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Soz Prfiventivmed 1993 ; Suppl 2: S 92-S 95 0303-8408/$20092-04 $1.50 + 0.20/0 1993 Birkh/iuser Verlag Basel Suchtprobleme in der Arbeitswelt Hermann Fahrenkrug Schweizerische Fachstelle fiir Alkohol- und andere Drogenprobleme, Lausanne Ein Thema zum Siichtigwerden? Mit ,,Suchtfragen" besch/iftigen sich faktisch im- mer mehr betriebliche Sozialberater, Sicherheits- fachleute, das Management und die Gewerkschaf- ten in den verschiedensten Bereichen der Arbeits- welt 1. Doch worum geht es dabei eigentlich? Meist ist weder klar definiert, was unter ,,Sucht" verstanden wird, ein besonders vertrackter Termi- nus z, der schon seit Mitte der siebziger Jahre yon der WHO nicht mehr verwendet wird, noch worin die arbeitsplatz-spezifischen ,,Probleme der Sucht" bestehen. Wenn es stimmt, dass - wie es ein deutscher Psychiater einmal formuliert hat - ,,jedes menschliche Interesse siichtig zu entarten vermag" 3, h/itten wir es mit einem weiten Gegen- standsbereich zu tun. Folgte man der nicht immer klaren Trennung von ,,stoffgebundenen" und ,,stoff- ungebundenen" Siichten und bliebe nur bei den Stoffsiichten, so g/ibe es noch die zus/itzliche Tren- hung nach legalen und illegalen ,,Suchtmitteln" mit weiteren Unklarheiten. Welche Stoffe sind Sucht- mittel und verursachen welche konkreten Probleme in der Arbeitswelt? Nicht nur mtisste - wie fiblicher- weise in der Suchtpr/ivention - vom Alkohol die Rede sein, sondern auch vom Tabak, den Medika- menten und den gem/iss Bet/iubungsmittel-Gesetz verbotenen Substanzen. Doch ffir alle diese Sub- stanzen fehlt es an den einfachsten Basisinformatio- nen zum Konsum, Missbrauch und Abh/ingigkeit in der arbeitenden Bev61kerung und besonders am Arbeitsplatz. Weiterhin w/iren die Problemdefinitionen auf ihren kausalen Zusammenhang mit der ,,Sucht" zu prti- fen. Sind etwa alkoholbezogene Betriebsunf/ille, die es zweifellos gibt und deren Prfivention mehr als berechtigt ist, notwendigerweise immer Ausdruek von Suchtproblemen oder nicht h/iufig nur den akuten Rauscheffekten nach Gebrauch psychotro- per Substanzen zuzuschreiben? Zudem kommen stoffungebundene ,,T/itigkeits-Siichte", wenn es sie denn fiberhaupt gibt 4, meist gar nicht zur Sprache, was vielleicht angesichts so interessanter kulturspe- zifischer Ph/inomene wie der ,,Arbeitssucht" gerade ffir die Arbeitswelt bedauerlich ist. Nur nebenbei erw/ihnt scheint auch der Begriff der ,,Arbeitswelt" nicht sehr klar. Mag nicht auch die tranquillizer- abh/ingige Hausfrau oder der freie Schriftsteller ein ,,Suchtproblem" haben, das mit ihrer jeweiligen Arbeitswelt zu tun hat? Doch meist wird ,,Arbeit" nur als bezahlte Erwerbsarbeit verstanden. KontroHverlust iiber den Suchtbegriff? Diese wenigen Vorbemerkungen zu den begriffli- chen Unklarheiten und der merkwiirdigen ,,Nicht- Determiniertheit" des Generalthemas ,,Sucht in der Arbeitswelt" m6gen geniigen. Sie sind als Warnung gedacht, alles, was heute unter dieser Fahne segelt, kritiklos zu iibernehmen und sollen gleichzeitig auf den enormen Informations- und Forschungsbe- daft an Basiswissen auf diesem Felde hindeuten. Eine Alternative bestiinde nun darin, fortan statt yon ,,Suchtproblemen" von drogenbezogenen ,,Ab- h/ingigkeits-Syndromen" in der Terminologie der WHO s zu reden. Drogen w/iren dabei alle psy- choaktiven, d.h. auf das zentrale Nervensystem wirkenden Stoffe mit Auswirkungen auf K6rper, Psyche und Verhalten des Menschen 6. Ein ,,Dro- genabh/ingigkeits-Syndrom" s w/ire umschrieben durch: - Die subjektive Wahrnehmung eines Zwanges, Drogen zu benutzen; - Den Wunsch, den Drogenkonsum angesichts fortgesetzten Gebrauchs zu stoppen; - Stereotype Konsumgewohnheiten im Umgang mit der Droge (eingeschr/inktes Repertoire); - Neuroadaptation (Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen); - Drogengebrauch zur Vermeidung yon Entzugs- erscheinungen; - Hervortreten eines expliziten Drogensuchver- haltens; - Die rapide Wiederkehr des Syndroms nach Ab- stinenzperioden. Nur k6rperliche, psychische und soziale Folgen, die aus einem derartigen Abh/ingigkeits-Syndrom re- sultieren, diirften dann ftir die Arbeitswelt - und darunter sollte vorrangig die Welt der ,,entlohnten" Erwerbsarbeit verstanden werden - unter das Com- monsense-Label ,,Suchtprobleme" subsummiert werden. Alle ,,akuten Folgeprobleme", die aus dem Drogengebrauch entstehen k6nnen (Vergiftungen, Unf/ille, Gewalttaten etc.) wfiren dann strengge- nommen nicht ,,suchtbedingt" und analytisch zu trennen von den chronifizierten Folgen der Drogen- abhfingigkeit.

Suchtprobleme in der Arbeitswelt

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Soz Prfiventivmed 1993 ; Suppl 2: S 92-S 95 0303-8408/$20092-04 $1.50 + 0.20/0 �9 1993 Birkh/iuser Verlag Basel

Suchtprobleme in der Arbeitswelt

Hermann Fahrenkrug

Schweizerische Fachstelle fiir Alkohol- und andere Drogenprobleme, Lausanne

Ein Thema zum Siichtigwerden?

Mit ,,Suchtfragen" besch/iftigen sich faktisch im- mer mehr betriebliche Sozialberater, Sicherheits- fachleute, das Management und die Gewerkschaf- ten in den verschiedensten Bereichen der Arbeits- welt 1. Doch worum geht es dabei eigentlich? Meist ist weder klar definiert, was unter ,,Sucht" verstanden wird, ein besonders vertrackter Termi- nus z, der schon seit Mitte der siebziger Jahre yon der WHO nicht mehr verwendet wird, noch worin die arbeitsplatz-spezifischen ,,Probleme der Sucht" bestehen. Wenn es stimmt, dass - wie es ein deutscher Psychiater einmal formuliert hat - ,,jedes menschliche Interesse siichtig zu entarten vermag" 3, h/itten wir es mit einem weiten Gegen- standsbereich zu tun. Folgte man der nicht immer klaren Trennung von ,,stoffgebundenen" und ,,stoff- ungebundenen" Siichten und bliebe nur bei den Stoffsiichten, so g/ibe es noch die zus/itzliche Tren- hung nach legalen und illegalen ,,Suchtmitteln" mit weiteren Unklarheiten. Welche Stoffe sind Sucht- mittel und verursachen welche konkreten Probleme in der Arbeitswelt? Nicht nur mtisste - wie fiblicher- weise in der Suchtpr/ivention - vom Alkohol die Rede sein, sondern auch vom Tabak, den Medika- menten und den gem/iss Bet/iubungsmittel-Gesetz verbotenen Substanzen. Doch ffir alle diese Sub- stanzen fehlt es an den einfachsten Basisinformatio- nen zum Konsum, Missbrauch und Abh/ingigkeit in der arbeitenden Bev61kerung und besonders am Arbeitsplatz. Weiterhin w/iren die Problemdefinitionen auf ihren kausalen Zusammenhang mit der ,,Sucht" zu prti- fen. Sind etwa alkoholbezogene Betriebsunf/ille, die es zweifellos gibt und deren Prfivention mehr als berechtigt ist, notwendigerweise immer Ausdruek von Suchtproblemen oder nicht h/iufig nur den akuten Rauscheffekten nach Gebrauch psychotro- per Substanzen zuzuschreiben? Zudem kommen stoffungebundene ,,T/itigkeits-Siichte", wenn es sie denn fiberhaupt gibt 4, meist gar nicht zur Sprache, was vielleicht angesichts so interessanter kulturspe- zifischer Ph/inomene wie der ,,Arbeitssucht" gerade ffir die Arbeitswelt bedauerlich ist. Nur nebenbei erw/ihnt scheint auch der Begriff der ,,Arbeitswelt" nicht sehr klar. Mag nicht auch die tranquillizer- abh/ingige Hausfrau oder der freie Schriftsteller ein ,,Suchtproblem" haben, das mit ihrer jeweiligen Arbeitswelt zu tun hat? Doch meist wird ,,Arbeit" nur als bezahlte Erwerbsarbeit verstanden.

KontroHverlust iiber den Suchtbegriff?

Diese wenigen Vorbemerkungen zu den begriffli- chen Unklarheiten und der merkwiirdigen ,,Nicht- Determiniertheit" des Generalthemas ,,Sucht in der Arbeitswelt" m6gen geniigen. Sie sind als Warnung gedacht, alles, was heute unter dieser Fahne segelt, kritiklos zu iibernehmen und sollen gleichzeitig auf den enormen Informations- und Forschungsbe- daft an Basiswissen auf diesem Felde hindeuten. Eine Alternative bestiinde nun darin, fortan statt yon ,,Suchtproblemen" von drogenbezogenen ,,Ab- h/ingigkeits-Syndromen" in der Terminologie der WHO s zu reden. Drogen w/iren dabei alle psy- choaktiven, d.h. auf das zentrale Nervensystem wirkenden Stoffe mit Auswirkungen auf K6rper, Psyche und Verhalten des Menschen 6. Ein ,,Dro- genabh/ingigkeits-Syndrom" s w/ire umschrieben durch:

- Die subjektive Wahrnehmung eines Zwanges, Drogen zu benutzen;

- Den Wunsch, den Drogenkonsum angesichts fortgesetzten Gebrauchs zu stoppen;

- Stereotype Konsumgewohnheiten im Umgang mit der Droge (eingeschr/inktes Repertoire);

- Neuroadaptation (Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen);

- Drogengebrauch zur Vermeidung yon Entzugs- erscheinungen;

- Hervortreten eines expliziten Drogensuchver- haltens;

- Die rapide Wiederkehr des Syndroms nach Ab- stinenzperioden.

Nur k6rperliche, psychische und soziale Folgen, die aus einem derartigen Abh/ingigkeits-Syndrom re- sultieren, diirften dann ftir die Arbeitswelt - und darunter sollte vorrangig die Welt der ,,entlohnten" Erwerbsarbeit verstanden werden - unter das Com- monsense-Label ,,Suchtprobleme" subsummiert werden. Alle ,,akuten Folgeprobleme", die aus dem Drogengebrauch entstehen k6nnen (Vergiftungen, Unf/ille, Gewalttaten etc.) wfiren dann strengge- nommen nicht ,,suchtbedingt" und analytisch zu trennen von den chronifizierten Folgen der Drogen- abhfingigkeit.

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Ein kritischer Blick auf die Literatur: Zahlenlos siichtig?

Betrachtet man unter diesen Kriterien die deutsch- sprachige und insbesondere die schweizerische Lite- ratur, zeigen sich schnell die Reichweite und Gren- zen der wenigen wissenschaftlichen Studien und Erkenntnisse zum Thema ,,Suchtprobleme in der Arbeitswelt". So erweisen sich immer wieder zitierte ,,Pr~ivalenzzahlen" von 5-10 % aller Beschfiftigten, die in Deutschland Suchtprobleme haben sollen (gemeint sind meistens ,,Alkoholprobleme" 1), als vage Schfitzungen von ,Suchtgeffihrdung" oder nicht weiter definiertem ,,Suchtmittelmissbrauch" von Beschfiftigten. Webb et al. finden in ihrem f]bersichtsartikel 7 ffir die englischsprachige Litera- tur zur Prfivalenz von Alkoholproblemen am Ar- beitsplatz je nach Problemdefinition, verwendetem Alkoholismustest und untersuchter Population Pr/ivalenzraten zwischen 1,2 % und 25 % fiir ,,Alko- holismus" oder ,,Problemtrinken" am Arbeitsplatz. Neuerdings zirkulieren Schfitzziffern von 1 -2% auch fiir den Anteil der Medikamentenabh/ingigen

unter den deutschen Arbeitnehmern 8. Ffir die Schweiz finden sich in ~ilteren Standardwerken 9, neueren Ubersichtsartikeln 1~ und einem Sonder- heft zum Thema ,,Betriebliche Friiherfassungspro- gramme in der Schweiz" 11 keinerlei epidemiologi- sche Darstellungen des Problembereiches ,,Alkoho- lismus oder Alkoholprobleme am Arbeitsplatz". Auch ein soeben erschienenes Buch mit dem vielver- sprechenden Titel ,,Alkohol und Arbeit" 12 be- schr/inkt sich auf die Warnung ,,Vorsicht: Weiche Daten". Diese Fehlanzeige gilt ebenfalls fiir die Bereiche ,,Drogen im Betrieb ''13, ,,Rauchen am Arbeitsplatz" 14-16. Fiir den Medikamentenkon- sum bei Berufst/itigen liegen einige/iltere Untersu- chungen 17 vor, speziell ffir Frauen 18, diejedoch auf die Risiken der Medikamentenabh/ingigkeit nicht explizit eingehen. Dennoch existieren betriebswirtschaftliche Kosten- berechnungen zur ,,Sucht in der Arbeitswelt". So haben Alkoholabh/ingige, je nach Studie, Scree- ning-Verfahren und Berufsgruppe, bis zu 16real hfiufigere Fehl-, 2,5mal h/iufigere Krankheitszeiten, 3,5mal mehr Betriebsunf/ille etc. als nicht-abh/ingi- ge Mitarbeiter 19. Auf der Basis von Sch/itzungen zur ,,Leistungsverminderung" (10-25 %) und son- stigen Kostenfaktoren (Krankheits- und Absenzzei- ten) bei Abh/ingigen, sowie deren Zahl (5-10% aller Besch/iftigten), werden nach bestimmten For- meln (etwa des Stanford Research Institutes) be- triebliche Kosten-Nutzrechnungen zur Suchtkran- kenhilfe 2~ vorgenommen. Neuerdings wurden die Gesamtkosten ,,eines alkoholkranken Arbeitneh- mers" auf 40000 bis 60000 DM pro Jahr bezif- fert 2a. Eine bessere epidemiologische Fundierung k6nnte diesen Kostenabsch/itzungen noch mehr Gewicht verleihen.

Siichtig von Berufs wegen?

Die ebenfalls h/iufig zu findenden Klassifizierungen bestimmter Berufsgruppen ats besonders ,,suchtge- f/ihrdet" stammen aus meist/ilteren Beschreibun- gen berufsspezifischer Trinkmuster oder basieren bestenfalls auf bruchstfickhaften Patientenstatisti- ken aus Alkoholismuskliniken. Die schon sprich- w6rtliche ,,Alkoholismusgef/ihrdung" ganzer Bran- chen (Bauberufe, Metallgewerbe, Arbeiter im Ha- fenbereich, Berufe des Alkoholgewerbes, Durst- und Kontaktberufe, Unternehmer und Freiberu- tier) beruht offenbar auf selektiver sozialer Wahr- nehmung 22, verkennt oft den rapiden Wandel der Berufswelten und ver~irgert die Verd/ichtigen somit zu recht. Trotz zweifellos vorhandener beruflicher Trinkkulturen mit entsprechenden Konsumzw/in- gen, strukturell trinkf6rdernder Faktoren wie ,,Griffn/ihe" der Alkoholika und physischen Ar- beitsbedingungen z3, ist damit fiber den Anteil der ,,Sfichtigen" unter den Dockern, Gastwirten, Hei- zern oder Medizinern letztlich nichts Genaues aus- zusagen. Andere, landl/iufig als eher ,,nfichtern" angesehene Berufsgruppen m6gen lediglich bessere Dissimulierungstechniken ihres Alkoholkonsums besitzen. Nach vergleichbaren Studien zu berufs- spezifischen Risikogruppen bei Nikotin-, Drogen- und Medikamentenabh/ingigkeit sucht man verge- bens.

Macht Arbeit siichtig?

In seiner Literaturfibersicht zu ,,Arbeitssituation und Suchtmittelmissbrauch" fasst Renn die Ergeb- nisse der Belastungsforschung zum Thema zusam- men und verzeichnet ,,Ubereinstimmungen, aber auch Widersprfichlichkeiten zwischen den Be- funden" 22. Erneut muss hier darauf hingewiesen werden, dass es bei diesen Forschungen weniger um den Einfluss der Arbeitsbedingungen auf die ,,Suchtgenese" geht, sondern meist um die komple- xen Beziehungen zwischen psychosozialen Bela- stungen am Arbeitsplatz und allgemeinem Alkohol- konsum. H/iufig und gerne zitierte Autoren auf diesem Forschungsgebiet 24'25 haben das stets be- tont. Dennoch wird der Verdacht der ,,Suchtgeffihr- dung" schnell erhoben, wenn in der Arbeitswelt fiberhaupt getrunken oder geraucht wird. Gerade erst entdeckt werden ,,sozialintegrierte Heroinkon- sumenten" und andere Benutzer illegaler Drogen 26'27 mit festen Arbeitspl/itzen. Folgt man Renn 22 und der neueren englischspra- chigen Literatur 28 - 31, so zeigt sich, dass monokau- sale und unilineare Annahmen fiber instrumentelle, psycho-soziale und emotionale Belastungen am Arbeitsplatz, die sich in einen erh6hten Drogenge- brauch umsetzen, so nicht der Realit/it entsprechen. Weder hoher Arbeitsanfall, Arbeitstempo, Hetze, Akkord, Anspannung, noch An- oder Abwesenheit

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der Kontrolle durch Vorgesetzte, Misstrauen, Kon- kurrenzdruck, Monotonie der Arbeitsabl/iufe, ge- ringer Verdienst, geringe Aufstiegs- und Zukunfts- chancen und was der hypothetischen Stressoren sonst noch sind, bedingen per se einen riskanten Alkoholkonsum zwecks Spannungsbew/iltigung. Neuere Untersuchungen 30, 32 betonen -/ihnlich wie in der allgemeinen Stressforschung - den Einfluss intermedifirer pers6nlicher und sozialer Coping- Ressourcen, die zwischen Stresserfahrungen und Drogenkonsum treten und konsumhemmend wir- ken k6nnen. Die von Weiss 33 bereits frfih konsta- tierte ,,Coping-Kompetenz" wird somit zu einer zentralen intervenierenden Variablen in den Bela- stungsmodellen spannungsreduzierenden Alkohol- konsums am Arbeitsplatz. Die bekannte Funktion des Zigarettenrauchens zur BewS, ltigung sozio-emotionaler Belastungen z4 konnte auch ffir spezifische Arbeitsbelastungen 35 nachgewiesen werden. In einer Untersuchung bei Besch~iftigten des mittleren Management in einem industriellen Grossbetrieb 36 fand sich ein Zusam- menhang zwischen beruflichen Gratifikationskri- sen und dem Risiko regelmfissigen Zigarettenrau- chens, wobei fiber dessen Abh/ingigkeitsgrad aller- dings keine Angaben gemacht werden. Bei Medikamenten gibt es seit 1/ingerem deutliche Hinweise auf einen h/iufigen Gebrauch von Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmitteln bei be- rufstfitigen Frauen 17. Dabei sind es die kumulierten Belastungen von Berufs- und Hausarbeit (restrikti- ve Arbeitsbedingungen, hohe physische und psychi- sche Belastungen bei gleichzeitig geringen Hand- lungsspielrfiumen), die zu einem ,,allt/igtichen Me- dikamentenkonsum" fiihren sollen 37'3s

tigungsmuster in je spezifischen Arbeits- und Le- benszusammenhfingen einen variablen Anteil an der Entstehung von zudem drogenspezifischen Ab- h/ingigkeitsproblemen besitzen. Die Beschaffung valider epidemiologischer Basisinformationen und die Entwicklung besserer analytischer Modelle w/i- ren hier die Aufgabe einer ,,Epidemiologie der Risiken am Arbeitsplatz" 39, yon der eine bereits sehr aktive Suchtprophylaxe am Arbeitsplatz nur profitieren k6nnte.

Zusammenfassung

Suchtprobleme in der Arbeitswelt Der Artikel diskutiert den Kontext des in der Schweiz sehr aktuellen Themas. Es werden einige Reflektionen zum Begriff,,der Sucht" angestrengt - der besser durch ,,Abh/ingigkeits-Syndrom" zu er- setzen wfire - und eine Ubersicht der wenigen einschlfigigen neueren Forschungsresultate zur schweizerischen Situation geliefert. Aus Mangel an epidemiologischen Basisdaten k6nnen die Prfiva- lenz sowie die Konsequenzen und sozialen Kosten von Abhfingigkeitsproblemen am Arbeitsplatz nur geschfitzt werden. In einer sich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und Qualifikationsvorausset- zungen rapide wandelnden Arbeitswelt bedfirfen die gemeinhin verbreiteten Stereotypen zu bestimm- ten ,,alkoholgef/ihrdeten Berufen" dringender Uberpriifung. Die theoretischen Annahmen zum Thema scheinen am weitesten im Bereich Substanz- missbrauch und arbeitsbedingte Stressbewfiltigung vorangeschritten zu sein.

Schlussfolgerung

Die wissenschaftliche Fachliteratur zum Thema ,,Suchtprobleme in der Arbeitswelt" leidet unter begrifflicher Unklarheit, methodischer Unschfirfe und unzureichenden theoretischen Modellen. Unter ,,Suchtproblemen" firmieren ad libidum zuge- schriebene Devianzen im Umgang mit psychotro- pen Substanzen, sofern sie nut den gefingsten Zusammenhang mit der Arbeitswelt aufweisen. Die Behandlung des Themas ist zudem weitgehend durch die Thematik der ,,Alkoholsucht" dominiert und verliert somit andere Drogenabhfingigkeiten aus dem Blickfeld. Sowohl die rein deskriptiven Prfivalenzangaben als auch die Problem- und Ko- stenabsch/itzungen sind deshalb mit nicht geringen Defiziten behaftet. Erklfirungsmodelle sind fiber die rage Annahme berufsbedingter Risiken ffir den generellen Konsum yon Alkohol und widersprfich- liche Ergebnisse aus der Arbeitsbelastungs-For- schung nicht hinausgekommen. Insgesamt zeigt sichjedoch deutlich, dass nicht separate Einzelbela- stungen, sondern komplexe Belastungs- und Bewfil-

R~sum~

Probl~mes de dgpendance dans le monde du travail L'article discute du contexte de ce th6me tr~s actuel en Suisse. Un certain nombre de r6flexions sont apport6es fi propos du concept <~d'addiction>>, qu'on devrait plut6t traduire par <~syndrome de d~pendance>>. L'auteur dresse un panorama des quelques r~sultats de recherche r6cents fi ce sujet. Vu le manque de donn~es 6pid6miologiques de base, on peut seulement donner une estimation de la pr6valence, des cons6quences et des cofits sociaux des probl~mes de d6pendance sur le lieu de travaii. Dans un monde du travail off les conditions de travail et les exigences de qualification 6voluent rapidement, il est urgent de remettre en cause les st6r6otypes commun6ment r6pandus fi propos des ~<professions fi haut risque d'alcoolisatiom>. C'est dans le domaine de l'abus de substances psycho- tropes comme technique de <<coping>~ pour sur- monter le stress li6 au travail, que les hypotheses th~oriques semblent ~tre le mieux d6velopp6es.

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Summary

Addiction problems at the work place The article discusses the context of a topic currently very much under discussion in Switzerland. It provides reflections on the concept of"addiction" - better replaced by "dependence syndrom" - and summarizes the few research results concerning the Swiss situation. Due to the lack of basic epidemiolo- gical data the prevalence of "dependence-related" problems at the work place and the actual conse- quences and costs of substance abuse can only be estimated. In a society with rapidly changing wor- king conditions and requirements the common stereotypes of "alcohol-prone" occupations need a critical revision. Theoretical hypotheses are most advanced in the area of substance abuse in rela- tionship to work-related stress coping.

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Korrespondenzadresse: Dr. phil Hermann Fahrenkrug Schweizerische Fachstelle fiir Alkohol- und andere Drogenprobleme Postfach 870 CH-1001 Lausanne/Schweiz