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Sublimierung als Flucht aus Bedrängnis; Sublimation as flight from troubles;

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Page 1: Sublimierung als Flucht aus Bedrängnis; Sublimation as flight from troubles;

Originalarbeit

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Erweiterte Fassung von Vorträgen auf der 7. Herbsttagung der Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar am 19. Oktober 2013 und auf dem Symposion „Persönliche Stile in Psychoanalysen. 30 Jahre Forum“ der International University Berlin am 1. und 2. November 2013.

Dr. med. C. Nedelmann ()Blumenau 92, 22089 Hamburg, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Sublimierung als Flucht aus BedrängnisZu Goethes lebenslanger Liebe

Carl Nedelmann

Forum PsychoanalDOI 10.1007/s00451-013-0165-9

Zusammenfassung Bei der Sublimierung wird der Wunsch, der alles in Bewegung setzt, auf andere Objekte und Ziele verschoben. Der Trieb bleibt dabei weitgehend unberührt und wird kaum in seiner Intensität vermindert. Wichtig zum Verständnis ist, den Sexualtrieb in der begrifflichen Weite des Eros zu sehen, wie Platon ihn in seiner Sublimierungslehre im „Gastmahl“ beschrieben hat.

Sublimierung dient der Abwehr. Sie ermöglicht Flucht aus Bedrängnis. Das ge-lingt am besten, wenn die Liebe zu einem anderen Objekt neue Möglichkeiten der Befriedigung schafft und uns dadurch zu Gewinnern macht.

Als Beispiel dient Goethes Liebeslyrik. Neue Untersuchungen legen nahe, nicht Charlotte v. Stein, sondern die Herzogin Anna Amalia als Goethes Geliebte zu se-hen. Bedrängnis kam von dem damals herrschenden Absolutismus. Es war eine ver-botene Liebe. Sie musste geheim bleiben. In seinen Gedichten jedoch fand Goethe Wege, die Liebe, die er verbergen musste, zu bekennen.

Die neue Sicht bewirkt einen neuen Zugang. Goethes Liebeslyrik erscheint ver-ständlicher, lebendiger und der Wahrheit näher. Sie erzählt vom höchsten Glück und vom tiefsten Schmerz in Gedichten, die zum Besten in der deutschen Literatur gehören. Sie stellen ein wunderbares Beispiel dar, was Sublimierung zu leisten vermag.

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Sublimation as flight from troubles On Goethe’s lifelong love

Abstract In sublimation the desire which sets everything in motion is shifted to other objects and targets. The urge remains largely untouched thereby and is barely reduced in intensity. To appreciate this it is important to view the sexual drive in the conceptual scope of Eros, as Plato described in his teaching on sublimation in “The Symposium” (banquet).

Sublimation serves as a means of defence and allows flight from troubles. This is most successful when the love of another object achieves new possibilities for gratification and therefore makes us into winners.

Goethe’s love poems serve as an example. New investigations suggest that Goethe’s lover was not Charlotte v. Stein but Duchess Anna Amalia. Troubles came from the absolutism prevailing at that time. It was a forbidden love. It had to remain secret; however, in his poems Goethe found ways to acknowledge the love which he was forced to conceal.

The new perspective achieves a new access. Goethe’s love poems seem more comprehensible, more lifelike and closer to the truth. The lyrics tell of greatest hap-piness and of deepest pain in poems which belong to the best in German literature. They represent a wonderful example of what sublimation can achieve.

Vorbemerkungen

Im Jahr 2003 hat Ettore Ghibellino die These veröffentlicht, nicht Charlotte v. Stein, sondern die Herzoginmutter Anna Amalia sei Johann Wolfgang v. Goethes Geliebte gewesen und dies lebenslang (2003). Die Umstände des Absolutismus erforderten es, diese Liebe als eine verbotene zu betrachten und deswegen zu verheimlichen. Die Standesunterschiede waren zu groß. Goethe war bürgerlicher Herkunft; Anna Amalia war „Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach und aus altem Reichsadel mit Beziehungen zu Kaiser- und Königshäusern, aufgeklärte Herrscherin und … poli-tisch-kulturelle Mutter der bürgerlichen Klassik, die die deutsche Literatur zur Welt-literatur reifen ließ“ (Trilse-Finkelstein 2008, S. 228). Bedeutungsschwere Indizien, die in der Zwischenzeit durch Ghibellino und durch weitere Autoren noch vermehrt worden sind, erlauben es, die These der verbotenen lebenslangen Liebe als wahr zu erachten.

In einer anonymen Stellungnahme erklärte die Klassik Stiftung Weimar hingegen: „Ghibellinos Ansatz ist historisch so fragwürdig, … daß sich eine ernsthafte wissen-schaftliche Auseinandersetzung eigentlich verbietet“ (2008, S. 294).

Wilhelm Solms hat die Goethe-Gesellschaft zu einer wissenschaftlichen Aus-einandersetzung aufgefordert. Das Resultat war, dass „Jochen Golz im Namen des Vorstands der Goethe-Gesellschaft einen Dialog … abgelehnt hat, um ‚abseitige Spe-kulationen‘ nicht ‚über Gebühr aufzuwerten‘“ (Solms 2012, S. 5 f.).

Auch in der Goethe-Biografie von Rüdiger Safranski erscheint die Liebe zu Char-lotte v. Stein als unbezweifelte Tatsache. „Ob … Goethe gleichzeitig ein amourö-ses Verhältnis zu Amalia unterhielt, wissen wir nicht, wenn es auch schon damals

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Leute gab, die so taten, als wüßten sie es“ (2013, S. 206). Warum sie das taten, bleibt unerörtert, zumal es sich also allenfalls um „ein amouröses Verhältnis“ nebenher handele. Solche Darstellung spottet jeder Beschreibung. Weiter hat sich Safranski mit dem umstrittenen Themenkomplex nicht beschäftigt. So ist er auch über die Lie-beslyrik in Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt hinweggegangen.

Eine Intuition machte den Anfang, neu über Goethe nachzudenken. Ghibellino erzählte: „2001 stand ich auf einmal vor einem Gemälde von Anna Amalia … und plötzlich durchfuhr es mich: Das ist Goethes Frau!“ (Spiegel-Gespräch, 21.07.2008).

Für Ghibellino war es eine Entdeckung. Für Jochanan Trilse-Finkelstein wurde es ein Wiederfinden. Ihm war in den 1960er Jahren, als er in Weimar an der Grundle-gung der Heine-Säkularausgabe mitarbeitete, klar geworden, dass nicht Charlotte v. Stein, sondern Anna Amalia Goethes Geliebte war. Darüber zu sprechen, passte nicht in die herrschende Ideologie und war von Staats wegen untersagt. Andere Aufgaben hielten ihn davon ab, das Thema weiterzuverfolgen (2008). Was er nun von Ghi-bellino hörte, erlebte er wie eine Befreiung (2010, S. 11). Er griff zur 5. Römischen Elegie (1988, S. 157) und sagte „mit den Worten unseres Altmeisters“:

Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert;Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir.

Hubert Speidel schrieb, es „traf mich wie ein Donnerschlag: zum erstenmal glaubte ich, Goethe zu verstehen. Plötzlich war er kein Denkmal mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut“ (2012a, S. 26).

In seinen Gedichten konnte Goethe die Liebe, die er verbergen musste, bekennen. Von besonderer Beweiskraft haben sich Gedichte aus Goethes erstem Weimarer Jahr-zehnt erwiesen. Dem sind Solms (2012) und Speidel (2012b) in Vorträgen in Weiter-führung von Untersuchungen Ghibellinos nachgegangen. Das Ergebnis zeigt, schrieb Speidel, „wie viel unvoreingenommener und uneingeengter die Gedichte und der dazu gehörige Mensch und Autor betrachtet werden können, wenn Frau v. Stein nicht den Interpretationsrahmen geben muß“ (2012b, S. 10 f.).

Meine Absicht ist es, Sublimierung in Goethes Kunst darzustellen und Ghibelli-nos These zu prüfen, die Liebe zwischen Goethe und Anna Amalia sei „lebenslang“ gewesen. Ich gehe deswegen zeitlich über die Arbeiten von Solms und Speidel hinaus und beziehe auch spätere Liebesgedichte in die Betrachtung ein.

Zum Begriff der Sublimierung

Sublimierung ist in der Psychoanalyse ein schwieriger Begriff, ist es doch schon schwer genug, ihn von der Reaktionsbildung abzugrenzen. Mit der Annahme neutra-lisierter oder gar primär neutraler Energie, einer Annahme, die ich nicht teile, verliert der Begriff seinen Sinn. Er kann fallen gelassen werden (Hirschmüller 1985).

Dabei ist dieser Begriff der Psychoanalyse in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Er lässt sich in wenigen Worten von Sigmund Freud darstellen. Er hat eine allgemeine Gültigkeit erhalten, die auch diesen Ausführungen zugrunde liegt. Danach heißt Sublimierung, „das Triebschicksal, … bei dem Objekt und Ziel gewechselt werden“ (1923a, S. 231), aber der ursprüngliche Trieb erhalten bleibt,

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„ohne wesentlich an Intensität abzunehmen“ (1908d, S. 150). Das heißt, schrieb Eckart Goebel, „daß der Prozeß der Sublimierung nicht den Trieb selbst manipuliert: es geht um den Ersatz von Objekten“ (2009, S. 140).

Die Sublimierung betrifft im Wesentlichen den Sexualtrieb. Das lässt sich aber nur bejahen, wenn mitbedacht wird, dass dieser Trieb „mit dem Eros des göttlichen Plato zusammentrifft“ (Freud 1905d, S. 32).

Platon hat im „Gastmahl“ in der Rede des Sokrates die Theorie der Sublimierung präsentiert. Sie zeigt das Walten des Eros von der Sinnlichkeit des Körpers bis zur Anschauung des Guten und Schönen. Diese Ansicht kehrt in der Psychoanalyse wie-der in der Theorie von der Einheit der Libido, dem lateinischen Wort für Lust und Wunsch. „Wir heißen so die … Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann“ (Freud 1921c, S. 98).

Die Kraft der Libido befähigt die Sublimierung, Bedrängnisse abzuwehren. Doch die Abwehr ist nur der eine Teil. Der andere Teil ist die Überwindung der Bedräng-nisse. Jürgen Körner hat darauf hingewiesen, „dass uns die besondere Abwehrform der Sublimierung zu Gewinnern macht, weil wir … unsere Befriedigungsmöglich-keiten vervielfachen“ (2013, S. 86). Hinzugefügt hat er: „in unseren Sublimierungen finden wir uns erst“ (E-Mail vom 11.07.2013).

Ganz in diesem Sinne sah Freud Goethe am Werk. Er würdigte ihn mit folgen-den Worten: „Den Eros hat Goethe immer hochgehalten, seine Macht nie zu verklei-nern gesucht, ist seinen primitiven oder selbst mutwilligen Äußerungen nicht minder achtungsvoll gefolgt wie seinen hochsublimierten und hat, wie mir scheint, seine Wesenseinheit durch alle seine Erscheinungsformen nicht weniger entschieden ver-treten als vor Zeiten Plato“ (1930e, S. 549).

Goethes Dichtkunst und die Wahrheit

Der Ausgangspunkt seiner Dichtkunst liegt in Goethe selbst. Dazu schrieb Chris-toph Martin Wieland: „Das Besondere …, was ihn … wie fast in allen seinen Wer-ken, von Homer und Shakespeare unterscheidet, ist, daß der Ich, der ille Ego überall durchschimmert, wiewohl ohne alle Jactanz [= Aufdringlichkeit] und mit unendlicher Feinheit“ (zit. nach Boyle 1991, S. 379). Goethe bestätigte diese Äußerung. Wieland, fügte er hinzu, „sieht ganz unglaublich alles was man machen will, macht und was hangt und langt in einer Schrift“ (1991, S. 379).

Anregen ließ Goethe sich durch Gelegenheiten: „Was von meinen Arbeiten durch-aus und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfaßt worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch überein-kommen, daß bei besonderen äußeren, oft gewöhnlichen Umständen ein Allgemei-nes, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte“ (1987, S. 729).

„Die erste und echteste aller Dichtarten“, schrieb er, ist „das Gelegenheitsgedicht“ (1986, S. 433). Das war „diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzu-

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schließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen“ (1986, S. 309).

Will man die solchermaßen entstandenen Gelegenheitsgedichte zum Beweis neh-men, so fragt es sich, wie Goethe es mit der Wahrheit hielt. Für ihn galt die Korre-spondenztheorie der Wahrheit. Danach ist die Realität die Wahrheit. Freud äußerte sich ebenso: „Die Übereinstimmung mit der Realität … heißen wir Wahrheit“ (1933a, S. 148). Heute ist davon die Rede, die Wahrheit existiere nur als eine inter-subjektiv hergestellte Konstruktion, eine objektive Wahrheit könne es daher nicht geben. Will man diesem Einwand entgegenkommen, so lässt sich sagen, was uns als Wahrheit erscheint, als Annäherung an die Wahrheit und damit an die Realität zu verstehen.

In der Frage der Wahrheit in Goethes Gedichten scheiden sich die Geister. Nach-dem Joachim Berger sich dafür entschieden hatte, was Ghibellino zu Goethe und Anna Amalia schrieb, zu verwerfen, hatte es zur Konsequenz, die Aussagen, die in Goethes Gedichten stehen, als Fiktion zu begreifen und diese Ansicht auf Goethe zu projizieren. Er schrieb: „Eine biographische Werkinterpretation ist grundsätzlich problematisch – gerade bei einer literarischen Kapazität wie Goethe, der stets die Autonomie der Ästhetik, der Fiktion betonte“ (2007, S. 21). Nun war alles beliebig. So gelang es ihm, die Liebe zwischen Anna Amalia und Goethe als „Legende“ zu bezeichnen und nicht weiter ernst zu nehmen.

„Was ist Wahrheit?“ hatte Pilatus in dem speziellen Fall der Klage gegen Jesus gefragt (Joh. 18, 38). Darüber nachdenkend hat Martin Luther in der Ausgabe letzter Hand seiner Bibelübersetzung an den Rand geschrieben: „Jronia est. Wiltu von war-heit reden, so bistu verloren“ (1545, S. 2179). Goethe und Anna Amalia befürchteten, in Abgründe zu geraten, würde ihre Liebe offenkundig werden.

Goethe flüchtete in die Dichtkunst. Dort konnte er seine Liebe, die eine heimli-che sein musste, offenbaren. Poetisch hat er die Tatsache der Flucht am deutlichsten in der Gedichtesammlung West-Östlicher Divan ausgeleuchtet. Von einer „Hegire“ sprach er, von einer Flucht, in diesem Fall von einer imaginären, als er begann, sich in die Welt des persischen Dichters Hafis zu vertiefen (1994, S. 883 f.).

Zum Verhältnis von Leben und Werk bei Goethe sagte Thomas Mann: „Nie … waren eines Dichters Leben und Werk inniger ineinander verschränkt, untrennba-rer einander zugeordnet, so, daß das Werk ganz Erfahrung, Aussprache, lyrisches Bekenntnis war“ (1948, S. 304).

Die psychoanalytische Lesetechnik

Die Empfehlung der psychoanalytischen Behandlungstechnik, beim Zuhören „gleichschwebend aufmerksam“ zu sein (Freud 1912e, S. 377 f.), hat Peter von Matt auf die Technik des psychoanalytischen Lesens übertragen. „Im Text, der dem Beobachter vor Augen liegt, gibt es nichts, was von unter- oder nebengeordneter Bedeutung wäre. Da herrscht keine Hierarchie der sinntragenden und sinnleeren, der wichtigen und belanglosen Wörter und Wortverbindungen. Nichts darf vorkommen, auf das es mehr ankäme als auf ein anderes … Wenn im herkömmlichen Lesen ‚der Sinn‘ … gesucht und gefunden werden muß, bleibt dieser Sinn im Akt des Beob-

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achtens belanglos. Er wird fröhlich dem anschließenden Denken überlassen“ (2001, S. 131).

Die Liebesgedichte im ersten Weimarer Jahrzehnt

Es ist die Zeit, in der die verbotene Liebe zwischen Goethe und Anna Amalia begann und sich heimlich erfüllte. Carl August, der am 3. September 1775 18 Jahre alt geworden und zum Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach ernannt worden war, hatte Goethe eingeladen. Am 7. November 1775 kam Goethe in Weimar an. Er bezeichnete es als eine „Flucht“ (1986, S. 843) vor den gesellschaftlichen Bedrängnissen, in die er in Frankfurt geraten wäre, wenn er Anna Elisabeth Schönemann, seine erste große Liebe, „Lili“ genannt, geheiratet hätte. Sein Dilemma beschreibt das in Frankfurt geschriebene Gedicht „Neue Liebe neues Leben“ vom März 1775 (1987, S. 286). Als Zeichen, wie sehr ihn diese Liebe noch bewegte, hatte Goethe das Gedicht in die erste Weimarer Gedichtsammlung aufgenommen:

Will ich rasch mich ihr entziehen,Mich ermannen, ihr entfliehen,Führet mich im Augenblick,Ach, mein Weg zu ihr zurück!…Muß in ihrem ZauberkreiseLeben nun auf ihre Weise.Die Verändrung, ach, wie groß!Liebe! Liebe! Laß mich los!

Das erste Gedicht, von dem sich annehmen lässt, dass Goethe es Anna Amalia zuge-dacht hat, stammt vom Januar 1776. Es ist ein Gedicht der Sehnsucht, „Jägers Abend-lied“ (1987, S. 300 f.).

Mir ist es, denk’ ich nur an dich,Als in den Mond zu sehn,Ein stiller Friede kommt auf mich,Weiß nicht, wie mir geschehn.

Fortan steht der Mond in den Liebesgedichten für Anna Amalia.Am 14. April 1776 folgte in „Warum gabst Du uns die Tiefen Blicke“ (1987,

S. 229 ff.) eine Beschreibung „der stärksten Liebesanziehung“ (Freud 1930e, S. 548). Es war die Zeit, in der Goethes Aufstieg begann. Er habe, schrieb Wieland „unglaub-liche Verdienste … um unseren Herzog in dessen erster Regierungszeit gehabt“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 56). Anna Amalias Wirken im Hintergrund trug dazu bei, dass Goethe im Juni 1776 gegen erhebliche Bedenken zum Geheimen Legations-rat ernannt und Minister im Geheimen Consilium wurde. Vermittelt durch ihn hat umgekehrt Anna Amalia politischen Einfluss behalten. Das lässt sich gar nicht genug betonen. Sehr bald war in Weimar eine sachliche Basis entstanden. Sie hat die Liebe beflügelt und mit für ihren lebenslangen Erhalt gesorgt.

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Weitere Kunde gibt das Gedicht „An den Mond“ (1987, S. 301 f.). Solms vermutet eine Frühfassung aus dem Frühjahr 1776 (2012, S. 10).

Selig wer sich vor der WeltOhne Haß verschließt,Einen Freund am Busen hält,Und mit dem genießt,

Was von Menschen nicht gewußt,Oder nicht bedacht,Durch das Labyrinth der BrustWandelt in der Nacht.

Hier zeigt sich die Sublimierung der Liebe im gegenseitigen Vertrauen aus der Per-spektive der Geliebten. Ursprünglich hatte Goethe statt „Freund“ „einen Mann am Busen hält“ geschrieben. Die Liebe, die sie empfindet, ist so offen und tief, dass Verstehen und Fühlen bis in „den Inhalt des Traumlebens“ (Freud 1930e, S. 548), bis in das Unbewusste, hineinreichen, die Grenze zwischen Ich und Es aufgehoben ist.

Wie Goethe es Anna Amalia zuschrieb, beschrieb er es auch von sich selbst. Er liebte sie „über alle Maßen“. Er hat „sich Mittel und Wege ausgedacht, wie er seine Liebe offenbaren … kann“ (Solms 2012, S. 19). So schrieb er im Dezember 1780 (1987, S. 239):

Sag ich’s euch, geliebte BäumeDie ich ahndevoll gepflanzt…Ach, ihr wißt es, wie ich liebe,Die so schön mich wiederliebt,die den reinsten meiner TriebeMir noch reiner wiedergibt.

Wie der Trieb beschaffen ist, wie vermischt oder rein er ist, hängt von der Objektbe-ziehung ab, auf die der Trieb sich richtet. Wie wunderbar sich die Beziehung gestal-tete, bezeugen Verse aus dem Gedicht „Der Becher“ vom September 1781 (1987, S. 309 f.).

Wenn ich deinen lieben Leib umfasse,Und von deinen einzig treuen LippenLangbewahrter Liebe Balsam koste,Selig sprech’ ich dann zu meinem Geiste:Nein, ein solch Gefäß hat außer Amorn,Nie ein Gott gebildet noch besessen!

Höher geht es nicht. Vielleicht ist hier der Ort, Heinrich Heine zu Goethes Gedichten zu hören. Er schrieb: „Goethe war der Spinoza der Poesie. Alle Gedichte Goethes sind durchdrungen von demselben Geiste, der uns auch in den Lehren des Spinoza anweht … Die Lehre des Spinoza … umflattert uns als Goethesches Lied“ (1835, S. 618 ff.).

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In den hier zitierten Gedichten gab Sublimierung die Kraft zu einer Flucht aus einer Bedrängnis, die wie ein schwerer Schatten die Liebe belastete. Die Sorge, die nach den Spielregeln des Absolutismus verbotene Liebe könnte verraten werden, begleitete Goethe und Anna Amalia durch das ganze erste Weimarer Jahrzehnt. Im Sommer 1786 wurde die Sorge überwältigend.

„Römische Elegien“

Nach einer Unterredung mit Carl August am 3. September 1786 erfolgte Goethes Flucht nach Italien. Goethe nannte sie rückblickend „meine Hegire von Carlsbad“ (1994, S. 883). Am 14. Oktober schrieb er Carl August: „Wie sonderbar unser Zusammenseyn in Carlsbad mir vorschwebt, kann ich nicht sagen. Daß ich in Ihrer Gegenwart gleichsam Rechenschafft von einem großen Theil meines vergangenen Lebens ablegen mußte, und was sich alles anknüpfte“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 97).

Am 23. Dezember schrieb er Anna Amalia („Frau v. Stein“): „Daß du kranck, durch meine Schuld kranck warst, engt mir das Herz so zusammen daß ich dirs nicht ausdrücke. Verzeih mir ich kämpfe selbst mit Todt und Leben und keine Zunge spricht aus was in mir vorging, dieser Sturz hat mich zu mir selbst gebracht. Meine Liebe! Meine Liebe! … Im Leben und Todt der deine“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 105). – Das soll Goethe an Charlotte v. Stein gerichtet haben?

Allmählich trat Entlastung ein. Am 20. Januar 1787 schrieb Goethe an Carl August: „Wie sehr danke ich Ihnen, daß Sie mir so freundlich entgegenkommen, mir die Hand reichen und mich über meine Flucht, mein Aussenbleiben und meine Rück-kehr beruhigen“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 98).

Am 18. April 1787 schrieb er an Anna Amalia: „Leb wohl Geliebteste mein Herz ist bey dir und jetzt da die Weite Ferne, die Abwesenheit gleichsam alles wegge-läutert hat was die letzte Zeit über zwischen uns stockte so brennt und leuchtet die schöne Flamme der Liebe der Treue, des Andenkens wieder fröhlich in meinem Her-zen“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 110).

Nach sorgfältiger Planung kehrte Goethe am 18. Juni 1788 nach Weimar zurück. Mit dem Herzog war er einig, sich in Zukunft weniger der Politik, mehr der Kunst und der Wissenschaft zu widmen. Anna Amalia und er befanden sich im Schmerz der Entsagung, aber waren sich bei allem Seufzen darin einig, dass die Entsagung nicht die Seele betreffen sollte. Das Leben mit Christiane Vulpius, das bald nach der Rückkehr aus Italien begann, berührte die Sphäre nicht, in der Anna Amalia und er sich nun ausschließlich bewegten. Charlotte v. Stein hatte sich größte Verdienste in Vermittlung und Geheimhaltung erworben. Jetzt verlor sie die Mitwirkung.

In der Zeit vom Herbst 1788 bis zum Frühjahr 1790, während Anna Amalia in Italien weilte, Goethe also in Weimar ganz ohne sie war, entstanden die Römischen Elegien. Rückblickend besingen sie in römischer Verfremdung die Liebe, der sie ent-sagen mussten. Die 5. Elegie zum Beispiel (1988, S. 157 f.) beschwört den Einklang von sinnlicher und sublimierter Liebe, wie er eindrücklicher nicht zu denken ist.

Hier befolg’ ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten

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Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß.Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;Werd’ ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt.Und belehr’ ich mich nicht, indem ich des lieblichen BusensFormen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?Dann versteh’ ich den Marmor erst recht; ich denk’ und vergleiche,Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.

In der 20. Elegie (1988, S. 172) wird das Geheimnis der Liebe zum Thema.

Zieret Stärke den Mann und freies, mutiges Wesen,O! so ziemet ihm fast tiefes Geheimnis noch mehr.…Dir, Hexameter, dir, Pentameter, sei es vertrauet,Wie sie des Tags mich erfreut, wie sie des Nachts mich beglückt.

„Nähe des Geliebten“ und „Die Liebende abermals“

Die Liebe war nun Staatsgeheimnis. Unter dieser Bedingung bewährte sich Goethes Kunst des Gelegenheitsgedichtes in besonderer Weise. Gelegenheiten, die ihn zum Dich-ten anregten, konnten vom Staatsgeheimnis her gesehen gänzlich harmloser Natur sein.

Die Entstehung des Gedichtes „Nähe des Geliebten“ (1987, S. 647) im April 1795 ist dem Genuss zu danken, den Goethe verspürte, als er das von Karl Friedrich Zelter vertonte Gedicht „Ich denke dein“, gesungen von Friederike Brun, hörte. Die Melodie, schrieb er, „hatte einen unglaublichen Reiz für mich, und ich konnte nicht unterlassen, selbst das Lied dazu zu dichten“ (1987, S. 1213). Hier half Sublimierung zur Flucht aus der Bedrängnis der Sehnsucht. Höchste Lust liegt in den Worten, die er die Geliebte sagen lässt.

Ich denke dein, wenn mir der Sonne SchimmerVom Meere strahlt;Ich denke dein, wenn sich des Mondes FlimmerIn Quellen malt.…Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,Du bist mir nah!Die Sonne sinkt; bald leuchten mir die Sterne.O, wärst Du da!

Zwölf Jahre später, am 10. April 1807, ist Anna Amalia gestorben. Am Ende des-selben Jahres entstand in dem Zyklus der „Sonette“ ein Gedicht mit dem Titel „Die Liebende abermals“ (1988, S. 255). Ein Brief von Bettine v. Arnim an Goethe legt nahe, dass sie die Liebende sei. „Warum muß ich denn wieder schreiben?“ heißt es in ihrem Brief, „zu sagen habe ich nichts“ (1988, S. 983). Das Gedicht Bettine zuzu-ordnen, lässt die Möglichkeit unbedacht, dass ihr Brief nur die Gelegenheit war, die Goethe angeregt hat, die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden und die Liebe zu Anna Amalia als lebenslange erscheinen zu lassen.

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Warum ich wieder zum Papier mich wende?Das mußt du, Liebster, so bestimmt nicht fragen:Denn eigentlich hab ich dir nichts zu sagen;Doch kommt’s zuletzt in deine lieben Hände. Weil ich nicht kommen kann, soll, was ich sende,Mein ungeteiltes Herz hinübertragenMit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen:Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende.

West-Östlicher Divan

Auch die Sammlung West-Östlicher Divan ist das Ergebnis einer Flucht. Goethe lag daran, der politisch verworrenen Welt von 1814/1815 gedanklich zu entgehen und sich von dem Anwachsen nationalstaatlicher Ideen nicht aufregen zu lassen. Die Flucht, die Goethe jetzt beging, war eine imaginäre. Er blieb in Weimar. „Ich segne meinen Entschluß zu dieser Hegire,“ schrieb er, „denn ich bin dadurch der Zeit und dem lieben Mittel-Europa entrückt, welches für eine große Gunst des Himmels anzu-sehen ist, die nicht einem jeden widerfährt“ (1994, S. 883 f.).

Die Gelegenheit zur Flucht ergab sich aus den Gedichten von Hafis, dem persischen Dichter aus dem 14. Jahrhundert. Joseph v. Hammers hatte seine Gedichte neu übersetzt und darauf hingewiesen, dass dessen „Lebenstage in eines der stürmischsten Jahrhun-derte, welches die morgenländische Geschichte aufzuweisen hat, gefallen waren … Die Gräuel politischer Stürme, welche damals den Orient erschütterten, bilden einen merk-würdigen Contrast mit der ungetrübten Heiterkeit des Dichters, der, während rund um ihn her Reiche zusammenstürzten, und Usurpatoren donnernd empor schoßen, mit unge-störtem Frohsinn von Nachtigall und Rosen, von Wein und Liebe sang“ (1994, S. 884).

Die Nachtigall ist im Persischen männlich. Es heißt, der Nachtigallengesang bringt die Rose dazu, sich zu öffnen.

Die erste Strophe des Gedichts, das den Titel „Hegire“ trägt und am Anfang von West-Östlicher Divan steht (1994, S. 304 f.), schildert den Wunsch, der Goethe zur Flucht reizte.

Flüchte du, im reinen OstenPatriarchenluft zu kosten,Unter Lieben, Trinken, Singen,Soll dich Chisers Quell verjüngen.

Chiser hütet die Quelle der Jugend. Goethe mag an das Epigramm „Quelle der Ver-jüngung“ von Friedrich Schiller gedacht haben: „Glaubt mir, es ist kein Märchen, die Quelle der Jugend, sie rinnet Wirklich und immer, ihr fragt wo? In der dichtenden Kunst“ (1796, S. 553).

Das am 10. November 1814 geschriebene, an Hafis gerichtete Gedicht „Unbe-grenzt“ (1994, S. 323) zeigt in besonderer Deutlichkeit, dass bei der Sublimierung der Sexualtrieb – in der Auffassung, die „mit dem Eros des göttlichen Plato zusam-mentrifft“ (Freud 1905d, S. 32) – erhalten bleibt, „ohne wesentlich an Intensität

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abzunehmen“ (Freud 1908d, S. 150), auch wenn das Objekt, auf das der Trieb sich richtet, ein anderes als das primäre ist.

Und mag die ganze Welt versinken,Hafis mit dir, mit dir alleinWill ich wetteifern! Lust und PeinSey uns den Zwillingen gemein!Wie du zu lieben und zu trinkenDas soll mein Stolz, mein Leben seyn.

In dem weiten Rahmen, den Goethe sich mit Hafis geschaffen hat, erscheint „Suleika“, die „Verführerin“. Lange wurde angenommen, darin verberge sich Marianne v. Wille-mer. Die Liebe, die er zu ihr empfand, mag die Anregung gewesen sein, die ihn an sein Glück mit Anna Amalia erinnerte. Je mehr Marianne als Suleika galt, desto unbeküm-merter konnte Goethe in seinem imaginären Dialog mit Hafis, ohne sich und die Geliebte zu verraten, das „Geheimnis“ der Liebenden berühren und fragen, wie Hafis gefragt hat: „Wie verbirgt sich ein Geheimnis, das man unter Leute trug?“ (zit. nach Bürgel 1972, S. 11). Das Gedicht „Gingo Biloba“ (1994, S. 380 f.) ist darauf eine Antwort.

Ist es Ein lebendig Wesen?Das sich in sich selbst getrennt,Sind es zwey? die sich erlesen,Dass man sie als eines kennt. Solche Frage zu erwidernFand ich wohl den rechten Sinn;Fühlst du nicht an meinen LiedernDass ich eins und doppelt bin?

„Eins und doppelt“, tiefer lässt es sich nicht sagen. Solche Allgemeinheit lässt dem Intimsten Raum. Das zeigt auch das folgende Zwiegespräch der Liebenden (1994, S. 382). Suleika fragt:

Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen!Der Sichelmond umklammert sie.Wer konnte solch ein Paar vereinen?Dies Rähtsel, wie erklärt sich’s? Wie?

Hatem, hinter dem sich Goethe verbirgt, antwortet:

Der Sultan konnt es, er vermählteDas allerhöchste Weltenpaar,Um zu bezeichnen Auserwählte,Die tapfersten der treuen Schar. Auch sey’s ein Bild von unsrer Wonne!Schon seh ich wieder mich und dich,Du nennst mich, Liebchen, deine Sonne,Komm, süßer Mond, umklammre mich!

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„Elegie“

Goethe hat nicht nur die höchste Lust, sondern auch den tiefsten Schmerz, den Schmerz, mit der Geliebten sich selbst zu verlieren, in einem Klagelied beschrieben. Er hat es „Elegie“ genannt. Unter dem Namen „Marienbader Elegie“ ist es bekannt geworden (1988, S. 457 ff.).

Die Gelegenheit, die ihn dieses Mal zur Flucht aus einer Bedrängnis anregte, ist die Trennung von der 19-jährigen Ulrike von Levetzow. Nach vergangenen Kurauf-enthalten hatten sie sich im Juli 1823 wieder in Marienbad getroffen. Der 74-jährige Goethe hatte sich von ihr verzaubern lassen. Irgendwie war die Frage der Verlobung entstanden. Mit dem Großherzog, vermerkte er in seinem Tagebuch, hat er „die Ver-lobung aus dem Stegreife besprochen“ (zit. nach Ghibellino 2012, S. 253).

Inwieweit der Großherzog einer Absicht Goethes Nachdruck verlieh oder nach eigenem Ermessen handelte, bleibt offen. Tatsache ist, dass er in Goethes Namen um die Hand Ulrikes anhielt. Das Gerücht der angehenden Verheiratung nahm sei-nen Lauf, sprach sich herum und führte zu Peinlichkeiten. Die Unbefangenheit im Umgang miteinander zerbrach.

Goethe beschrieb die folgenden Tage in einem Brief an seine Schwiegertochter Ottilie: „Dein Schreiben, allerliebste Tochter, kam wie aus einer anderen Welt in die-ses extemporierte Tags-Interesse, wo im Wirbel der verschiedensten Elemente sich ein gewisses Irrsal bewegt, das die Übel vermehrt, von welchen man sich befreien möchte“ (1976, S. 79).

Am 5. September 1823 kam der Abschied. Es war ein „etwas tumultuarischer Auf-bruch“ (1988, S. 1051). Unmittelbar danach begann Goethe, die Elegie zu schreiben. Wer war darin gemeint? „Gesetzt den Fall“, fragt Trilse-Finkelstein, „es wäre wirk-lich die Levetzow gemeint, aus frischer Verliebtheit, schriebe dann ein hochrangiger Künstler ein Trauergedicht? Und dazu einen Vergangenheitstext, der augenfällig an eine Tote gerichtet ist?“ (2008, S. 245).

Angeregt vom Schmerz des Abschieds entwickelte Goethe Gedanken, die zu Anna Amalia und zu ihrem Tod hinüberliefen. Die Elegie beginnt nach wenigen Eingangs-versen mit einer Flucht in den Himmel.

Kein Zweifeln mehr! Sie tritt an’s Himmelstor,Zu Ihren Armen hebt sie dich empor.

Dort malt er die Erinnerung an die erfüllte Liebe aus.

Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen,Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens,

Bald lässt er den Schmerz des Abschieds folgen.

Und nun verschlossen in sich selbst, als hätteDies Herz sich nie geöffnet, selige StundenMit jedem Stern des Himmels um die WetteAn ihrer Seite leuchtend nicht empfunden;

Er versucht, sich der unverändert erhaltenen Natur zu vergewissern.

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Ist denn die Welt nicht übrig? FelsenwändeSind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?Die Ernte reift sie nicht? Ein grün GeländeZieht sich’s nicht hin am Fluss durch Busch und Matten?

Er ändert die Betrachtung und wendet sich nach innen. Er lässt die Einzigartigkeit der einen Liebe anklingen. Sie erinnert ihn an Glück und Seligkeit.

Wenn Liebe je den Liebenden begeistet,Ward es an mir auf’s lieblichste geleistet;Und zwar durch sie!

Daran möchte er festhalten.

Mich schreckt der Wink, von dir mich zu entfernen,

Aber dann nimmt das Leid überhand.

Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.

Selbst Freunden kann er sich nicht mitteilen.

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!

So ist er am Ende allein.

Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,

Er kehrte nach Weimar zurück. Vom 17.–19. September 1823 fertigte er mit besonde-rer Sorgfalt eine Reinschrift der „Elegie“ an. Im November erkrankte er schwer. Zel-ter, sein intimster Freund in den späten Jahren, eilte zu ihm und blieb drei Wochen. Immer wieder las er Goethe die „Elegie“ vor. In einem Dankesbrief vom 9. Januar 1824 schrieb ihm Goethe, dass ihm das Gedicht „jetzt noch mehr angehört da ich fühle daß Du Dir’s eigen gemacht hast …“ (1976, S. 100).

„Dem aufgehenden Vollmonde“

Über die Elegie hinaus rühmt das drei Tage vor seinem 79. Geburtstag, am 25. August 1828, verfasste Gedicht „Dem Aufgehenden Vollmonde“ (1988, S. 700) Goethes lebenslange Liebe. Das Gedicht entstand in der Einsamkeit der Dornburger Schlös-ser. Dorthin hatte sich Goethe nach dem Tod von Carl August, um den offiziellen Trauerfeierlichkeiten zu entgehen, im Juli 1828 für zwei Monate zurückgezogen. Er schrieb Zelter: „Bei dem schmerzlichsten Zustand des Innern musste ich wenigs-tens meine äußern Sinne schonen … Die Aussicht ist herrlich und fröhlich, … mir erscheint dies alles in erhöhteren Farben wie der Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde“ (1976, S. 284 f.).

Das Gedicht beginnt mit der Bedrängnis, allein gelassen zu werden.

Willst du mich sogleich verlassen!Warst im Augenblick so nah!

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Dich umfinstern WolkenmassenUnd nun bist du gar nicht da.

Es folgt die Wiederannäherung.

Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,Blickt dein Rand herauf als Stern!Zeugest mir, daß ich geliebt bin,Sei das Liebchen noch so fern.

Es schließt in einer über alle Bedrängnis siegenden Glückseligkeit.

So hinan denn! hell und heller,Reiner Bahn, in voller Pracht!Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,Überselig ist die Nacht.

„Zueignung“

Im August 1784 entstand das Gedicht „Zueignung“ (1987, S. 9–12). Es gewährt in der Darstellung eines langen Liebesdialogs Einblick in Goethes Kunst, wie es gelin-gen kann, auch die Wahrheit, die des Verbots wegen verborgen bleiben muss, zu benennen:

Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.

Goethe hat dieses Gedicht an den Anfang von Sämtliche Werke gesetzt. Er hat Anna Amalia somit Sämtliche Werke gewidmet, lebenslang und über den Tod hinaus.

Am Ende der „Zueignung“ wendet sich Goethe an seine übrigen Leser, an uns. Zur Sublimierung als Flucht aus Bedrängnis regt er uns an:

So kommt denn, Freunde, wann auf Euern WegenDes Lebens Bürde schwer und schwerer drückt,

Er stellt uns in Aussicht:

Der Tag wird lieblich, und die Nacht wird helle.

Literatur

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Dr. med. Carl Nedelmann, Dr. med., Arzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Psycho-analytiker (DPV/IPV) in eigener Praxis. Schwerpunkte sind Kulturtheorie und Behandlungstechnik. Mit-glied des Herausgebergremiums dieser Zeitschrift. (Siehe auch Hefte 4, 2005; 2, 2006; 1, 2007; 1, 4, 2009; 3, 2012 sowie 2, 2013.)