet, nicht gibt. Es ist nur die Frage des Ausmasses und der eigenen, gefühlsmässigen Empfänglichkeit. Sie nehmen nur aus dem Grund an, wach zu sein, weil Sie sich in Sicherheit fühlen möchten und um Sie herum eine Welt verspüren wollen, die solide, ja real ist und stützenden Halt gibt. Wenn Sie Ihren Wachzustand ernsthaft anzweifeln würden, dann würden Sie gewiss in einen Zustand der Angst und Verwirrung geraten. Die Stabilität Ihrer Erfahrung während des Wachzustandes beruhigt Sie, demnach bauen Sie darauf und verleihen ihr eine Wirklichkeit, die Sie Träumen nicht gewähren. Wenn Ihnen im Traum Leid zustösst, sind Sie froh, ihn loslassen zu können, sobald er ein Ende gefunden hat; das Gefühl versichert Ihnen, dass er sowieso nicht der Realität entsprach. Doch wenn Sie in dem Zustand, den Sie als den Wachzustand im Leben bezeichnen. Leiden erfahren, werden Sie darin gefühlsmässig verwickelt und gewähren ihm den Rang einer absoluten

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Wirklichkeit. Das Traumphänomen wird von den Chittamatrins mit den sechs Arten des Primärbewusstseins erklärt, die sich gewöhnlich nach aussen den Sinnesobjekten zuwenden. Sie ziehen sich während des Traumes zurück und verlieren sich im "Speicherbewusstsein" (skr.: alaya-vijnana, tib.: kun gzhi mam shes), ähnlich Wellen, die sich im Ozean auflösen. Daraufhin beginnt das Speicherbewusstsein, sich in sich selbst zu bewegen, Vorstellungen von Subjekten und Objekten zu schaffen, die der Geist für wirklich hält und die er wie Erfahrungen während des Wachzustandes erlebt. Die Chittamatrins behaupten jedoch nicht, dass es keine Verschiedenheit zwischen einer Wach- und Traumerfahrung gibt. Sie behaupten, dass es keinen essentiellen Unterschied hinsichtlich ihrer Substanz gibt.

Subjektive Natur der Zeit Vielleicht haben Sie die obigen Einwände immer noch nicht überzeugt. Man ist sich seines Wachzustandes sicher, da die Zeit in einer gleichmässigen und voraussagbaren Weise verläuft, wodurch man Ereignisse mit einer augenscheinlich stabilen und unabhängigen Aussenwelt synchronisieren kann. Hier handelt es sich jedoch lediglich um eine andere Funktion der stabilen Art und Weise, in der sich die eigene Erfahrung entfaltet. Die subjektiv empfundene Zeit scheint jedoch entsprechend der eigenen Gemütsverfassung und Situation schnell oder langsam zu vergehen. Und was die zeitliche Gleichstellung der Dinge angeht, so werden Ereignisse, wenn sie zusammen auftreten, automatisch gleichgestellt; doch wenn sie es nicht tun, so erdenken wir uns einen Anlass, um es zu erklären. Ist man dazu jedoch nicht in der Lage, dann wird es als Mysterium bezeichnet; es hat zahlreiche dieser ungelösten Mysterien in der Geschichte der Menschheit gegeben. Dazu gibt es die Geschichte von einem Mann, der sich zum Haus eines Magiers begab und dem dort eine Tasse Tee angeboten wurde, aus der er einen Schluck trank. Er wusste jedoch nicht, dass der Magier einen Zauberspruch über den Tee gesprochen hatte. Noch bevor er dazu kam, seine Teetasse niederzustellen, war er dem Bann eines magischen Trugbildes verfallen. Er bestieg sein Pferd und ritt zum Ende des Kontinentes, wo sich ein grosser Ozean befand, der seinen Weiterritt verhinderte. Dort begegnete er einer wunderschönen Frau, die er heiratete und mit der er drei Kinder hatte. Drei Jahre lebte er mit ihr glücklich bis zu dem Zeitpunkt, als er aufgrund bestimmter Umstände in grosse Bedrängnis geriet und sich im Meer ertränkte. In diesem Augenblick war die Wirkung des Zauberspruchs vergangen, und er fand sich wieder im Haus des Magiers. Seine Tasse Tee stand immer noch vor ihm. So wenig Zeit war verflossen, dass der Tee, nachdem er seine Tasse niedergestellt hatte, sich noch immer in ihr drehte. Der springende Punkt dieser Aussage liegt darin, dass Vorstellungen von Zeitabläufen und augenscheinlich zeitlich zusammenfallenden Ereignissen kein Beweis dafür sind, dass irgendetwas anderes als der Geist selbst ihr Schöpfer ist. Es ist bekannt, dass sich beispielsweise Meditierende für Stunden oder Wochen in Meditation begeben können ohne das Gefühl irgendeines Zeitverlaufes zu haben.

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Fehlende Übereinstimmung Ihr Argument mag sein, dass "da draussen" eine Welt existieren muss, die nicht Geist ist, denn sonst wäre keine allgemeine Übereinstimmung darüber vorhanden, wie die Welt beschaffen sei. Wir tendieren dahin, alles das, was die allgemein übereinstimmende Meinung diktiert, besonders dann anzunehmen, wenn sie mit unseren eigenen Erfahrungen und Meinungen übereinstimmt. Bei übereinstimmenden Ansichten handelt es sich jedoch nur um die Frage des Ausmasses. Wir verfügen nicht über die Mittel, mit denen man herausfinden könnte, ob irgendjemand unter uns auf genau die gleiche Art und Weise wie ein anderer irgendetwas sieht oder erlebt. Gleichzeitig gibt es eine Menge Zeugnisse darüber, dass wir die gleichen Dinge nicht auf die gleiche Art sehen und erfahren. Wenn wir darüber nachdenken, wie unterschiedlich verschiedene Wesen die gleiche Sache erleben, tritt der Unterschied noch mehr hervor. Ich verweise auf das Beispiel des Wassers, das wir als etwas Erfrischendes, Trinkbares auffassen. Normalerweise betrachten wir das Wasser nicht als etwas, in dem wir leben können. Doch Fische tun es. Die Sichtweise eines Fisches über die Natur des Wassers ist von der unseren total verschieden. Mao Tse Tung mag als ein weiteres Beispiel dienen. Für einige erweckte er den Eindruck eines gefährlichen Feindes und für andere den eines teuren Freundes. Für den Moskito jedoch galt er lediglich als eine Nahrungsquelle und für die Parasiten in seinem Körper als ein vollständiges Universum. Wenn jeder Aspekt irgendeines Objektes durch die jeweiligen winzigen Momente der Primärbewusstseinsarten begründet ist, wie kann dann ihr Vorhandensein unabhängig von diesen Primärbewusstseinsarten begründet sein? Ein Konsens beweist nichts anderes, als dass bestimmte Beziehungen zwischen verschiedenen Erfahrungsabläufen bestehen. Er beweist nicht, dass irgendetwas existiert, was von anderer als geistiger Substanz wäre. Postuliert man das Vorhandensein eines Stoffes, bei dem es sich nicht um Geist handelt, dann muss man sich in der Tat mit fundamentalen Problemen auseinandersetzen. Wie kann eine derartige Substanz gefunden oder erkannt werden? Wenn etwas nicht ohne den Erkennenden erkannt werden kann, wie kann es dann jemals als etwas unabhängig Existentes bewiesen werden? Was ist es, das diese Abgrenzung zwischen Geist und Materie zustande bringt? Wie kann Materie in eine Beziehung mit Geist oder Geist in eine Beziehung mit Materie geraten? Da die von den Chittamatrins dargestellte mögliche Erklärung sich solcher Probleme entledigt, fordert sie zu einer ernsthaften Betrachtung auf.

Lehrmeinung des Chittamatra Die buddhistische Chittamatra-Schule vermittelt sorgfältig ausgearbeitete Erklärungen darüber, wie uns die Welt als solide, real und "da draussen" erscheint, obwohl in Wirklichkeit all das, was sich ereignet, Transformationen einer Art Geist-Stoff sind, der wie ein Ozean Wellen entstehen lässt. Das, was die Illusion einer unterschiedlichen Substanz von Geist und Materie hervorruft, ist das Auftreten eines innerlich erfassenden und aussen erfassten Aspektes innerhalb eines jeden Gewahrseinsmomentes. Materie ist jedoch bloss ein in der Vorstellung vorhandenes Konzept. Sie existiert nicht im geringsten. Der Geist ist leer von einer derartigen Unterscheidung zwischen sich selbst

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und etwas anderem als sich selbst. Wenn der Meditierende seinen Geist in seiner eigenen Natur ruhen lassen und diese Leerheit schauen würde, dann würde alle Verwirrung schwinden, und der Geist würde strahlend, klar und sich selbst bewusst sein. Dieser Geist ist der andere, gleichzeitig entstehende Aspekt des Geistes, der nach innen gerichtete, den man vorfinden wird, wenn man meditativ sorgfältig danach sucht. Er wird "der Selbsterhellende, sich seiner selbst bewusste" (tib.: shespa rang rig rang gsal) genannt, der Geist, der sich selbst in einer nicht-dualistischen, nicht-begrifflichen Weise erlebt (tib.: rang gis rang myong ba). "Selbst" bedeutet hier dieser Geist selbst und nicht die Person. Er ist völlig frei von Dualität und betrachtet Subjekt und Objekt nicht als zwei verschiedene Entitäten. Dieser seiner sich selbst bewusste Geist wird sich in der Meditation in einer nicht dualistischen Weise dem Erleben der wahren Natur des Geistes, die ausnahmslos lichte Klarheit ist (tib.: gsal z.am nyong ba'i bdag nyid), gewahr. Das Wesen eines jeden einzelnen Momentes dieser Erfahrung wird als wirklich und inhärent vorhanden akzeptiert. Die Madhyamikas akzeptieren, wie wir später sehen werden, einen derartigen Geist nicht, und er wird in ihren Abhandlungen oft widerlegt. Der Chittamatrin erwidert, dass es ohne einen derartigen Geist keine Möglichkeit gäbe, sich vergangener Ereignisse zu erinnern. Der erfassende und erfasste Aspekt eines jeden entstandenen Erlebnismomentes gehört der Vergangenheit an. Wenn es nichts gäbe, was einen Eindruck erfährt und registriert, wie könnte dieser Inhalt dann jemals abgerufen werden? Der Chittamatrin postuliert den selbsterhellenden, sich seiner selbst bewussten Geist, um das Phänomen der Erinnerung und das Registrieren karmischer Spuren zu erklären. Ein Erlebnismoment besteht entsprechend dem Chittamatra nicht nur aus einem erfassenden und einem erfassten Aspekt, sondern es gibt auch den sich selbst erkennenden, selbsterhellenden Aspekt. Dieser ist nicht ein separater Erlebnismoment, sondern vielmehr ein notwendiger Aspekt eines jeden Augenblicks des Gewahrseins. Wenn man beispielsweise eine Blume wahrnimmt, gibt es den aussen erfassten Aspekt, die Blume, und den nach aussen gerichteten, erfassenden Aspekt, der, der auf die Blume gerichtet ist. Der selbsterkennende, nach innen gerichtete Aspekt erlebt und registriert dieses Erkennen als ein einheitliches Ganzes. Er wendet sich nach innen in dem Sinne, in dem er die Wahrnehmung einer Blume erlebt, d. h. die Blume wie auch das Gewahrsein von ihr registriert, aber diese nicht als separate Wesenheiten unterscheidet. Die nach aussen gerichteten Aspekte gleichen einer Fernsehkamera, die filmt, jedoch die Ereignisse nicht registriert. Aber vom nach innen gerichteten Aspekt werden sie verzeichnet, können abgerufen und in der Erinnerung wachgerufen werden. Bei der sich selbst erkennenden, selbsterhellenden Bewusstheit handelt es sich demnach um einen weiteren Aspekt eines jeden Momentes des Primärbewusstseins, und es ist das, was das Speicherbewusstsein befähigt, die Spuren vergangener Ereignisse zu tragen, ähnlich einem Tonband, das Klänge speichert. Sobald die entsprechenden Umstände vorhanden sind, können die gleichen Töne wieder aktiviert werden. Auf einem abgespielten Tonband hört man die Laute, die den ursprünglichen, auf dem Band registrierten Klängen entsprechen. Das Reifen des eigenen Karmas verläuft ähnlich; es korrespondiert mit der ursprünglichen Handlung. Obwohl es sich hier in vielerlei Hinsicht nicht um ein analoges Beispiel handelt, so beschreibt es doch das Prinzip des Reifens oder des erneuten Wachrufens hinterlassener, schlummernder Spuren im Speicherbewusstsein.

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Entsprechend dem Chittamatra-System ist es der "begriffslose Weisheitsgeist" (tib.: mi rtog pa'i yeshes), der erkennt, dass keine separaten erfassten und erfassenden Entitäten in einem Erlebnismoment vorhanden sind. Sobald sich dieser begriffslose Weisheitsgeist manifestiert hat, treten keine eigenständigen Wesenheiten mehr auf, und es heisst, dass das Speicherbewusstsein geläutert und in den "spiegelgleichen Weisheitsgeist" transformiert ist. Zu diesem Zeitpunkt entsteht nur der selbsterhellende, sich seiner selbst bewusste Aspekt eines jeden Gewahrseinsmomentes, und dieser setzt sich als reiner Strom strahlender, klarer Bewusstheitsaugenblicke fort. Da die Chittamatrins hervorragende Meditierende waren und ihre Überlegungen aus ihren Meditationserfahrungen resultierten, wurden sie auch oft "Yogacarins" (Yoga bezieht sich hier auf Meditation) genannt. Sobald der Meditierende, frei von dualistischen Konzepten, seinen Geist in dessen Leerheit verweilen lässt, erlebt er die natürliche, umfassende Weite und die Klarheit des Gewahrsems. Das ist eine in die Tiefe gehende Meditationserfahrung. Da die Meditation innerhalb des Chittamatra-Stadiums auf dieser Erfahrung basiert, gilt ihre Leerheitserkenntnis als sehr tiefgründig. Die Lehrmeinung des Chittamatra vertritt acht Arten von Primärbewusstsein: die fünf Sinneswahmehmungen, das geistige, sechste Primärbewusstsein, den "mit Störfaktoren verblendeten Geist" (skr.: klishta-manah, tib.: nyon yid) und das Speicherbewusstsein, das wörtlich "das-Allem-als-Grundlage-dienende-Bewusstsein" (skr.: alayavijnana, tib.: kun gzhi rnam-shes) oder kurz "All-Basis" (tib.: kun gzhi) genannt wird. Das Speicherbewusstsein hat die Eigenschaft eines Gewahrseinsstromes, durch den alle sechs Arten des Primärbewusstseins, einschliesslich deren Objekte von Form, Laut, Geruch, Geschmack, berührbare und geistige Objekte, entstehen. Der erste winzige Moment der jeweiligen fünf Sinneswahrnehmungen ist ungeheuer flüchtig, so dass man sich seiner nicht gewahr ist. Alle eigenen begrifflichen Vorstellungen folgen auf der Grundlage des darauffolgenden Momentes, d.h. des sechsten, des geistigen Gewahrseinsmomentes. Das achte, das Speicherbewusstsein, ist die Basis für alle Arten von Primärbewusstsein. All das, was sich manifestiert, offenbart sich auf der Grundlage dieses Geistesstromes. Sowohl beim erfassten als auch beim erfassenden Aspekt der sechs Primärbewusstseinsarten dreht es sich um nichts anderes als um diese geistige Substanz. Beide Aspekte gleichen den Wellen des Meeres: obwohl sie sich unterschiedlich manifestieren, sind sie niemals etwas anderes als das Meer selbst. Die All-Basis ist die Ursache für die Kontinuität des Geistes während des Lebens, über den Tod hinaus zur Wiedergeburt, während des Tiefschlafs, des Traums und der meditativen Versenkung des Yogi. Sie hat den Aspekt von Klarheit und keinen Anfang in der Zeit. Sie ist karmisch neutral, und somit ist es möglich, dass gute, schlechte und neutrale Anlagen in ihr gespeichert werden können. Sie ist erkennender Hauptgeist mit den allgegenwärtigen Geistesfaktoren von Absicht, Kontakt, Aufmerksamkeit, Empfindung und Erkennen, doch unwissend und verwirrt ist sie sich nicht wirklich gewahr, dass Sinneswahrnehmungen, die Sinne und Sinnesobjekte, ebenfalls von ihrer Natur her Geist sind. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die All-Basis von den Befleckungen der dualistisch orientierten Primärbewusstseinsarten geläutert ist, manifestiert sich das "wahrhaft Seiende".

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Mancher mag darüber grübeln, ob ein jedes Wesen über seine eigene All-Basis verfügt oder ob sie lediglich als eine einzige, gesamte existiert. Was die konventionelle Wahrheit der Dinge angeht, so besitzt jedes Individuum sein eigenes Speicherbewusstsein, und nur in ihm selbst reift das Resultat seiner eigenen Handlungen heran. Jedoch vom absoluten, wirklichen Standpunkt aus gesehen existiert nur Geist, und er ist leer von separat existierenden Wesenheiten von Subjekt oder Objekt. Die siebte Form des Primärbewusstseins wird deshalb "der mit Störfaktoren verblendete Geist" genannt, weil er unwissend und die Basis für die Gifte des Geistes ist. Er nimmt die All-Basis irrtümlicherweise als eine unabhängige Person wahr und denkt in Ich-Einheiten. Aus dieser Annahme von "Selbst" resultiert der "Andere", und damit entstehen die kleshas, die geistigen Störfaktoren der negativen Emotionen und die der falschen Vorstellungen. Diese Primärbewusstseinsart ist weder eine Sinneswahrnehmung, die sich auf äussere Objekte richtet, noch folgt sie dem entstehenden Moment der sechsten, geistigen Wahrnehmung und Vorstellung. Der "verblendete Geist" ist nach innen hin zum Hauptgeist orientiert. Er ist der eigentliche Geist, der nach der Selbst-Entität des Individuums auf eine sehr subtile Weise greift und von den vier geistigen Faktoren verblendet ist, die stufenweise in einer soliden Vorstellung von "Selbst" resultieren: von einer sehr subtilen subjektiven Empfindung von "Selbst" ausgehend entwickelt sich eine subtile Form von Ich-Stolz, gefolgt vom Haften am "Selbst" und schliesslich der vollen Sichtweise von Selbst-Identität. "Der mit Störfaktoren verblendete Geist" ist der aktivierende Aspekt der All-Basis. Wenn diese mit dem Meer verglichen werden kann, dann entspricht "der mit Störfaktoren verblendete Geist" dem Wind. Mit einem neuzeitlichen Beispiel kann die All-Basis auch als Bank und der" Klesha-Geist" mit einem Bankier verglichen werden. Diese vier geistigen Faktoren können stufenweise durch ihr Gegenmittel, und zwar durch Meditation über die Abwesenheit von "Selbst", überwunden werden. Erst zur Zeit des achten Bhumi eines Bodhisattvas wird dieser Geist vollständig geläutert und in den Weisheitsgeist der Gleichwertigkeit transformiert sein. Das Speicherbewusstsem fährt dann nicht mehr fort, trugbildhafte, dualistische Erscheinungen von separaten, erfassten und erfassenden Wesenheiten zu produzieren. Der sich seiner selbst bewusste, selbsterhellende Aspekt eines jeden Augenblickes kann dadurch unbehindert strahlen. In der Chittamatra-Lehrmeinung macht die subtile Unterteilung des Erlebens einen sehr wichtigen Teil aus. Sie stützt sich auf die Aussage Buddhas, dass ein jedes Phänomen drei Merkmale besitzt. Die drei individuellen Kennzeichen oder Qualitäten, die den Wirklichkeitsgrad der Dinge widerspiegeln, sind:

1. Kennzeichen der begrifflichen Beifügung (skr.: parikalpita, tib.: kun brtags), 2. Kennzeichen des abhängigen Phänomens (skr.: paratantra, tib.: gzhan dbang), 3. Kennzeichen des vollständig Existenten (skr.: parinispanna, tib.: yongs grub).

1. Um Erscheinungen zu benennen, fügen wir diesen Namen oder Begriffe bei, sei es mit Hilfe gesprochener Worte oder Gedanken. Begriffliche Beifügungen sind substanzlos; es ist der Intellekt, der einer Entität eine Eigenschaft oder ein Kennzeichen zuschreibt. Die Erscheinungswelt besteht als blosse Vorstellung, oder in anderen Worten: die separaten Wesenheiten, die wir als "Geist" und "Materie" bezeichnen, sind

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begriffliche Erfindungen. "Der mit Störfaktoren verblendete Geist" produziert die Idee einer grundlegenden Dualität. Wenn Samen oder gewohnheitsmässige Muster psychischer Neigungen und Gedanken, die in der All-Basis latent gespeichert sind, aktiviert werden, produzieren sie simultan Objekte und das erkennende Subjekt. Das sechste, das geistige Primärbewusstsein, etikettiert und benennt. Begriffliche Beifügungen bestehen einfach nur als Name und Begriff, und keine der Entitäten, auf die sie sich beziehen, existieren von sich aus als eine natürliche Grundlage für das Hinzufügen von Konzepten. Sie sind schlicht etwas Eingebildetes. Das, was eine Vorstellung oder Beifügung kennzeichnet, ist die Leerheit von etwas Nichtvorhandenem (tib.: kun btags med pa'i stong nyid). Beifügungen - im Gegensatz zum "vollständig Existenten" - existieren ausschliesslich für Gedanken, ansonsten sind sie wesenlos. 2. Die zweite Qualität einer Erscheinung wird abhängig oder wörtlich "kraft anderer" genannt, weil Erscheinungen nicht aufgrund ihrer eigenen Kraft produziert werden, sondern in Abhängigkeit von spezifischen Ursachen und Begleitumständen, die "anders" als sie selbst sind. Unter einem abhängigen Phänomen, das sich hauptsächlich auf den Geistesstrom bezieht, versteht der Chittamatrin die Erlebnismomente der acht Primärbewusstseinsarten, ihre Objekte, die blosse Erscheinung und vom Geist nicht verschieden sind, als auch den selbsterhellenden, sich selbst erkennenden Bewusstheitsaspekt. Er sagt, dass ein abhängiges Phänomen auf eine irreführende Weise auftritt (tib.: kun rdzob tu yod pd), jedoch wahrhaft existiert (tib.: bden.pargrub.pd). Objekte scheinen als natürliche Grundlagen für Konzepte ausserhalb der Primärbewusstseinsarten zu existieren. Doch sind Objekte und die erfassenden Augenblicke des Geistes vergängliche Phänomene, die nicht länger als ihr eigener Moment andauern. Auch sind sie nicht, wie es scheint, allein durch ihr eigenes Vermögen entstanden. Die Momente der Primärbewusstseinsarten mit ihren momentanen Objekten sind von den vergangenen Handlungen einer Person konditioniert, deren Gewahrseinsstrom sie ausmachen. Es hat den Anschein, als ob das erfassende Subjekt und das erfasste Objekt als zwei separate Entitäten getrennt voneinander existieren würden. Doch beide Aspekte eines Erlebnismomentes entstehen in Abhängigkeit, ähnlich den in einem Spiegel auftretenden Reflexionen, die ebenfalls nur in Abhängigkeit von einem Objekt, das er widerspiegelt, auftreten können. Die Aussage, dass ein abhängiges Phänomen wahrhaft existiert, bedeutet, dass die acht Gruppen abhängigen Primärbewusstseins sowohl die Grundlage für den verwirrten Zustand des Daseinskreislaufes als auch für den makellosen Zustand transzendierten Leidens bilden. Wenn sich beispielsweise die gewohnheitsmässigen Muster der Denktätigkeit und des Handelns, die im Speicherbewusstsein verborgen ruhen, im abhängigen Geist manifestieren, erscheinen die missverstandenen Formen des gesamten Daseinskreislaufes. Sobald der abhängige Geist geläutert ist, treten die Formen der Buddha-Körper und die der "reinen Länder" ins Blickfeld. Das Vorhandensein einer "abhängigen Erscheinung" kann also nicht geleugnet werden, doch handelt es sich hierbei lediglich um ein in Erscheinung tretendes Phänomen (tib.: snang wa tsam). Als ein anderes Beispiel könnte ein Film über einen Tiger oder über eine Schlange dienen. Die Vorstellung von einem echten Tiger oder von einer echten Schlange ist eine

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begriffliche Beifügung. Die blosse Erscheinung des Tigers oder der Schlange, in anderen Worten das Licht, das auf dem Wandschirm in der Form eines Tigers oder einer Schlange spielt, ist relativ gesehen wirklich und ein abhängiges Phänomen. Den Wandschirm selbst könnte man auch als abhängig ansehen, ähnlich dem "Speicherbewusstsein", von dem sämtliche Manifestationen entstehen. Die Erscheinungen sind nur Licht, leer eines echten Tigers oder einer Schlange, und diese Leerheit blosser Erscheinungen gilt als das "wahrhaft Seiende". Das "wahrhaft Seiende" ist also der Wandschirm, der davon leer ist, wirkliche Tiger oder Schlangen zu sein. Dieses Beispiel ist allerdings nicht so passend wie das des Traumes, da man den Eindruck gewinnt, der Wandschirm und das auf ihm spielende Licht seien von unterschiedlicher Substanz. Um das abhängige Entstehen des Speicherbewusstseins und der anderen sieben Arten von Primärbewusstsein mit ihren erfassenden und erfassten Aspekten zu illustrieren, ist das Beispiel vom Ozean besser geeignet. Die von Unwissenheit getrübten fünf Sinneswahrnehmungen und der irrende, Begriffe-bildende Verstand führen ähnlich grossen Flüssen dem Speicherbewusstsein ihre Inhalte zu. Das siebte Primärbewusstsein, "der mit Störfaktoren verblendete Geist", aktiviert wie der Wind den Ozean und verursacht unterschiedlich auftretende Wellen, die von der Wassermasse nicht verschieden sind. Das, was ein "abhängiges Phänomen" kennzeichnet, ist die Leerheit von etwas Existentem (tib.: gzhandbang yodpa 'i st ong nyid), denn es wäre fehlerhaft, diese Formen als natürlich, wesenhaft und absolut wirklich zu bestimmen. 3. Das "vollständig Existente" ist durch die absolute Leerheit gekennzeichnet (tib.: yongs grub don dam pa 'i stong nyid). Die acht Arten des Primärbewusstseins sind in ihrem Wesen von dualistischem Erfassen völlig frei. Diese Leerheit ist nicht etwas Neuentstandenes oder eine Wirklichkeit, die durch Logik bestimmt werden kann; sie hat keinen zeitlichen Beginn und wird deshalb auch die "natürliche Leerheit" (tib.: rang bzhin stong pa nyid) genannt. Fragt man sich, wie die Chittamatrins Erscheinungen in relative und absolute Wahrheiten oder Wirklichkeiten gruppieren, so ist hier die Antwort: in dieser zweifachen Klassifikation von relativ und absolut wird der selbsterhellende, sich seiner selbst bewusste Geist vom Standpunkt der Chittamatra-Schule aus als absolut (tib.: mam grangspa 'i don dam) und nicht als relativ (skr.: samvrti, tib.: hin rdzob) eingestuft. Da er jedoch aus dem Zusammenwirken von Ursachen und Umständen entsteht, ist es nicht korrekt, ihn als endgültigen und eigentlichen Sinn und Wert anzusehen. Beim letztlich höchsten, absoluten (tib.: mam ygrangs ma yinpa 'i don dam oder mthar thug pa 'i don dam) muss es sich um das "letztlich Seiende" handeln. Das "wahrhaft Seiende" gelangt nicht in die Diskussion über die Art und Weise, wie die beiden Wahrheiten eingeteilt werden, da es jenseits jeglicher derartigen Unterscheidung liegt. Es ist ganz einfach die letztliche, reine und vollkommene Wirklichkeit (tib.: yang dagpa). Die Shravakas stellen lediglich den Unterschied zwischen zwei Arten der Wirklichkeit fest, die relative Wirklichkeit von der Welt, wie wir sie verstehen, und die absolute Wirklichkeit der Skandhas, die ohne ein "Selbst" sind. Die herkömmliche Wirklichkeit ist der Traumerfahrung ähnlich, und die Person, die im Traum zwar leidet, aber nicht tatsächlich existiert, ist mit der absoluten Wirklichkeit gleichzusetzen. Die Chittamatrins fügen eine weitere Unterteilung hinzu: die Traumerfahrung hat eine gewisse Wirklichkeit (tib.: bden par grub pa), da es sich um den Geist handelt, der von abhängiger Natur ist

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(tib.: gzhen dbang), in anderen Worten: es kann den Traummanifestationen ein gewisser Wirklichkeitsgehalt zugeschrieben werden, noch bevor man darangeht, sie als Wesenheiten wie »das ist mein Freund« oder »das ist mein Feind« begrifflich zu erfassen. Sowohl die Person, die im Traum als etwas Getrenntes von den Dingen, die im Traum wahrgenommen werden, vorkommt, als auch die gesamten, begrifflich hinzugefügten, unabhängigen und voneinander getrennten Wesenheiten, die in ihm auftreten, sind alle von eingebildeter Natur. Die absolute Wahrheit (tib.: don dam grubpa) ist die Leerheit des Geistes von diesen Wesenheiten; sie wird die "vollständig Existente" benannt, weil es sich bei dieser Leerheit um das "wahrhaft Seiende" handelt. Von westlichen Kommentatoren wurden die Ideen der Chittamatrins oder Yogacarins manchmal "Idealismus" genannt. Dieser Begriff kann einen jedoch veranlassen zu denken, dass in manchen Formen des Buddhismus die Idee einer unendlichen geistigen Wirklichkeit besteht, die die Welt in der Art eines Schöpfergottes erschafft, und dass die Wesen mit dieser geistigen Wirklichkeit so verbunden sind, wie Gott mit seinen Geschöpfen. Diese Ideen sind in Indien seit langem im Umlauf, aber keine buddhistische Schule hat jemals diese Vorstellung gebilligt. Das Speicherbewusstsein existiert nicht ähnlich einem Schöpfergott, da es ein Strom von flüchtigen Gewahrseinsaugenblicken ist, die weder ein "Selbst" haben noch "das Selbst" sind. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen theistischen und buddhistischen Systemen, und das sollte man niemals aus den Augen verlieren. Man sollte sich der Tatsache sehr bewusst sein, dass alle zur Befreiung führenden buddhistischen Samadhis auf der Verwirklichung von Leerheit und dem Nichtvorhandensein eines Selbst basieren. Diejenigen meditativen Vertiefungen, die dieser Grundlage entbehren, führen nicht zum befreiten Zustand.

Ergebnis des Chittamatra Das Nichtvorhandensein von Leiden ist das Ergebnis der Weisheit, die die Leerheit der Geist-Materie-Dualität erkennt. Wie Dunkelheit nicht in der Gegenwart von Licht sein kann, so kann kein Leiden in der Gegenwart dieser Weisheit existieren. Aus der grundlegenden Unwissenheit darüber, dass es sich beim "Selbst" um ein der Unwahrheit entsprechendes Selbst handelt, resultiert die begriffliche Vorstellung eines Unterschiedes zwischen Selbst und Anderen. Von diesem Dualitätsempfinden rühren die emotionalen Störfaktoren her, und zwar Anhaften an dem, was einem lieb und teuer ist, und Abneigung gegenüber dem, was es nicht ist. Verhaftung und Aversion verursachen eine Zunahme der emotionalen Störfaktoren und Leiden. Darüber hinaus zerstört die Weisheit, die erkennt, dass der Geist von einer Geist-Materie-Dualität leer ist (in anderen Worten: leer von aussen erfassten Wesenheiten, die substantiell von den innerlich erfassenden Primärbewusstseinsarten verschieden sind), in einem Streich Anhaften und Abneigung und alle damit verbundenen Formen von Leiden. Jeder Gewahrseinsmoment ist auf der äusserst subtilen Ebene vom Makel der Unwissenheit geläutert, und es besteht noch nicht einmal der Schatten einer Idee von einem substantiellen Unterschied zwischen Geist und den Objekten des Geistes. Das bedeutet, dass der Geist von begrifflicher Projektion, der dualistische Ideen zugrunde liegen, frei ist und in sich ruht. Derartige Ideen basieren auf falschen Behauptungen und Verneinungen. Es werden Behauptungen über Unterscheidungen

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aufgestellt, die nicht bestehen, und die wahre Natur der Wirklichkeit wird verneint. Unsere gesamte Vorstellung basiert auf der Akzeptanz von äusserenobjekten, die vom inneren erfassenden Geist getrennt sind und die wir als wirklich annehmen. Indem man alle begrifflichen Vorstellungen loslässt und über den Geist, der leer von dieser Dualität ist, meditiert, werden die Schleier beseitigt, und das Licht des Weisheitsgeistes, der Sich-seiner-selbst-Bewusste, der Selbsterhellende, wird zu einem geistigen Erlebnis werden. Dieses gilt als eine in die Tiefe gehende Erfahrung, und selbst denjenigen, die es erleben, fällt es schwer, sie in Worte zu fassen. Die Chittamatrins versuchen, dieses Phänomen als einen reinen Strom von sich selbst bewussten Erlebnisaugenblicken zu deuten, jedoch ziehen derartige Erklärungen logische Unvereinbarkeiten nach sich (s. folgendes Kapitel im Detail). Aus diesem Grund sind Unterweisungen über die Natur der Leerheit erforderlich, die weitaus tiefgehender und verfeinerter sind, bevor die wahre Natur dieser sich ihrer selbst bewussten, selbsterhellenden Erfahrung erkannt werden kann.

Untersuchungsmethoden Reflektieren Sie über die Tatsache, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass ein aussen erfasster Aspekt (oder Objekt) eines Gewahrseinsmomentes unabhängig vom inneren erfassenden Moment besteht. Der innere erfassende Aspekt eines Momentes kann nicht ohne ein aussen erfasstes Objekt entstehen und umgekehrt. Ein jeder Moment muss, um überhaupt auftreten zu können, beide Aspekte gleichzeitig aufweisen. Eine Wahrnehmung ohne ein Objekt der Wahrnehmung birgt einen begrifflichen Widerspruch, und der gleiche Widerspruch besteht beim Objekt der Wahrnehmung, das einer sinnlichen oder geistigen Wahrnehmung ermangelt. Das eine kann nicht vor oder nach dem anderen auftreten und damit über eine unabhängige, eigene Existenz verfügen, genauso wie Traumerfahrungen nicht unabhängig vom träumenden Geist sein können. Jeder Augenblick des träumenden Geistes entsteht gleichzeitig mit den Traummanifestationen, die seine Objekte sind. Die Traumerscheinungen können weder vor noch nach der Traumwahrnehmung auftreten. Von bestimmten Beziehungsmustern des Wachzustandes schliessen wir darauf, dass die Objekte unserer Sinneswahrnehmung sowohl vor als auch nach unserem Gewahrwerden immer noch vorhanden sind, jedoch handelt es sich hierbei um die herkömmliche Wahrheit der Dinge. Sobald wir nähere Untersuchungen anstellen, werden wir eine derartige Wirklichkeit nicht vorfinden. Der Beweis, der von anderen angeführt wird, dass wir dieselben Objekte wie sie wahrnehmen, hält keiner minutiösen Untersuchung stand. Man kann annehmen, dass - relativ gesehen - andere dieselben Objekte wie wir wahrnehmen, aber vom letztendlichen Standpunkt aus gesehen entsteht und vergeht jede Wahrnehmung sowohl von einem selbst als auch von anderen gleichzeitig zusammen mit ihren Objekten. Sowohl das aussen erfasste Objekt als auch der innere erfassende Aspekt eines jeden Gewahrseinsaugenblickes besteht aus der gleichen Substanz, die, ähnlich den Träumen, frei von einer Geist-Materie-Aufspaltung ist.

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Meditationsverlauf Zu Beginn einer jeden Meditationssitzung sollte man sich gedanklich m den Schutz von Buddha, Dharma und Sangha begeben und die Bodhicitta-Motivation entfalten. Das Üben der Leerheitsmeditation in den drei Stufen, nämlich der analytischen, alternierenden und stabilisierenden, gilt selbstverständlich auch für diesen Meditationsverlauf. Das Ziel der in diesem Buch beschriebenen Meditationsfolgen ist es, die jeweilige Sichtweise über Leerheit durch den analytischen Teil der Meditation in das eigene Verständnis zu integrieren und schliesslich durch die alternierende und stabilisierende Meditation in direkte Erfahrung umzusetzen. Damit wir uns von der Aussage der Chittamatrins überzeugen können, gehen wir auf die zuvor erklärten Untersuchungsmethoden im analytischen Teil unserer Meditationssitzungen ein, insbesondere auf das Traumbeispiel und die in Frage gestellte Subjekt-Objekt-Verschiedenheit. Das Traumbeispiel ist für die Annäherung an die Sichtweise von Leerheit, die vom Chittamatra-Lehrsystem vertreten wird, äusserst förderlich. Für den Ich-denkenden und wahrnehmenden Geist treten die Traumerscheinungen eindeutig und real als etwas ausserhalb des geistigen Erlebens Vorhandenes auf. Diese dualistisch verhaftete Vorstellung erweist sich erst dann als fehlerhaft, wenn wir vom Traum erwacht, in anderen Worten, uns dessen voll bewusst geworden sind. Unmissverständlich erkennen wir, dass beide, der subjektiv erlebende Geist und das objektiv, vom Geist unabhängig erlebte Ereignis, vom Geist produziert wurden. Für die Entwicklung der eigenen Leerheitserkenntnis ist es wichtig, den Geist während des analytischen Teils der Meditation mit diesem Beispiel durch und durch vertraut zu machen. Das Beobachten des erfassenden und erfassten Aspektes eines Gewahrseinsmomentes sollte ebenfalls das Objekt der analytischen Meditation sein, so dass die Aussage, der Geist sei leer von einer Subjekt-Objekt-Dualität, aufgrund der eigenen Beobachtung und Erfahrung mit Gewissheit angenommen werden kann. Wie kann etwas ausserhalb und unabhängig von der Wahrnehmung existieren, wenn Erlebtes nur in Abhängigkeit von einem Erlebenden auftritt, ähnlich der in einem Spiegel gleichzeitig auftretenden Widerspiegelungen? Konventionell lassen sich über die Dinge und die Welt allgemeine Aussagen machen, doch letztlich liegt jedem Gewahrseinsmoment die Tatsache der beiden abhängigen Aspekte, des subjektiven Erkennens und des objektiv Erkannten, zugrunde, wobei der Akt des Erkennens mit diesen beiden Aspekten von rein geistiger Natur ist. Die Vorstellung von separaten, wahrhaft existierenden äusseren Objekten ist eine überflüssige Erfindung des Geistes. Wenn Sie nach eingehender Untersuchung von dieser Aussage überzeugt sind, lassen Sie den Geist in der Weite der Leerheit ruhen. Der selbsterhellende, sich selbst bewusste Geist ruht in sich selbst und ist auf die Leerheit jeglicher Geist-Materie-Aufpaltung (tib.: bzung 'dzin gnyis kyis stong pa) gerichtet. Der Geist wird dabei als etwas Gegebenes angenommen, ohne dass man seine Aufmerksamkeit auf ihn als solches richtet. Stattdessen lenkt man ihn auf die Leerheit eines jeden Gewahrseinsmomentes, indem man keine begriffliche substantielle Unterscheidung zwischen einem innerlich erfassenden Aspekt und einem aussen erfassten macht. Der

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Geist - wie in der meditativen Phase innerhalb des Shravaka-Stadiums über Leerheit - verweilt einsgerichtet in der weiten Ausdehnung der Leerheit. Widmen Sie zum Abschluss die aus dieser Übung entstandenen Verdienste der Erleuchtung aller. Denken Sie zwischen den Meditationssitzungen darüber nach, wie unser gesamtes Erleben einem Traum gleicht. Die äussere Welt und der innere Geist sind - genauso wie im Traum - allesamt von Natur aus Geist.

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Drittes Stadium: Svatantrika-Madhyamaka

Methode des Svatantrika-Madhyamaka »Die Sichtweise der Svatantrika-Madhyamikas: In konventioneller Hinsicht existieren die Erscheinungen, sie existieren ähnlich einem magischen Trugbild. Die absolute Wahrheit ist ihre Nicht-Existenz, ähnlich dem Himmelsraum.«

Das Madhyamaka (skr. von: madhya, tib.: dbu ma, das Mittlerste) ist die Philosophie des "Mittleren Weges". Sie vertritt die Anschauung eines "Mittleren Weges", der von den Extremen des Seins oder Nichtseins aller Dinge frei ist. Jedwede Aussage über die Natur der Dinge wird mittels vielfältiger Beweisführung widerlegt, und damit wird gleichzeitig auf die Relativität und den trugbildhaften Charakter einer jeden Erscheinung hingewiesen. Die tibetische Tradition teilt das Madhyamaka-Lehrsystem in die beiden philosophischen Schulen madhyamaka rangtong (tib.: leer von sich selbst) und in madhyamaka shentong (tib.: leer von anderem) ein. Die Absicht des Madhyamaka Rangtong liegt darin nachzuweisen, dass alle Erscheinungen leer von einer Wesenhaftigkeit sind. Der Begriff "Shentong" wurde zwar in Tibet geprägt, doch das Madhyamaka Shentong betrachtet seine Tradition als eine Fortsetzung der in Indien als Yogacara-Madhyamaka bekannten Schule. Sie nennt sich "Leerheit von anderem", weil sie eine leuchtende, klare Bewusstheitsweite vertritt, die jenseits von jeglicher begrifflichen Fabrikation als die Basis aller relativen Erscheinungen existiert. Dieser wahre Zustand des Geistes ist ursprünglich leer von den Befleckungen der relativen Phänomene, die "anders als er selbst" sind. Es gibt zwei Madhyamaka Rangtong-Schulen:

1. Svatantrika-Madhyamaka (tib.: dbu ma rang rgyud, eigene These -mittlerer Weg). Ein Svatantrika vertritt mit seiner "eigenen These" die relative eigene Existenzweise der Erscheinungen als auch die letztliche Natur einer Erscheinung, die der Leerheit.

2. Prasangika-Madhyamaka (tib.: dbu ma thal gyur, Konsequenz -mittlerer Weg).

Die Verfechter dieser Lehrmeinung nennen sich "diejenigen, die von logischen Schlussfolgerungen Gebrauch machen". Indem sie dem Diskussionsgegner eine absurde Konsequenz seiner eigenen Position präsentieren, versteht dieser das Prasangika-System, nämlich dass eine Erscheinung nicht inhärent existiert.

Einer der bedeutendsten Philosophen des Buddhismus und Begründer des Madhyamaka-Systems war der Inder Nagarjuna (1.13. Jh.). Er fasste in seinem wichtigsten Werk "mula-madhyamaka-karika" ("Memorialverse über die Mittlere Lehre") sein System der Beweisführung zusammen. Sein Schüler Buddhapalita (5. Jh.)

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verfasste darüber einen berühmten Kommentar. Aber dessen Zeitgenosse Bhavaviveka (6. Jh.) kritisierte die Methode Buddhapalitas und entwickelte ein eigenes System, das wiederum auf dem Werk "mula-madhyamaka-karika "basiert. Somit wurde er zum Begründer des Svatantrika-Madhyamaka. Chandrakirti (8. Jh.), ein Anhänger des Buddhapalita, verfasste eine philosophische Abhandlung, die Buddhapalitas prasangika-ähnlich formulierten Auslegungen der von Nagarjuna verfassten "Memorialverse über die mittlere Lehre" verteidigte und Einwände gegen die in Bhavavivekas Werk enthaltene Kritik erhob. Somit wurde er zum Begründer des Prasangika-Madhyamaka. Als wir das Lehrsystem des Chittamatra betrachteten, sahen wir, dass es drei Arten von Leerheit gibt: die Leerheit der Nicht-Existenz begrifflicher Beifügungen, die Leerheit der Existenz abhängiger Erscheinungen und die absolute Leerheit des vollständig Existenten. Wir haben gelernt, was mit der Leerheit von begrifflicher Beifügung gemeint ist: Sobald ein vorgestelltes Objekt genau untersucht wird, wird man erkennen, dass es nicht aufgrund seiner eigenen Merkmale existiert, sondern bloss als ein beobachtetes Gedankenobjekt. Ein Beispiel für die bezeichnendste nicht-existierende Beifügung ist die der beiden Arten von "Selbst", das der Person und das der Phänomene; in anderen Worten: sie existieren ausschliesslich in unserer Vorstellung, die wir von ihnen haben, aber niemals als wahre Wesenheiten. Andererseits haben wir erkannt, dass die Leerheit der abhängigen Erscheinung bedeutet, leer von begrifflicher Beifügung zu sein, doch nicht leer von ihrer eigenen Natur. Das ist der Punkt, den die Madhyamikas (skr., die Vertreter des Madhyamaka) bestreiten. Sie sind nicht der Ansicht, dass es sich beim vollständig Existenten, der endgültigen Leerheit, wie sie von den Chittamatrins vorgefunden wird, um die letztliche Leerheit handelt. Ihrer Meinung nach geht die Analyse der Chittamatrins nicht weit genug. Die Shravakas, Chittamatrins und alle diejenigen, die die Madhyamaka Rangtong-Sichtweise vertreten, stimmen darin überein, dass der Geist ein Strom von Gewahrseinsmomenten ist. Die Shravakas finden anhand ihrer Analyse kein individuelles Selbst in ihm vor. Die Chittamatrins erforschen ausserdem auch die Objekte der Wahrnehmung und stellen fest, dass sie keine externe Existenz haben, die vom inneren erfassenden Geist getrennt ist, aber sie erkennen nicht, dass der erfassende Geist selbst nicht real vorhanden ist. Das Madhyamaka Rangtong erforscht sowohl das Gewahrsein als auch seine Objekte und stellt fest, dass weder die Arten des Primärbewusstseins noch seine Objekte Wesenhaftigkeit besitzen. Die Svatantrika-Madhyamikas sind der Meinung, dass der Geist als ein Strom von erfassenden Gewahrseinsaugenblicken zusammen mit seinen Objekten auftritt und dass diese plausible Erscheinung die relative, nicht absolut gültige Wirklichkeit ist. Sowohl die Shravakas als auch die Chittamatrins nehmen die Momente des Geiststromes in gewisser Hinsicht als etwas uneingeschränkt Gültiges an, weil man mittels der Endanalyse stets den Geist als etwas wirklich Vorhandenes erlebt. Das Lehrsystem des Svatantrika-Madhyamaka begründet, dass die Arten des Primärbewusstseins zusammen mit ihren Objekten letztlich nicht der endgültigen Wahrheit entsprechen. Es demonstriert anhand logischer Beweisführung, dass jeder

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Aspekt nur in Abhängigkeit von anderen entsteht und keiner von ihnen Eigennatur besitzt. Eine äussere Form zum Beispiel und das Erkennen von Subjekt und Objekt entstehen in Abhängigkeit. Wenn einer dieser Aspekte unabhängig in seinem eigenen Wesen existieren würde, dann müsste dieser Aspekt von Dauer sein. Wenn beispielsweise Form wahrhaft existent und damit unabhängig wäre, dann müsste sie auch dann unwandelbar weiterbestehen, wenn der Erkennungsmoment von Subjekt und Objekt erloschen ist. Die Form als Objekt des gegenwärtigen Wahmehmungsmomentes müsste die gleiche wie die Form des darauffolgenden sein. Oder was hätte es zur Folge, wenn ein Erkennungsmoment inhärent existieren würde? Dann müssten beide, die Form des vorhergehenden Augenblickes und die des darauffolgenden, als ein Objekt des gleichen Wahmehmungsmomentes bestehen. Aus diesen Gründen kann nur etwas in Abhängigkeit von etwas anderem entstehen. Beide, Form wie auch das Gewahrsein von Form, haben keine wahre oder unabhängige Existenz. Dies verhält sich ebenso mit Laut und Erkennen von Laut, Geruch und Erkennen von Geruch, Geschmack und Erkennen von Geschmack, mit einem tastbaren Objekt und dem Erkennen eines tastbaren Objektes. Der Mahasiddha Padmasambhava (8. Jh., Gründer des Tibetischen Buddhismus) sagte:

»Wenn in dieser Weise das Auge ein Objekt betrachtet oder was auch immer im äusseren Universum oder an Wesen darin, möge ich im natürlichen Zustand, frei vom Haften an der Wirklichkeit der Erscheinungen, verweilen und inbrünstig zu meinem spirituellen Meister beten, damit Erscheinungen sich von selber befreien.«

Wenn ein vom Auge erfasstes Objekt wahrhaft und inhärent existieren würde, dann könnte dieses Objekt im zweiten Wahrnehmungsaugenblick nicht sichtbar werden. Es könnte im zweiten Moment nicht auftreten, weil dieses Objekt des ersten Augenblickes wahrhaft, inhärent existent und damit nicht zeitlich veränderlich wäre. Ebenso kann ein Erkennen im zweiten, darauffolgenden Augenblick nicht zustande kommen, wenn das Erkennen des ersten Augenblickes wahrhaft existent wäre. Insofern wird behauptet, dass Erscheinungen leer einer eigenen, unabhängigen Existenz sind. Von einem Moment sagt man beispielsweise, er sei vergänglich: das Vergangene hat seinen Platz eingenommen, es hatte keinen Bestand. In diesem jetzigen Moment hat sich das Zukünftige noch nicht eingestellt, es hat ebenfalls jetzt keinen eigenen Bestand. Wenn das, was wir den gegenwärtigen Moment nennen, von seinem eigenen Wesen her existieren würde, dann müsste dieser gegenwärtige Moment beständig und immer jetzt vorhanden sein. Doch der gegenwärtige Moment hat keine eigene, unabhängige Existenz, da auf diesen unweigerlich ein anderer folgt. Von dem Mahapandit Nagarjuna stammt die Aussage:

»Derjenige, der Vergänglichkeit versteht, versteht Leerheit.« Dieser Vorgang ist ein äusserst kraftvoller und tiefgründiger Weg, um die Leerheit aller relativen Erscheinungen nachzuweisen, die durch wechselseitige Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen geschehen (skr.: pratitya-samutpdda, tib.: rten cing 'brel ba 'byung ba). Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwortet, und in mancher Hinsicht gibt

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das Chittamatra-System mehr Auskünfte als das Madhyamaka Rangtong, wie die relative Wirklichkeit funktioniert. Das Madhyamaka Rangtong ist ein Lehrsystem von Schlussfolgerungen, die unsere alltägliche Perspektive des sogenannten gesunden Menschenverstandes von der Welt aufgreift und uns zeigt, dass eine derartige Sicht von der Welt voller logischer Widerspräche ist. Wir erfahren die Welt durch unsere Sinne, doch sobald wir unseren Verstand benutzen und minutiös die exakte Art und Weise ihrer Existenz untersuchen, gelangen wir zur Einsicht, dass es nichts gibt, das aufgrund einer Eigennatur existiert. Erleben und logisches Durchdenken befinden sich vom endgültigen Standpunkt aus gesehen in einem grundlegenden Konflikt, und die Lösung dieser Auseinandersetzung kann nur durch die unmittelbare Kenntnis kommen, die der Meditation der analytischen Durchdringung entspringt. Es ist das Ziel aller Madhyamaka-Lehrsysteme, die Bewusstheit zu erhellen, indem sie den gedanklich ergründenden Verstand erschöpfen und ihn dabei unterstützen, vorgefasste Ideen über die Natur der Welt aufzugeben. Der Unterschied zwischen den Svatantrika-Madhyamikas und den Prasangika-Madhyamikas liegt im Inhalt und in der Methode ihrer Argumente. Die erstgenannten benutzten Beweise, um die Eigennatur der Erscheinungen zu widerlegen und wenden dann darüber hinaus Argumente an, um ihre wahre Natur, ihre Leerheit, zu bestätigen. Sie beweisen also zuerst, dass Erscheinungen nicht wirklich existieren, d.h. dass sie keine Eigennatur haben. Dann bestätigen sie, dass ihre eigentliche, wahre Natur die der Leerheit ist. Die Prasangikas gebrauchen ihre Argumente ausschliesslich dazu, um Eigennatur zu widerlegen, ohne jedoch den Versuch zu unternehmen, die "wahre Natur" anhand von Beweisführung überhaupt erst nachzuweisen. In der Hindu-Tradition indes besitzt das Höchste, das Absolute, Wesenhaftigkeit. Atman, das Heilige, Höchste wird als ein Selbst postuliert. Die Argumente sowohl der Svatantrika- als auch der Prasangika-Madhyamikas sind sehr effektiv in der Widerlegung dieser Anschauung, indem sie beweisen, dass die absolute Wirklichkeit leer von einer Eigennatur ist. Die Aussage, etwas sei wesenlos, bedeutet mit anderen Worten, dass dieses keine separate, unabhängige, dauerhafte und eigene Natur besitzt. Ein Regenbogen erscheint beispielsweise äusserst lebendig, und sein Entstehen kommt durch Ursachen und Umstände, wie zum Beispiel durch den Himmelsraum, den Regen, die Sonne, den Lichtwinkel und so weiter, zustande. Sobald man jedoch eingehend nach seiner endgültigen Natur Ausschau hält, wird man nur leeren Raum vorfinden. Es scheint, als ob er dem eigenen Blick entschwunden wäre, aber trotzdem steht er noch klar leuchtend am Himmel. Wissenschaftler studieren physische Dinge, beispielsweise eine Blume, auf die gleiche Art. Eine erste grobe Untersuchung läuft darauf hinaus, eine Blume in ihre Teile wie Blütenblätter, Stiele und so fort zu zergliedern. Eine feinere Analyse wird sie in Zellen, Moleküle, dann in Atome und in subatomare Teilchen einordnen. Schliesslich verlieren selbst diese subatomaren Teilchen ihre Identität, werden schlicht zu Bewegung im leeren Raum, und die letztendliche Natur dieser Bewegung trotzt jeglicher beweisfähigen Untersuchung.

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Trotz alldem bleibt die Blume so lebendig und gegenständlich wie zuvor. Aus diesem Grund muss man gezwungenermassen das Vorhandensein von zwei Wirklichkeiten akzeptieren: die relative und die absolute. Die relative ist die Wirklichkeit der Dinge, wie sie dem unkritischen, gewöhnlichen Geist erscheinen, und die absolute ist die Wirklichkeit hinsichtlich der endgültigen Natur einer Erscheinung, die von einem rationalen Geist durch genaue und minutiöse Analyse festgelegt wurde. Das ist die Sichtweise des Svatantrika. Das Relative gilt bloss als etwas, das vom begrifflichen Denken hinzugefügt wurde (tib.: mam rtog gis btags pa tsam), und das Absolute ist die Leerheit, frei von Begriffen.

Traumbeispiel Die endgültige Natur der verschiedenen Dinge, die sich im Traum manifestieren, ist die Leerheit, da keines von ihnen wirklich ist. Sie besitzen keine Eigennatur wie zum Beispiel ein Traum-Feuer, denn dies hat nicht die Eigenart des Feuers, d.h. es kann nicht wirklich etwas verbrennen, und es ist nicht durch das Zusammenkommen von Ursachen und Umständen geschaffen wie Holz, Streichhölzer und so weiter. Genauso kann der Traum-Tiger nicht wirklich beissen und ist nicht durch die Begegnung von seiner Mutter und seinem Vater ins Leben gerufen worden und so fort. Traum-Feuer und Traum-Tiger verfügen demgemäss nicht über die Eigennatur, die man dem Feuer oder dem Tiger zuschreibt. Sie sind leer von einer derartigen Natur, aber trotzdem treten sie auf und funktionieren in den Sinnen auf eine Weise, die den Träumer in Angst und Leid versetzen können. Ihr Erscheinen und ihre Wirksamkeit gehören zur relativen Wirklichkeit, ihre absolute Wirklichkeit ist jedoch die Leerheit. Auf die gleiche Art erscheinen im Wachzustand relative Erscheinungen, die eine Funktion erfüllen, und obwohl es so aussieht, als ob sie eine unabhängige, dauerhafte, separate Existenz haben, besitzen sie doch keine derartige eigene Natur. Ihre endgültige Natur ist die Leerheit. Die Svatantrikas halten sich an die Aussage Buddhas: »Alle Erscheinungen sind Leerheit«. Sie fassen diese Aussage über die letztendliche Natur der Dinge als die unbestreitbare, wahre und endgültige Lehre Buddhas auf, d.h. sie betrachten sie als eine nitartha-Lehre (skr., wahre und eigentliche Bedeutung). Ihrer Ansicht zufolge bedarf die Behauptung Buddhas: »Die drei Welten sind bloss Geist« einer sorgfältigen Erläuterung. Sie ist in anderen Worten eine neyartha-Letae (skr., hinführende Bedeutung), eine Übergangslehre. Sie interpretieren diese Behauptung, alles sei Geist, dahingehend, dass das, was die relative Wirklichkeit ausmacht, lediglich Begriffe sind. Im Gegensatz zu den Chittamatrins wird von ihnen eine der endgültigen Analyse standhaltende, wahrhaft existierende Substanz, nämlich die des Geistes, nicht akzeptiert. Der wesentliche Punkt innerhalb der Chittamatra-Lehrmeinung, den sie kritisch beurteilen, ist, dass der Geist nicht unabhängig von seiner eigenen Natur existieren kann, weil ein Gewahrseinsmoment in Abhängigkeit von einem Gewahrseinsobjekt entsteht und umgekehrt, und damit muss der Geist, den die Chittamatrins postulieren, etwas Relatives sein und kann nicht etwas Absolutes sein. Mit einer derartigen Argumentation sind die Svatantrikas in ihrer Analyse über die absolute Natur der Dinge gründlicher und genauer. Kraftvoll stellen sie ausser Frage, dass die

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endgültige Natur aller relativen Erscheinungen die Leerheit ist, da diese bloss Begriffe sind. Selbst derartige Begriffe wie "die Leerheit" können als leer bewiesen werden. Hier sei kurz erwähnt, dass nicht alle Madhyamikas "das Mittlere" oder die Balance zwischen den Extremen von Sein und Nichtsein in der gleichen Weise interpretieren. Einige unter den Svatantrikas sehen -relativ gesehen - die Objekte als vom Geist substantiell verschieden, als Aggregate von Partikeln an (Sautrantika-Svatantrika-Madhyamaka) und andere schliessen eine externe Aussenwelt, die etwas anderes als Geist ist, aus (Yogacara-Svatantrika-Madhyamaka), doch sind sich alle darüber einig, dass - absolut gesehen - sowohl aussen erfassten Objekten als auch inneren registrierenden Arten von Primärbewusstsein eine Wesenhaftigkeit fehlt. Keiner unter ihnen (im Gegensatz zu den Chittamatrins) akzeptiert, dass die in Abhängigkeit auftretenden Erscheinungen etwas wie wahre Existenz besitzen. Obwohl einige Svatantrikas in der Darstellung der beiden Wirklichkeiten, der konventionellen und der absoluten, diese ihrem Wesen nach ziemlich separat und verschieden lehren, legen andere Nachdruck auf ihre Untrennbarkeit, wobei beide verschiedene Aspekte einer einzigen Wirklichkeit sind. Die erstgenannten betonen, dass Leerheit "absolute Nicht-Existenz" bedeutet und dass all das, was wir als existent erfahren, als die relative Wahrheit von den Dingen gilt. Die letztgenannte unterstreicht, dass dies zwar der Wahrheit entspricht, aber dass Leerheit und Erscheinung letztlich keine zwei separaten Wesenheiten sein können. Die wahre Natur der Dinge kann letztlich weder als seiend, nicht-seiend, als beides noch als keines von beiden begrifflich erfasst werden. Eine solche Sichtweise ist der der Prasangikas ähnlich. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die Prasangikas im Gegensatz zu den Svatantrikas keine logischen Argumente anwenden, um die absolute leere Natur der Erscheinungen festzulegen.

Untersuchungsmethoden In der Meditation des Chittamatra haben wir gelernt, dass das, was als leer von etwas anzusehen ist (tib.: stong gzhi), der Geist ist; er ist leer von einer Geist-Materie-Dualität. Das, was in der Svatantrika-Meditation als leer dargestellt wird, sind die gesamten Erscheinungen, innere und äussere, in anderen Worten: sowohl das wahrnehmende geistige Subjekt als auch die Objekte der Aussenwelt. Alles ist leer von einer Eigennatur (skr.: svabhava, tib.: rang bzhin). Die Svatantrikas benutzen zahlreiche detaillierte Argumente, um ihren Standpunkt zu begründen. Es liegt in ihrer Absicht, die Leerheit aller Daseinsbestandteile zu beweisen. Ihre Methode beruht auf der systematischen Punkt für Punkt-Untersuchung eines jeden Bestandteils des Daseins, bis man zur Überzeugung gelangt ist, dass ausnahmslos alles leer ist. In den "Prajna-Paramita-Sutras" (skr., "Lehrreden der transzendenten Weisheit") zählt Buddha 108 Leerheiten auf, die alle Erscheinungen einschliessen, beginnend mit den achtzehn Bestandteilen des Daseins bis zu den zehn Kräften und der allwissenden Weisheit des Buddha. Die Bestandteile des Daseins werden in der buddhistischen Philosophie vielfach

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verschieden klassifiziert, wobei jedes System behauptet, alle möglichen Bestandteile des Daseins oder der Erfahrung zu umfassen. Es geht darum, über eine Art Kontrolliste aller möglichen Erscheinungen zu verfügen und sie dann alle zu untersuchen, um ihre endgültige, wahre und allen gemeinsame Natur festzustellen. Es ist uns bekannt, wie die fünf Skandhas auf die gleiche Art benutzt werden. Wir bedienen uns jetzt der 18 Bestandteile als ein weiteres Beispiel dieser Methode. Es handelt sich hier erstens um die Kräfte oder Fähigkeiten der Sinne und des Geistes, die jeweils als entsprechende Stütze für das Primärbewusstsein dienen, zweitens um die Objekte, die von den verschiedenen Arten des Gewahrseins wahrgenommen werden, und drittens um die Primärbewusstseinsarten, die auf die Fähigkeiten der Sinne und des Geistes angewiesen sind. Im einzelnen: 1. Sinnesfähigkeit der Augen 2. Sinnesfähigkeit der Ohren 3. Sinnesfähigkeit der Nase 4. Sinnesfähigkeit der Zunge 5. Sinnesfähigkeit des Körpers 6. Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes 7. Form 8. Laut 9. Geruch 10. Geschmack 11. Berührung 12. geistige Objekte 13. Sehprimärbewusstsein 14. Hörprimärbewusstsein 15. Primärbewusstsein des Riechens 16. Primärewusstsein des Schmeckens 17. Körperprimärbewusstsein 18. geistiges Primärbewusstsein Mit den in dieser Liste enthaltenen sechs Sinnesorganen, wie dem des Auges und so weiter, ist die eigentliche Sinnesfähigkeit der Sinnesorgane gemeint und bezieht sich auf den sensorischen Teil eines jeden Organs, der eine Verbindung zwischen dem physischen oder geistigen Objekt zum Geist herstellt. Eine Sehwahrnehmung kann nicht schlichtweg in der Gegenwart von Form auftreten, denn das sensitive Organ für Licht muss ebenfalls vorhanden und wirksam sein. Beim "Organ" Geist handelt es sich um den Wahrnehmungsaugenblick, der das Bild einer Sinneswahrnehmung oder eines geistigen Objektes trägt und der das begriffliche Bewusstsein befähigt, es zu erfassen. Welche Art der Beweisführungen hat Nagarjuna benutzt, um die Leerheit aller Erscheinungen zu beweisen? Wir verfügen hier nicht über die Zeit, um auf alle einzugehen. In der Tat ist es für den Meditierenden nicht unbedingt notwendig, von allen eine Kenntnis zu haben. Man muss lediglich genügend wissen, um für sich selbst als Vorbereitung zur Meditation die Leerheit aller Erscheinungen feststellen zu können. Nagarjuna führte als eines seiner kraftvollsten Argumente den Beweisgrund an, dass das Wesen von Erscheinungen weder etwas Einzelnes noch eine Vielheit sei. Er nahm

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sich jeden Bestandteil der Reihe nach vor und stellte die Frage, ob die Existenz der Dinge als eine ganze Wesenheit oder als eine, die aus Teilen zusammengesetzt ist, bestimmt werden kann. Es ist einleuchtend, dass irgend etwas, das existiert, entweder einzeln oder mannigfaltig sein muss, da es keine andere Möglichkeit gibt. Nehmen Sie als Vergleich ein Formobjekt, beispielsweise die Hand. Wenn sie etwas Einzelnes wäre, könnte sie nicht in Teile gegliedert werden; doch da sie unterteilt werden kann, muss es sich um eine vielfältige Erscheinung handeln. Aber wo ist die "Hand" geblieben, sobald man sie in ihre Glieder zerlegt hat? Da "die Hand" als solche zwischen ihren Gliedern unauffindbar ist, kann "die Hand" nicht wirklich existieren. Die Glieder der Hand sind eindeutig nicht mit der Hand identisch, ansonsten würde die Hand aus vielen Händen bestehen. Kann die Gesamtheit aller Glieder der Hand, die "nicht die Hand" sind, "die Hand" sein? Logischerweise müssen wir schlussfolgern, dass es sich bei der "Hand" weder um eine einzelne noch eine vielfältige Erscheinung handelt. "Hand" an sich gibt es nicht. Sie hat keine Eigennatur. Sie ist ganz einfach nur ein Begriff. Sie werden sich vielleicht sagen, dass es zwar wahr ist, dass es "eine Hand" als solche nicht gibt, aber da besteht eine Vielzahl von Atomen, die die Hand ausmachen. Ein Atom muss jedoch entweder etwas Einzelnes oder etwas Vielfaches sein. Wenn es sich um etwas Einzelnes handeln würde, dürfte es keine Grenzflächen, also keine linke, rechte Seite und so weiter haben. Diese Teile sind jedoch alle vorfindbar, doch wo ist das Atom selbst? Wir werden niemals beim kleinstmöglich existierenden Teilchen anlangen, von dem man behaupten könnte, dass daraus alle anderen Dinge zusammengesetzt sind, wie minutiös wir auch nachforschen mögen. Nagarjuna benutzte diese Art der Beweisführung, um seinen Standpunkt zu bekräftigen. Die Wissenschaftler unserer neueren Zeit kommen aufgrund ihrer Experimente zur gleichen Schlussfolgerung. Vielleicht überzeugt uns die experimentelle Augenscheinlichkeit mehr als Nagarjunas Beweisführung. Es spielt wirklich keine Rolle, welcher Methode man sich bedient, wenn die Schlussfolgerung die gleiche ist. Dazu ein Zitat von Nagarjuna:

»Eine Form, die wir von weitem sehen, wird klarer, wenn wir näher an sie herantreten. Wenn zum Beispiel das Trugbild eines Flusses ein echter Fluss wäre, warum schwindet er dahin, wenn wir uns ihm nahem? Je weiter wir von der Welt entfernt sind, desto wirklicher erscheint sie uns. In der gleichen Weise, je näher wir an sie herantreten verschwindet sie, wird merkmalslos wie ein Trugbild.«

Nagarjuna hat das gleiche Argument für geistige Phänomene benutzt. Geistige Erscheinungen gehören zur geistigen Erfahrung. Zählt ein Erfahrungsmoment als ein einzelner oder als mehrere? Falls er keines von beiden ist, dann kann er nicht wahrhaft existent sein. Wenn es sich bei ihm ausschliesslich um etwas Separates handeln würde, dann dürfte er keine Zeitdauer haben, weil diese unterteilbar ist. Unter Zeitverlauf ist hier Anfang, Mitte und Ende gemeint. Wenn Sie der Meinung sind, dass ein Moment einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, dann besteht der Moment aus drei Momenten, und der ursprüngliche Augenblick ist damit dem Gesichtsfeld entschwunden. Aus diesem

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Grund kann ein Erfahrungsmoment weder einzeln noch vielzählig sein. Man wird den kleinstmöglichen, wahrhaft existierenden Erfahrungsaugenblick, aus dem all die anderen Erfahrungen zusammengesetzt sein könnten, niemals vorfinden, wie peinlich genau man auch immer nachforscht. Das Gewahrsein (oder die Erfahrung) ist leer von einer Eigennatur, weil es letztendlich keinen wahrhaft existierenden Augenblick des Gewahrseins oder der Erfahrung gibt. Zitat aus dem Text "Madhyamakalamkara":

»Da die dinghaften Erscheinungen - sowohl für einen selbst als auch für andere, frei von der Eigenart sind, wahrhaft Einzelnes oder Vielfältiges zu sein, sind sie wesenlos, ähnlich einer Spiegelung.«

Die Svatantrikas machen gerne von zwei Arten der Argumentation Gebrauch. Als erstes führen sie den eben beschriebenen Beweisgrund über "weder eins noch viele" an, und der andere lautet: "bloss abhängiges Geschehen". Das, was in seinem Dasein von anderem abhängig definiert werden kann, ist frei von Wesenhaftigkeit. Indem man das abhängige Geschehen aller relativen Phänomene aufzeigt, bringt man den Nachweis, dass sie wesenlos sind.

Meditationsverlauf Beginnen Sie die Meditationssitzung damit, sich gedanklich in den Schutz der drei Juwelen, Buddha, Dhanna und Sangha zu begeben und die Bodhicitta-Motivation zu entfalten. Da die Herangehensweise des Svatantrika-Madhyamaka äusserst förderlich für ein grundlegendes Verständnis sowohl der Leerheit als auch der "Philosophie des Mittleren Weges" ist, sollten Sie dem analytischen Teil dieser Meditation genügend Zeit und Aufmerksamkeit widmen und das zuvor Erklärte gut durchdenken. Ein Svatantrika vertritt die Anschauung, dass Phänomene, absolut gesehen, nicht wirklich bzw. inhärent existieren, wobei er jedoch hinzufügt, dass sie, relativ gesehen, als blosse Erscheinung bzw. Grundlage für begriffliche Zuschreibungen existieren. All das, was wir auf die herkömmliche Art erleben, ist die relative Wirklichkeit der Dinge. Dem unkritischen Geist erscheinen die Dinge so, als hätten sie ein unabhängiges, separates, dauerhaftes "Selbst" oder eine eigene Natur. Ein Haus, zum Beispiel, wird vom Geist als ein unabhängiges, einzelnes und dauerhaftes Ding wahrgenommen. "Das Haus" erscheint dem Geist so, als ob "das Haus" etwas anderes als seine Teile wäre. Darüberhinaus scheint "das Haus" eine ganz und gar eigene Beschaffenheit zu haben, die völlig frei von irgendeiner notwendigen Voraussetzung für sein Vorhandensein ist, wie z.B. unserer Wahrnehmung des Hauses. Doch "das Haus" ist leer von einer eigenen Natur, weil es letztlich, d.h. auf Grund einer gründlichen Analyse, kein wahrhaft existierendes "Haus" gibt. Bei "Haus" handelt es sich um ein Konzept. Alle Erscheinungen sind bloss die Basis für unsere begrifflichen Zuschreibungen. Der ignorante, mit Begriffen operierende Geist hält die mittels begrifflicher Zuschreibungen erfassten Erscheinungen für wahrhaft existent. Die blosse Existenz der Dinge auf

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konventioneller Ebene wird nicht geleugnet! Relativ gesehen besitzen die Dinge eine rein erscheinungsmässige Beschaffenheit, und zwar in der Weise, wie sie vom erkennenden Geist wahrgenommen werden. Das, was hier geleugnet wird ist, dass die Dinge wirklich so existieren, wie sie unserem gewöhnlichen Geisteszustand erscheinen. Mit diesen Äusserungen behaupten die Svatantrika-Madhyamikas, die Extreme der Existenz und der Nicht-Existenz der Erscheinungen zu vermeiden. Dazu ein Zitat von Nagarjuna:

»Mit (wahrhafter) Existenz behauptet man Beständigkeit. Keine (relative) Existenz ist die Sicht des Nihilismus. Deshalb verweilt der Weise weder im (wahrhaft) Existenten noch im (relativ) Nicht-Existenten.«

Das Svatantrika-Madhyamaka widerlegt anhand von logischen Schlussfolgerungen die wahrhafte Existenz der Dinge: Erscheinungen besitzen keine wahre Existenz, weil sie durch wechselseitige Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen auftreten. Wenn das Vorhandensein einer Erscheinung von etwas anderem abhängig ist, dann entbehrt es eines inhärenten, unveränderlichen Wesens. Die letztendliche Seinsweise der Dinge ist das Nichtvorhandensein einer Eigennatur, d.h. die Leerheit, das absolute Freisein einer Existenz aus sich selbst heraus. Der Svatantrika-Madhyamika behauptet, dass sowohl die empirische Person (die sechs Sinneskräfte und die sechs Arten des Primärbewusstseins) als auch die empirische Welt (die sechs Sinnesobjekte) relativ gesehen in Abhängigkeit voneinander auftreten. Vom endgültigen Standpunkt aus betrachtet sind sie leer von einer eigenen, wahren oder unabhängigen Existenz. Um zur Erkenntnis dieser eigentlichen Natur der Erscheinungen zu gelangen, nimmt man sich in diesem Meditationsverlauf Punkt für Punkt jeden der 18 Daseinsbestandteile vor und versucht zu ergründen, ob die jeweiligen Daseinsbestandteile eine Eigennatur besitzen und damit unabhängig von 'den anderen Daseinsbestandteilen existieren können oder nicht. Erscheinungen besitzen keine Eigennatur, weil sie weder als etwas wirklich Einzelnes noch als wirkliche Vielheit bestehen. Wenn die Daseinselemente eine Eigennatur besitzen würden, dann müsste man sie jeweils als eine einzelne oder als eine vielheitliche Erscheinung bestimmen können. Doch wenn bewiesen werden kann, dass sie weder als etwas Einzelnes noch als etwas Vielheitliches bestehen, dann können sie keine Eigennatur haben und damit keine wirkliche Existenz aus sich selbst heraus. Untersuchen Sie schrittweise anhand der Argumente "abhängiges Geschehen" und "weder eins noch viele" ein jedes der 18 Elemente. Versuchen Sie festzustellen, ob es sich hierbei um eine abhängige oder um eine einzelne bzw mannigfache Erscheinung handelt, wie es vorher an Beispielen wie dem der Hand beschrieben wurde. Wenn Sie zu einer Gewissheit hierüber vorgedrungen sind, wechseln Sie von der analytischen Meditation zur stabilisierenden. Lassen Sie den Geist in seiner eigenen Leerheit und in der Leerheit aller Erscheinungen verweilen, frei von jeglichem begrifflichen Erfassen wie Sein, Nicht-Sein und so weiter. Erlauben Sie dem Geist, in

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diesem unendlich weiten, offenen Raum zu ruhen. So wie Träume sich auflösen, sobald man sie als das erkennt, was sie sind, so entschwindet alles, sobald die Meditation frei von begrifflicher Gekünstelheit (skr.: nisprapanca, tib.: spros brat) verläuft, in die unendliche Ausdehnung der Leerheit. Integrieren Sie das hieraus gewonnene Verständnis in Ihr Leben. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit zwischen den Meditationssitzungen auf die Erscheinungsweise der Dinge. Der unkritisch wahrnehmende Geist erlebt sie sowohl als konkret vorhanden als auch als unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen für ihr Erscheinen. Nur dem analysierenden Geist erschliesst sich die Seinsweise der Dinge: sie sind leer von einer Eigennatur. Obwohl sie leer sind, treten sie trotzdem auf, ähnlich den Erlebnissen in Träumen. Diese Leerheit macht das Wesen des Dharmakaya (skr., die allen Erscheinungsformen gemeinsame formlose absolute Wirklichkeit) wie auch die endgültige Natur aller Wesen aus. Aufgrund dieser naturgemässen Übereinstimmung besitzen Wesen die Fähigkeit, den erleuchteten Zustand der Buddhas zu verwirklichen, selbst zu einem Erwachten, zu einem Vollendeten heranzureifen, versehen mit der Kraft, sich auf Ewigkeit hin der Aufgabe zu widmen, alle Wesen vom Leiden zu befreien. Mit diesen Gedanken widmen Sie all das Gute, das durch die Meditation entstanden ist, der Vielzahl der Wesen, damit sie den vollkommenen, erleuchteten Zustand erreichen mögen.

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Viertes Stadium: Prasangika-Madhyamaka

Methode des Prasangika-Madhyamaka »Die Sichtweise der Prasangika-Madhyamikas: Bei der konventionellen Wahrheit handelt es sich darum, dass (alle Objekte lediglich) begriffliche Beifügungen des Verstandes sind; Dinge werden gemäss weltlicher Konventionen ausgedrückt. (Die absolute Wahrheit) ist frei von jeglicher begrifflichen Erfindung, sie liegt jenseits von denken und ausdrücken in Worten.«

Das Svatantrika-System ist sehr effektiv, um zuerst einmal den Sinn der Leerheit zu erfassen, da es das eigene Anhaften am Wirklichkeitsgehalt der Dinge durchtrennt. Die Svatantrikas sind zwar der Meinung, mit ihren Unterweisungen zu einem Verständnis beizutragen, das jenseits der Begriffe liegt, aber vom Gesichtspunkt der Prasangikas aus bewegt sich die Sichtweise ihres Verständnisses immer noch etwas im begrifflichen Bereich. Die Prasangikas argumentieren folgendermassen: Indem man die Leerheit durch Beweisführung festlegt, versucht man auf eine subtile Weise, die "endgültige Natur" mit dem mit Begriffen arbeitenden Verstand zu verstehen. Durch logisches Durchdenken kann aufgezeigt werden, wie der begrifflich erfassende Geist stets Fehler begeht. Er kann einzig und allein eine verdrehte, eine letztendlich sich selbst widersprechende Version der Erfahrung erklären, aber niemals die Natur der Wirklichkeit selbst. Aus diesem Grund weigern sie sich, auch von nur irgendeiner Beweisführung Gebrauch zu machen, um die wahre Natur der Erscheinungen nachzuweisen. Sie sagen, dass die Suche nach einer Beschreibung oder um einen Begriff, der die endgültige Natur der Wirklichkeit ausdrückt, irreführend sei, da die endgültige Natur jenseits des subtilsten Begriffes, wie: "Freisein von Vorstellungen" (skr.: ni-sprapanca, tib.: spros bral) liege. Sie sind in ihren Bestrebungen unerschütterlich, nicht das Geringste zu postulieren, sei es positiv oder negativ. Einige argumentieren, dass es sich hierbei um eine unehrliche Sichtweise handle, da man dem Problem einfach ausweiche und den Gegnern nicht erlaube, die eigene Perspektive zu widerlegen. Wie dem auch sei, es liegt etwas sehr Tiefgründiges in dieser Methode. In ihrer systematischen Widerlegung aller begrifflichen Versuche, die Natur des Absoluten zu erfassen, gehen sie keinerlei Kompromisse ein. Die ursprünglichen Prasangikas in Indien und Tibet haben sogar über das relative Auftreten der Phänomene nichts ausgesagt. Ihre innerste Natur betrachteten sie ebenfalls als etwas jenseits der subtilsten Begriffe von "seiend" oder "nicht-seiend" und so weiter. Einige unter den späteren Prasangikas, nämlich die der Gelugpa-Schule in Tibet, haben jedoch eine Auffassung über die Natur der relativen Erscheinungen. Sie legen mittels Beweisführung fest, dass relative Erscheinungen auf eine konventionelle Weise (skr.: vyavahara, tib.: tha snyad du) vorhanden sind. Von anderen Prasangikas wird stark angezweifelt, ob ein derartiges System überhaupt als Prasangika betrachtet werden kann. Sowohl Gelugpa- als auch andere Gelehrte haben mit zahlreichen und

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kraftvollen Widerlegungen die Perspektive der Gelugpas angefochten, und die Debatten dauern bis in die heutige Zeit an, selbst jetzt noch, wo der Dharma sich im Westen ausbreitet. Zweifellos werden die Debatten hier ihre Fortsetzung finden. Vielleicht werden sich westliche Schriftgelehrte auf eine Lösung einigen, an der die Tibeter gescheitert sind. In dieser stufenweisen Meditationsfolge über Leerheit werden wir ausschliesslich die ursprüngliche Prasangika-Perspektive eingehend betrachten. Wir werden uns darauf beschränken, alle Sichtweisen zu widerlegen, aber keinerlei Gegenargumente zu verfechten, um irgendeine eigene Sichtweise festzulegen. Das läuft auf eine totale Zerstörung aller begrifflichen Perspektiven hinaus; es gibt keine andere Möglichkeit als eine nicht-begriffliche Sichtweise in bezug auf die Natur der Wirklichkeit. Es ist die Zielsetzung der Prasangikas, den mit Begriffen arbeitenden Verstand völlig zur Stille zu führen und dem Geist zu erlauben, in der absoluten Freiheit von allen Begriffen zu verweilen. Die Leerheit der Prasangikas ist mit der absoluten Freiheit von Begriffen identisch. Nur in diesem Sinne gilt die absolute Natur der Wirklichkeit als Leerheit. Weder kann sie vom begrifflichen Verstand als leer noch als Freiheit von Vorstellungen begründet werden, da es sich dann nicht mehr um die wahre Leerheit oder wahre Freiheit von Begriffen handelt, denn auch diese sind nur Konzepte. Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Sobald weder dinghafte Erscheinungen noch keine dinghaften Erscheinungen (ihre Leerheit) vor dem Geist verbleiben, gibt es keine andere Alternative mehr. Somit wird schliesslich der Geist, der (sich auf wahrhaft existierende Objekte) richtet, versiegen und vollständig zur Stille finden.«

Deshalb sagen die Prasangikas nichts über die endgültige Natur der Wirklichkeit oder Leerheit aus. Das ist nicht das Ziel ihres Lehrsystems. Ihre Absicht ist darauf gerichtet, die Bewusstheit von der Begriffe bildenden Gewohnheit zu befreien und der "endgültigen Natur der Wirklichkeit" zu erlauben, sich selbst in einer vollkommen nicht-begrifflichen Art und Weise zu offenbaren. Es handelt sich hier um ein ausgesprochen wirksames System, da es dem begrifflichen Verstand nichts bietet, wonach er greifen könnte. Im Gegensatz zum Lehrsystem der Svatantrikas, die darin vorbildlich sind, nicht-buddhistische Philosophien zu widerlegen, ist die Prasangika-Schule sehr geschickt darin, subtile Perspektiven anderer buddhistischer Systeme zu widerlegen. Sie zeigen auf, dass diese immer noch mit subtilen Begriffen operieren, solange sie sich darum bemühen, die Natur der Wirklichkeit anhand von Beweisführung und der Anwendung von Begriffen nachzuweisen, obwohl sie behaupten, sich jenseits der Begriffe zu begeben.

Traumbeispiel Die Svatantrika-Sichtweise gleicht dem Erkennen, dass Traum-Feuer oder Traum-Tiger nicht echt sind. Dementsprechend besteht ein subtiles Konzept von einer wirklichen

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Leerheit und unwirklichem Feuer oder Tiger. Es gibt in anderen Worten eine subtile begriffliche Unterteilung zwischen absoluten und relativen Wahrheiten. Die Perspektive der Prasangikas stimmt mit dem direkten Erkennen der wahren Natur des Traum-Feuers oder -Tigers überein, ohne dabei erst den Traum zu negieren und Leerheit zu erweisen. Sobald der Begriff "wirklich" nicht vorkommt, taucht die Vorstellung von "unwirklich" ebenfalls nicht auf. Wenn es kein Konzept "Eigennatur" gibt, dann gibt es auch kein Konzept "Fehlen einer Eigennatur". Folglich kann der Geist in vollständigem Frieden, frei von auch nur einer geringsten begrifflichen Erfindung, ruhen. Der Traum-Tiger braucht nicht das Konzept der Leerheit, um eine Wirklichkeit zu leugnen, die er niemals hatte. Im Vergleich zur Ausübung des Svatantrika ist diese unverkennbar eine sehr viel weitergreifende Art. Für den ungeübten und unvorbereiteten Geist ist es nicht möglich, unmittelbar ein nicht-begriffliches Erkennen der Leerheit zu erlangen. Ganz am Anfang ist die Anwendung der Svatantrika-Herangehensweise sehr gut, um die Leerheit festzulegen. Diese durchtrennt die eigene gewöhnliche, begriffliche Art des Denkens, die Sein und Nicht-Sein für gegeben hinnimmt. Später muss man die Prasangika-Herangehensweise nutzen, um den begrifflich arbeitenden Geist vollständig einzuschränken. Sie hilft die Tendenz zu tilgen, dass die relative Wahrheit über die Erscheinungsweise der Dinge von der absoluten Wahrheit über ihre wirklich seiende Natur zu trennen sei. Die eigene Leerheitserkenntnis wird solange subtil begrifflich bleiben, solange man damit fortfährt, die beiden Wahrheiten zu trennen. Sobald man von der Neigung, die beiden Wahrheiten subtil zu unterscheiden, loslässt, wird man das Relative als natürlich leer erkennen. Das ähnelt dem natürlichen Wahrnehmen der Träume, ganz so wie sie sind, frei von Erfindung oder Verwirrung. Dann wird man begreifen, dass die relative und absolute Wahrheit nur Bezeichnungen für zwei Aspekte der einen Wirklichkeit sind. Auch die Benennungen relativ und absolut sind begriffliche Erzeugnisse. Vom letztendlichen Standpunkt aus gesehen gibt es solche Unterscheidungen nicht. Im Traum erscheinen viele Dinge, die leer sind. Wenn nun diese Traumerscheinungen leer und nicht wirklich sind, wie kann dann ihre Essenz, die leer ist, wirklich sein? Mit dem Konzept, die endgültige Natur der Traumerscheinungen sei Leerheit, sieht man ihre Natur nicht korrekt. Die Bewusstheit muss in der Meditation ruhen, ohne irgendwelche Konzepte wie real oder nicht-real, leer oder nicht-leer, seiend oder nicht-seiend und so fort zu entwickeln. Solange man diese begriffslose Natur noch nicht entdeckt hat, wird es einem jedoch unmöglich sein, subtile bejahende und verneinende Sinngehalte zu venneiden. Das ist der Grund, weshalb es nutzbringend ist, durch sämtliche Stadien dieser stufenweisen Meditationsfolge über Leerheit hindurchzugehen. In jedem Stadium wird man lernen, all die subtilen Begriffe, die sich wiederholte Male in die Meditation schleichen, wahrzunehmen und sich damit vertraut zu machen. Indem man ihrer gewahr wird, wird man ihre Natur zunehmend deutlicher erkennen, und der Geist wird schliesslich ihrer müde werden. Genauso, wie Dunkelheit nicht in der Gegenwart von Licht sein kann, kann Unbewusstheit nicht in der Anwesenheit einer Bewusstheit, die frei von Begriffen ruht, fortbestehen. Anfänglich vermag der Geist in dieser Weise nur für kurze Momente zu

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verweilen, doch indem man sich stufenweise der Bedeutung und Wichtigkeit dieser Augenblicke bewusst wird, werden sie gefördert, und während die Neigung zum Begriffebilden abnimmt, wächst die begriffslose Bewusstheit stärker heran, wie die Sonne, die hinter einer Wolkenbank hervortritt.

Untersuchungsmethoden Chandrakirti (8Jh.), Buddhapalita (5. Jh.) und Shantideva (7./8. Jh.) waren Vertreter des Prasangika-Madhyamaka. Chandrakirti war ein berühmter Verfechter des Prasangika-Lehrsystems, und er berief sich häufig auf Argumente, die aufzeigen, dass Erscheinungen nicht entstehen. Wenn man beweisen kann, dass sie nicht entstehen, dann steht es ausser Frage, dass sie auch nicht irgendwo verweilen oder vergehen und deshalb auch keine Eigennatur besitzen können. Shantarakshita (8. Jh.) , ein Svatantrika, argumentiert andererseits in seinem Werk, dass es eine Leichtigkeit ist aufzuzeigen, dass Erscheinungen weder entstehen, verweilen noch vergehen, sobald man nachweisen kann, dass Dinge keine Wesenhaftigkeit besitzen. Chandrakirti benutzte das Beweismittel, dass innere und äussere Dinge nicht wirklich aus sich selbst heraus entstehen, nicht aus etwas anderem als sie selbst, nicht aus diesen beiden und nicht aus keinem der beiden erstgenannten Gründe, d.h. die Erscheinungen sind bar einer Ursache. Dieser Beweis zeigt, dass es nichts gibt, das wirklich entsteht, da er alle vier vorhandenen Möglichkeiten umfasst. Damit etwas hervorgerufen werden kann, muss es zunächst einmal abwesend sein. Die Samkhyas waren der Meinung, dass Dinge aus sich selbst heraus entstehen. Chandrakirti widerlegte das: wenn etwas existiert, dann braucht es nicht zu entstehen. Im Entstehen einer Sache, die schon vorhanden ist, liegt kein Sinn. Die buddhistischen Hinayana-Schulen der Vaibhasikas und Sautrantikas waren der Meinung, dass Dinge aus etwas entstehen, das etwas anderes als sie selbst ist, in anderen Worten: ein Augenblick bewirkt den nächsten. Chandrakirti gab hierzu als Gegenargument an, dass es keine Verbindung zwischen einem Moment und dem darauffolgenden gibt. Ein Moment entsteht genau in dem Augenblick, in dem der vorhergegangene erloschen ist. Etwas, das in keiner Verbindung mit einer anderen Sache steht, kann schwerlich dessen Ursache genannt werden; ansonsten könnte man behaupten, dass die Dunkelheit die Ursache für Licht oder das Licht die Ursache für Finsternis sei, nur weil das eine auf das andere folgt. Da nun das Entstehen der Dinge aus sich selbst heraus und ihr Entstehen durch etwas anderes widerlegt ist, mag man das Entstehen der Dinge aus beiden genannten Ursachen zusammen begründen. Die Jains dachten in dieser Weise. Chandrakirti argumentierte, dass dieser Standpunkt die Fehler beider vorhergehender Behauptungen trägt. Vielleicht möchte man argumentieren, dass die Dinge aus nichts heraus entstehen? Diese Stellungnahme würde dem Glauben derjenigen gleichen, die jegliche Ursache- und Wirkungverkettung verneinen, einschliesslich der Ursache und dem Ergebnis von Karma. In Indien existierte eine solche Schule. Ihre Vertreter nannten sich die Ajivakas "

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Chandrakirti widerlegte ihre Sichtweise, indem er behauptete, dass es keinen Sinn hätte, auch nur irgend etwas zu unternehmen, wenn Dinge ohne Ursache entstehen würden. Warum sollte beispielsweise ein Bauer sich damit herumplagen, Getreide anzubauen, wenn Ursachen keine Wirkungen erzielen? Eine derartige Überzeugung, die darauf anspielt, dass alles zufällig und chaotisch ist, ist in keiner Weise wissenschaftlich exakt. Möglicherweise ist der Film ein guter Vergleich für das Nichtentstehen der Dinge. Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass es sich bei einem ablaufenden Film, dem wir zuschauen, in Wirklichkeit um eine Serie von unbeweglichen Fotos handelt, die in einer sehr raschen Folge auf eine Leinwand projiziert werden. Es sieht ganz so aus, als ob auf der Leinwand ein Ding das nächste beeinflusst, aber in Wirklichkeit existiert zwischen ihnen, ausser der aufeinanderfolgenden Anordnung, keine Verbindung; es gibt sogar Spalten zwischen den Bildern. Damit irgend etwas etwas anderes verursachen kann, muss es eine Stelle geben, an der sie sich berühren, denn wie könnte sonst eines unter dem Einfluss des anderen stehen? Eine Ursache existiert jedoch niemals zur gleichen Zeit wie ihre Wirkung. Sobald das Resultat aufgetreten ist, gehört die Ursache der Vergangenheit an. Die Ursache muss ihrer Wirkung vorausgehen, ansonsten wäre eine Ursache bedeutungslos. Wenn beide zur gleichen Zeit entstehen würden, dann könnte es sich weder um Ursache noch um Wirkung handeln. Innerhalb des Prasangika-Lehrsystems ist dieses Argument im Detail weiterentwickelt worden und wird ausführlich behandelt. Obwohl wir hier nicht auf die Details eingegangen sind, haben wir wenigstens die Art von Beweisführung kennengelernt, derer sie sich bedienen. Es ist wichtig zu verstehen, dass das, worüber hier diskutiert wird, die "endgültige Natur" der Dinge ist. Jeder wird selbstverständlich bestätigen, dass - grob gesehen - beispielsweise eine Kerzenflamme durch Docht und Kerzenwachs, durch Holz und die Flamme eines Streichholzes entsteht usw. Wenn man jedoch das Konzept von Kausalität sehr genau untersucht, bricht es zusammen, und das ist genau das, woran die Prasangikas interessiert sind. Wie Kausalität in der Welt arbeitet, ist jedem ersichtlich, und die Prasangikas erheben nicht den Anspruch, irgend etwas zu dem hinzuzufügen, was die Welt darüber aussagt. Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Die blosse Erscheinung von Sehen, Hören und Erkennen wird hier nicht geleugnet. Es ist die Vorstellung, die sie als wahrhaft existent ansieht, die hier berichtigt werden soll, da sie zur Ursache für Leiden wird.«

Für den Prasangika handelt es sich beim Werden der Dinge um die relative Erscheinungsweise. Im Absoluten gibt es kein Entstehen. Ganz wie in Träumen: relativ gesehen erwecken die Dinge den Eindruck, als ob sie entstehen würden, doch das analytische Auge kann kein Entstehen entdecken. In der begrifflichen Essenz (der Dinge) gibt es ein Entstehen; die uneingeschränkt gültige Essenz der Erscheinungen ist

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jedoch frei von Entstehen (tib.: mam rtog gi ngo bo skye ba red. Don dam pa'i ngo bo skye ba med pa red). Der Prasangika steht nicht auf dem Standpunkt, dass das Absolute oder das Relative entsteht oder nicht entsteht, dass es existiert oder nicht existiert und so fort. Die Prasangikas sind sehr darauf bedacht zu unterstreichen, dass Dinge nicht wahrhaft existieren (tib.: bden par grub) und auch nicht entstehen (tib.: skye ba), aber auch nicht nicht wirklich vorhanden sind (tib.: bden par ma grub) und nicht nicht entstehen (tib.: skye ba niedpa). Derartige Stellungnahmen sind gleichermassen unbefriedigend: Wenn wahres Sein nicht existiert, dann kann auch das Gegenteil, nicht-wahres Sein nicht bestehen, da diese Behauptung nur im Verhältnis zum "Sein" irgendeinen Sinn birgt. Wenn es gleichermassen kein Entstehen gibt, dann gibt es auch kein Nicht-Entstehen. Hierdurch vergewissem sie sich, dass alle Begriffe, sowohl bejahende als auch verneinende, negiert werden und dass nichts an ihrer Stelle behauptet wird. Das Prasangika-Lehrsystem geht in anderen Worten jenseits irgendeines verstandesmässigen Erfassens (tib.: blo'i 'dzin stangs thams cad las 'das pa) der Dinge. Zitat von Shantideva aus dem Text "Bodhicaryavatara":

»Da (das Entstehen von) Dinghaftem nicht wahrhaft existent ist, ist die Auflösung (von Dinghaftem) ebenfalls nicht wahrhaft existent. Alle diese Wesen sind niemals wahrhaft geboren noch sind sie jemals wahrhaft verschieden. (Frei von natürlicher Existenz befinden sie sich im Zustand des natürlichen Nirvana).«

Es sei übrigens darauf hingewiesen, dass mit der Behauptung, die Prasangikas nähmen keine Stellungnahme ein oder sie hätten keine Perspektive, gemeint ist, dass sie keiner Sichtweise oder keinem Standpunkt wirklich Glauben schenken oder irgend etwas als ihre absolute und endgültige Meinung verfechten. Damit ist nicht gesagt, dass Chan-drakirti beispielsweise nicht behaupten konnte: »Ich bin Chandrakirti und lebe in Naianda«. Etwas auszusagen bedeutet nicht gleichzeitig, dass man es für endgültig wahr hält. Der Grund, weshalb wir uns hier nicht bei all den detaillierten Argumenten, die von Chandrakirti und anderen Kommentatoren angewandt wurden, aufgehalten haben, liegt darin, dass wir uns mit der Methode des Meditierenden beschäftigen. Der tibetische Gelehrte Jamgön Kongtrül (1813-1899) erklärte in seinem Werk "Enzyklopädie des Wissens" (tib.: shes bya mdzod) im Kapitel über die Meditationsarten shamatha (skr., die Stille unabgelenkten Verweilens) und vipashyana (skr., besondere Einsicht), dass der Meditierende nur sehr kurz verstandesmässig analysieren sollte, gerade genug, um sich selbst von der Methode während der Meditation zu überzeugen. Dann sollte er alle Unsicherheiten und intellektuellen Erkundigungen beiseite schieben und den Geist natürlich ruhen lassen, frei von jeder begrifflichen Erfindung. Selbstverständlich muss man sich, sobald noch Zweifel vorhanden sind, mehrmals wieder dem Lern- und Reflexionsstadium zuwenden. Sobald man jedoch wirklich mit dem Meditieren begonnen

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hat, muss man alle Zweifel hinter sich lassen und dem Geist erlauben, ohne Künstlichkeit zu verweilen.

Grundlage, Weg und Ergebnis Die beiden Wahrheiten oder Wirklichkeiten sind die Grundlage für Svatantrika- wie auch für Prasangika-Madhyamaka. Beim Weg handelt es sich um die beiden Ansammlungen von spirituellem Verdienst und begriffslosem Weisheitsgeist (skr.: punya- und jnana-sambhara, tib.: bsod nams- und yeshe kyi tshogs) und beim Ergebnis um die beiden Buddha-Körper (skr.: kaya), den Formkörper und den formlosen Körper. Obwohl dieser Weg "Weg der beiden Ansammlungen" genannt wird, halten der letzendlichen Analyse weder Ansammlung noch Weg noch Ergebnis stand. Der Geist ist auf natürliche Weise von verstandesmässigen Auslegungen frei. Es gibt nichts, das zu addieren oder zu beseitigen wäre. Das ist die Leerheit, die keinerlei Negationen anstrebt und frei von irgendeiner Vorstellung über die Leerheit selbst ist. Der Geist ruht ungekünstelt in seinem natürlichen Zustand, frei von Erfindung. Mit dem Ergebnis sind die beiden Körper des Buddha gemeint. Der Daseinskreislauf ist von rein begrifflicher Beschaffenheit (skr.: prapan-ca, tib.: mam rtog sprospd), und der transzendierte Zustand ist frei von begrifflicher Erfindung (skr.: nisprapanca, tib.: spros brat). Obwohl der Dharmakaya das Erlöschen jeglicher begrifflichen Konsistenz ist, machen die Bodhisattvas auf dem Weg zum Zustand eines Buddhas von Mitgefühl motivierte Gelübde und Wunschgebete für das Wohlergehen der Wesen. Durch die Kraft ihres Mitgefühls, der Ergebnisse ihrer in der Vergangenheit geleisteten Gelübde und durch das reine Karma der Wesen besitzen sie, wenn sie den Zustand des Buddhas erreicht haben, die Fähigkeit, Formkörper (skr.: rupakaya, tib.: gwgs sku) zu manifestieren. Der Essenz dieser Formkörper ermangelt jegliche begriffliche Beschaffenheit, jedoch machen die Begriffe der Wesen es ihnen möglich, in ihrem Gesichtsfeld aufzutreten. Sie offenbaren sich den Wesen, die ein geläutertes Sehvermögen haben, doch damit ist nicht gesagt, dass sie der absolute Buddha sind (in anderen Worten: der formlose Dharmakaya).

Meditationsverlauf Nehmen Sie Zuflucht und entfalten Sie die Bodhicitta-Motivation. Wenden Sie die zuvor erklärten Untersuchungsmethoden an und stellen Sie analytisch fest, dass im Absoluten alle Erscheinungen frei von Entstehen sind. Innere und äussere Phänomene entstehen weder wirklich aus sich selbst noch aus etwas anderem als sie selbst, weder aus diesen beiden erstgenannten Gründen noch aus keinem von diesen beiden. Reflektieren Sie über die nicht-begriffliche Herangehensweise an die endgültige Natur der Wirklichkeit, so wie sie in diesem Kapitel erklärt worden ist, wobei Sie keinen Versuch machen sollten, das Erkennen der Leerheit durch irgendwelche Konzepte der Affirmation oder Negation zustande zu bringen. Während der Meditationssitzungen des Prasangikas lässt man den eigenen Geist frei von begrifflicher Anstrengung in den beiden nicht zu trennenden Wirklichkeiten zur Ruhe kommen. Man hängt den Begriffen gut, schlecht, froh und so weiter nicht nach. Selbst Zeit ist bedeutungslos. Es gibt einige Leute, die der Zeitdauer sehr verhaftet sind und

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denken, dass es von grosser Wichtigkeit sei, wie lange sie meditieren und dergleichen. Das kann zu einem grossen Hindernis für die Verwirklichung des nicht-erdachten Zustandes werden. Zeit entsteht nicht. Es ist begriffslose Weisheit, die sich durch diese Art zu meditieren ansammelt. Für die stabilisierende Meditation sollte der Geist sehr entspannt sein. Lassen Sie den Geist unermesslich weit ausgedehnt, ähnlich klarem und leerem offenem Raum, ruhen. Für diese Bewusstheit, die frei von begrifflichem Erfassen ruht, wird das Beispiel von Wasser, das in Wasser gegossen wird, angeführt. Immer dann, wenn der Geist von anstrengendem Studium oder ähnlichen Tätigkeiten verkrampft ist, sollte man ihn auf ungezwungene Weise, ohne Manipulation, in der natürlichen, nicht-erfundenen Leerheit des Geistes verweilen lassen. Das ist das Mittel, um den Geist zu entspannen. Wenn Sie den nicht-erfundenen Zustand korrekt verstanden haben, dann werden Sie erleben, dass sich jede Verkrampfung und emotionale Störung löst, wie Ozeanwogen, die von sich aus zur Stille finden. Als Gegenmittel zu starken Gefühlsausbrüchen wie Verärgerung, Begierde oder Eifersucht genügt es, den Geist ruhen zu lassen, frei von Erfindung und ohne irgend etwas bewirken zu wollen. Die Emotionen werden sich einfach von alleine beruhigen. In Leidsituationen verfährt man auf die gleiche Weise: Sobald man in der Essenz des Geistes ohne Erfindung ruht, wandelt sich die Empfindung von Leiden zu Weite und zu Frieden. Es ist wichtig zu beachten, dass man den Geist auch dann so verweilen lassen soll, wenn er froh ist. Ansonsten wird man den Gleichmut zum Zeitpunkt des Wandels verlieren, wenn das Glück dem Ende naht. Zwischen den Sitzungen muss man jedoch mit dem eigenen täglichen Leben fertig werden. Hier können wir beobachten, wie Ursache und Wirkung ständig operieren. Vom endgültigen Standpunkt aus gesehen entstehen sie nicht, doch sie erwecken im begrifflich erfassenden Geist den Eindruck, als ob sie es tun würden. Es ist wichtig, das zu respektieren und die Ebenen der Unterweisungen nicht durcheinander zu bringen. Zwischen den Sitzungen gibt es gute und schlechte, geschickte und ungeschickte Handlungen, die jeweils zu Freude und zu Leid führen. Deshalb ist es sehr wesentlich, diese Zeit damit auszufüllen, nützliche Handlungen auszuführen, wie den "Drei Juwelen" (Buddha, Dharma, Sangha) zu Diensten zu sein, Hilfe dort zu gewähren, wo sie nötig ist und so fort. Das wird als die Ansammlung des Guten für das Wohlergehen aller Wesen bezeichnet.

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Fünftes Stadium: Madhyamaka Shentong

Methode des Madhyamaka Shentong »Die Sichtweise des Madhyamaka Shentong: Die konventionelle Wahrheit bezieht sich auf begriffliche Beifügungen und auf abhängige Phänomene. Die absolute Wahrheit bezieht sich auf das vollständig Existente, (in anderen Worten) auf das selbst-erkennende Buddhajnana.«

Wie im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, kritisieren zahlreiche Meister des Shentong, dass die Prasangika-Madhyamikas für sich in Anspruch nehmen, keine Sichtweise aufzustellen. Vom Standpunkt dieser Meister her gesehen gehen die Prasangikas lediglich den Folgen der Widerlegung einer eigenen Perspektive aus dem Wege, indem sie die Sichtweise aller anderen als falsch nachweisen und für sich selbst behaupten, eine solche nicht zu haben. Vom Gesichtspunkt des Shentong aus betrachtet liegt der Fehler sowohl des Svatantrika- als auch des Prasangika-Madhyamaka darin, dass sie keine Unterscheidung zwischen den drei verschiedenen Seinsweisen, den drei unterschiedlichen Formen der Leerheit und den drei verschiedenen Formen von Wesenlosigkeit machen, die mit den drei Kennzeichen einer Erscheinung korrespondieren (wie wir sie im Chittamatra kennengelernt haben: dem Kennzeichen der Beifügung, des abhängigen und des vollständig Existenten). Einige Meister des Shentong legen dar, dass das Madhyamaka Rangtong nur die Leerheit der begrifflichen Beifügung lehrt. Diese Leerheit ist die erste Art der Leerheit, die nur mit der ersten der drei genannten Kennzeichen einer Erscheinung übereinstimmt. Diese Leerheit bedeutet reine Nicht-Existenz. Sie argumentieren: Wenn diese Art der Leerheit als die absolute Wirklichkeit gelten soll, oder anders formuliert, wenn das völlige Fehlen begrifflicher Erfindung die absolute Wirklichkeit ausmachen würde, dann wäre sie ein blosses Nichts, nur leerer Raum. Wie kann völliges Nichts die Manifestationen des Daseinskreislaufes und des transzendenten Zustandes erklären? Sie treten lebendig jeweils als unreine oder reine Erscheinungen auf. Die blosse Leerheit gibt hierfür keine ausreichende Begründung. Es muss ein Element vorhanden sein, dasim gewissen Sinn leuchtend, erhellend und wissend ist. Da das Shentong wie das Chittamatra zwischen den drei Kennzeichen einer Erscheinung unterscheidet und weil es die wahre Existenz eines leuchtenden, wissenden Aspektes des Geistes hervorhebt, haben zahlreiche Meister des Rangtong das Shentong mit dem Chittamatra verwechselt. Es besteht jedoch ein bedeutsamer Unterschied zwischen der Lehrmeinung des Chittamatra und der des Madhyamaka Shentong. Als erstes sei angeführt, dass das

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Shentong die letztliche Existenz eines einzelnen Moments des Bewusstheitsstroms der wahren Natur des Geistes, der sich ausschliesslich als lichte Klarheit erlebt, nicht akzeptiert. Sie haben die Sichtweise des Madhyamaka und wenden Argumente an wie: ein Bewusstseinsmoment existiert »weder als einer noch als viele«. In der Sichtweise des Shentong wird die Essenz der All-Basis gleichzeitig als Weite und Bewusstheit bestimmt; sie ist nicht unbewusst, sondern bewusst, nicht wahrhaft existent, sondern leer, ihre wahre Natur ist untrennbar Leerheit und Bewusstheit. Sie betr»chten sich selbst als die "Grossen Madhyamikas", da in ihr Lehrsystem nicht nur die Anerkennung des Freiseins von jeglicher begrifflichen Erfindung eingeht, sondern auch das Verständnis des ursprünglichen Weisheitsgeistes (Buddhajnana), der völlig frei von jeglicher begrifflichen Erfindung ist. Dieser nicht mit Begriffen operierende Weisheitsgeist wird nicht als ein Objekt des begrifflichen Denkprozesses angesehen, und darum wird er auch von der Beweisführung der Madhyamikas nicht negiert. Deshalb kann man sagen, dass es sich hier um das Einzige handelt, was absolute und wahre Existenz besitzt. Es ist wichtig, den Sinn dieser wahren Existenz zu begreifen; begrifflich kann sie nicht erfasst werden! Wenn es sich bei ihr auch nur um das subtilste Objekt eines begrifflichen Vorganges handeln würde, dann würde sie von der Beweisführung des Prasangika widerlegt. Der nichtbegriffliche Weisheitsgeist gilt nicht als etwas, das sich die höchste Erkenntnisfähigkeit (skr.: prajna, tib.: sherab) als ihr Objekt nehmen könnte. Alle Erscheinungen, die ein Objekt des Geistes sein können, wie rein und geläutert sie auch sein mögen, entstehen abhängig und haben keine wahre Existenz. Was ist nun dieser ursprüngliche, begriffslose Weisheitsgeist? Es handelt sich hier um etwas, was man durch andere Mittel als durch den begrifflichen Denkprozess versteht. Durch eine direkte Verfahrensweise erlebt man ihn so, wie er ist, und jede begriffliche Erfindung verdeckt ihn. Die gesamten Lehren des Mahamudra (skr., "Grosses Siegel"), des Maha-Ati (skr., "Grosse Vervollkommnung") und des gesamten Tantra (skr., "Kontinuum") handeln von diesem begriffslosen Weisheitsgeist und den Mitteln, ihn zu verwirklichen. Für die Verwirklichung ist unbedingt ein Meditationsmeister erforderlich. Seine Verwirklichung, die Hingabe und das Vertrauen des Übenden und die Offenheit seines Geistes müssen sich derartig begegnen, dass der Schüler den begriffslosen Weisheitsgeist direkt erfahren kann. Von da an macht er von dieser Erfahrung, die zur Grundlage seiner Übung wird, Gebrauch; er nährt sie und lässt sie wachsen, bis sie den Zustand von Klarheit und Stabilität erreicht hat, und nur dann kann sich das endgültige, vollständige und vollkommene geistige Erwachen ereignen. Aus der Sicht des Shentong missinterpretieren die Chittamatrins das Absolute, indem sie die Erfahrung einer sich selbst erkennenden, selbsterhellenden Bewusstheit als ein Primärbewusstseinsmoment ansehen (vijnana). Das Shentong sagt aus, dass es zwar wahr ist, dass man die klare Helligkeit und die bewusste Qualität des Geistes dann erlebt, wenn der Geist frei von begrifflicher Erfindung in der Leerheit ruht (was alle Vertreter des Mahayana behaupten), aber es handelt sich dabei nicht um ein Primärbewusstseinsmoment. Vijnana bedeutet geteilte Wahrnehmung, und zwar geteilt in einen sehenden und einen gesehenen Aspekt. Das Shentong nimmt es als gegeben hin, dass ein Geist, der durch Vorstellungen von Zeit und Raum gebunden ist, in gewissem Sinn die Vorstellung von Momenten, die von Dauer sind, und Atomen, die

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sich im Raum ausdehnen, in Betracht zieht. Damit sich ein Erkennungsmoment ereignen kann, scheint es stets so zu sein, als ob ein erkennender und ein erkannter Gewahrseinsaspekt entstehen müssen, selbst wenn man stillschweigend voraussetzt, dass sie keine endgültige oder wirkliche Existenz besitzen. Das Shentong sieht das Konzept von einem erfassenden Gewahrseinsstrom, der aus winzigen Augenblicken mit erkennenden und erkannten Aspekten besteht, als ein Missverständnis in bezug auf das wirkliche Sein an. Es handelt sich um eine falsche oder täuschende Wirklichkeit oder Wahrheit. Der Begriff "relative Wirklichkeit", den wir in diesem Text benutzt haben, ist eigentlich die Übersetzung des Sanskrit-Wortes samvrti, welches "verdeckt" oder "verborgen" bedeutet und eigentlich mit "Verbergung" übersetzt werden könnte. Der tibetische Begriff hierfür ist kun rdzob, "verkleidet" oder "aufgebläht" in dem Sinne, einer Erscheinung ein falsches Aussehen zu verleihen, wie vergleichsweise jemand, der sich einer Pferdehaut bedient, um den Eindruck eines lebenden Pferdes zu erwecken. In gewissem Sinn handelt es sich hier nicht im geringsten um Wirklichkeit oder Wahrheit, sondern lediglich um eine scheinbare Wirklichkeit. Sie ist ausschliesslich in einer gewissen Hinsicht wahr, und zwar in der, wie die Dinge den gewöhnlichen Wesen zu sein scheinen. Vom endgültigen Standpunkt aus gesehen sind sie nicht im geringsten wahr. Aus der Shentong-Perspektive ist der lichtvolle, sich seiner selbst bewusste, in der Meditation erlebte Geist, wenn er völlig frei von Begriffen ruht, die "absolute Wirklichkeit" und nicht ein Primärbewusstseinsmoment. Aus der Shentong-Sicht handelt es sich beim Primärbewusstseinsmoment stets um "Verbergung", und nichts anderes wird von der höchsten Erkenntnisfähigkeit, die die "absolute Wirklichkeit" schaut, vorgefunden. Sobald der lichtvolle, sich seiner selbst bewusste, begriffslose Geist, der sogenannte Weisheitsgeist, von der höchsten Erkenntnisfähigkeit verstanden wird, gibt es im Angesicht dieses Verständnisses keinen sehenden und gesehenen Aspekt mehr. Das wird "die Transzendenz der höchsten Erkenntnis" (skr.: prajna-paramitd) genannt. Sie ist nichts anderes als der begriffslose Weisheitsgeist selbst. Man nennt ihn auch den "nicht-dualistischen Weisheitsgeist", das "klare Licht" (skr.: prabhasvard), die "Natur des Geistes" und "dhatu" (skr., räumliche Ausdehnung oder Element). An anderer Stelle wird er "untrennbar Dhatu und Bewusstheit" genannt, "untrennbar Klarheit und Leerheit", "untrennbar Wonne und Leerheit". Er wird auch als "dhannata" (skr., wahre Natur) und als "tathagata-garbha" (skr., Essenz des Buddha) bezeichnet. Das Shentong stellt die Behauptung auf, dass das Erleben der vollständigen Freiheit von begrifflicher Erfindung auch mit der Erfahrung der Klaren-Licht-Natur des Geistes übereinstimmen muss. Es ist der Ansicht, dass ein Prasangika, der das verneint, immer noch einige subtile Konzepte haben muss, die diese Wirklichkeit verdecken oder negieren, mit anderen Worten: er hat die vollständige Freiheit von begrifflicher Erfindung noch nicht richtig verstanden. Das kann nur passieren, wenn der Meditierende über einen grossen Zeitraum Illusionen durchtrennt und die Leerheit als eine Negation betrachtet hat. Das kann zu einer derartig starken Gewohnheit werden, dass der Meditierende selbst dann noch automatisch seinen Geist hinwendet und subtil negiert, wenn die Erfahrung der "absoluten-Wirklichkeit", die Klare-Licht-Natur des Geistes, wie die hinter Wolken auftauchende Sonne durchzubrechen beginnt. Sobald wirklich keine begriffliche Erfindung mehr vorhanden ist, so argumentiert das Shentong, würde die

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Klare-Licht-Natur so klar und unverkennbar strahlen, dass es unmöglich wäre, sie zu leugnen. Die Tatsache, dass die Klare-Licht-Natur des Geistes von den Rangtong-Madhyamikas bestritten wird, verweist auf die Bedeutsamkeit des "dritten Rades der Lehre". Es heisst, Buddha habe das "Rad der Lehre" (skr.: dharmachakra) dreimal gedreht. Damit ist das Erteilen von drei grösseren Lehr-Zyklen gemeint. Der erste korrespondiert mit der Leerheitsmeditation des Shravaka-Stadiums, der zweite mit der des Madhyamaka Rangtong und der dritte mit dem Madhyamaka Shentong. Jede Lehrstufe berichtigt die Mängel der vorhergehenden. In den Augen des Shentong behebt das dritte Rad der Lehre die Fehler des zweiten, des Madhyamaka Rangtong. Das dritte Rad der Lehre wird im Detail unter anderem in den "Tatha-gata-Garbha-Sutras" erklärt, und diese wiederum sind in dem "Maha-yana-Uttara-Tantra-Shastra" kommentiert; dieses Shastra wird in der tibetischen Tradition Maitreya zugeordnet. Hierin heisst es, dass das Tathagata-Garbha alle Wesen durchdringt und dass die Natur des Geistes das klare Licht ist. Das sind zwei Möglichkeiten, sich über die gleiche Sache zu äussern. Die klassischen Beispiele hierfür sind Butter in Milch, Gold im Golderz und Sesamöl im Sesamsamen. Butter, Gold und Sesamöl durchdringen Milch, Erz und Sesam in der Weise, dass, sobald diese bearbeitet werden, Butter, Gold und Öl hervortreten. Wesen durchlaufen ebenfalls einen Läuterungsprozess, aus dem die gereinigte Buddha-Natur zum Vorschein kommt. Wenn die wahre Natur (skr.: dharmata, tib.: chos nyid) der Wesen nicht Tathagata-Garbha wäre, könnten sie niemals den Buddha-Zustand erreichen, genauso wie ein Gestein, das kein Gold enthält, niemals Gold hervorbringen kann, wie sehr man es auch reinigen würde.

Absicht hinter der Unterweisung des Tathagata-Garbha Mit der Unterweisung des Tathagata-Garbha ist beabsichtigt, dem Meditierenden die Zuversicht zu verleihen, dass er bereits über die Buddha-Natur verfügt. Es ist sehr schwierig, ohne dieses Vertrauen dahin zu gelangen, dass der Geist frei von aller begrifflichen Erfindung vollkommen ruht, denn es ist stets die subtile Tendenz vorhanden, etwas beseitigen oder erreichen zu wollen. Im Text "Ratnagotravibhaga" werden fünf Gründe genannt, warum Tathagata-Garbha gelehrt wird. Erstens soll es diejenigen ermutigen, die sich sonst so sehr geringschätzen würden, dass sie nicht einmal versuchen würden, Bodhicitta zu entwickeln und Buddhaschaft zu erlangen. Zweitens macht die Kenntnis über Tatagatha-Garbha diejenigen demütig, die Bodhicitta entwickelt haben und die sich deshalb innerlich anderen gegenüber, die es noch nicht erweckt haben, überlegen fühlen. Drittens berichtigt es den Fehler, die Unreinheiten, die als nicht wirklich gelten, für die wahre Natur der Wesen zu halten. Viertens beseitigt es den Irrtum, die Klare-Licht-Natur, die wirklich existiert, als unwahr zu betrachten. Und fünftens werden mit dieser Kenntnis alle Hindernisse für das Entstehen von echtem Mitempfinden überwunden, das keinen Unterschied zwischen sich selbst und anderen sieht, indem aufgezeigt wird, dass die

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Natur aller Wesen essentiell gleich der Natur des Buddha ist.

Grundlage, Weg und Ergebnis Da die Buddha-Natur von Anbeginn vorhanden ist, ist sie sowohl zur Zeit des Grundes, des Weges als auch im Endergebnis gegenwärtig. Der einzige Unterschied zwischen diesen drei Stufen liegt darin, dass es sich bei der Grundlage um die Zeit handelt, zu der die Buddha-Natur vollständig von Verunreinigungen verdeckt ist, beim Weg um die Phase, in der sie teilweise einen Läuterungsprozess durchläuft, und beim Ergebnis um die Zeit, zu der sie vollständig gereinigt ist.

Lehre des Ratnagotra Vibhaga Dieser Text verweist auf drei wesentliche Punkte innerhalb der Lehre des Mahayana-Buddhismus, die ausser Frage stellen, dass alle empfindenden Wesen Tathagata-Garbha besitzen. Er behandelt in zehn Themenbereichen die Lehre über Tathagata-Garbha, und es wird anhand von neun Beispielen aus dem Tathagata-Garbha-Sutra illustriert, wie die Schleier beseitigt werden müssen, selbst wenn das Tathagata-Garbha dabei unverändert verweilt. Er lehrt drei Stadien, das unreine, teilweise reine und vollständig reine, die jeweils mit gewöhnlichen Wesen, Bodhisattvas und Buddhas übereinstimmen. Diese drei Stadien korrespondieren auch mit dem Tathagata-Garbha zur Zeit der Grundlage, des Weges und des Endergebnisses. Ganz am Anfang wird sich ein gewöhnliches Wesen der Klaren-Licht-Natur seines Geistes niemals gewahr werden, da sein Geist von groben wie auch von subtilen Schleiern verdeckt ist. Das ist das Tatagatha-Garbha zur Zeit der Grundlage, das dem immer noch im Erz ruhenden Gold gleicht. Sobald der Bodhisattva jedoch die wahre Natur des Geistes erkannt hat, werden sich die groben Schleier auflösen. Von da an macht er von seinem Verständnis, das die Essenz seines Weges ausmacht, Gebrauch; er läutert die Schleier genauso wie man Gold reinigt, sobald es einmal vom Erz abgesondert ist. Bei der endgültigen Verwirklichung handelt es sich um das Tatagatha-Garbha zur Zeit der Frucht; sie gleicht dem vollkommen reinen Gold, das alle Qualitäten von echtem Gold trägt. Das resultierende Tatagatha-Garbha offenbart alle Qualitäten eines vollkommenen erleuchteten Buddhas. In der Zeile 1.154 des Textes " Ratnagotravibhaga" steht, dass das Element (hiermit ist das Tatagatha-Garbha gemeint) leer von Hinzugefügtem (in anderen Worten von den temporär auftretenden Verunreinigungen) ist, da diese abtrennbar sind und somit nicht an seiner Essenz teilhaben. Das Element ist jedoch nicht leer von den Qualitäten eines Buddha, da diese seiner Essenz innewohnend sind und demnach nicht abgesondert werden können. Die Buddha-Qualitäten sind die Qualitäten des begriffslosen Weisheitsgeistes, der, wenn er geläutert ist, die Bezeichnung "Dharmakaya" trägt. Solange dieser

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Weisheitsgeist noch nicht völlig gereinigt ist, werden sich seine Eigenschaften auch nicht manifestieren können; bis zu diesem Zeitpunkt wird er Tatagatha-Garbha genannt. Diese Buddha-Qualitäten sind die Essenz des begriffslosen, nicht dualistischen Weisheitsgeistes. Sie können von ihrem wesentlichen Kem nicht so abgesondert werden, als ob die Essenz des Geistes eine Sache und seine Eigenschaften eine andere wären. Wenn das jedoch der Fall wäre, dann wären diese Qualitäten Gegenstand der Beweisführung des Madhyamaka und könnten als leer von einer Eigennatur aufgezeigt werden. Denn die Essenz müsste dementsprechend in Abhängigkeit von den Eigenschaften entstanden sein und die Eigenschaften in Abhängigkeit von der Essenz. Derartige Qualitäten oder eine derartige Essenz könnten keine Eigennatur oder wahre Existenz besitzen. Die Buddha-Eigenschaften sind jedoch nicht Gegenstand solcher Feststellungen. Sie können vom begrifflichen Verstand nicht erfasst und vom Wesenskem des Weisheitsgeistes nicht abgesondert werden (selbst dieser kann vom begrifflichen Verstand nicht erreicht werden). Die Buddha-Qualitäten sind keine zusammengesetzten oder bedingten Erscheinungen, die entstehen, verweilen und vergehen. Sie gelten als etwas ursprünglich Vorhandenes. Die Vertreter des Shentong kritisieren die Sichtweise der anderen Madhyamikas, die aussagen, dass die Buddha-Qualitäten als Resultat nützlicher Handlungen, der Gelübde und Verbindungen, die die Bodhi-sattvas auf dem Weg zur Erleuchtung machen, auftreten. Wenn die Qualitäten in dieser Weise entstünden, dann wären sie zusammengesetzte und vergängliche Phänomene, die nicht jenseits vom Daseinskreislauf lägen und von keinem endgültigen Nutzen für die Wesen wären. Das Shentong lässt die Lehre der Tathagata-Garbha-Sutras, die die Qualitäten des Buddha als ursprünglich vorhanden postulieren, gelten. Nichtsdestoweniger sind gute Handlungen, Gelübde und Verbindungen für die Beseitigung der Schleier notwendig. Die Chittamatrins (wie auch die Rangtong-Madhyamikas, die über die Natur der Erscheinungen philosophische Ansichten vertreten) stellen sich die Weisheit des Buddha als einen Strom von Momenten geläuterter Bewusstheit vor, die die Leerheit oder die begriffslose Natur als ihr subtiles Objekt haben. Da das Objekt rein ist, weist die Bewusstheit selbst die Eigenschaften eines reinen Geistes auf, und das wird als "begriffsloser Weisheitsgeist", als Buddha-jnana, bezeichnet. Sein Entstehen ist automatisch mit den Qualitäten des Buddha assoziiert, und diese wiederum stammen von den Handlungen eines Bodhisattvas auf seinem Weg zur Erleuchtung ab, der Weisheit und spirituelle Verdienste in wachsendem Masse ansammelt. Die Rangtong-Madhyamikas betrachten deshalb die Buddha-Qualitäten - ob sie nun diese Sichtweise ausdrücklich äussern oder nicht - als relative Phänomene, deren Wesenskem Leerheit ist. Wie zuvor schon erwähnt wurde, akzeptiert das Shentong nicht, dass der begriffslose Weisheitsgeist auf dualistische Art und Weise wissend ist. Er macht keine Unterteilung in einen wissenden und gewussten Aspekt, und deshalb hat er kein subtiles Objekt. Er ist kein Strom von Bewusstheitsmomenten. Er ist vollständig ungebunden und frei von allen Begriffen, inklusive denen der Zeit und des Raumes. Aus diesem Grund ist er ursprünglich existent, genauso wie seine Qualitäten.

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Lehre des Mahayana-Sutralamkara Dieser Text ist eine weitere der fünf Abhandlungen, die die tibetische Tradition Maitreya zuordnet. Die "Mahayana-Sutralamkara" lehrt die Unterscheidung zwischen dhannin, dem relativen Geist, und dharmata , dem absoluten Geist klaren Lichtes. Der relative Geist ist fehlerhaft und verwirrt, während der absolute Geist frei von Fehlern und Verwirrung ist. Der relative Geist wendet sich nach aussen auf sein Objekt zu und hat einen erfassenden und erfassten Aspekt. Er enthält die Verunreinigungen, die es zu beseitigen gilt. Seine Essenz oder wahre Natur ist der Geist klaren Lichtes. Der relative Geist ist somit dasjenige, das leer von etwas ist (tib.: stong gzhi). Er ist leer von einer Eigennatur. Sein wahres Wesen ist die absolute Klare-Licht-Natur. Der Geist klaren Lichtes, der in der "Mahayana-Sutralamkara" behandelt wird, stimmt gemäss dem Shentong mit dem Tathagata-Garbha im Text "Ratnagotravibhaga" überein. Der in diesem Text dargestellte relative Geist ist mit den Unreinheiten identisch. In diesem Text wird jedoch nicht ausdrücklich erwähnt, dass die wahre Natur dieser Unreinheiten das Tathagata-Garbha ist. Es wird nur gesagt, dass sie leer von einer Eigennatur sind. Dementsprechend gibt es einen geringfügigen Unterschied in der Anlage des Textes, der Sinn ist jedoch der gleiche.

Lehre des Madhyanta-Vibhaga Hier handelt es sich um eine weitere Abhandlung von Maitreya. Die Vertreter des Shentong interpretieren diese Abhandlung als einen Text, der auf die nachstehende Lehre hinweist, die in der "Sandhinirmocana-Sutra" deutlich erklärt wird, und zwar die Lehre über:

I. Drei Seinsweisen II. Drei Arten der Leerheit III. Drei Arten der Wesenlosigkeit

I. Drei Seinsweisen Eine begriffliche Beifügung existiert lediglich als eine gedankliche Schöpfung. Es sind die Objekte, um die das Bilden von Konzepten und unsere Vorstellungen kreisen. Da beispielsweise ein echter Tiger in einem Traum nicht vorhanden ist, gilt er lediglich als ein Produkt unserer Phantasie. Beifügungen, die sich eher auf den Inhalt der Täuschung (den Tiger) als auf die Täuschung selbst beziehen, existieren in anderen Worten ausschliesslich in unserer Einbildung als Träger für Namen und Begriffe. Wir unterhalten uns beispielsweise über verflossene Ereignisse. Diese Begebenheiten existieren nicht im geringsten. Sie sind einfach der Gegenstand für Namen und Begriffe, die sich zwar auf Dinge innerhalb unserer eigenen Vorstellung beziehen, aber nicht wirklich vorhanden sind. Objekte, die sich ausserhalb des Geistes und der Sinne befinden, sind von gleicher Natur. Sie sind wesenlos, aber dennoch macht man mittels Namen und Begriffen von ihnen Gebrauch.

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Abhängige Phänomene bestehen nicht nur - wie zuvor beschrieben - als etwas Vorgestelltes, sondern eher auf eine irreführende Weise. Die reine Erscheinung der diversen Formen gewohnheitsmässiger, latenter Muster der Wahrnehmung existiert substantiell (tib.: rdws su yod pd), noch bevor diese vom begrifflichen Geist benannt werden. Der Traum-Tiger zum Beispiel tritt auf und produziert einen Effekt im träumenden Geist, wie den der Furcht. Der Traum-Tiger kann jedoch nur in Relation zum wirklichen Tiger, den man sich im Traum als echt vorhanden einbildet, für substantiell existent erklärt werden. Im uneingeschränkt gültigen Sinn ist er substantiell nicht vorhanden. Aus der Perspektive des Shentong ist es nicht ausreichend, lediglich die wahre Existenz begrifflicher Beifügungen (entsprechend dem Chitta-matra) zu widerlegen. Das Shentong macht von der Madhyamaka-Beweisführung Gebrauch, um die wahre Existenz sowohl abhängiger als auch beigefügter Erscheinungen zu widerlegen. Das "vollständig Existente" ist real, da es auf eine begriffslose Art und Weise existiert. Im Chittamatra heisst es, dass das "vollständig Existente" bloss Leerheit ist, und zwar im Sinne des Freiseins von einem begrifflichen Ablauf, der eine Unterscheidung zwischen aussen erfassten Objekten als substantiell verschieden vom inneren erfassenden Geist trifft. In der Lehrmeinung des Shentong ist das "vollständig Existente" der begriffslose Weisheitsgeist selbst. Er ist in der Tat leer vom begrifflichen Vorgang, durch den aussen erfasste Objekte substantiell als andersartig vom inneren erfassenden Geist unterschieden werden. Das "vollständig Existente" ist aber auch leer vom begrifflichen Erfassen des Geistes, der ein geteiltes Phänomen (skr.: vijnana) sein soll, also ein Strom von separaten Gewahrseinsmomenten mit jeweils einem erfassenden und erfassten Aspekt. Er ist von jeglichem begrifflichen Ablauf vollkommen frei und erkennt auf eine Art, die dem Verstand vollständig fremd ist. Sie ist eigentlich völlig unvorstellbar. Aus diesen Gründen kann sie als wahrhaft existent postuliert werden.

II. Drei Arten der Leerheit Existieren diese Erscheinungen, die wir als etwas ausserhalb unseres Gewahrseins erleben und die wir durch unsere Sprache und unser Denken benennen und begründen? Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, werden wir erkennen, dass es sich bei ihnen nur um eine Idee handelt und diese Erscheinungen nicht die Beschaffenheit dieser Idee haben. Insofern können Beifügungen als "leer von äusserer Existenz" (tib.: phyi rol tu med pa'i stong nyid) definiert werden. Jede Kombination von Dingen, die als etwas aussen Vorhandenes auftreten, ist wesenlos. Diese Art der Leerheit der Nicht-Existenz wird auch vom Madhyamaka Rangtong akzeptiert, doch einige Meister des Madhyamaka Shentong betrachten die von der Rangtong-Schule gelehrte Leerheit nicht als die endgültige, da diese ihrer Ansicht nach nicht über die "Selbst-leere" Natur der Erscheinungen hinausgeht, in anderen Worten, dass jede Erscheinung leer eines eigenen, essentiellen Wesens ist (tib.: rang rang gi ngo bös stong pa). Abhängige Erscheinungen werden als leer von einer Existenz bezeichnet. Unter abhängigen Erscheinungen versteht man die auftretenden und erfassten diversen Formen innerer, gewohnheitsmässiger Muster der Wahrnehmung als auch gleichzeitig

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den Erfassenden, das Subjekt. Sobald sich aus der All-Basis, wo Eindrücke vergangener Handlungen gespeichert sind, die fünf so genannten "Pforten" sinnlichen Gewahrseins als auch das sechste, grundlegende, geistige Gewahrsein nach aussen hin orientieren, manifestieren sich diese von der konditionierten Wahrnehmung erfassten, gewohnheitsmässigen Muster. Das sechste, das geistige Gewahrsein, missversteht ein Objekt als etwas, das ausserhalb des Wahrnehmenden vorhanden ist. Diese Arten des Gewahrseins haften - mit oder ohne Gedanken - am Wesen und an den Merkmalen der verschiedenen Formen und ergreifen davon Besitz. Diese Tendenz, Kontrolle über sie auszuführen, verbleibt. Der mit Störfaktoren verblendete Geist haftet gleichermassen und nimmt die All-Basis als etwas wahr, das die Merkmale eines "Selbst" trägt; die Anhaftung bleibt bestehen. Vom Gesichtspunkt des Haftens aus gesehen existieren diese Erscheinungen auf eine irreführende Weise; wenn das Phänomen des haftenden Gewahrseins nicht existierte, dann könnte sich der gesamte Daseinskreislauf niemals manifestieren. Doch warum werden relativ vorhandene, abhängige Erscheinungen als leer von einer Existenz bezeichnet? Wenn dieser abhängige Geist als absolut existent erwiesen würde, dann wären die Vertreter des Madhyamaka Shentong Chittamatrins. Madhyamaka Shentong akzeptiert den Geist nicht als absolut, weil er in Abhängigkeit entsteht und damit leer einer Eigennatur ist. Das Auftreten abhängiger Phänomene ist jedoch nur möglich, weil essentiell alle Erscheinungen mit der Klaren-Licht-Natur des Geistes identisch sind, und diese existiert endgültig. Das "vollständig Existente" ist die letztliche, absolute Leerheit, die den untrennbaren Aspekt von "bloss lichte Klarheit und Bewusstheit" hat. Das ist der begriffslose Weisheitsgeist, der weder entsteht, verweilt noch vergeht. Er ist uranfänglich existent und mit Qualitäten versehen, wie ein Kristall, der nicht erst gereinigt werden muss, um klar zu sein: er ist und bleibt makellos. Der begriffslose Weisheitsgeist ist leer in dem Sinne, frei von sämtlichen Behinderungen zu sein, die vom begrifflichen Verstand geschaffen werden. Aus diesem Grund findet der begriffliche Verstand, sobald er versucht, den Weisheitsgeist zu erfassen, nichts vor und erlebt ihn somit als Leerheit. Dementsprechend erscheint dieser dem Verstand als leer, doch von seinem eigenen Standpunkt aus betrachtet handelt es sich um die Klare-Licht-Natur des Geistes, einschliesslich ihrer gesamten Qualitäten.

III. Drei Arten der Wesenlosigkeit Begriffliche Beifügungen sind wesenlos in dem Sinne, nicht aufgrund ihrer eigenen Merkmale zu existieren (tib.: mtshan nyid ngo bo nyid med pa). Kann beispielsweise das begrifflich erfasste Feuer wirklich als etwas Wesenhaftes ausserhalb der Wahrnehmung mit seinen eigenen Kennzeichen, heiss und brennend, existieren? Jede Erscheinung, die von einem Begriff erfasst wird, existiert nicht kraft ihrer eigenen Kennzeichen. Abhängige Phänomene werden als "wesenlos in ihrem Entstehen" (tib.: skye ba ngo bo nyid medpä) bezeichnet. Besitzt der abhängige, haftende und karmische Eindrücke sammelnde Geist Wesenhaftigkeit, die entsteht? Wenn das Entstehen des abhängigen Geistes als leer, in anderen Worten als nicht wirklich vorhanden, aufgezeigt werden kann, dann ist der Geist selbst leer von einer wirklichen Existenz. Madhyamaka Shentong widerlegt die wahre Existenz des abhängigen Geistes, indem es sich der Madhyamaka-Beweisführung bedient. Ist beispielsweise der gegenwärtige Augenblick

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des Gewahrseins aus dem vergangenen entstanden oder nicht entstanden? Mittels genauer Untersuchung wird man herausfinden, dass er nicht aus dem vergangenen Augenblick entstanden ist, da es keine Verbindung zur Vergangenheit gibt. Es gibt keine Verbindung zum gerade vergangenen Moment des Gewahrsems, da dieser Moment erloschen ist. Dieser gegenwärtige Augenblick des abhängigen Gewahrseins hat weiterhin drei Aspekte: Entstehen, Dasein und Zerfall. Wenn eine Zeiteinheit diese drei Intervalle nicht hätte, dann müsste folglich dieser Moment von Dauer sein. Wenn der wahrnehmende Geist permanent wäre, dann müsste die Gesamtheit des Daseins den Aspekt von Dauer haben. Doch wenn man darin übereinstimmt, dass das Gewahrsein den Aspekt der Vergänglichkeit hat, dann muss der gegenwärtige Moment der Wahrnehmung diese drei Zeitabschnitte haben. Konsequenterweise kann der verweilende Aspekt eines Augenblicks nicht existieren, wenn sein Entstehungsmoment nicht existiert, und wenn der verweilende Aspekt nicht wahrhaft existiert, existiert der versiegende ebenfalls nicht. Es wird behauptet, der abhängige Geist sei frei von natürlichem oder wahrem Entstehen, Dasein und Zerfall. Das "vollständig Existente" ist bar einer Wesenhaftigkeit, und die Abwesenheit eines Wesens ist das uneingeschränkt Gültige (tib.: don dam ngo bo nyid med pa). Besteht in der vollständig existierenden eigentlichen Realität das Haften an Merkmalen von Subjekt und Objekt, die als zwei separate Entitäten eine Funktion erfüllen, fort? Nein, das Letztliche ist leer von diesem dualistischen Ablauf. Ausser dem Aspekt reiner Klarheit und Bewusstheit gibt es nichts, das hier existiert, mit anderen Worten: ihre Existenz ist begriffslos. Die Essenz des begriffslosen Weisheitsgeistes kann nicht von dem mit Begriffen operierenden Verstand erfasst werden, und damit hat er aus der Perspektive des Verstandes keine Wesenhaftigkeit; von seinem eigenen Standpunkt aus gesehen gilt er als die "absolute Wirklichkeit".

Begriffsloser Weisheitsgeist Vom Shentong werden die Texte wie "Ratnagotravibhaga", "Mahayana-Sutralamkara" und das "Madhyanta-Vibhaga" so interpretiert, dass diese in verschiedener Ausdrucksweise die wahre Natur des Geistes, den begriffslosen Weisheitsgeist, lehren, und dass dieser die endgültige "absolute Wirklichkeit" ist. Solange hierüber noch Unkenntnis besteht, fungiert die Klare-Licht-Natur als Grundlage für das Auftreten der unreinen, fehlerhaften und traumartigen Erscheinungen. Der Geist des klaren Lichtes bildet, um es anders auszudrücken, die Basis für die Manifestationen des Kreislaufs. Sobald er jedoch verwirklicht ist, wird er zur Basis für die reinen Erscheinungen, das heisst, für die Buddha-Kayas und für die "reinen Länder" der Buddhas, für die Mandalas der tantrischen Meditationsgottheiten und so weiter. Der nicht dualistische Weisheitsgeist hat gleichzeitig die Eigenschaft von Leerheit wie auch von Leuchtkraft. Die Leerheit offenbart seine begriffslose Natur und sein Leuchten die Kraft, unreine und reine Erscheinungen zu manifestieren. Das ist die Sichtweise, die Sutras und Tantras verbindet. Sie wird in den Sutras des

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dritten Rades der Verkündung der Lehre behandelt, und sie ist die Grundlage für die gesamten tantrischen Übungen. Die Tantras sollten als spezielle Methoden verstanden werden, um den vollendeten erwachten Zustand beschleunigt erreichen zu können. Was die Sichtweise angeht, so ist sie die gleiche, die auch in diesen Sutras vorgefunden wird.

Traumbeispiel Der Schwerpunkt des Traumbeispiels in den Erklärungen der anderen Sichtweisen lag besonders auf der illusionsartigen Natur der Traumerfahrungen. Die Nebeneinanderstellung von Traum und Wirklichkeit geht aus der Shentong-Sicht darüber hinaus, da Träume unmissverständlich von der leuchtenden Qualität des Geistes selbst herrühren. Der Geist kann gute und schlechte Träume erzeugen und kann selbst dann einen Traum fortsetzen, wenn er sich über sein Träumen bewusst geworden ist. Träume können sich jederzeit manifestieren, ganz gleich ob der Geist sich ihrer bewusst oder nicht bewusst ist. Genauso ist die Klare-Licht-Natur des Geistes die Grundlage sowohl für den Daseinskreislauf, in dem der Geist sich seiner eigenen Natur nicht bewusst ist, als auch für den transzendierten Zustand, in dem der Geist sich seiner eigenen Natur bewusst ist. Ob der Geist sich seiner eigenen Natur bewusst ist oder nicht, sein Wesen wird sich dadurch nicht wandeln. Er ist stets leer von begrifflicher Beifügung und von abhängigen Erscheinungen. Solange jedoch der begriffslose, nicht-entstehende Weisheitsgeist unerkannt bleibt, scheint das abhängige Phänomen, das die Traumbilder darstellt, aufzutreten; der verwirrte Geist stellt sich eine äussere Welt und einen inneren Geist vor, die sich gegenseitig beeinflussen. Aus diesem verwirrten Zustand heraus entstehen Vorstellungen von "Selbst" und "Anderen", von Anhaftung und Abneigung und all die anderen Begriffe und emotionalen Störungen. Es ist so, als ob man in einem Traum gänzlich verwirrt und in ihn verwickelt ist. Sobald die bewusste Wahrnehmung zurückkehrt, erkennt man die Träume rasch als blosse Manifestationen des Spiels des Geistes, und ob sie dann unmittelbar darauf aufhören oder nicht, so stören sie den Geist nicht im geringsten.

Untersuchungsmethoden Der Schlüssel zu dieser Meditationsmethode (oder besser Nicht-Meditation) ist denjenigen zugänglich, die die Verwirklichung der Klaren-Licht-Natur des Geistes erreicht haben. Deshalb gibt es letztendlich keinen Ersatz für die persönlichen Anweisungen eines verwirklichten Meisters, der auf der einen Seite durch seine geschickten Mittel und auf der anderen Seite durch das Vertrauen und die Hingabe des Schülers dem Verstehen einen Anfang setzt und dieses im Geist des Schülers zur Reife bringen kann. Vieles kann jedoch getan werden, um den Geist vorzubereiten, und genau das ist es, was diese stufenweise Meditationsfolge über Leerheit beabsichtigt. Indem man sich mit Sorgfalt solange einem jeden Stadium der Meditationsfolge stufenweise widmet, bis von jeder Verständnisstufe eine echte Erfahrung im Geist entstanden ist, wird sich das eigene Verstehen vertiefen, und die begriffsbildende Tendenz wird ihren harten Griff um

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den Geist lockern. Stufenweise wird der Geist entspannter und offener. Zweifel und Verunsicherungen werden ihre Stärke verlieren und lösen sich mehr und mehr auf. Der Geist ist auf eine natürliche Weise wesentlich ruhiger und klarer. Ein derartiger Geist wird eher den mündlichen Anweisungen des Lehrers auf eine bereitwillige und richtige Weise entgegenkommen. In seinem Text "Enzyklopädie des Wissens" schreibt Jamgön Kongtrul, dass die Rangtong-Sicht die Perspektive für die Zeit ist, in der man sich Gewissheit durch Zuhören, Studieren und durch Nachdenken verschafft. Die Shentong-Sichtweise dient den meditativen Übungen.

Meditationsverlauf Zu dem Zeitpunkt, da man sich der Meditation zuwendet, die von der Klaren-Licht-Natur des Geistes ausgeht, ist das untersuchende Stadium innerhalb der eigenen Übung abgeschlossen. Was noch zu tun bleibt, ist, den Geist in seinem eigenen Wesen natürlich verweilen zu lassen, ganz so wie er ist, ohne irgendeine feingeistige Erfindung oder Anstrengung. Genauso wie Jamgön Kongtrul in der "Enzyklopädie des Wissens" im Kapitel über die Meditationsarten Shamatha und Vipashyana schreibt, ist der Versuch, auftretende Gedanken zu stoppen, unnötig; in diesem geistigen Zustand befreien sie sich einfach von selbst. Sie gleichen Wellen auf dem Ozean, die allein von sich aus zur Ruhe kommen werden. Es ist keine Anstrengung erforderlich, um sie zu besänftigen. Die Meditation kann, wie auch zuvor, in Sitzungen ausgeführt werden, die mit der Zuflucht und der Entfaltung von Bodhicitta beginnen und mit der Widmung für das Wohlergehen aller Wesen enden. Sie kann aber auch zwischen den Meditationssitzungen fortgesetzt werden. Zeitweise sollte man seine Beschäftigung unterbrechen, den Geist in seiner Klaren-Licht-Natur ruhen lassen und dann wieder versuchen, diese Bewusstheit in seine sonstigen Tätigkeiten mit hineinzutragen. Beginnt man erst damit, gemäss dem Shentong über die Klare-Licht-Natur des Geistes zu meditieren, ist der eigene Geist im allgemeinen weit vom Freisein von begrifflicher Anstrengung entfernt. Manchmal gibt man sich Mühe, die Leerheit der auftretenden Dinge zu sehen, manchmal versucht man, die Klare-Licht-Natur zu schauen, zeitweise spannt man sich an, um diese beiden als untrennbar zu sehen, ein anderes Mal bemüht man sich, den begriffslosen Zustand zu erhaschen, ihn intellektuell zu begreifen oder man versucht, ihn zu bestimmen und ihn irgendwie zu bewahren. Im anfänglichen Stadium wird die eigene Meditation demnach nicht vom frühen Stadium des Chittamatra verschieden sein. Das kann Ihnen jedoch einerlei sein, da sich dieser Versuch auf jeden Fall in die richtige Richtung bewegt. Die Kenntnis der verschiedenen Meditationswege wird Ihnen behilflich sein, die Stadien des Verstehens zu erkennen, denen Sie sich nahem, und das Wissen von den subtilen Fehlern, die man während der verschiedenen Stadien macht, dient als Hilfe, diese zu überwinden.

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Schlusswort Das buddhistische Lehrsystem umfasst Sichtweisen, Meditationen und Verhaltensweisen. In dieser Meditationsfolge über Leerheit legen wir zuerst einmal die Sichtweise in einer einfachen und kurzen Form fest. Das ist wichtig, denn wenn die Sichtweise falsch ist, wird die Meditation es auch sein. Sobald die richtige Perspektive festgestellt ist, kann die eigentliche Meditation erfolgen. Der in der westlichen Sprache gewählte Begriff "Meditation" bedeutet im Tibetischen: sich schulen, indem man sich mit dem Inhalt der Übung zunehmend vertraut macht (tib.: gom). Das erfordert Disziplin und Ausdauer in der Übung, bis sich ein Verständnis entwickelt hat. Schliesslich folgt aus der Meditation ein Verhalten, das mit ihr übereinstimmt. Die Meditation bewirkt, dass Geist und Einstellung sich ändern, und das bedeutet eine Veränderung des Verhaltens. Diese stufenweise Meditationsfolge über Leerheit sollte sorgfältig und mit einem kritischen Geist untersucht werden, der nach der wahren und genauen Natur der Realität forscht. Buddha sagte, wir sollten seine Worte nicht nur aus Respekt vor ihm oder aus irgendwelchen anderen Gründen einfach hinnehmen. Wir sollten selbst untersuchen, ob sie wahr sind oder nicht. Nur dann, wenn wir herausgefunden haben, dass sie wahr und förderlich für das Gute und Nützliche sind, sollten wir sie annehmen. Wir sollten die Belehrungen so prüfen, wie ein Händler das Gold, das er gekauft hat. Er prüft dieses Gold durch eine Reihe von Tests solange, bis er sich seiner Reinheit und Echtheit völlig sicher ist. Genauso sollten wir die Unterweisungen untersuchen, bis wir die Gewissheit erlangt haben, dass sie wahr und fehlerlos sind. Dann erst sollten wir sie annehmen.

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