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Süddeutsches Barock und Rokoko in Vergangenheit und Gegenwart Ein kleiner, etwas widerständiger Versuch über die schwäbischen Benediktinerklosterkirchen Neresheim, Zwiefalten, Ottobeuren, Wiblingen, Irsee und Sankt Blasien und ihre Ausstattung samt einem Abstecher nach Schloss Bruchsal hoffentlich mit einer offeneren Einstellung, genaueren Anschauung und zu noch etwas besserem und einfacherem Verständnis "Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt; es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden." (J. W. von Goethe, Über Laokoon 1798) 'Barock/Rokoko' und die Kunstwissenschaft (Hermann Bauer und die Folgen): Vom 'Ikonologischen Stil' über die 'Rhetorische Kunstheorie' zum 'Ikonischen Affizierungsmodell' Als Objekt der immerwährenden Sinnsuche des menschlichen Geistes oder heutzutage seiner neuronalen Netze bietet sich aber trotz der obigen 'Weisheit' Goethes das 'offene' (Umberto Eco) Kunstwerk an. Mit dem zeitlichen Abstand gewinnen wir vielleicht einen 1

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Süddeutsches Barock und Rokokoin Vergangenheit und Gegenwart

Ein kleiner, etwas widerständiger Versuch über die schwäbischen

Benediktinerklosterkirchen Neresheim, Zwiefalten, Ottobeuren, Wiblingen,

Irsee und Sankt Blasien und ihre Ausstattung samt einem Abstecher nach

Schloss Bruchsal hoffentlich mit einer offeneren Einstellung, genaueren

Anschauung und zu noch etwas besserem und einfacherem Verständnis

"Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer unendlich;es wird angeschaut, empfunden; es wirkt;es kann aber nicht eigentlich erkannt,viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden."(J. W. von Goethe, Über Laokoon 1798)

'Barock/Rokoko' und die Kunstwissenschaft (Hermann Bauer und die

Folgen): Vom 'Ikonologischen Stil' über die 'Rhetorische Kunstheorie' zum

'Ikonischen Affizierungsmodell'

Als Objekt der immerwährenden Sinnsuche des menschlichen Geistes oder heutzutage

seiner neuronalen Netze bietet sich aber trotz der obigen 'Weisheit' Goethes das 'offene'

(Umberto Eco) Kunstwerk an. Mit dem zeitlichen Abstand gewinnen wir vielleicht einen

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besseren reflektierenden Überblick, aber wir sehen mit anderen, oft einseitigen 'Augen'

und der eher wachsenden Gefahr der Über- oder gar Fehlinterpretation. Jede auch noch

so kreativ-innovative Deutung sollte nach der hier im folgenden vertretenen Ansicht von

dem Korrektiv einer zu rekonstruierenden ursprünglichen oder wahrscheinlichen Intention

von Auftraggeber und Künstler zur Zeit der Entstehung begleitet werden oder sein.

Grundsätzlich zu diesem Problem sei auch auf Evelyn Chamrad: "Der Mythos vom

Verstehen - Ein Gang durch die Kunstgeschichte unter dem Aspekt des Verstehens und

Nichtverstehens in der Bildinterpretation", Diss. Uni Düsseldorf 2001 (unter http://d-

nb.info/964354969 ) verwiesen.

Den äusseren Anlass für die folgenden Überlegungen bot eine nach fast vierzig Jahren

erfolgte erneute Lektüre von zwei Studien zum Rokoko ("Der ikonologische Stil der

Rokokokirche" von 1961 bzw. "Der Himmel im Rokoko" von 1965, beide wieder

abgedruckt in: "Rokokomalerei". Mittenwald 1980) von Hermann Bauer sowie die neuen

'Methoden' von Markus Hundemer ("Rhetorische Kunsttheorie und barocke

Deckenmalerei. Zur Theorie der sinnlichen Erkenntnis im Barock", Regensburg 1997),

von Nicolaj van der Meulen ("Weltsinn und Sinneswelten in Zwiefalten", unter:

http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/download/fofu/meulen.pdf; "Ikonische Hypertrophie -

Bild- und Affekthaushalt im spätbarocken Sakralraum", in: "Movens Bild – Zwischen

Evidenz und Affekt", hg. von Gottfried Boehm, Birgit Mersmann, Christian Spies, München

2008, S. 275-299) und von Frank Büttner ("Die ästhetische Illusion und ihre Ziele -

Überlegungen zur historischen Rezeption barocker Deckenmalerei in Deutschland", in:

Das Münster, Regensburg 2001, Heft 2, S. 108-127). Die interpretatorischen Erkenntnisse

dieser Autoren, ihre eingesetzten Methoden und die ideologischen Hintergründe sollen

also auch mit den Einschätzungen von Zeitgenossen aus dem 18. Jahrhundert konfrontiert

werden. Eine in diesem Zusammenhang interessant klingende frühere Salzburger

Dissertation von Christa Squarr: "Die süddeutsche Rokokokirche in der Anschauung ihrer

Zeit", 1972, war dem Autor dieser Zeilen nicht zugänglich. Auch aus der eigenen

Vertrautheit werden sich die Fallbeispiele auf schwäbische Benediktiner-Reichsabteien

wie Neresheim, Zwiefalten, Ottobeuren, Irsee und das vorderösterreichische Wiblingen

bzw. St. Blasien konzentrieren.

Prinzipiell ist vom (produktionsästhetisch im Barock vielleicht nicht ganz) 'offenem

Kunstwerk' (vgl. Umberto Eco 1962, aber auch "Die Grenzen der Interpretation" von 1990

bzw. 1992) auszugehen, so sollten aber doch rezeptionsästhetisch bei seiner

Interpretation auch wegen der Grundproblematik von Bild vs. Text (vgl. Gottfried Boehm)

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Grenzen gesetzt werden, wenn sie logisch, historisch aus den Rahmenbedingungen

falsifiziert bzw. als unwahrscheinlich angesehen werden kann. Wirklich Neues wird im

folgenden kaum zu finden sein, aber das Alte soll noch einmal durchdacht werden und

zwar ganz ohne irgendwelche Stipendien oder sonstige Unterstützungen und nur mit den

angegebenen vorhandenen oder leicht erreichbaren literarischen Hilfsmitteln. Gewisse

Wiederholungen liessen sich aus der sich mit der Literatur relativ intensiv

auseinandersetzenden und paraphrasierenden Anlage dieses 'Versuchs' leider nicht

vermeiden.

Den konkreten Ausgangspunkt wenigstens in Abschnitten bilden hier die genannten fast

fünfzig Jahre alten "fundamentale(n)" (M. von Engelberg, in: Kunstchronik, Nov. 2003, S.

586) Aufsätze von dem im Jahre 2000 leider verstorbenen ehemaligen Sedlmayr-Schüler

und Münchner Ordinarius Hermann Bauer, die prägend - um nicht zu sagen -

kanalisierend waren. In diesem Sinne zitiert der Wikipedia-Artikel zu dem Sohn des auch

in der NS-Zeit erfolgreichen bayrischen Heimat- und Kriegsschriftstellers Josef Martin

Bauer (1901-1970) aus Karl Möseneders Nekrolog in der Zeitschrift für Kunstgeschichte ,

64 Bd., Heft 1 (2001), S. 148 u.150: "Die Epoche des Rokoko fand in Bauer einen ihrer

herausragendsten Interpreten" und "Generationen von Kunsthistorikern wissen sich ihrem

Lehrer Bauer verpflichtet". Ein grosses Verdienst des von Möseneder als “faszinierenden

Universitätslehrer“...“mit reflektiertem Mut zur Verkürzung“ geschilderten Hermann Bauer

war seine Initiative zu dem bislang leider nur Bayern erfassenden 'Corpus der barocken

Deckenmalerei in Deutschland'. Ausserdem warf er herausfordernde kategoriale Schlag-

und Stichworte in den akademisch-kunstwissenschaftlichen Ring. Obwohl im genannten

Wikipedia-Artikel auf den Einfluss der Phänomenologie und Husserls abgehoben wird,

schmückte Bauer sich offen kaum mit legitimierenden modernen philosophischen Federn.

In der von Gustav Droysen und Kurt Badt angeregten, Positionen bestimmenden,

Reflexion fördernden und fordernden, bislang noch keiner Kritik unterzogenen

„Kunsthistorik – Eine kritische Einführung in das Studium der Kunstgeschichte“, München

1976 wird gleichwohl eine Anlehnung an den zum Katholizismus übergetretenen und

gegen den Positivismus und Historismus plädierenden Werte-Phänomenologen,

'Metaszientisten' und Sinnsucher Max Scheler (1874-1928) ausdrücklich (S. 13) erwähnt.

Im selben Werk zeigen sich aber auch gewisse Absetzbewegungen von Bauers grossem

Meister Hans Sedlmayr und dessen Suche nach dem 'Wesen des Kunstwerks'. Kritik an

Bauers Ansichten bzw 'Evidenzen' kam bisher nur von Veit Loers („Rokokoplastik und

Dekorationssysteme – Aspekte der süddeutschen Kunst und des ästhetischen

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Bewusstseins im 18. Jahrhundert“, München 1976, v.a. S. 6 u.7), am Rande vom

Verfasser („Zur Geschichte der Freskomalerei des 18. Jahrhunderts im Bodenseeraum

und in Oberschwaben“, in: „Herbst des Barock- Studien zum Stilwandel – Die Malerfamilie

Keller von 1740 bis 1904“, hg. von Andreas Tacke, München 1998, S. 43) und Stephan

Klingen („Von Birnau nach Salem. Der Übergang vom Rokoko zum Klassizismus in

Architektur und Dekoration der südwestdeutschen Sakralkunst“, Diss Bonn 1999, S. 98-

108 v.a. am Beispiel Birnau mit Bauers problematischer Gleichsetzung von Predigt und

Programm-Konzept).

Schon die Einleitung des Aufsatzes "Der ikonologische Stil der Rokokokirche"

nachzuvollziehen fällt zumindest dem hier Schreibenden nicht ganz leicht. Anfangs wird

als These pauschal Barock als untrennbare Einheit von Form und Inhalt in den Raum

gestellt, was bisher von der Kunstwissenschaft in Stilgeschichte und

Ikonographie/Ikonologie angegangen worden wäre, aber zu Generalisierungen und

Konstanzvorstellungen geführt hätte. Geschichtswissenschaft begänne erst mit der

Analyse des Inhaltswandels, seiner modalen Entwicklung, für die er den nicht

unproblematischen, ja unglücklich gewählten Begriff des 'ikonographischen bzw.

ikonologischen Stiles' (auch nicht 'modus' oder 'genus'; da es sich primär um Inhalte

handelt am besten: 'Mutation' oder 'Tropos/Tropoi') einführt. Karl Möseneder sieht in

diesem 'Hybridterminus' eine „integrale Instanz von Stil und Ikonographie“. Bei Wilhelm

Mrazek hiess es natürlich nicht von der Perspektive des bildenden Künstlers aber teilweise

in Analogie zur Musik (Akkord, Polyphonie und Komposition) "Metaphorische Denkform

und ikonologische Stilform - Zur Grammatik und Syntax bildlicher Formelemente der

Barockkunst", in: Alte und moderne Kunst, Heft 9, 1964, S. 15-23 und bei Kurt Bauch

anscheinend ebenfalls zeitbedingt aber etwas anders im Vortrag von 1966:

„Ikonographischer Stil – Zur Frage der Inhalte in Rembrandts Kunst“, in: Studien zur

Kunstgeschichte, Berlin 1967, S. 121-151. Im für Deutschland von 1730 bis 1770/80

anzusetzenden Rokoko würden die tradierten barocken Inhalte eine "Umwandlung",

"Änderung der Vorzeichen aller Werte" erfahren, was man an der "historischen Relevanz"

(Bedeutung für die, Bezug zur Geschichte, des Zeitbewusstseins?) analysieren könne. Die

Programme und Konzepte für die Ausstattungen seien teilweise auch im

Analogieverfahren (? von Predigt zu Fresko?, von einer Kirche auf die andere

übertragbar?) wieder "richtig" lesbar geworden; allerdings sollte der "Inhalt" auf seine

"Realität" (Illusion, 'Realitätsgrad', Gegenwartsbezug?) geprüft werden, auch hinsichtlich

der Deutung des ganzen Kirchengebäudes (als Ensemble?).

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Neresheim

Eine kurze Baugeschichte

Unter diesen Vorbedingungen, Voraussetzungen beginnt das erste Kapitel, das sich

vornehmlich Neresheim und seiner Hauptkuppel widmet. Dass die Kuppel anders als von

Balthasar Neumann wie in Münsterschwarzach ausgeführt und ab etwa 1747 geplant ohne

Laterne, flacher, für Malerei günstiger und in Holz ausgefallen ist, ist eher dem Tode

Neumanns (1753), dem von Konvent erzwungenen Abtswechsel (1755), den

Wölbungsproblemen und den Kosten einschliesslich der einfacheren Überdachung

geschuldet als den allgemeinen auch unterschwelligen Rokokotendenzen. Übrigens hat

ein Vorentwurf Neumanns von 1747 mit mehreren Kuppeln über Vierung und Querarme

etwas Byzantinisches an sich. Man erinnere sich des Aufenthaltes von Abt Simpert (Abt

1685-1711) von 1699 bis 1702 in Konstantinopel.

Die Hauptkuppel "Schauplatz" und "historischer Akt" (Hermann Bauer) in der Vierung im

Lichte des "Carmen epicum"

Bauer geht es jetzt darum bei der für ihn traditionellen - er nennt Lanfranco - Anlage des

grossen Vierungskuppelfreskos mit einer Himmelsdarstellung die 'ikonologische Mutation'

herauszuarbeiten, wobei er sich des 'Carmen epicum' des Ohmenheimer Pfarrers und

Freundes von Abt Benedikt Maria Angehrn, Ernst Dominikus Bruno Mayer, von 1773 bzw.

gedruckt 1775 anlässlich der Fertigstellung des Kuppelfreskos bedient. Er stuft das

Gedicht als konventionell ein und scheint es wegen der etwas ermüdenden Länge nicht

aufmerksam gelesen und das Latein nicht richtig übersetzt zu haben. Der nicht übersetzte

Ausschnitt im ersten Drittel der gedruckten Fassung (vgl. E. Baumgartl, Martin Knoller

1725-1804, München 2004, S. 428-430): "... / In medio Cuppae spatio, simul atque

supremo / Familiae Magnae Patrem simul Patriarchem [Patriarcham] / Admirans specta

Benedictum nomine, regne [reque] / Si bene perspicias, & aperto lumine lustres / Omnia,

certè illud dices Tecum ipse Poetae: / Sic oculos, sic ille manus, sic ora ferebat. / ..." zeigt

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zwei Schreibfehler und müsste eigentlich so übersetzt werden: 'Im mittleren Platz der

Kuppel und zugleich am vornehmsten erblicke wundersam den Vater und väterlichen

Gebieter der grossen (Ordens-) Familie, Benedikt mit Namen und im Augenschein (wie

wirklich). Wenn Du gut hinschaust und mit vollem Licht alles siehst, wirst Du sicher bei Dir

jenes (Wort) des Poeten (Vergil) sprechen: so hatte er die Augen, Hände und Lippen

(Aeneis 3, 490; also so hat er, muss er ausgesehen haben)'. Wenn Bauer den

Hexametern etwas weiter gefolgt wäre, wäre er schon auf das Folgende gestossen und

hätte nicht auf die spätere Festschrift zur Einweihung von 1792 ausweichen müssen. Und

so liest man zu Beginn des letzten Viertels: "... / Altius assurgas jam Musa, & carmine

digno / (si potes) Ecclesiam candenti veste Decoram / Extolle! haec velum removet, quo

grande recondit / Arcanum Romana [im Entwurf von 1773: divina] fides, ut cernere possis /

Saltem oculo fidei, quae numquam in corpore cernes, / Sed QUASI PER SPECULUM

Paulo testante videbis. / ..." und übersetzt in etwa: 'Höher erhebe Dich Muse schon und

mit würdigem Gesang (so Du kannst) rühme die Kirche anmutig im weissen Gewande.

Diese entfernt den Schleier, womit der römische [katholische; im Entwurf: göttliche,

gottbegeisterte oder gottahnende] Glaube das grosse Geheimnis verbirgt, sodass Du

sehen kannst mindestens mit dem Auge des Glaubens, was niemals Du leibhaftig siehst,

aber Du wirst es gleichsam im Spiegel sehen, wie es [der Apostel] Paulus bezeugt'.

Mit letzterem wird auf 2 Korinther 3, 18 angespielt, wo es heisst: "Nun aber spiegelt sich in

uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht; und wir werden verklärt, in das

selbige Bild von einer Klarheit zu der anderen, also vom Geist des Herrn". Bei 2. Korinther

4, 17 heisst es aber auch: " ... das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ewig".

In der von Bauer zitierten Festschrift von 1792, S. 130 liest es sich ähnlich: "Zu ihrer [der

Trinität] rechten Seite zieht die Religion in weissem Gewande, und mit einem Kelche in der

Hand den Schleyer von diesem Geheimniße der Dreieinigkeit hinweg, und der ganze

Himmel, Engel und Heilige des alten und neuen Bundes bethen an". Spontan würde der

jetzige Schreiber und wohl einige mit ihm sagen: ein barocker Allerheiligenhimmel in

Anbetung der Trinität und mit einer interessanten allegorischen, auch theologisch

legitimierenden Anreicherung, dass wir alle als Gläubige das Geheimnis der Dreifaltigkeit

sehen dürfen. Bauer interpretiert oder verbalisiert das Fresko und die Kommentare so,

dass hier der Allerheiligenhimmel zu einem "Schauplatz", zu einem "Symbol-Akt" (2000, S.

23: "theatralischer Akt") quasi 'verkommen' wäre. Das Rokoko besässe hinter seiner

teilweise vorhandenen "Ekstatik" das "Fadenscheinige des Konvenues" und nur eine

"Theatralische Verlebendigung", kein "sursum" wie im Hochbarock, sondern ein

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erscheinungshaftes Geschehen, was die Zeitgenossen (z.B. der protestantische

Philanthrop Jonas Ludwig von Hess 1798: "... man kann keinen schöneren Plafond als

den, der über dieser Kuppel schwebt, sehen. Er stellt einen Hymnus vor ...", vgl. Dussler

Weissenhorn 1974, S. 309 oder Johann Nepomuk Hauntinger, der Konventuale von St.

Gallen, 1784: " die grosse Kuppel stellt die im Himmel herrschenden Heiligen vor, auch

herrlich ...", Hg. Gebhard Spahr, Weissenhorn 1964, S. 125) und wohl auch die heutigen

Besucher von Neresheim kaum so empfinden und die Urheber so intendiert haben dürften.

Der (hier aber numinose, ominöse göttliche) "Akt" des Rokoko stehe im Gegensatz zum

"Wunder" (des Barock). Dies sei ein neues 'ikonologisches Stil'-Kriterium des Rokoko.

Man fragt sich, ob das in Neresheim so greift.

Der "benediktinische Himmel" und die "historische Perspektive" (Hermann Bauer)

Einen weiteren daran anknüpfenden Gesichtspunkt dieses 'ikonologischen Stiles' des

Rokoko meint Bauer aus einer vor 1772 und dem Beginn der Ausmalung der Hauptkuppel

erstellten Liste von Benediktinerheiligen und Klosterpatronen von der Hand des Abtes

Benedikt Maria Angehrn ableiten zu können, wobei er als 'kritisches Moment' ein Fehlen

der Attribute und dafür (zumeist Märtyrer-) Geschichten anführt. Er fragt sich, was der für

ihn seltsame Katalog eigentlich soll, da in der Kuppel diese Einzelszenen sowieso nicht

hätten dargestellt werden können, und zieht für sich den Schluss, dass das Ganze dazu

dienen sollte, diese Geschichten als legitimierendes Faktum, als "Geschichte", zu

verstehen. An einem weiteren Beispiel in einem geschichtlichen Rücksprung von ca.

dreissig Jahren oder über ein Menschenalter, dem Kuppelbild von Münsterschwarzach,

schliesst er ähnlich, dass an die "Stelle der bisherigen Illusion" der Himmelsöffnung eine

Illusion der Geschichte" bzw. der "hypäthralen" jetzt eine "historische Perspektive"

getreten sei. Gewiss griffig formuliert, aber was steckt im Falle von Neresheim (wirklich)

dahinter?. Aus der genannten Liste von achtzehn Benediktinern, neun Benediktinerinnen

und jeweils sechs männlichen und weiblichen Kirchen- und Klosterpatronen greift Bauer

den Würzburger Bischof Kilian (Nr. 12) heraus, zitiert aber nur den ersten Abschnitt mit der

'historischen' Märtyrerszene und lässt den zweiten Abschnitt mit den Attributen "Schwerdt

und Stabe" einfach weg. Wenn man die bei E. Baumgartl (2004, S. 433-436)

wiedergegebene Aufstellung nachliest, wird deutlich, dass die Attribute gar nicht fehlen,

sondern zum besseren Verständnis mit den Märtyrerlegenden verknüpft sind. Eigentlich

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kann der unbefangene Leser nur Heilige und Selige des Benediktinerordens und im

Zusammenhang mit Kloster Neresheim entnehmen. Wenn man in den Benediktiner-

Klöstern nachforschte, würde man ähnliche, nicht über Heiligenlegenden hinausgehende

Aufstellungen (s. u. Zwiefalten) und Bildreihen in den Klostergängen finden.

Eigentlich interessant wäre die von Bauer übergangene Schluss-"Anmerkung" gewesen,

dass "alles obiges einer tieferen Einsicht und besseren Känntniß" (wohl dem Maler)

"gänzlich wie die Ordnung und Vorstellungen sollen beobachtet werden" (und) "besonders,

ob nicht die zwey seel. Stifter Thassilo und Hartmannus zur Vorstellung des hiesigen

Klosters sollten gemahlt werden", was zuletzt z.B. etwas an die Stiftungsszene in

Ottobeuren erinnert hätte.

Wenn dieses sicher nur ergänzende 'Konzept' von der Hand des Abtes stammt und für die

Hauptkuppel gedacht gewesen ist, ist eine gewisse Unbestimmtheit dem Maler gegenüber

zu bemerken. Ein panoramaartiges 'Paradieren' wie in Münsterschwarzach oder Agieren

wie in Zwiefalten (Langhaus) mit den beiden Stiftern und dem Kirchenmodellen bzw.

-plänen unten gegen Osten (?) hatte möglicherweise der Abt doch noch in seiner

Vorstellung. Knollers vielleicht schon 1770/71 entstandene Skizze oder die Ausführung

zeigen kaum etwas von der heilsgeschichtlichen Gegenwart, Erfüllung der Zeit, "Verweis

auf sich selbst", sondern eher zeitlos, überzeitlich, historisch perspektivlos tauchen

Benedikt, Ulrich und Afra in Anbetung der Dreifaltigkeit - in der Ausführung Thassilo und

Hartmann recht unauffällig im Nordwesten - auf. Das ausgeführte Programm ist so

allgemein, dass fast alle Orden der katholischen Kirche versammelt sind, selbst der der

1773 aufgehobenen Jesuiten mit dem Hl. Ignatius. Der "Himmel" ist eben kein rein

"Benediktinischer" (1961, S. 61; 2000, S. 202: "unter benediktinischen Vorzeichen").

Neben dem zeitlosen, ewigen Mit-Bei-einander zeigt sich allenfalls eine historische aber

auch hypäthrale Perspektive im ersten Menschenpaar auf einer höheren und entfernteren

Ebene zusammen mit Gestalten des Alten Testamentes. Man kann wie Bauer in das

Fresko der grossen Neresheimer Kuppel noch so etwas wie „historische Perspektiven“

oder „Verweise auf sich selbst“ als Strukturprinzipien (einer Rokokokirchenausstattung?,

auch noch der von Neresheim?) hinein- oder heraussehen/lesen, aber man geht damit an

der theologisch-spirituellen, ja - vielleicht zur Freude Hans Sedlmayrs - anagogischen

Hauptintention des Gemäldes ziemlich vorbei.

Andere Ansichten: Christologie und die heilige Messe (Bruno Bushart)

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Aber lassen wir andere Kommentatoren sprechen: neben Georg Dehio ("der letzte

Barockmeister lässt uns noch einmal ermessen, welche Summe von Kunst und

Wissenschaft in der Kuppelmalerei von Correggio an aufgehäuft war") bleiben auch Adolf

Feulner oder Hans Tintelnot ("das Schummrige des Rokoko ins Glasige verwandelt") im

Allgemeinen oder an der Oberfläche. Die bislang einzige grössere monographische Arbeit

zu den Neresheimer Fresken stammt aus der Feder von Bruno Bushart anlässlich der

Festschrift zur Wiedereröffnung der renovierten Klosterkirche im Jahre 1975. Er versucht

ein objektiveres Bild der (kunstgeschichtlichen) Situation, von Maler, Auftraggeber und

Auftrag zu vermitteln. Vor allem führt er auch zwei weitere Quellen an: eine Klosterchronik

von 1772 und eine im Stadtarchiv Augsburg befindliche ungedruckte Beschreibung von

1789. Weiter bemüht er sich den Entstehungsprozess von den tafelbildähnlichen, die

örtlichen Verhältnisse noch nicht richtig berücksichtigenden Ölskizzen über zeichnerische

Vorstufen zu den Fresken zu dokumentieren, bevor er auf das 'Bildprogramm' zu sprechen

kommt. Er meint plausibel eine dem Protestantismus verwandte Grundtendenz im

Christologischen, einen Orts- und Funktionsbezug in der thematischen Reihenfolge und -

Paulus Weissenburger und Wilhelm Messerer folgend - nicht ganz überzeugend eine

Analogie zum Messopfer oder zum Messgottesdienst feststellen zu können (S. 61): "Das

Kirchengebäude als Symbol des in ihm gefeierten Messopfers, das war [wäre] fürwahr

eine revolutionäre Interpretation des Gotteshauses" oder noch einmal (S. 66) "Die

Deutung des Kirchenraums als Symbol des Messopfers ... stellt nicht nur die Summe einer

abendländischen Tradition dar, sondern zugleich die kühnste und modernste

Neuinterpretation des christlichen Sakralraumes am Vorabend der Säkularisation". Unter

dem Abschnitt "Bildgestalt" listet Bushart auf S. 69/70 die verschiedenen Auffassungen

der Zentralkuppel auf: 'adoratio SS. Trinitatis' (Klosterchronik 1772), 'Ecclesia triumphans'

(Carmen epicum von 1773/75), 'im Himmel herrschende Heilige' (Hauntinger 1784) und

'Himmelreich' (Festschrift 1792). Hier findet sich auch der flüchtige Hinweis auf den

Aufsatz Bauers aus dem Jahre 1961. An dem 'Carmen epicum' kritisiert Bushart, dass

dieses in entscheidenden Punkten das soeben vollendete Fresko missverstehen würde,

wobei er aber nur den angeblich funktionslosen Simeon statt Salomon anführt. Der

momentane Schreiber fürchtet eher, dass das 'Carmen epicum' an dieser Stelle richtig

'singt'. Bushart erkennt in der Anordnung der Figuren drei Ringe: den der Trinität, den von

Adam und Eva und den von Altem Testament bis zur Gegenwart bzw. umgekehrt als eine

Zeitlinie wohl unter dem Einfluss Hermann Bauers. Die Gegenwart (nicht wie in

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Ottobeuren durch das Stiftungsbild und durch ein Auftauchen des Abtes Rupert II Ness

bzw. Anselm Erb) bringt dann wohl jeder Betrachter mit ein. Als weiterer Punkt ist Bushart

eine Familienzugehörigkeit aufgefallen, was aber auch das Genealogische vor allem des

Alten Testamentes zeigt. Als nächstes greift Bushart natürlich auch die allegorische Figur

heraus, die als "Ecclesia" (Carmen epicum) , als "Religion" (die Beschreibungen von 1789

und 1792) auch im Wechsel von "Fides divina" (1773) zur "Fides romana" (1775)

aufgefasst wird. Ausserdem verweist er auf eine interessante Stelle bei Hagedorn (1762,

S. 462), nach der die Allegorie selbst allegorisch in einem Bild eines Schleiers erscheine,

der sie verhülle oder unserem Auge [aber nicht ganz] verberge. Allerdings dürfte sich der

Abt oder Knoller nicht daran inspiriert haben, da auch die 'vernünftige Seele' oder auch die

'Religion' wie z.B. im Bibliotheksfresko in Wiblingen von Franz Martin Kuen mit einem

Schleier verhüllt ist. En passant: im 1764 von Nicolas Cochin gezeichneten, im nämlichen

Jahre 1772 gestochenen und der 'Encyclopédie où Dictionnaire raisonné des sciences,

des arts et des métiers' beigegebenen Frontispiz soll der 'Theologie' die nackte, reine

'Wahrheit' von der 'Vernunft' demonstrativ entschleiert oder enthüllt werden.

In der Neresheimer 'Enthüllung' kommt Bushart zu dem eigentlich nachvollziehbaren

Schluss, dass "vorbei ... die Zeit [sei], da sich der Mensch die Dreifaltigkeit unbefangenen

Auges in irdischer Leiblichkeit vergegenwärtigt, allenfalls als menschenbildliches

Gleichnis. Jene Anbetung, der sich die Lebenden im Kirchenraum unterhalb der Kuppel

zugesellen sollen, wagt sich die Gottheit nur noch als Allegorie, nicht mehr als Abbild

vorzustellen".

In Bezug auf die von ihm in Anm. 98 zitierte Beschreibung von 1789 (fol. 42) heisst es

allerdings: "Zunächst werden die würdigsten Heiligen und dann alle übrigen nach ihrem

Rang und Würde vorgestellt. Alle bethen an, freuen sich und laden uns zu ihrer

gemeinschaftlichen Glückseligkeit ein [und das alles auch zumindest im Bild, aber 'real' in

unserem Herzen, Seele, o.ä.]". Bushart hält die Neresheimer Fassung des

Allerheiligenthemas für eine Erfindung Knollers, was der augenblickliche Autor kaum

glauben kann auch im Blick auf die rudimentäre Skizze und die theologische Qualität und

trotz der thematischen Vorschläge von 1776 für die Kanzel. Bruno Bushart meint noch

gegenüber Vorläufern wie Volders und Ettal eine immer wieder von den Auftraggebern

und Kritikern angemahnte grössere historische Treue in Neresheim feststellen zu können:

"... [in] demselbe(n) Trend zur Rationalität, zur Konkordanz von Glauben und Wissen [oder

besser: Vernunft?], der zur Einfügung der Ecclesia-Fides-Figur geführt hat". Den

Abschluss von Busharts wichtigem Beitrag bildet eine allgemeine Würdigung als

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Kunstwerk auch im Vergleich mit anderen Künstlern des 18. Jahrhunderts unter

Herausstreichung der einmaligen Konstellation von Auftraggeber, Baumeister, Zeitlage

und künstlerischer Mitgift (Tirol, Wien, Rom, Neapel, Mailand).

Wenig Enthüllendes: Edgar Baumgartl

Der Bernhard-Rupprecht-Schüler Edgar Baumgartl hatte in seiner 2004 erschienenen

Knoller-Monographie als Überarbeitung seiner schon 1986 gedruckten Erlanger

Dissertation, die Gelegenheit die vorangegangenen Arbeiten kritisch zu verwerten und

neue Aspekte herauszuarbeiten. Ab. S. 49 beginnt die Analyse der Hauptkuppel als "Die

triumphierende Kirche", die nicht dem christologischen Zyklus direkt zugehörig sei,

weitgehend nach Bushart. Bei der allegorischen Szene bringt er die Begriffe 'relevatio,

apokalypsis, die Offenbarung, das Mysterium', wobei er nicht die erwähnten Stellen des

Paulus sondern den Hebräerbrief 11,3 ("Durch den Glauben merken wir, dass die Welt

durch Gottes Wort fertig ist, dass alles, was man siehet, aus nichts geworden ist")

heranzieht. Ansonsten folgt Baumgartl Hermann Bauers "allegorisch-szenische(m)

Vorgang ... Schauplatz ... Symbolakt ... allegorische Hermeneutik", also "Darstellung einer

Himmelsvision in aufgeklärten Zeiten, Offenbarung, Apokalypse, Enthüllung im Akt der

Malerei". Auf Seite 51 lesen wir etwas verwundert, dass das "Trompe l'oeil .... längst keine

die Sinne wirklich täuschende Funktion mehr [hätte] ... denn es [müsse] ... ein kleiner Rest

des Verräterischen bleiben". Hier wäre vielleicht schon der Hinweis auf Frank Büttners

Aufsatz (s.u.) von 2001, S. 108-127, v.a. 112 mit dem bipolaren bzw. bimodalen

Rezeptionsmodus' (z.B. bei Abbé DuBos) angebracht gewesen, als der rein theoretische

Vergleich, dass sich im Falle einer "perfekten Illusion" der Künstler der Bewunderung

selbst berauben würde. Interessanter ist die Rolle des 'stucco finto' (Thomas

Kupferschmid) für die Wahrnehmung und die sogenannten 'Realitäts'-Verhältnisse. Die zu

starken Schatten von zwei agraffenartigen Muscheln des Deckenbildes sollten als

Gehilfenarbeit nicht überbewertet werden. Sie sind wohl so nicht beabsichtigt und einfach

zu wenig angleichend übergangen. Auch der Abschnitt "Heilsgeschichte -

Kirchengeschichte" bringt nichts Neues: "Kirchen- und Abteigeschichte" wird in die

"Heilsgeschichte" eingereiht. Bei der Zusammenkunft fast aller süddeutscher

Bistumsvertreter fragt man sich, warum gerade Konstanz fehlen soll (Konrad ist zwischen

Ulrich und Benedikt dargestellt). Die in Martin Schieders Studie genannten französischen

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Tendenzen der sakralen Malerei in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Aussterben

der Märtyrer, ja fast auch der Passion und Kreuzigung Christi (vgl. Relief von Thomas

Schaithauf an der Chorwand) liessen sich durch die Frankophilie der bayrischen

Kurfürsten bzw. der württembergischen Herzöge (v.a. Karl Eugen?) auch auf Neresheim

teilweise übertragen. Da in Neresheim kein Maler, sondern Thomas Schaidhauf nach 1775

das Sagen hatte, wurden auch schon von daher die Rotundenaltäre und der Hochaltar wie

z.B. in Rom plastisch als szenisches oder konventionelles Relief-Bild ausgeführt.

Auch die "Klarheit, Schärfe, Präzision" des nächsten Abschnittes als Übergang vom

Inhaltlichen zum Modalen des Dargestellten bergen keine Überraschungen. Wenn auch

kein (wenig) Sfumato vorhanden sein soll, muss doch die ausgeprägte, wirklich

überzeugende Farb- (und Luft-) Perspektive erwähnt werden. Dass die Deckenbilder in

Neresheim im Vergleich zu den meisten Freskomalereien des 18. Jahrhunderts auch aus

der Nähe oder mit dem Fernglas gut anzuschauen sind, findet sich schon seit den Tagen

ihrer Entstehung.

Die auch von Maulbertsch explizit ausgesprochene Helligkeit ("wie ein Dag") ist ein

allgemeines Korrelat der 'Aufklärung'. (Der) 'Kunst sei Dank', ist der zitierte Ausspruch von

Bernhard Schütz aus dem Jahre 1987: "Hier erlebt man kein Fest der Sinnenfreude,

sondern die Schärfe und Klarheit des Geistes, der in der Architektur Gestalt gewonnen

hat", nicht einmal für letztere völlig zutreffend. In der 'Geschichte der bildenden Kunst in

Deutschland', Bd. 5, 2008, S. 280, Nr. 93 heisst es von Ulrich Fürst: " ... rationale

Konzeption und emotionale Wirkung ... grosse abschliessende Leistung europäischer

Barockarchitektur... ". Die angeführte Auffassung von Ernst Cassirer von "Aufklärung als

Epoche des reinen Intellektualismus" (auch der Spätaufklärer wie J. J. Rousseau?) lässt

Baumgartl am Schluss über Intellektualismus in der Kunst, wie das Verhältnis von Bild und

Realität, Bild und Wort, bildlichem und begrifflichem Denken nachsinnen. Diese Fragen

seien "nie vorher und nachher kaum wieder in damaliger Radikalität" (wie in Neresheim?)

gestellt worden. Vielleicht ist eher ein Ausgleich von Gefühl und Verstand bzw. Glaube

und Vernunft, Schein und Sein angestrebt, wenn man sich wieder in die dünne Luft des

Begrifflichen begeben will.

Als Resümee lässt sich sagen, dass Baumgartl alles Vorangegangene aufgreift und

diskutiert, aber ausser einigen zitierten Nebengestalten nichts neues zu Knollers Werk in

Neresheim und besonders zur Hauptkuppel beitragen konnte. Christina Grimminger in der

schon genannten Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, S. 379, Nr. 188 meint

immer noch in der Tradition von Hermann Bauer, dass "bei den Bildinhalten ... die

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Betonung auf der Historie ... und nicht mehr in der Übermittlung heilsgeschichtlicher

Aussagen (liege)".

Exkurs: Die ästhetische Illusion und ihre Ziele (Frank Büttner)

Zu Illusion und Rhetorik - Rekonstruktion der historischen Situation

Bevor wir uns im Kapitel Neresheim abschliessend den drei Feldern von Einstellung,

Anschauung und Verständnis zuwenden, muss auf den schon erwähnten, 'clare, faciliter et

plane' formulierten grundlegenden Aufsatz des Bauer-Nachfolgers Frank Büttner: 'Die

ästhetische Illusion und ihre Ziele - Überlegungen zur historischen Rezeption barocker

Deckenmalerei in Deutschland', in das Münster, 2, 2001, S. 108-127, hingewiesen

werden, der sich auch fast im Sinne einer schon genannten, nur andeutenden

Überblicksdarstellung des Verfassers dieser Zeilen aus dem Jahre 1998, in: Herbst des

Barock, hg. von Andreas Tacke, München 1998, S. 43-82 lesen lässt.

Es ist gut, dass Frank Büttner, den von ihm mitinitiierten "Trieb" der Erfassung der

rhetorischen Grundlagen der Barockkunst hier nicht zum Wildwuchs ausarten lässt. Nach

Auffassung des Rezensenten handelt es sich eher um eine Begriffe liefernde

Parallelerscheinung, hinter der Fühl-Denk- und Willens-Muster der Zeit stehen. So findet

sich mit am Anfang die völlig akzeptable Forderung nach der genauen Erforschung des

ursprünglichen historischen Kontextes eines Werkes, seiner historischen Rezeptions- (und

zu ergänzen: Produktions-) Bedingungen. In rhetorischer Weise versucht Büttner zwischen

"innerem aptum" (quasi Syntax, v.a. Dekor) und einem äusseren aptum" (quasi Pragmatik,

v.a. Aussenwirkung auf den Betrachter) zu unterscheiden. Weiter führt er als oberstes Ziel

der Rhetorik die "persuasio" an und will im folgenden sie in Verbindung zur "illusio"

bringen. Diesen erst im 18. Jahrhundert, aber z.B. nicht in 'Zedlers Grossem Universal-

Lexikon' zu findenden Begriff versucht Büttner als einer der Ersten erst einmal zu

definieren und z.B. gegen die seit der Antike vorkommende "mimesis" (eher reine

Naturnachahmung oder Verhältnis zur Natur) abzugrenzen immer auch unter dem Aspekt

von Wahrnehmung und Bewusstsein. Eine völlige oder "nicht auflösbare" Täuschung"

(s.o.) - wie z.B. von Bernhard Kerber für das Pozzo-Fresko in S. Ignazio, Rom

angenommen - lehnt Büttner ab. Es gebe nur Täuschung der Augen und nicht des

Geistes/Bewusstseins entweder in bipolarer (aufeinanderfolgender) oder bimodaler

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(paralleler) Weise (wie z.B. bei Abbé Dubos und Moses Mendelssohn) unter Verweis auf

Marian Hobson. Am Beispiel von Pozzo's genanntem Fresko sei das Vergnügen an der

Illusion nicht (nur?) Ziel und Zweck, sondern auch Aussage. Die Perspektivmalerei -

wieder rhetorisch gesprochen - sei ein "exordium", ein "attentum parans" um die

Aufmerksamkeit auf das Geschehen am Altar zu lenken (? oder eher abzulenken?). Am

Beispiel der Asam-Fresken in Weingarten (darauf wird noch an anderer Stelle näher

einzugehen sein) versucht Büttner die verschiedenen Möglichkeiten vom 'quadro riportato'

bis zum 'di sotto in sù' aufzuzeigen. Als entscheidendes Kriterium für die Klassifizierung

als illusionistisches Deckenbild kommt wenig überraschend die Perspektivkonstruktion in

Bezug zum Bau und zum Betrachter in Betracht. Etwas klarer hätte die Darstellung dieser

Perspektivmöglichkeiten ausfallen können: von Albertis Fenstervorstellung als

tafelbildmässiger vertikaler heute eher 'Schnitt (nicht wie zweimal zu lesen: "Durchschnitt")

durch' die Sehpyramide, über gekippte Schrägsicht, bis zur um 90° veränderten Lage der

Projektions- oder Bildebene (Horizontalprojektion) mit zentralem oder versetztem

Fluchtpunkt.

Mit Recht stellt Büttner durch eine andere Standpunktwahl oder Ansicht die aus der von

Hans Geiger bezüglich der Aldersbacher 'Bernhardsvision' festgestellten Lage des

Augpunktes oberhalb (aber nicht auf 'Bernhards' Höhe; man vergleiche die integrierte

rahmende Schrankenkonstruktion) des unten stehenden Betrachters ideologisch

-semantisch gedeutete Ableitung Bernhard Rupprechts einer beabsichtigten bildhaften

Entrücktheit als Rokoko-Merkmal (vgl. Die bayrische Rokokokirche, Kallmünz 1959;

ebenfalls eine prägende und kaum widersprochene Arbeit) in Frage. Einen Griff in die

Rhetorikkiste stellt der der Mimesis eigentlich nahe Begriff des "verisimile" oder

Wahrscheinlichkeit dar als weitere Bedingung von Illusion. Dazu gehöre auch die

"Proportionalgrösse" d.h. die Kommensurabilität des Dargestellten zum Betrachter und

seiner Distanz.

Zu "Realität" (Kritik der "Realitätsgrade") - 'delectare, docere, movere'

Den wohl von Dagobert Frey stammenden und seit den Sedlmayr-Schülern Bauer und

Rupprecht kanonisch, fast systemisch gewordenen Begriff der "Realitätsgrade" bzw.

"Realitätscharakter" hält Büttner schon terminologisch für problematisch, indem er nach

heutiger Erkenntnistheorie 'Realität' (reality) als die Objektwelt (also im Falle der Kirche

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und ihrer Dekoration letztlich die atomar-molekular-energetische, quantitative und

qualitative Verteilung und Anordnung von Baumaterialien, Farbpigmenten und

Bindemitteln, Licht) und die "Wirklichkeit" (actuality) als von Subjekten wahrgenommene

'Realität' definiert. Die "aktuale Wirklichkeit" (Lehrinhalte, Hoffnungen der Religion als

widerfahrende Vision) diffundiere (?) mit der konkreten Wirklichkeit (= Realität?) des

Gotteshauses, die aber letztlich auch nur eine subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit

darstellt.

Als Ziel der Illusion und Rechtfertigung ihres Aufwandes erscheint jetzt die klassische

poetisch-rhetorische Trias des 'delectare, docere und movere' in der Formulierung des

Kardinals Paleotti (und Giovanni Domenico Ottonelli), die dieser mit dem sinnlich

Empfinden, dem rational verstandesmässigen Erfahren und dem spirituellen Erfassen

etwas theologisch kombiniert. Zwei Bemerkungen Büttners sind dabei interessant, dass

die spezifische Erscheinung der Barockkunst sich daraus nicht ableiten lasse, und dass im

tridentinischen Dekret z.B. das 'delectare' keine Erwähnung gefunden habe. Trotzdem gab

es eine Wertschätzung der 'delectatio' und damit eine Forderung nach künstlerischer

Qualität zumindest im Blick auf die Nachahmungsfähigkeit der Künstler. Die ästhetische

Illusion ziele ganz wesentlich auf diese Wirkungsfunktion der 'delectatio' und v.a. der

'emotio' ab durch besseres Nacherleben. Allerdings meint Büttner, dass die 'reine'

Augentäuschung (Trompe l'oeil) den Affekten gegenüber erst einmal indifferent sei. Die

Schwierigkeit der Deckenmalerei in der Affekterzeugung durch die grössere Distanz zum

Betrachter würde durch ausgeprägte Mimik und Gestik kompensiert, v.a. ein erster

Totaleindruck (z.B. auch durch die Monumentalität des Raumes u.ä.?) oder die

Gesamtschau brächte einen Affektbezug (im Sinne des Erhabenen). Das

vorgebrachte/angeführte Zitat aus Pseudo-Longinus: "Das Übergewaltige (führe) nicht zur

Überzeugung, sondern zur Exstase; überall (wirke), was uns erstaunt und erschüttert

jederzeit stärker als das Überredende und Gefällige ..." könne die Expressivität der

barocken Deckenmalerei v.a. um 1750 etwas erklären. Büttner sieht dieses "Erhabene"

auch im Zusammenhang mit dem Modus oder dem hohen Stil (sublimis), dem

"merveilleux" des Theaters, dem "Enthousiasmus" (de Piles) oder dem "Entzücken"

(Georg Friedrich Meier). Er schränkt es allerdings wieder ein, dass man bei der " ...

elementare(n) Wirkungsweise einer Barockdekoration in der Terminologie der Zeit [und

wohl auch unserer Gegenwart?] ..., nicht ganz so hoch greifen" solle. Er selbst greift aber

als nächstes nach der Ver- und Bewunderung (dem aristotelischen thaumázein) bei

Johann Georg Sulzer, Descartes und Thomas von Aquin. Verbunden mit der

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"Magnificentia", der Pracht, würde " ... das Kostbare, das Ungewohnte

[Aussergewöhnliche], das Neue [vgl. rarum], das Unbekannte, das sich jeweils den Sinnen

darbietet, zu grösster Aufmerksamkeit (veranlassen), (wecke) in Seele und Geist den

Wunsch, das was in Verwunderung (setze), zu erfassen und (böte) Nahrung, sich

emporzuschwingen, soweit es möglich ist. So, das dürf(t)en wir uns vorstellen, haben

(hätten) die Zeitgenossen Asams die prächtigen Räume von Weingarten oder Fürstenfeld

erlebt". Durch die Aufklärung würde die "Überwältigungsstrategie" durch "Verwunderung"

suspekt, da Einfachheit, Klarheit und Wahrheit jetzt gefragt seien. Durch diesen

Einstellungswandel stimme das "äussere aptum" des Barock nicht mehr. Büttners letzter

nachdenklich stimmender Absatz ist wohl so zu verstehen, dass wir 'Aufgeklärte' von

heute wahrscheinlich nicht in der Lage seien in der Erforschung der historischen

Rezeptionswirklichkeit "(je) diesen Wandel (einzuholen)", als ob wir also uns in die

voraufklärerische Zeit - nach dem Kleist-Zitat in den "Stand der Unschuld" (= die 'heile

-Welt' eines Sedlmayr?) - zurückfallen lassen könnten. Auch die Schlusssätze von dem

eher nüchtern rationalen Büttner sind doch erstaunlich, verwunderlich und beachtenswert:

"Von Bewunderung ist in der kunstgeschichtlichen Literatur kaum die Rede, allenfalls in

schwärmerischen Tönen ... (einer) ... Genieästhetik. ... Dieses (diese) wissenschaftliche(n)

Ziel(e) sollte(n) uns gleichwohl nicht hindern, uns dem überwältigenden Eindruck der

Kunst des bayrischen [wohl eher süddeutschen?] Barock mit sinnlichem und mit

seelischem Vergnügen einfach hinzugeben".

Stimmen der Zeitgenossen: nochmal das Carmen Epicum und die Bibel

Aber geben wir uns erst noch einmal den Stimmen der Zeitgenossen und bis denen

unserer Gegenwart über Neresheim und seiner grossen Kuppel kritisch - ja auch ein wenig

'meta-kritisch' im Sinne Bauers - hin, um der ursprünglichen (oder eigentlichen) Intention

von Abt, Konvent, Künstler und des Bildes doch noch etwas näher zu kommen.

Ausser der schon genannten Sammlung von Benediktinerheiligen, Stiftern und Patronen

des Klosters Neresheim - vielleicht von der eigenen Hand - haben wir kein Programm des

Abtes Benedikt Maria - wenn es das schriftlich ausgeführt je gab - , um dessen Absichten

und Gedanken direkt zu erfahren. Etwas zwischen Homiletik (Festtags-Predigt),

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(klassischer) Poetik und Peri- und Ex-egese (ähnlich den Bilderklärungen für Klosterbruck

von 1778) steht das auch schon erwähnte 'Carmen epicum'. Neben den schon zitierten

Stellen sind v.a. der Anfang und das Ende interessant, während das übrige als erläuternde

Aufzählung der Dargestellten einzuschätzen ist. Das nicht ganz einfache Latein (leider wie

immer nur nach der Transskription bei E. Baumgartl, 2004, S. 428) beginnt mit:

"Bellerophontaeis canet ebria Musa fluentis, / Quae Mediolanus pro Tempore pinxit

Apelles / In Cuppa media, simul & quae maxima Templi / Neresheimensis, Benedicti

provida cura / quod struit, & vigili noctuque diuque Clenatis / Lampade perlustrat, quae sint

facienda revolvens. / Ecclesia hic Tibi se sistit, quae dicta Triumphans / Empyreum quae

praesentat pulchro ordine coelum. / Sanctorumque Chorus longo velut agmine

monstrat. / ...", was wohl so zu übersetzen ist: ' Die Muse trunken vom Flusse des

Bellephoron (Pegasus und Hippokrene) wird singen, was der derzeitige Apelles von

Mailand gemalt hat in der mittleren und zugleich grössten Kuppel des Neresheimer

Tempels, den die vorausschauende Sorge Benedikts (Abt Angehrn) errichtet und immer

wieder und in schlaflosen Nächten mit der Fackel des Kleanthes (? der nachtarbeitende

Stoiker?) besichtigt hat umwälzend, was zu tun sei. Die Kirche stellt sich hier vor Dich hin,

wie selbige im Triumph den feurigen Himmel in schöner Ordnung gegenwärtig macht. Und

(was) der Chor der Heiligen wie in einer langen Heerschar zeigt'. Am Schluss steht: "Illos

credo VIROS hos esse in VESTIBUS ALBIS / Qui post Ascensum Domini sub rupe

STETERE, / Dixeruntque viris Galilaeis (nunc quoque nobis) / QUID STATIS COELOS

ignavi hic ASPICIENTES? / INTRARE ANGUSTAM potius CONTENDITE PORTAM.

Matth. 7, v.13 FINIS" oder übersetzt: 'Ich meine, dass jene Männer in weissen Gewändern

diese sind, die nach der Himmelfahrt des Herrn auf dem Berg gestanden und den

Galileischen Männern (nun auch uns) gesagt haben: was steht ihr untätig und blickt zum

Himmel, geht, besser eilt durch die enge Pforte (des Himmels). Ende'. In diesem Text wird

der schon im Titel genannte Martin Knoller nicht mehr namentlich erwähnt, aber

offensichtlich der regierende Abt Benedikt Maria Angehrn und seine auch künstlerische

Sorge um den Kirchenbau. Der Verfasser Mayer erkennt das Fresko der Hauptkuppel wie

im Titel der Schrift nochmals nur als "triumphierende Kirche" mit dem Himmelreich und der

Schar der Heiligen. Am Schluss werden Apostelgeschichte 1, 10-12 und Matthäus 7, 13

zitiert und die Botschaft (des Dargestellten) auch für die Gegenwart ('actuality') lautet nicht

nur hinauf zu blicken, sondern in der Glaubensgewissheit dahin zu leben und zu streben.

Es ist wohl anzunehmen, dass der Verfasser im nahen Ohmenheim als Freund des Abtes

dessen Gedanken kannte und auch mit Knoller Gespräche führte, aber wir hören nichts

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direktes von einer Verbindung zum Messopfer (P. Weissenburger, Bushart, u.a.) zur

(endzeitlichen) Apokalypse (E. Baumgartl) von einem Einbruch des historischen "Aktes"

und (Zer-) Störung des (barocken) "Wunders" (Bauer). Die auch an dem Gedicht

ablesbare Genealogie (Bushart) erklärt sich weniger aus historisch-legitimierendem

Interesse als aus einer gewissen biblischen Texttreue. Die explizit erklärte, erklärende

Enthüllungsaktion ist eigentlich eher noch barock-allegorischen Ursprungs (fast Mystik)

und nicht nur legitimierende "Hermeneutik" (Bauer). Die Orts- bzw. Funktionsbezüge sind

in einem mehrteiligen, durchdachten Programm wohl selbstverständlich und hier nicht

mehr direkt erwähnenswert. Den allgemeinen und überzeitlichen Gedanken des Freskos

stehen im Gedicht wohl gewisse Lokal- und Gegenwartsbezüge, Anspielungen (Bauer:

"Verweis auf sich selbst"), aber keine Anklänge an die angebliche heilsgeschichtliche

Erfüllung der Zeit in den Sonderfällen der Kirchweihpredigten (vgl. Rupprecht, Bauer)

gegenüber.

Johann Nepomuk Hauntinger 1784

Vor einer Über- oder 'Tiefen'- Interpretation warnen sollte uns der St. Galler Konventuale

Johann Nepomuk Hauntinger, der trotz seines mehrwöchigen Aufenthaltes in Neresheim

(1784) das zentrale Deckengemälde nur mit "im Himmel herrschende Heilige auch herrlich

und im schönsten Geschmack" bedachte und ansonsten dem Gebäude ästhetisch und

einfühlsam, genussvoll und kritisch (in den Altären Salem unterlegen, zu kolossal; auch

aus heutiger Sicht ist die Ausstattung stilistisch 'sub-optimal') begegnete. Dass einige

protestantische Touristen des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht 'höher-tiefer'

eingestiegen sind, sondern von der sinnlich-erhebenden Ausstrahlung ("Hymnus")

ergriffen wurden, spricht nur für die auch von Frank Büttner rhetorisch vertretene primäre

Ein-Stimmungs-Ästhetik. Die offizielle "Beschreibung der Kirche" von 1792 anlässlich der

Weihe müsste wohl Ausgangspunkt und Korrelat jeder heutigen Interpretation sein: Die

Malerei in ihrer Gesamtheit ist das "Himmelreich", das Geheimnis der Trinität im Zentrum

und die sie enthüllende Religion. Die Trinität verehren der Alte und Neue Bund, die Familie

Christi und die Ordens- und Kirchenpatrone und andere v.a. nationale (deutsche) Heilige.

Weiters wird der Engelssturz aus dem Himmel (aber nicht das 'Jüngste Gericht', vgl.

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Wiblingen) erwähnt und - auch noch barock - die vier Evangelisten in den Zwickeln als

Fundament (die kanonischen Evangelien) eines noch geoffenbarten Himmels. Alles

Höher- oder Tiefergehende ist Interpolation und Spekulation an einem oszillierenden

Kunstwerk. Für den Schreiber dieser Zeilen im Jahre 2011 wirkt das Gemälde als eine

Aufforderung zum Glauben (s-Bekenntnis; vgl. Messbezug und weiter unten P. Rupert

Prusinovsky zu Ottobeuren), denn nur dem kirchlich ('nulla salus extra ecclesiam')

Glaubenden ist das Himmelreich auch und gerade im Zeitalter der Aufklärung: Vater,

Sohn, Hl. Geist, Hl. katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, ..., vitam aeternam'

des 'Credo' sichtbar und offen.

Das Neresheimer Programm im gesamten ist sicher eines der am besten Durchdachten,

Einfach-Geläuterten und Reifen am Ende des Barock (und wohl auch des Rokoko) sowohl

von der Klerikerseite aus: Presbyterium (Abendmahl, Kruzifixus), Chor (Auferstehung) wie

auch von der Laienseite aus: am Eingang (Tempelreinigung: Busse), Schiffmitte

(Tempellehre: Lesung, Predigt), Vierung (Himmel: Geheimnis des Glaubens). Die

Seitenkuppeln mit 'Taufe Christi' im Jordan (Taufe) und 'Darstellung im Tempel'

(Firmung?) sind auch die Ergänzung zur ominösen Siebenzahl (der Sakramente).

Zum Werkprozess und die tafelbildähnlichen Enwürfe

Bevor sich der Schreiber dieser Zeilen als Nichttheologe weiter von der 'dilettazione

animale o sensuale' über die 'dilettazione razionale' zur 'dilettazione spirituale' theologisch,

anagogisch 'versteigt', sei positivistisch auf den Boden des Werkentstehungsprozesses

und die dabei erkennbare gedankliche Arbeit und Entwicklung zurückgekehrt, wobei die

von Bruno Bushart gelegte Spur weiter verfolgt wird. Es ist wenigstens für den Verfasser

immer noch nicht richtig einsichtig, warum Knoller besonders für die 'Auferstehung' und die

Hauptkuppel so wenig die örtlichen Verhältnisse berücksichtigte und tafelbildähnliche

'autonome' (Bushart) Ölgemälde als Vorentwürfe lieferte. Im Fall des Hauptkuppelfreskos

stellt sich der Entwurf wie für einen platten Chorwandabschluss dar. Eigentlich zeigt die

Skizze annähernd nur die spätere östliche Hälfte. Man hat nicht den Eindruck, dass es

oben weitergehen sollte. Bislang wird die Ölskizze zeitlich Ende 1771 bis Anfang 1772

während des Heimataufenthaltes in Mailand oder recht nahe vor der Ausführung Juni 1772

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datiert. Mehr Sinn würde eine Entstehung schon Winter 1770/71 machen, da der Abt mit

dem Maler über diesen Entwurf noch hätte reden und Knoller die Änderungen bzw.

Ergänzungen dazu im Winter 1771/72 hätte einarbeiten können. Auf alle Fälle sind der

Skizze schon diese Gedanken des Abtes und weniger Knollers (Bushart) zu entnehmen:

Die päpstlich-katholische Religion enthüllt das Geheimnis der Hl. Dreifaltigkeit vor der Hl.

Sippe, links vor den Aposteln des Neuen Bundes und rechts vor den Vertretern des Alten

Bundes. Im unteren Bereich befinden sich der Diözesan- und Kirchenpatron Ulrich und

daneben der Patriarch des Benediktinerordens Benedikt und weniger auffällig Scholastika

und Ottilie Maurus und Placidus(?), Jakobus und Ubricus, Thassilo oder eher Hartmann

von Dillingen und seine Gemahlin Adelheid. Ganz unten Afra mit ihrer Mutter Hilaria. Mit

diesem geringen Figurenapparat war natürlich keine Kuppel von dieser Grösse vernünftig

zu füllen.

Die Zeichnungen für die Kuppel

Es ist anzunehmen, dass Abt Benedikt die schon erwähnte Aufstellung mit

Benediktinerheilgen und Kirchenpatronen nachlieferte, sodass Knoller v.a. zeichnerisch

den 'Himmel' im Winter 1771/72 mit Personal erweiterte, wozu die beiden erhaltenen

lavierten Zeichnungen in Stams bzw. Innsbruck (Detail des Zentrums) wohl gehören. Auf

Anraten bzw. mit Zustimmung des Abtes fügte Knoller rechts (gegen Süden) noch den

'Engelssturz', links (gegen Norden) den 'Andreas', gegen Osten den 'Magnus' mit dem

Drachen, weitere Benediktiner und Vertreter anderer Orden einschliesslich des 'Ignatius'

ein, dessen Kongregation 1772 schon kurz vor der Auflösung bzw. dem Verbot stand. Mit

den Voreltern 'Adam und Eva' wurde noch die Menschheit von den Anfängen (bis heute)

einbezogen. Interessant ist, dass Knoller zu diesem Zeitpunkt jetzt von einem

kreisförmigen, statt etwas länglichen Kuppelrund ausgeht. Er dachte bei der Umrandung

an ein in der Zeichnung viel auffälligeres antikisierendes Mäandermotiv im damals

modernen Sinne des 'style grèc'. Ob jetzt noch ein weiterer (nicht erhaltener) Entwurf

angelegt wurde, oder ob Knoller wie bei den Evangelisten in den Zwickeln unbunte

Detailzeichnungen der Einzelfiguren anfertigte, die auf Kartonschablonen in der nötigen

Grösse gebracht wurden, ist nicht mehr nachzuprüfen. Diese Tätigkeiten erfolgten wohl

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erst nach der endgültigen Approbation durch den Abt Juni/Juli 1772 vor Ort in Neresheim.

Man kann auch in diesem skizzierten Entwicklungs-Erweiterungsprozess keine besondere

inhaltliche Tendenz wie zum Historischen o.ä. feststellen.

Die Darstellung des Göttlichen - Neresheim und das Ende des Barock

In einem 'fruchtbaren Moment' in der Gegenwart des Betrachters wird das Unsichtbare

körperlich sichtbar (zumindest als Vor-Schein) trotz des latenten Bilderverbotes eigentlich

noch recht deutlich im Vergleich zum vergleichsweise schon etwas Versteckten und

Zeichenhaften in Zicks Fresken in Wiblingen (s.u.). Auch in den übrigen Neresheimer

Deckenbildern ist trotz des Szenisch-Realistischen die göttliche himmlische Engelssphäre

noch nicht ganz 'ausgeräumt' (Bushart). In Neresheim, wo Knoller seine 'Akme' und 1775

als fünfzigjähriger seinen künstlerischen Zenit (dieser wohl in Ettal 1768/69) überschritten

hat, zeigt sich vor allem in der etwas bunten Hauptkuppel noch immer die feierliche

Pracht, das Edelsteinhaft-Kristalline mit den Muschel-Agraffen, die illusionistisch-

körperliche Präsenz, die Transitorik des barocken Überbordens. Der im Erzieherischen

fortschrittliche Abt verlässt mit diesem Deckenbild nicht die katholisch-barocken Himmels-

und Gottesvorstellungen, an der Bauers ideologische Kategorien (fast schon ein 'Verlust

der Mitte') eigentlich nicht richtig oder wirklich greifen. Solche selektiven Wahr-

Nehmungen müssen sich am anschaulichen Werk und den Quellen behaupten. Auch eine

grössere (Vor-) Eingenommenheit wie z.B. bei Frank Büttner für die nirgendwo

verbalisierte und zu diesem Zeitpunkt im Niedergang befindliche Rhetorik hätte kaum

mehr als die jedem Kunstwerk inhärente Wirkabsicht erbracht. Vielleicht war es auch nicht

abträglich, dass ein Nichttheologe die primären und angeführten Texte im Sinne von

Stephan Klingen herangezogen hat. Ob oder was Abt Benedikt ausser dem Gotteslob

("Haec est domus Dei" nach 1. Chron. 22,1 ähnlich 1. Mos. 28,17 über dem Eingang) und

Glaubensunterstützung mit diesem Bau und seiner Ausstattung noch bezweckte wie ein

sichtbares Zeichen der Reichsstandschaft (nur unauffällig im Altarraum an der Ostwand,

anders z.B. in Zwiefalten, Ottobeuren oder Weingarten), der reformkatholischen

Auseinandersetzung mit dem benachbarten Protestantismus und der (eher deistischen)

Aufklärung muss einer ins Detail gehenden Studie des Abtes und seines Konventes um

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1770 überlassen bleiben. Die Malereien Knollers vermitteln wie Szenenbilder aus dem

Leben Jesu ein geläutertes 'Theatrum sacrum', ein sinnlich-sittliches Schau-Erlebnis bis

heute.

Zwiefalten

Bauers Legenden vom "Verweis auf sich selbst" und von den "Marienwallfahrtsorten"

Nachdem für Neresheim nicht das 'Wesen' aber vielleicht 'Wesentliches' versuchsweise

herausgearbeitet wurde, soll im zeitlichen Blick zurück das etwas früher 1750 zur

Reichsabtei gewordene Zwiefalten ins Visier genommen werden. Dazu muss bei Hermann

Bauers Aufsatz von 1961 ans Ende von Kapitel 4 gesprungen werden. Es ist erstaunlich

wie Bauer trotz seiner 'Leitmotive' (Geschichte und modaler Wandel, Ewigkeit, Zeit ...) so

statisch, ontologisch, strukturalistisch, ahistorisch und deduktiv vorgeht, dass schon bei

seiner interessanten und ambitionierten frühen, in nuce fast alles Spätere enthaltenden,

bislang kaum in Frage gestellten Untersuchung (''Rocaille - Zur Herkunft und zum Wesen

eines Ornament-Motivs'', Diss. München 1955, gedr. Berlin 1962) eher über die 'Struktur',

das 'Wesen' als die Entwicklung der dynamischen, biomorphen, lebendigen, Gattungen

überschreitenden und verbindenden, von Bauer nach Ernst Michalski eher als ästhetische

Grenze gesehene 'Rocaille' das Genetische, die Veränderung, das unerbittliche,

heraklitisch nicht krebsartig umkehrbare Fliessen von Zeit(geist) ('omnia tempus habent et

suis spatiis transeunt universa sub caelo', Eccles 3,1; und wenn nicht wie bei Ezechias die

Sonnenuhr zurückgestellt wird, vgl. Jesaias 38, 8), modifiziert im Problem der Generation

(W. Pinder) nicht nur des Barock-Rokoko so wenig sein kunsthistorisches Denken und

Vorgehen bestimmt, obwohl er die Rocaille als ein "Spiel mit der Vergänglichkeit" (1962,

S. 77) auffasst und in "Rokoko - Struktur und Wesen einer Epoche", Köln 1991, S. 136

selbst schreibt: "Gerade vor dem Rokoko erweist sich, wie gefährlich es sein kann, die

unterschiedlichen Laufgeschwindigkeiten innerhalb verschiedener Strömungen nicht

verifizieren zu wollen".

Auf Seite 74 des Neudrucks von 1980 wendet Bauer sich nun dem gegenüber der

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Neresheimer Hauptkuppel wenig kleineren Langhausdeckenbild von Zwiefalten zu. Man

kann ihm nicht vorwerfen, dass er noch den am Anfang des 20. Jahrhunderts gemachten

Detailbestimmungen gefolgt ist. Schon Meinrad von Engelberg ist aber in: Kunstchronik

Heft 11, 2003, S. 588 aufgefallen, dass Bauer in seiner postumen 'Süddeutsche(n)

Deckenmalerei' von 2000 Zwiefalten ausklammert, weil dieses Objekt wohl weiter von

Bayern entfernt liegt, wahrscheinlich weniger weil die vom Autor dieser jetzigen Zeilen

1992 veröffentlichte "Revision der Münsterausstattung" einige Positionen so nicht mehr

haltbar hätte erscheinen lassen. Bauer hält 1961 und 1980 das grosse Zwiefalter

Deckenbild für eine Darstellung der wichtigsten und berühmtesten Wallfahrtsorte und in

der Nordostecke eine Szene mit dem Abt Wilhelm aus dem Mutterkloster Hirsau für eine

Fassade von Zwiefalten, vor der ein Mithrasstein gestürzt wird, während es sich laut

Titelliste und Themensammlung des Zwiefalter Abtes Benedikt Mauz um den Marienkult

oder die Marienverehrung (strenggenommen nur mit einer Pest-Prozession oder Wallfahrt

im nordwestlichen Teil) um den ganzen Erdkreis unter Beteiligung des Benediktinerordens

und um Füssen handelt, wo der Hl. Magnus einen klar erkennbaren Drachengötzen

beseitigen lässt. Für Bauer ist auch die "politische Absicht ... so klar", dass damit eindeutig

Zwiefalten gemeint sein müsse, dessen "Gnadenbild" aus dem Anfang des 15.

Jahrhunderts am Kreuzaltar sich schräg darunter befinde(t) oder 1751 bald befinden sollte,

und dass damit eine Einreihung in die berühmten Marienwallfahrtsorte wie Altötting erfolge

und intendiert sei. Wenn auch vom Bauherrn, Abt Benedikt, vielleicht erwünscht - erlangte

die Marienwallfahrt in Zwiefalten doch nie eine grössere Bedeutung wie z.B. die

Gnadenbilder auf dem nahen Bussen oder in Maria Steinbach an der Iller, ganz zu

schweigen von Altötting. Zwiefalten verfügte zwar auch über einen Kreuzpartikel und vor

allem über die Hand des Stephanus, ohne dass sich daraus ein grösseres Wallfahrts-

Szenario entwickelt hätte. Ein wirklicher und direkter 'Verweis' oder besser ein Abbild

Zwiefaltens findet sich in dem Relief am nur den Mönchen einsichtigen Dreisitz von Abt,

Prior und Subprior mit dem Maria gewidmeten Kirchenmodell und auch mit den

porträtähnlichen Zügen, obwohl das Ganze wie noch zur Gründung im leeren Tal am

Zusammenfluss der beiden Zwiefalter Quellen im 11. Jahrhundert wirkt.

Bauers "Stiftungsakt", "göttliche Gnade" und "von der Wolke zur Mauer"

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Nach den erhaltenen und zu rekonstruierenden Programmkonzepten (vgl. der Verfasser:

„Franz Josef Spiegler und die Benediktinerabtei Zwiefalten – Zur Geschichte einer

Beziehung und zur Revision der Münsterausstattung“, in: Pantheon L, 1992, 80-97, v.a. S.

85-88) baut sich die himmlischen Zone des Deckenbildes aus folgenden Partien auf: die

erste mit der Trinität, als zweite Maria mit dem gemalten (und plastischen) Abbild

(Gnadenbild), die dritte mit Benedikt, Scholastika und einigen frühen Gefährten, die vierte

mit verschieden Marienverehrern in Worten (z.B. Bernhard von Clairvaux: 'Ave Maria

Stella Maris'). Die fünfte, irdische Zone zeigt die benediktinischen Förderer der

Marienverehrung. Im Bild sind noch die Bestrafung von Kritikern des Marienkultes oder

Anhänger eines falschen Marienbildes und der Unterschied von Gnadenbild(werk) und

rein künstlerisch-menschlichem 'Mach-Werk' angedeutet. Eine äusserliche Anspielung auf

das von einer durch Johann Joseph Christian um 1755 oder sogar früher 'mutilierten'

spätgotischen Schutzmantelmadonna zur einfachen 'Maria mit Kind' 'mutierte' Gnadenbild

ist nicht erkennbar. Bauer schreibt nun in seinem theologisierenden, bemühten Stil von

einem "(historischen?) Stiftungsakt" (der Klosterkirche auch als Wallfahrtskirche?) und von

"göttlicher Gnade" (für die gesamte Kirche?, das Gnadenbild?) an einem Tag in der

"Heilsgeschichte" wohl etwas unter dem Eindruck der Jubelpredigten von 1789. Beim Blick

nach oben würde (unter oder hinter den Randzonen?) "die [menschlich, irdische?]

Geschichte selbst zu einem Bild der Ewigkeit" werden. Der "Allerheiligenhimmel [eigentlich

doch ein selektiver?] mit seiner ewigen Anbetung" habe sich nun zu einer

Geschichtsdarstellung (von Wallfahrten?) mit dem Anspruch auf ewige Gültigkeit

(wenigstens bis zum 'Jüngsten Gericht'?) verwandelt. "Aus Wolken" (des Himmels) seien

irdisch wirkende "Mauern und Treppen" geworden, aus dem zeitlosen "Gnadenakt"

(warum nicht Gnaden-Wunder?) eine (historische?) "Stiftung" der Gnade (Gottes, Marias?,

warum nicht wieder "Gnadenakt"?) auf die irdischen Ordenseinrichtungen und -aktivitäten.

Das soll wohl heissen: aus einer "ewigen Anbetung" sei eine Darstellung der

heilsgeschichtlichen Gnade für Stiftungen und Einrichtungen des Benediktinerordens

geworden einschliesslich des Klosters Zwiefalten und seiner Kirche, die jetzt nicht mehr

nur für den salomonischen Tempel oder das himmlische Jerusalem stehe, sondern

"tropisch" (oder eher pleonastisch?), reflexiv durch einen 'Verweis auf sich selbst'. Die

"perspektivische Sicht" (formal, auf das Bild und das ganze Ensemble?) sei "historisch"

(inhaltlich, irdisch-zeitlich?) geworden.

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Vierungskuppel, Langhauskartuschen und das "Benediktinische"

Das Ganze wird etwas klarer, wenn Bauer bei dem anschliessenden Vierungskuppelbild

auch nicht den "reinen [zeitlosen, überzeitlichen] Himmelsraum", die 'ideale Ebene' mit

einer Marienkrönung ('Regina sanctorum omnium') erkennt, da auch hier der historische

Benediktinerorden bzw. seine Mitglieder vorrangig vertreten seien. - Ein genauerer Blick

auf das Fresko hätte Bauer wohl eines Besseren belehrt. - Ebenso seien im Chor (nicht

Placidus-Martyrium, sondern Wunder im Kloster Magi), im Presbyterium (nicht Ildephons,

sondern Bonitus) und über den Gallerien jeweils Maria als Helferin von Benediktinern

dargestellt. Es reichen bei Bauer eigentlich schon historisch einigermassen greifbare

Heiligengestalten in einer Beziehung zum Benediktinerorden aus, um ihn eine historische

Brechung, Richtung und (distanzierende) Selbstreflexivität konstatieren zu lassen. Der von

ihm festgestellte Hang, Drang, Zwang zum Historischen (und damit auch zum Irdisch-

Zeitlich-Weltlichen?) im Rokoko erweise sich auch als ein Spielverderber der Allegorie

oder der Emblematik. Im Falle Zwiefaltens erwähnt Bauer die vier Zwickel am

Langhausfresko, die er als Allegorien benediktinischer (also historisch und selbstreflexiv?)

Tugenden ansetzt, ohne sie aber näher zu spezifizieren. Es sind dies aber ganz sicher

aber fast zeitlos und unbenediktinisch die vier "proprietates Cultus Mariani", also die

Eigen-Wesen-Besonderheiten der Marienverehrung (s.u.), womit sie im Sinnbezug zur

Ganzheit der Ausstattung (zumindest des Langhauses) stehen. Warum diese vier Szenen,

die weltlich-antitypisch mit Stuckplastiken kombiniert sind nicht den (szenisch-

lebendigen?) "Realitätsgrad" des grossen Freskos aufweisen sollen (aber dafür einen

anderen, eher nahsichtigen?), ist nicht klar. Auch hier müsste dieser von Frank Büttner

oben schon problematisierte Begriff wieder mit Fragezeichen versehen werden. Bauer hält

diese Zwickelstücke für "gerahmte Bilder" ohne formalen, systemischen Bezug wie

teilweise bei Matthäus Günther z.B. in Amorbach zum grossen Hauptbild. Aber gerade

diese vier Zwiefalter Zwickel sind noch barocke Allegorien. Ähnlich den emblematischen

Darstellungen haben sie seit jeher eher ihr Eigenleben und Einzeldasein; aber hier gibt es

nicht nur einen sinnvollen sondern auch sinnlichen Blickbezug (s.u. bei van der Meulen).

Während im Falle Neresheim Bauer mit den schriftlichen Dokumenten selektiv umgeht,

zieht er hier weitgehend ohne Kenntnis der Quellen und ohne vertiefte, (selbst-)kritische

Betrachtung der Bilder an Hand benediktinischer und einiger anderer falscher Vorgaben

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und seines theologisierenden Denkrasters den Schluss, dass in Zwiefalten (ein

Menschenalter vor Neresheim) sich historisierende (rational-weltliche) Tendenzen und

eine (distanzierende) Selbstbezüglichkeit ja sogar strukturell feststellen liessen.

Bernhard Rupprecht und Richard Zürcher: die "Bildhaftigkeit" und die "Bahnhofshalle"

'Et audiantur alterae voces': Wenn man vielleicht erwartet hatte, dass Bauer unter dem

Titel "Der ikonologische Stil der Rokokokirche" über die dortigen Fresken als

Bedeutungsträger hinaus mehr aussagen würde, muss man sich dem anderen Sedlmayr-

Kuros, Bernhard Rupprecht, zuwenden, der schon 1959 "Die bayerische Rokoko-Kirche"

als "Sonderleistung des bayerischen Stammes" (!, siehe S. VIII) unter dem einleitenden

Motto Georg Dehios von der Dominanz der Dekoration im Rokoko vorgelegt hatte. Wenn

man sich z.B. die Klosterkirche Holzen (um 1704) ansieht, gab es aber auch schon vorher

einen ähnlichen 'horror vacui'. Rupprecht geht quasi axiomatisch bei einer barocken

Kirche noch von einer Einheit des gebauten, realen Raumes und des gemalten

Scheinraumes im pozzesken Sinne aus. Seine anmutungshafte, selektiv gesteuerte,

kategorisierende Wahrnehmungmethode v.a. des Optischen und Haptischen (hier auch

noch ein Ausgleich, eine Einheit im Barock) in der Nachfolge von Alois Riegl (Adolf

Hildebrand, Conrad Fiedler) verbindet er mit den Dagobert Frey'schen "Realitätsgrade(n)

oder Realtätscharakter(en)" (z.B. Architektur: positiv und ästhetische Qualität, aber auch in

Beziehung zum Theater) und zieht sehr schnell weltanschauliche Schlüsse. Besonders im

zweiten inhaltlichen Kapitel ("Charakter und Schichtung der Bedeutung der Rokokokirche")

tauchen die schon von Bauer her bekannten Schlagworte, Kriterien wie Homiletik,

Heilsgeschichte, Erfüllung der Zeit, Kirche als Himmel und z.B. Rückversicherung: Rokoko

als Hermeneutik auf. In einem dritten Kapitel werden einige konkrete Rokoko-Kirchen

darunter Zwiefalten abgehandelt (v.a. S. 42-46). Ähnlich dem aber die begriffliche

Zuspitzung ablehnenden Richard Zürcher zieht Rupprecht aus seinem Eindruck eines

vorherrschenden Optischen apodiktisch den Schluss, dass in Zwiefalten der Kirchenraum

zum Bildraum geworden sei und dass nur von einem fast pozzesk fixierten Stand-

Blickpunkt in optischer Distanz am westlichen Mitteleingang sich der künstlerische "Gehalt

des Raumes in einer Blickrichtung" (S. 45. - Ein theatralischer Kulissen-Prospektcharakter

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ist zweifelsohne vorhanden) erschlösse. Ein Voranschreiten brächte auch seinen

progressiven Zerfall und im Rückblick würde das auf dem Kopf stehende Langhausfresko

sinnlos, aber dafür die Tonnen-Wölbung als architektonische Form erkenn- und erlebbar

werden, allerdings nun einer Art "Bahnhofshalle" vergleichbar (S. 45, Anm. 50). Innerhalb

des sich dem Betrachter (nur) zeigenden Gesamtbildes stelle sich die gebaute Architektur

selbst mit dar, was wohl mit Bauers "Verweis auf sich selbst" oder Selbstreferenzialität

korreliert. Rupprechts Hinweis in der Anm. 51 bei dem Thema des Langhausdeckenbildes

auf die "ausführlichste" Darstellung bei Bernhard Schurrs Zwiefalter Kirchenführer von

1910 zeigt, dass er neben dem Gesamteindruck nicht viel aus geringerer Distanz oder gar

aus der Nähe sich angesehen hat. Er wiederholt die Legende von den

Marienwallfahrtsorten und schreibt von einem "marianischen Europa" unter

"benediktinischem Himmel". Die vier Zwickel in der Vierung mit den vier Erdteilen und den

vier Elementen bringen ihn dazu, das Kirchengebäude als Welt und als Kosmos (besser

nur Teil oder Allegorie der Welt und des Kosmos) zu deuten. Der Vergleich von

'Zwiefalten' ("Blickrichtung") und der 'Wies' ("Auflösung der Wand"), was beides zum

Eindruck der "Bildhaftigkeit" der Architektur (und letztlich zu einem Auseinanderdriften von

Kunst- und Gebrauchswert) führe, wurde schon von Christine Liebold in ihrer Münchner

Dissertation von 1981: "Das Rokoko in ursprünglich mittelalterlichen Kirchen des

bayerischen Gebietes - ein von maurinischem Denken geprägter Stil" v.a. auf Seite 101f.

etwas kritisiert. Ihre Arbeit ist der Versuch das 'Abgehobene' von Bauer und Rupprecht

vielleicht etwas zu monokausal-historisch wieder herunterzuholen. Zwiefalten kommt

ansonsten bei Rupprecht noch im Hinblick auf die Fassade (S. 49/50), den von

Weingarten weitgehend übernommenen Orgelprospekt (S. 52), die Vierung als nicht

ausstrahlendes Zentrum (S. 91/92), die Emporen nur noch als Motiv oder Zitat von

Osterhofen (S. 77/78) und die noch unten zu behandelnden Beichtstuhl-Bild-

Kombinationen an der Westwand (S. 59, Anm. 68) vor. Kritisch mit Rupprecht und Zürcher

befasst sich Guido Reuter in seiner stil-formgeschichtlichen und glücklicherweise nicht nur

strukturalistischen Düsseldorfer Dissertation: "Barocke Hochaltäre in Süddeutschland

(1660-1770)", Petesberg 2002, v.a. S. 174-180, 261, Anm. 378/79, wo er am Zwiefalter

Beispiel die (flächenhafte?) "Bildhaftigkeit" nicht ganz optimal mit dem "Anschein einer

mittelbaren Nähe" des (entfernten) "Hochaltar(es) zum Betrachter" widerlegen will. Eine

Kritik an der "Bildhaftigkeit" übt auch Harald H.-F.G. Möhring in seiner Stuttgarter

Dissertation von 1992 "Johann Michael Fischers Kirchenbauten", v.a. auf S. 231-234, wo

er auch auf die Anleihe Rupprechts bei einer ungedruckten Münchner Dissertation des

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Hans-Jantzen-Schülers und späteren reaktionären Münchner Kunstakademieprofessors

Harro Ernst (1923-1991) von 1950 mit dem Titel: "Der Raum bei Johann Michael Fischer"

verweist. Man könnte also bei "Bildhaftigkeit" fast von so etwas wie einer 'Verflachung

einer diaphanen Struktur' sprechen.

Ernst Kreuzers ikonographisch-ikonologische Forschungen zu Zwiefalten: eine "Civitas

Dei?"

Nach diesen kategorisierenden Verengungen auf die oft unklar Formales und Inhaltlich-

Mimetisches vermengende Bildhaftigkeit und Architekturauflösung beschäftigte sich Ernst

Kreuzer im Rahmen seiner leider nur maschinenschriftlich veröffentlichten Berliner

Dissertation von 1964: "Zwiefalten - Forschungen zum Programm einer oberschwäbischen

Benediktinerkirche um 1750" auch zuerst ganz positivistisch mit den erhaltenen

Programmentwürfen. Leider sind ihm einige Fehler in der Transkription unterlaufen und

von ihm einige Dokumente übersehen worden. Aus der Themenaufstellung des Abts bzw.

seines Sekretärs konnte Kreuzer gegenüber dem bislang einzigen Gewährsmann Schurr

von 1910 die Presbyteriums- und Mönchschorfresken motivisch ('Hl. Bonitus' von 685 und

Magi/Mayo-Geschichte von 1578) korrigieren. Ein weiteres Konzept zu der "irdischen

Partie" machte auch klar, dass nur eine Szene eine wirkliche Wallfahrt im

Langhausdeckenbild darstellt oder darstellen soll (S. 22). Die von Kreuzer angesprochene

Programmänderung von Christus auf Maria hängt mit einer neuen Planung von Vierung

und Langhaus zusammen und vielleicht auch mit der von ihm erwähnten päpstlichen

"Bulla aurea" vom 27. September 1748, in der Maria für einen "himmlischen Strom von

Gnadengaben in die Herzen der armen Sterblichen" verantwortlich gemacht wurde (S. 23).

Aus dem von Kreuzer als Anhang wiedergegebenen Programmmaterial wird das

Benediktinische sowohl in der Vierung als auch im Langhaus und besonders in den

Zwickeln sehr relativiert. Bei der "Nachfolg" steht für ihn die 'Sonnenblume' als Zeichen

der "Inspiration", aber sie ist - wie ihr botanischer Name 'Heliotrop' schon sagt - eine treue,

gewissenhafte Nachfolgerin hier des Leitsterns Maria. Leider ganz abwegig und

unverständlich ist die Interpretation des Langhausdeckenbildes als explizite Darstellung

der augustinischen "Civitas Dei", des kommenden (eigentlich schon teilweise

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verwirklichten?) Gottesreiches (z.B. nach 20,9,9?) da Kreuzer auf S. 92 selbst sagt, dass

Maria keine besondere Funktion im Gottesstaat habe, und auf S. 96, dass es sich um

einen Einzelfall handele. Nichts in den Programmentwürfen (auch nicht in den

Jubelpredigten von 1789) trotz des bei Martin Gerbert (1767, S. 189) angeführten Besitzes

von 20 Augustinus-Bänden in der Zwiefalterklosterbibliothek deutet auf eine besondere

Rolle des Augustinus (sowieso eher wahrscheinlich z.B. für Augustiner-Chorherren als für

Benediktiner) hin.

Eine Revision der Münsterausstattung von 1992

Erst um 1991, dem 300. Geburtstag von Franz Joseph Spiegler kam wieder etwas

Bewegung in die Zwiefalten-Forschung. Der Autor dieser Zeilen schaute sich im Zuge

seiner Beschäftigung mit dem von Wangen gebürtigen Maler die entsprechenden Faszikel

im Hauptstaatsarchiv Stuttgart noch einmal genauer an, sodass in einem oben genannten

Aufsatz von 1992 die später von Reinhold Halder (Fischer II, 1997, S. 306) teilweise

übernommenen Datierungen, die Bezahlung und die inhaltliche Bestimmung doch noch

etwas korrigiert und ergänzt werden konnten. Wenn auch einzelne Figuren im

Allerheiligenhimmel der Vierung mit der Marienkrönung und -verehrung noch nicht ganz

genau bestimmt sind, haben die Benediktiner darin auf alle Fälle keinen

überproportionalen Anteil. Auch in der fünften, terrestrischen "Partie" des Langhausfreskos

konnten die Einzelszenen der Marienverehrung aus dem Programmkonzept näher

bestimmt und als Marienwallfahrten weitgehend ausgeschlossen werden. Die schon von

Kreuzer angedeutete Orts- und Funktionsbezogenheit der Deckenbilder konnte auch auf

die vier Zwickel des Langhauses mit den vier ganzheitlichen 'Eigenheiten der

Marienverehrung' für das gläubige Kirchenvolk darunter ausgedehnt werden.

"Rhetorische Kunsttheorie" (Markus Hundemer) und die "Nachfolg" in einer syllogistischen

Interpretationsweise

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An der schon genannten Personifikation oder Allegorie der "Imitatio/Nachfolg" als kleines

Beispiel wendet Markus Hundemer die in seiner Münchner Dissertation: "Rhetorische

Kunsttheorie und barocke Deckenmalerei - Zur Theorie der sinnlichen Erkenntnis im

Barock", Regensburg 1997, entwickelte "rhetorische Bildanalyse" an. Diese an Frank

Büttner anschliessende neue (oder alte) Methode wurde von Hundemer bislang aber vor

allem am Beispiel 'Diessen' 'vorexerziert'. Mit ihr wird versucht in Analogie zum

aristotelischen Syllogismus eine inhaltlich-strukturelle Bildlogik nachzuweisen. Auf S. 235,

Anm. 25 beginnt er mit einer Feststellung, dass einer der Zwiefalter Langhauszwickel

bislang nur (zumeist, aber nicht der Verfasser 1992) als "wahre und falsche Kunst"

angesehen werde - "tatsächlich" sei es eine ironische Allegorie der "richtigen bzw.

falschen Nachahmung" - und mit der Unterstellung, dass der zentrale Sinn christlichen

Glaubens sei "himmlische Glückseligkeit zu erlangen". Zum Glück (oder Pech) gibt es ein

schon von Kreuzer angeführtes und hier noch einmal wiederholtes Programmkonzept:

"Imitatio - die Nachfolg. In Gestalt einer schönen jungfrauen, welche das porträt der

Göttlichen Mutter, so ihro ein genius Vorhaltet, in ein Herz nachmahlet. Ein anderer genius

kan einen Spiegl haben". Richtig erkannte nun Hundemer (auch) in einem Ölentwurf oder

eher Kopie (qualitativ von Konrad Wengner), dass wohl Spiegler oder auch Abt Benedikt

Mauz den schon erwähnten Sinn- wie Blickachsenbezug zur Maria im Hauptbild herstellen

wollten. Als nächstes nimmt sich Hundemer die Attribute Pinsel, Maske, Affe, Staffelei,

Farbenreiber, Palette, Herz-Leinwand vor und versucht sie in dem rhetorischen

Begriffsgebäude unterzubringen, um den ironischen Aspekt des "in das Herz/Seele

Malens" mit aller 'argutezza' zu begründen. Dass die schöne, junge Maske (allerdings der

'Welt', vgl. Neresheim) hier als Attribut der 'Imitatio' statt der 'Falschheit' gelten soll, ist

etwas verwunderlich. Diese dunkle 'Welt' wird nicht nur kompositorisch und in optischer

Leserichtung (diagonal von links nach rechts) als Kontrast sondern als "exordium", als

Einleitung einer Argumentationskette, gesehen, die Hundemer mit Alexander

Baumgartens 'sinnlicher Erkenntnis', fast ähnlich dem 'anschaulichen Denken' eines

Rudolf Arnheim, vergleicht. Er kommt also zu einem Ober- oder Untersatz eines

"Bildschlusses": "Irdische Schönheit ist vergänglich, auch im nachmalenden, imitierenden

Affen''; deshalb gilt: "Male himmlische Schönheit in dein Herz". Hundemer macht dann

noch einen Dreischritt: "Folge Himmlischem nach, so wirst Du ewiger Schönheit und

letztlich der [Gnade der] ewigen Glückseligkeit" teilhaftig.

Das Zentrum des Langhausbildes sieht er so damit verbunden, dass die himmlische

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Schönheit über ein Gnadenbild ins Herz von Benedikt gelangt sei. Nach den vorigen

Äusserungen kommt er rhetorisch-theo-logisch zu dem Schluss, dass Benedikt über Maria

zur Heiligkeit und damit in den Himmel gelangt sei ('nulla salus extra Mariam'?, vgl.

'corredemptrix'-Vorstellung). Hundemer sieht Zwiefalten als "wohl" benediktinischer

Marienwallfahrtsort, wo für Wallfahrer wie Konventualen der Anspruch auf "Nachfolge"

(sowohl Mariens wie Benedikts) hochgehalten würde. Als so nirgendwo zu lesender

rhetorisch-logischer 'Hauptschluss' oder 'Satz' käme demnach heraus: "Wer

unvergänglicher Schönheit nachfolgt, der begibt sich auf den Weg zur ewigen

Glückseligkeit". Diese Schluss-Struktur sollte von niemandem formal bewusst durchdacht

werden; der Inhalt des Hauptschlusses sollte sich für den zeitgenössischen Betrachter wie

von selber ergeben, was auch Hundemers Gewährsmann Ernst Ludwig Daniel Huch 1773

einräumt. Das Verfahren sei ein Weg vom Allgemeinen zum Speziellen, ein deduktiver

Syllogismus. Der 'sinn-liche' Denkakt der zeitgenössischen Rezipienten müsse wohl nach

diesem (aristotelischen) Syllogismus erfolgt sein:

1. Schluss: Obersatz: Schönheit Mariens > Himmlisch/nicht irdisch

Untersatz: Himmlisches > Glückseligkeit

Schlusssatz: Schönheit Mariens > Glückseligkeit

2. Schluss: Obersatz: Schönheit Mariens > Lehre Christi/Regel Benedikts

Untersatz: Lehre Christi/Regel Benedikts > Himmlisches

Schlusssatz: Schönheit Mariens > Himmlisches

Die Christus-Nachfolge über Vorbild Mariens ist eine etwas problematische These (vgl.

'corredemptrix').

Gegen Ende (S. 240) sieht Hundemer selbst die Gefahr von Allgemeinplätzen, die nur

durch Einbindung in die spezielle Gesamtprogrammatik bzw. Auftraggebersituation

umgangen werden könne. Im Epilog meint Hundemer durch seine "historische rhetorische

Kunsttheorie" ein umfassendes System als Handhabe bei der Rezeption (und

rekonstruierten Konzeption) im Barock geliefert zu haben, als "kleiner Beitrag zum

Wachstum des gesicherten Wissens von den Zusammenhängen der Details". Hundemers

Eindenken und Einleben in Logik, Ästhetik und Rhetorik, deren Ende im 18. Jahrhundert -

auch am 'Auslaufmodell' des Professors für Logik und Redekunst Huch schon spürbar -

abzusehen war, ist trotz allem bewundernswert.

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Der Autor hat jetzt freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass er in den letzten

15 Jahren doch noch weitere Beiträge zu seiner Methode vorgelegt hat, wie:

„Argumentative Bilder und bildliche Argumentation – jesuitische Rhetorik und barocke

Deckenmalerei“, in: Die Jesuiten in Wien, Wien 2003, S. 261-273; „Zur Wirkmacht der

Bilder bei Pietro da Cortona (1596-1669) und Cosmas Damian Asam“, in: Baroque Ceiling

Painting in Central Europe, Praha 2007, S. 167-176; „Zum Ausstattungsprogramm von

Schloss Kirchheim – neue Überlegungen“, in: Die Welt des Hans Fugger (1531-1598),

2007, S. 177-196. Im ersten angeführten Aufsatz, der einem rhetorisch gegliederten

Vortragstext folgt, kann man z.B. auf Seite 266 zustimmend lesen: „Hier den Beweis zu

führen, daß und wie all diese von den Jesuiten gelehrten und verbreiteten Auffassungen

einer mit scharfsinnigen Bildern arbeitenden Rhetorik tatsächlich Einfluß auf die Praxis der

barocken Deckenmalerei hatten, stellt sich heute leider alles andere als einfach dar“. Das

angeführte Beispiel Wolfgang Andreas Heindls in im benediktinischen Niederaltaich steht

eher für das 'kunstmässige', nicht nur illustrierende 'Übermalen' des wenig sinnlichen,

rhetorisch-theologisch-argumentierenden Gedanken-Text-Skeletts. Die über eine

Selbstäusserung Andrea Pozzos von 1694 zu S. Ignazio, einer 'Sehenswürdigkeit'

(weniger Denkwürdigkeit) in Rom, hinausführende Interpretation Hundemers v.a.

bezüglich des seit alters belebenden wie auch vernichtenden und reinigenden 'Feuers' ist

mehr der Bibelexegese und der Jesuitenordensgeschichte als der rhetorischen Analyse

geschuldet. Der als Vorbild für Pozzo angeführte Stich nach Johann Christoph Storer

belegt die grosse Bedeutung des Bildlich-Augenscheinlichen (auch der Tradition) neben

dem jesuitisch notfalls auch rhetorisch unterlegten Gedanklichen. Auch bei dem zweiten

angeführten Aufsatz zu dem Fugger-Schloss in Kirchheim kann der Rezensent ausser

dem Aspekt des 'Decorum' keine ausgeprägte rhetorische Analyse erkennen. Es bleibt

beim üblichen und sinnvollen ikonographisch-geistes-kulturgeschichtlichen Vor- oder

Nachgehen. Nur im nächsten Aufsatz bei dem Deckenfresko von Pietro da Cortona im

Venussaal des Palazzo Pitti in Florenz begegnen wir auf Seite 171 wieder einem

syllogistischen Interpretationsbeweis:

„Obersatz: Die Familie der Medici läßt ihre Nachkommen in der Regel bzw. wahrscheinlich

von Minerva leiten.

Untersatz: Wer sich von Minerva leiten läßt, wird wie Herkules Ruhm und Unsterblichkeit

erlangen.

Schlußsatz: Also werden die Mitglieder des Hauses Medici ebenso Ruhm und

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Unsterblichkeit erlangen.“

Auch ohne diese Methode würde man die Variation des Herkules-am-Scheidewege-

Themas, die kluge Fürsten-(Früh-)Erziehung zur ätherischen, unsterblich machenden

Tugend und der 'vita activa' gegenüber der 'vita voluptuosa' unschwer erkennen.

Allerdings hat sich diese fromme Absicht bei dem letzten, anfänglich nicht unfähigen

Medici, Gian Gastone (+1737), nicht ganz in diesem Sinne erfüllt. - Das zweite Beispiel mit

Cosmas Damian Asams Deckenfresko 'Allegorie der Kirchenstiftung und -erneuerung'

(1722-23) in Fürstenfeld ist mit Kenntnis von Orts-Stiftungsgeschichte und Ikonologien des

gelehrten Kochs Cesare Ripa und seiner Nachfolger ebenfalls gut lösbar. Für die hier

'repräsentierende Kelle' (als möglicher Hinweis auf den von 1741-1734 regierenden Abt

Liebhard Kellerer oder seinen später tödlich verunglückten Zwillingsbruder und Maurer-

Polier Georg?, vgl. auch das daneben befindliche Wappen) und den - noch etwas

spekulativer - metaphorisch 'zusammenhaltenden Mörtel' – beides dem Bildwitz Asams

entsprungen? - vor der alles bedingenden 'Caritas' (Mariana bzw. Mariae: als casus

genitivus subjectivus und objectivus zu verstehen?, vgl. 1 Kor. 13.13) bei der

'Kirchenbaugeschichte' eines bayrisch-landsässigen Klosters benötigt man sehenden (und

weiterdenkenden) Auges wohl auch kein grösseres rhetorisches Vor-Verständnis. Ob die

in dem Fresko dargestellten Tugenden „so (nur wegen des Marienmonogramms?)

zugleich als spezifisch zisterziensisch gekennzeichnet sind“, muss eher bezweifelt

werden.

Es stellt sich weiterhin nun die Frage, warum solche syllogistischen Strukturen in den

Programmentwürfen (selbst in Niederaltaich) nie offen zu Tage treten, auch kaum

andeutungsweise (z.B. als Enthymeme), wegen der Selbstverständlichkeit?. Trotzdem

wagt Hundemer scholastisch-syllogistisch von zumeist theologischen Axiomen und

Prämissen (vgl. Francis Bacons 'Spinnennetz') auszugehen, übersieht aber mitunter

wichtige Details wie am Zwiefalten-Beispiel den schon von Kreuzer erwähnten Putto mit

der Sonnenblume. Sein Verfahren, sein Versuch einer rhetorischen, am ehesten an

Thesenbildern zu überprüfenden Bildanalyse ist unnötig abstrakt, kompliziert und

gleichzeitig banal, einseitig und eher nur für christlich-nachantike Kunst und allenfalls für

pseudoreligiöse-moralische Herrscherallegorien überhaupt anwendbar. Je

unkonventioneller und kontextloser ein Kunstobjekt uns begegnet, desto weniger ist diese

syllogistische Methode gangbar, ganz zu schweigen von einem möglichen heuristischen

Effekt. Letzten Endes geht es mit darum – wenigstens für den Schreiber dieser Zeilen –

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hinter oder neben einer rhetorisch und auch visuell formelhaften Fassade (und auch

Struktur) einem zugrunde liegenden (u.U. rhetorisch gefärbten) Denken, Fühlen und

Wollen im konkreten Einzelfall etwas näherzukommen. Das heutige Erklären von

Kunstwerken aus dem 'Geist' oder unter der 'Herrschaft' einer nahezu alles umfassenden

Rhetorik führt beim barocken funktionalen Deckenbild – einer Art von stummem,

beeindruckendem, illustrierendem und beweisendem Dauer-Herrscherlob oder -Predigt für

Gehörlose und Leseschwache - oft nur zu Parallelisierungen und terminologischen und

kategorialen Übertragungen. Ohne die Bedeutung der zum intellektuellen

Bildungsgemeingut und zur notwendigen Bildungskompetenz gewordenen Rhetorik

schmälern zu wollen, müssen die immer wieder zum Beweis der engen Verbindung von

Rhetorik und den Bildenden Künsten angeführten Stimmen wie Kardinal Gabriele Paleottis

oder des künstlerisch und schriftstellerisch eher bescheiden tätigen Pariser

Akademiedirektors Charles Antoine Coypel (1694-1752) auf ihren Interessenskontext wie

des rhetorisch geprägten Apologeten eines Bildeinsatzes im Sakralen oder des auf das

Ansehen der Bildenden Künste bedachten 'pictor doctus' eingeschätzt werden. Zumindest

in dem hier überschaubaren süddeutschen Künstlerbereich scheint es niemanden zu

geben, der sich – auch sonst recht schweigsam - zur Bedeutung der Rhetorik für sein

Schaffen äussert. Um das in den letzten Jahrzehnten immens gewachsene Interesse am

Rhetorischen im Bild und die damit verbundenen interpretatorischen Hoffnungen etwas zu

dämpfen, sei zum Abschluss diese Abschnitts noch dies hinzugefügt: „Herausragende

Werke von Architekten und anderen Künstlern, aber auch Dichtern resultierten eben nicht

ausschließlich aus Regeln und Systemen [wie der Rhetorik], sondern zu einem Gutteil aus

Begabung und Inspiration.“ (Ulrich Pfisterer: „Visuelle Topoi um 1600. Annibale Carracci

zwischen voraussetzungsloser Innovation und Tradition“, in: Muster im Wandel: zur

Dynamik topischer Wissensordnungen in Spätmittelalter, hg. von Stefan Manns, Norbert

Winkler, Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung Bd.5, Göttingen 2006, S. 165).

Neben der in einer Anmerkung versteckten Kritik des Schreibers dieser Zeilen (a.a.O.

1998, S. 81, Anm. 92) hatte sich auch der von seiner primär ikonologischen Ausrichtung

eher aufgeschlossene Werner Telesko schon speziell zu Markus Hundemers Buch von

1997 und grundsätzlich zur interessanten Analogie-Problematik von Bild und Wort/Text

geäussert: "Barocke Kunst und Rhetorik - Beobachtungen zu einem methodischen

Schwerpunkt der jüngeren Kunstwissenschaft anhand einiger Neuerscheinungen", in:

Frühneuzeit-Info 10 (1999), Heft 1/2, s. 294-301.

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Exkurs: Das Fresko von Johann Zick im 'Fürstensaal' des Bruchsaler Schlosses -

Anmerkungen zu einem Aufsatz Frank Büttners von 1989

Auf ein weiteres, aus dem profanen Bereich stammendes Beispiel eines 1751 zur Zeit des

Fürstbischofs Franz Christoph von Hutten (reg. 1743-1770) 'ausgemalten Syllogismus' im

rekonstruierten 'Fürstensaal' des Bruchsaler Schlosses verwies schon 1989 der zuvor

mehr der historischen und ikono-graph/log-ischen Richtung verpflichtete Frank Büttner in

seinem Aufsatz: "Rhetorik und barocke Deckenmalerei - Überlegungen am Beispiel der

Fresken Johann Zicks in Bruchsal", in: Zeitschrift des deutschen Vereins für

Kunstwissenschaft, Bd. 43, 1989, Heft 1, S. 49- 72, v.a. S. 68/69. Einen solchen

Syllogismus 'liest' er aber weniger 'intuitiv' aus dem Gemälde sondern aus einer 1756 vom

Maler Johann Zick selbst im Auftrag des Fürstbischofs verfassten (und wohl erst um 1758)

gedruckten nachträglichen 'Erklärung' 'zusammen': "Ein sicheres Regiment,

Wissenschaften und Handel sind die Grundpfeiler, ohne die kein Staat leben kann. Das

Bistum Speyer kann sich ihrer in besonderem Maß rühmen. Deswegen ist festzustellen,

daß Speyer durch sothane Eigenschaften sich der Nachwelt unsterblich und seine Zeiten

glücklich macht". Etwas formalistischer auch hoffentlich im Sinne Markus Hundemers

könnte der Syllogismus so (in der 'ersten Figur' oder auch anders) lauten: gute Regierung,

Fruchtbarkeit (in Kultur, Wissenschaft und Natur) und Wirtschaft bringen Glück und

Wohlstand; das Hochstift Speyer zeichnet sich durch gute Regierung, Fruchtbarkeit und

Wirtschaft aus; also sorgt das Hochstift Speyer für Glück und Wohlstand. Dass "durch

sothane Eigenschaften" sich Speyer "der Nachwelt unsterblich" mache, müsste noch in

einem zweiten Syllogismus 'bewiesen' werden.

Nun deuten solche Sätze auf im Barock weitverbreitete Topoi, Stereotype des auch

verpflichtenden Lobes des Landes und natürlich seiner Herrschaft. So oder ähnlich

müsste das 'Urmotiv' des 'Fürstensaales' (quasi Ahnen- und Empfangssaal) zuerst einmal

gelautet haben, das der Fürstbischof von Hutten Zick um 1750 vorgegeben haben dürfte

mit Hinweis auf weitere Details wie die Salzgewinnung in Bruchsal selbst (Grundstein für

die Saline Juni 1748). Die von Büttner zum angeblichen Beweis einer Ideenlieferung durch

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Zick angeführte herkömmliche Freskobezeichnung "invenit et pinxit 1751" hätte jeder

Barockmaler auch bei einer Umsetzung eines Programmes aus fremder Feder

angebracht, da mit dieser Formulierung primär die bildkünstlerische Erfindung gemeint ist.

Büttner geht aus dem Gefallen des Würzburger Fürstbischofs "sowohl (an) den gedanken,

als (an dem) Colorite" davon aus, dass Zick zumindest bei der 'Sala Terrena' (Speisesaal)

in der Würzburger Residenz August 1749 das allerdings einfache Thema "Göttermahlzeit

und Jagdgesellschaft' selbst vorgeschlagen hat. Dies ist nach der von Büttner selbst

("Giovanni Battista Tiepolo - Die Fresken in der Residenz zu Würzburg", Würzburg 1980)

und Peter Stephan („Im Glanz der Majestät des Reiches“. „Tiepolo und die Würzburger

Residenz - Die Reichsidee der Schönborn und die politische Ikonologie des Barock“, 2

Bde., Weißenhorn 2002) analysierten sonstigen anspruchsvollen Gesamtplanung

eigentlich etwas erstaunlich. Leider geht Büttner der wichtigen Frage der Ideen-

Urheberschaft in oder für Bruchsal nicht weiter nach und lässt sie offen. Die gedruckte und

gegenüber dem Augsburger Verleger Johann Daniel Herz d. J. erwähnte, leider nicht alles

behandelnde oder manches verschweigende 'Erklärung' spricht für Zicks - als Künstler

eher ungewöhnliche - Rolle des Konzeptors, obwohl sich in seinen davor liegenden

Werken solche Fähigkeiten kaum angedeutet haben. Andreas Felix Oefele hatte Zick

schon ab 1735 im Visier und ihn als nicht sehr begabten, aber sehr um Weiterentwicklung

bemühten Maler geschildert (vgl. Barbara Strieder: Johann Zick 1702-1762 - Die Fresken

und Deckengemälde, Worms 1990, Diss. Würzburg 1987, S. 262/63). Auch Zicks spätere

Beschäftigung als Mathematiker und Mechaniker mit seiner Planetenmaschine deutet auf

ein weiter gespanntes geistiges und nicht nur ökonomisches Interesse. Gar nichts

erfahren wir von Oefele über die Schulbildung als Sohn eines nicht ganz unvermögenden

Schmiedes aus dem Kemptischen. Wenn Zick - wieder nach den Aufzeichnungen Oefeles

- vor dem gänzlich nachwirkungslosen angeblichen Aufenthalt bei Piazzetta in Venedig

drei Jahre bei Jakob Carl Stauder erst um 1720 bis 1722 als 18- bis 20jähriger aus Mitleid

hat lernen dürfen, bliebe eine gewisse Spanne für eine höhere Ausbildung an einer

Klosterschule oder gar einem Gymnasium (z.B. in Konstanz) gut vorstellbar. Dafür

sprächen auch die bei Strieder (S. 263-273) nachzulesenden Dokumente im Streitfall mit

dem zahlungsunwilligen Pfarrer von Bergkirchen, die 1743 in einer mit lateinischen Zitaten

gespickten, eigenhändigen (und eigenverfassten?) juristischen Eingabe Zicks vor dem

Salzburger Erzbischöflichen Konsistorium gipfelten. Zick, der auch schon 1726 bei seiner

Hochzeit als Herr bezeichnet wurde, dürfte deshalb - um für Büttner zu sprechen - mit

Rhetorik einschliesslich der genera dicendi und der nacharistotelischen Logik (Urteile,

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Schlüsse, Beweise u.ä.) vertraut gewesen sein. Trotzdem hatte seine Kunst im Figürlichen

und im Detailrealismus immer etwas Bäuerliches, Primitives und unfreiwillig 'Mediocres'

oder gar 'Humiles'. Auffällig ist aber die Qualitätssteigerung v.a. im Hell-Dunkel in

Bruchsal, die weder mit der Mitarbeit des viel begabteren 19jährigen Sohnes Januarius

noch mit einem Griff in die theoretische und praktische 'Rhetorikkiste' sich wirklich erklären

lässt. Zick war auf jeden Fall durch die anspruchsvolle Aufgabe herausgefordert und dürfte

zuerst einen Modello wie für das zeitlich folgende Treppenhausfresko (vgl. Würzburg,

Mainfränkisches Museum) angefertigt haben. Es ging für Zick also darum ein

beeindruckendes, überzeugendes, 'schlüssiges', szenisches Bild-Gedankengebäude oder

- wie er selbst sagt – „durch ...Poetische Gedichte die glorwuerdigste Beherrschung,

Fruchtbarkeit und den Commercien=Flor des Hochfuerstlichen Hochstiffts“ an/über der

Decke des Fürstensaales zu entwerfen und zu errichten. Neben dem Realtheater des

höfischen Zeremoniells in diesem Raum sollte man noch ein weiteres, fiktives 'Theater

über Kopf', eine Überhöhung ('more rhetorico' wohl eine 'amplificatio'), erleben (können).

Zick orientierte sich bei dem alten Thema des 'Guten Regimentes' und der damit

verbundenen Wohlfahrt des Landes an Vorbildern (für das Treppenhausfresko erwähnt

Büttner nach Peter Hering Paul Deckers 'Fürstlichen Baumeister') und vor allem an

humanistischen Sammlungen von Mythologie, Emblematik und Ikonologie. Aber daneben

hatte der Maler eine grundlegende, von ihm nachträglich nicht kommentierte, rhetorisch

wohl eine 'dispositio' zu nennende Entscheidung zu treffen, ob wie kurz darauf in

Nymphenburg, Steinerner Saal durch Johann Baptist Zimmermann oder durch Tiepolo im

Würzburger Treppenhaus ein reines, oft idyllisch-paradisisch erscheinendes Himmel-

Landschaftspanorama gewählt werden sollte, oder ob wie in der älteren Tradition Pozzos

und Asams eine den leicht querovalen Raum überhöhend fortsetzende und

zentralisierende architektonische Anlage zum 'optischen Tragen' kommen sollte, die Zicks

Naturell und Können eher entsprach, und die auch mit dem kirchenvierungsähnlichen

'Obergeschoss' samt den vier unterschiedlich grossen Exedren als einer geistlichen

'Landschaft' eher angemessen (πρέπον, aptum) empfunden werden konnte. Die Folge

war, dass der Maler nun eine wirklich quadratische Basis für die klassische Verteilung in

die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente, die vier natürlichen Güter des Landes

(Wein=Wasser?, Korn=Feuer?, Salz=Erde? und das schnelle, animierte Wild=Luft?)

gewonnen hatte. Die über Eck gestellten Pfeiler mit vier Nischenfiguren (vier Erdteile,

Temperamente o.ä.) leiten über das Achteck zu einer geöffneten Kuppel eines

Zentralbaus (ähnlich dem Rundtempel der Weisheit?) über. In dem imaginären, schon

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ätherischen Kuppelraum schweben auf Wolken relativ niedrig Gestalten der antiken

Mythologie wie Merkur und Minerva (Pallas Athena? aber ohne Aigis), die Tüchtigkeit,

Weisheit, Förderung u.ä. 'verkörpern', während gegenüber durch Saturn, Mars, Fortuna

und Pluto eher das Vergängliche, Bedrohliche, Zerstörerische angedeutet zu sein scheint.

Ihnen zugeordnet auf der unteren schmäleren exedrischen Ebene befinden sich die

wechselnden vier Jahreszeiten in etwas aussergewöhnlicher Gestalt einer Musikergruppe

und gegenüber in der Hauptansicht Vertreter der Künste (Malerei, Architektur, Plastik und

Musik) und Wissenschaften. Im "gloriosen" Zentrum mit einem an einen Regenbogen

erinnernden, jährlich wiederkehrenden 'κύκλος ζῳδιακός' oder Lebewesen-Tier-Kreis

befindet sich der alles überstrahlende Sonnengott Apoll auf seinem den ewigen Wechsel

von Tag und Nacht andeutenden Pferdewagen (Auriga nur als Biga). Nicht nur für den

ersten ('coup d'oeil'), räumlichen Eindruck ist das 'vom Dunkel zum Licht' ('per aspera ad

astra', vom Niederen zum Höheren, u.ä.,) und umgekehrt, inversiv auch vom Geistig-

Spirituellen-Ethischen ins Materielle Reichende in einer kosmischen Ordnungs-Vorstellung

bedeutsam. Bis hierher wird wohl jeder noch einigermassen klassisch-humanistisch

Getrimmte (oder "Halb-Gescheide") damals und heute gefolgt haben können, auch ohne

Kenntnis der klassifikatorischen Rhetorik und ausdrücklichen Zuhilfenahme einer

aristotelischen Logik.

'Diapositive' Annäherungen und die Lektüre der nützlichen 'Erklärung' geben dem bislang

etwas unscharfen, allgemeinen Bild auch korrigierend noch weitere, detaillierte,

speziellere inhaltliche Konturen, wobei diesmal vom bedeutungshierarchischen Zentrum

zur Seite und nach unten ausgegangen werden soll. Ein solcher Leserichtungswechsel

der im 'fruchtbaren Moment' omnipräsenten und beliebig 'absehbaren' Malerei ist vielleicht

noch im verfremdenden Kunstgriff des 'Krebses' in der Musik aber kaum in dem nur durch

Wiederholung oder Rückblättern aufhaltbaren einseitigen Fluss der vorgetragenen oder

aufgeschriebenen Rede möglich. Lorbeer-(statt Oliven-?) zweig , Pfeil und Bogen zeigen

nun Apollo dualistisch als Friedens-Eintracht- und gleichzeitig als Strafen-Krankheiten-

Todbringer. Zick gibt selbst in seiner Erklärung für den das Licht der allvermögenden

Natur verkörpernden Apoll noch "Symbol des grossen Fürsten mit seiner Güte und

Schärfe" (also etwa clementia und potestas?) an. Als Apoll, Sol invictus u.ä. werden aber

zumeist nur die höchsten, fast absoluten Herrscher wie der Sonnenkönig Ludwig XIV, die

habsburgischen Kaiser bis zu Christus quasi lebendig 'verstirnt'. Ob auch auf den unter

dem Papst und dem Kaiser stehenden Reichsfürsten, Bischof und später sogar Kardinal

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von Hutten aus der niederadeligen Ritterschaft wie immer wieder nach dem Büttner-

Aufsatz von 1989 angespielt werden soll, ist auch durch das Folgende eher fraglich.

Wahrscheinlich ist mehr allgemein Herrschaft, das natürliche und ethische

Herrschaftsprinzip (z.B. Jean Bodins 'puissance absolue') gemeint. Das Pommersfelder

Treppenhausfresko von Johann Rudolf Byss aus dem Jahre 1719 steht z.B. unter dem

Motto "wie die Sonne die Welt, also zieret die Tugend den Menschen". Im Würzburger

Treppenhausfresko von Tiepolo aus den Jahren 1752/53 sieht Peter Stephan (2002, S.

172 ff) Apollo als Verkörperung des Kaisers und des Reichsgedankens und nicht des

Würzburger Fürstbischofs und titulären Herzogs von Franken. Auch in Bruchsal scheint

eher Merkur in die Rolle der Bruchsaler Fürstbischöfe (v.a. von Huttens; aber ohne ein

sprechendes Wappen oder Porträtähnlichkeit) ehrenhalber schlüpfen zu müssen.

Interessant für 'Bruch-sal' (nach moderner Etymologie allerdings wohl 'Mooriges Hofgut')

ist auch das Motto eines Würzburger Hofkalenders von 1747 in Anbetracht der barocken

Wortspielsucht: "E domo solis patriae salus". Ein damaliger Betrachter könnte auch gleich

noch dabei das 'Salz in der rhetorischen Suppe', den Witz (vgl. Cicero, De oratore 1,159

oder De officiis 1,133), gefunden haben. Ohne die 'Erklärung' Zicks bereitet die demütig

aufschauende, kniende weibliche Figur Figur links von Apollo (in der 'Erklärung' immer

alles heraldisch vom Herrscher-Zentrum aus gesehen) mit Mauerkrone auf dem Haupt als

"Nymphe, welche den Lorbeer-Zweig Apollonis zu küssen trachtet", vielleicht schon einige

Schwierigkeiten in der Benennung als der Demeter ähnliche Verkörperung der 'Terra'.

Eine kleinere dazugehörige Figur mit einer Landkarte, worauf Bruchsal als Hauptstadt

eingeschrieben ist, markiert wohl gezielt das Territorium des Klein-Bistums Speyer.

Daneben schweben die im Lande 'herrschende Gerechtigkeit', wobei in der einen

Waagschale ein Palmwedel des Friedens und in der anderen ihr Richtschwert liegen, das

von dem darunter befindlichen Militär-Polizei-Gott Mars in Begleitung der säulenhaften

'Stärke' ergriffen wird, und die 'Hoffnung, Zuversicht' mit ihrem Halt gebenden Anker. Die

zutrauliche Taube auf der Schulter der 'Friedfertigkeit, Zufriedenheit' der Landeskinder

komplettiert dieses Wunschbild der Obrigkeit. Auf der vom Betrachter aus gesehen

rechten Seite befindet sich die 'göttliche Providentia' mit ihrem Augen- und zusätzlichem

Schlangenszepter der allsichtigen Klugheit, das sie nach Zicks 'Eklärung' Apollo reichen

will, als weise, vorausschauende Vorsehung. Das nach den alten Abbildungen wie ein

Gorgonen-Schild und Speer als Attribute der Pallas Athena aussehende Gebilde zu ihrer

Rechten wird auch in der 'Erklärung' nicht ausdrücklich erwähnt. Dass nun drei Genien in

der Mittelachse mit dem Fürstenhut, der Mitra und dem Lorbeerkranz ihre Würden-

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Mitbringsel dem eher thronenden Merkur mit seinem Wunder- und Glücksbotenstab

aufsetzen wollen, ist optisch erkennbar und in der 'Erklärung' aber doch nicht ausreichend

nachzulesen. Es wird damit auf den Fürsten, den Bischof und den Gelehrten angespielt,

was alles auf von Hutten als Patron oder fast als ein 'alter Mercurius' zutreffen soll, der

genau in der Achse unter Apoll in dieser Hauptansicht den optischen wie wohl thematisch

tieferen Schwerpunkt bildet. Marsilio Ficino erklärt nun seit 1493 im Vorwort des von ihm

herausgegebenen 'Corpus hermeticum' („Mercurii trismegisti, Liber de Potestate et

Sapientia Dei, cui titulus Pimander...“) damals auch mit Blick auf Florenz und Cosimo de'

Medici den Merkur-Hermes-Beinamen 'Trismegistos' noch dadurch, dass dieser

'Menschenhirte' zugleich als der größte der Philosophen, Priester und Könige aufgetreten

sei. Hier scheint sich auch eine Spur zu Esoterik, Alchemie und Freimaurertum aufzutun.

Eine quasi personale, wenn auch wie hier sehr barock-'hermetische' Verknüpfung von

Merkur und Landesfürst (als 'novus Mercurius ter maximus') ist allerdings sehr

ungewöhnlich. Dagegen könnte man etwas platt modern sagen, dass von Hutten als

cleverer Wirtschafts-Wissenschafts-Wohlfahrts-Förderer-Vermittler seines Landes (nach

1752 Tabakfabrik, später auch einer Spitzen- und Spinnfabrik) - vielleicht sowohl als

Physiokrat wie als Merkantilist - anzusehen ist, wenn man auch noch die im 18.

Jahrhundert üblichen Etymologisierungen von Merkur mit merx: Anteil, Handelsgut und mit

merere, meritum: Verdienen, der/das Verdienst erwägt. Merkur, der etwas zwielichtige

Sohn Jupiters und austricksende Bruder des Apoll, wird als Bote der Götter, als - was wohl

Frank Büttner freuen wird - Gott der gewandten Rede und der Redekunst, Erfinder der

Lyra und der Syrinx, guter Hirte, Geber des Wohlstandes, Gott des Handels und der

Diebe, der List und des Verkehrs und als Reisebegleiter der abgeschiedenen Seelen

'gehandelt'. Nun hat aber Zick ihn noch mit "seinem Feind Argus" abgebildet, sodass ein

Blick in mythologische Lexika (z.B. Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches

Lexicon, 1. Auflage 1724; in der späteren 2. Auflage von 1770, Sp. 401 ff unter 'Argus'

oder 'Panoptes' mit seinem hundertäugigen Kuhfell) folgendes ergibt: Nach Natalis Comes

verstanden "andere ... durch den Argus und seine vielen Augen die Lüste der Jugend,

durch den Mercurius aber die gesunde Vernunft, welche endlich von Gott erwecket wird,

daß sie besagte Lüste tötete" oder nach dem Jesuiten Jacob Masenius, Speculum

imaginum veritatis occultae, Köln 1681, "da Mercurius die Sonne, Argus aber der gestirnte

Himmel ist, dieser von jener jederzeit verdunkelt und mithin gleichsam getötet werde". Es

dürfte ersteres zutreffen, da sich der übertölpelte und eingeschläferte Argus den (von

Merkur später abgeschlagenen) Kopf der Unvernunft, Gier, Verblendung, Dummheit,

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Phantasterei u.ä. fast wie im Sturze der Laster zu halten versucht. In diesen

Zusammenhang passt auch die speerbewaffnete und brustbepanzerte Minerva, die Göttin

der Klugheit, der Künste und Wissenschaften, als helfendes Gegenmodell.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist der von Zick selbst beschriebene humoristische

Einfall zu sehen, dass die diesmal dezent bekleidete Fortuna' dem Saturn dessen

Stundenglas der unveränderlich fliessenden Zeit wegnehmen will. Ob der Maler damit

ausdrücken wollte, dass das unbeständige, vergängliche Glück hier die Herrschaft über

die Zeit wenigstens für eine Weile an sich zu reissen versucht, ist zu vermuten. Im

gegenüberliegenden Marmorsaal gelingt es Merkur die Zeit zu überwinden, indem er die

Sense und das Stundenglas des Saturn zerbrechen und die 'Fortuna' sogar fesseln lässt.

Die schon kurz erwähnten, am unteren Bildrand befindlichen vier Jahreszeiten (Frühling:

Krummhorn; Sommer: Oboe; Herbst: Dudelsack; Winter: Triangel; eine Darstellung der

Lebensalter ist nicht eindeutig erkennbar) weisen mit den flüchtigen Tönen der Musik

ebenfalls in Richtung Vergänglichkeit, Veränderlichkeit. Von Zick nicht extra angesprochen

wird der neben der 'Fortuna' befindliche, ambivalente Gott der Unterwelt, der verborgenen

Schätze, des Reichtums, Pluto, mit seiner Zackenkrone und seinem Zweizack.

Gegenüberliegend unter Minerva und Merkur entfalten sich die ebenfalls schon genannten

Künste (Malerei, Architektur, Bildhauerei und Musik) und Wissenschaften (als Basis die

Arithmetik-Mathematik, darüber Geometrie und Astronomie?, mit Buch wohl Philosophie,

Poesie und rechts aussen die Musik mit einem Saiteninstrument, insgesamt aber wohl

keine genaue Entsprechung der herkömmlichen sieben "freyen Künste"). Von den bei Zick

gut erklärten vier Eckdarstellungen, die für die Hauptprodukte des Bistums stehen: Korn

(Ceres, Pan), Wein (Satyrn), Wild (Diana, Faun) und Salz (Kybele als Salzquelle, Vulkan

als Salzsieder), ist allenfalls letztere originell und speziell.

Man kann fast behaupten, dass das Fresko eine allgemeine erste und eine spezielle (auf

Bistum Speyer, Bruchsal und von Hutten) zielende metaphorische Ebene besitzt, die man

aus dem Bild und der 'Erklärung' direkt und ohne grössere syllogistische Anstrengungen

herauslesen kann. Nun fragt man sich, ob die letzten vier Abschnitte der 'Erklärung' noch

neue v.a. auch mögliche rhetorische Aspekte bringen: Neben der guten und weisen

Herrschaft und deren Einfluss wird anfänglich der Einfluss der (natürlichen?)

"Fruchtbarkeit" genannt, während im zweiten zusammenfassenden Teil der 'Erklärung'

eher auf die geistige, kulturelle 'Fruchtbarkeit', die "Wissenschaft", abgehoben wird. Ein im

Gemälde natürlich nicht direkt zum Ausdruck (zu) kommender Punkt ist die

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Aussenwirkung (auf den Betrachter, Besucher, Fremden) dieser weisen Herrschaft und

ihrer Auswirkungen, wobei nur schriftlich auch auf die „Roemische Republique“ (das

vorkaiserliche und noch nicht heilige Romanum Imperium?) zurückgegriffen wird. Im Text

klingt weiterhin die "Milde (Gnade) eines Schöpfers" an, im Bild allenfalls hinter der

'Providentia' und Apollo zu vermuten. Abgesehen von der Mitra findet sich kein direkter

Hinweis auf das 'Katholisch-Geistliche'. Der nachzulesende rhetorische Verzicht (eine Art

'omissio'?) auf die „schmeichelnde Ausdruckung“ oder „erdichtetes Lobsprechen" kann

man am oder im Bild vielleicht durch den weitgehenden Verzicht auf direkte Anspielungen

auf von Hutten nachvollziehen.

Am Schluss fragt man sich, ob der von Frank Büttner eingangs aus den nachträglichen

'Erklärungen' Zicks herausgezogene Syllogismus neben eher selbstverständlich

mitzudenkenden 'Beherzigungen' (Enthymemata) auch aus dem Gemälde direkt hätte

gewonnen werden können, wie: Das Land, Bistum Speyer befindet sich unter einer

günstigen strahlenden Sonne und Geschick und floriert in Kunst, Wissenschaft,

Landwirtschaft und Handel unter einer weisen, fördernden tüchtigen und tugendhaften

geistlichen Herrrschaft (und möge noch lange florieren). Der im metaphorisch denkenden

Barock übliche Ansehens-, Ruhmes- und Unsterblichkeitsaspekt (auch im

gegenüberliegenden Hauptraum als Thema) wird im Gemälde nicht deutlich und wäre

auch mit der 'Gegenwart' als Generalthema des 'Fürstensaals' bei Büttner (S. 69) nicht

ganz kompatibel. Es fehlen deshalb v.a. 'Fama', 'Honor', o.ä.. In der Tugend-Ebene ist

allerdings immer die Unsterblichkeit mit angedeutet. Das von Büttner gewählte Beispiel

einer innovativen, heuristischen rhetorischen Analyse wäre also etwas 'überzeugender',

wenn zuerst nur aus dem Gemälde rhetorische Strukturen und Inhalte 'herausgelesen'

worden wären, um sie anschliessend mit den auch auf ihre Rhetorizität zu

untersuchenden 'Erklärungen' Zicks zu vergleichen, zumal wenn beide aus einer Hand

oder einem Kopf stammen sollen. Büttners am Ende seines Aufsatzes formulierter

richtiger und auch hier immer wieder aufgegriffener Ansatz einer Rekonstruktion der

ursprünglichen, historischen Rezeptions- (und Produktions-) bedingungen, zu denen das

Rhetorische gezählt werden muss, sollte aber nicht dazu verleiten bei einem Kunstwerk

das dem Theoretisieren nähere Rhetorische zum vorrangigen Ausgangs-, Stand- oder

Zielpunkt (warum nicht: „Barocke Deckenmalerei und Rhetorik“?) statt zu einer (auch

korrigierenden) interpretativen Erweiterung zu machen. Inhaltlich hat sich in der

interessanten und auch überlegten Büttner-Analyse dieses Deckenbildes auf seine

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rhetorischen Elemente soweit erkennbar ausser einer Art von Pleonasmus kein wirklicher

Mehrwert ergeben. Vom Rhetorischen (hin-)aus denkend schreibt Peter Stephan (2002, S.

274) - und wieder auf den Zick-Konkurrenten Tiepolo in Würzburg gemünzt - , dass man

dort "... die von der antiken Rhetorik geäußerte Meinung geteilt zu haben scheint", die

Goethe Famulus Wagner in Faust I sagen lässt: 'Allein der Vortrag macht des Redners

Glück'. "Auf den artifex poeta übertragen heißt dies, daß künstlerische Qualität und guter

Erzählstil ebenso [oder mehr] überzeug[t]en, wie der pedantisch [syllogistisch]

ausformulierte Gedanke" ... als Mittel der 'persuasio'". Nicht zuerst Änderungen des

reglementierten Hofzeremoniells und seiner ihm eigenen (rhetorischen)

Kommunikationsformen - wie Büttner konstatiert - sondern der durch die Aufklärung in

Gang gesetzte Wandel im (Selbst-) Verständnis des Herrschers zum ersten Diener im

(Verfassungs-) Staate u.ä. haben neben dem Ökonomischen dem barocken höfischen

Deckengemälde später den passenden Grund oder auch im bildlichen Sinne die Spitze

entzogen. Bei den hier an dem Bruchsaler Beispiel vor allem durch einfache Nach-Schau

und -Denken gewonnenen, bildlich "praesupponiert(en)" Urteilen oder Schlüssen

interesssiert vor allem noch ihre Richtigkeit und ihre geistesgeschichtliche Bewertung. Die

äusserst materialreiche, aber teilweise redundante und in manchen Urteilen (z.B.

Gottesgnadentum und Gottgleichheit; Einschätzung von Neresheim und Wiblingen) nicht

immer zutreffende Untersuchung von Ursula Brossette: Die Inszenierung des Sakralen -

das theatralische Raum- und Ausstattungsprogramm süddeutscher Barockkirchen in

seinem liturgischen und zeremoniellen Kontext, Weimar 2002 (Diss. Marburg 1998)

bewegt sich mehr in der Nachfolge von Werner Weisbach, Dagobert Frey, Hermann Bauer

u.a. und berührt das hier interessierende Verhältnis des der Bildenden Kunst viel näheren

Theatralischen zum Rhetorischen leider nur am Rande (v.a. S. 305, 363-65, 400, 507).

Geht es letztlich nicht bei allen optisch-haptischen Artefakten und nicht nur denen des

Barock und seiner ausdrücklichen Rhetorik darum im öffentlichen Raum sinnlich,

emotional und rational (narrativ oder argumentativ) eine (herrschende) (Wunsch-)

Vorstellung von Welt (und Selbst) nachzuzeichnen, abzugeben, zu erklären, begründen,

bewahren, beeinflussen, zu überhöhen …?.

Weltsinn und Sinneswelten (Nicolaj van der Meulen I)

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Eine ganz andere, eigentlich selbstverständliche Weise, der jeder - auch der moderne

Agnostiker - sich in einem Sakralbau und noch mehr im Kult zu allen Zeiten aussetzt,

schlägt der in Kunstgeschichte, Philosophie, Kirchengeschichte und Theologie

ausgebildete Gottfried-Boehm-Schüler und jetzt selbst in Basel lehrende Nicolaj van der

Meulen mit seinem im Internet verbreiteten, unter die "Gott-Lobende Frühlingslust" der

protestantischen (!) Catharina Regina von Greiffenberg aus dem 17. Jahrhundert

gestellten Aufsatz: "Weltsinn und Sinneswelten in Zwiefalten" (http://www.kunsttexte. de

1/2001) vor: die ganzheitliche Erfahrung, das Erlebnis von bzw. in Zwiefalten. Auch die

Gegenwartskunst von Installation und Environment und die vergleichenden

Untersuchungen mit dem Barock durch Oliver Grau und Franz Burda-Stengl wirkten sich

auf den Autor aus und nicht zuletzt ein Ausspruch des Basler Altmeisters der

Kunstgeschichte, Heinrich Wölfflin, von der "Unerschöpflichkeit der möglichen Bilder", was

das prozessuale, eher filmisch wechselnde menschliche Seherlebnis wohl andeuten soll.

Nach einem anmutungshaften dynamischen Ersteindruck v.a. des einem "tosenden Meer"

ähnlichen Langhausdeckenbildes nach Karsten Harries (die übersetzte Neuauflage "Die

bayerische Rokokokirche - Das Irrationale und das Sakrale", Dorfen 2009 folgt immer

noch der Sedlmayr-Schule) und einem allerdings nicht verwendeten Lepanto-ähnlichen

Konzeptvorschlag weist van der Meulen im Abschnitt "Raum oder Bild" völlig zu Recht die

nicht vom unmittelbaren Erlebnis, sondern vom statisch-distanzierten Foto und von

Äusserungen Fiedlers, Hildebrands, Denis' und anderer geprägte flächige Auffassung mit

der verengenden Überbetonung eines photographischen Sehsinnes statt einer

Kinästhesie durch Zürcher, Rupprecht und Bauer zurück. Wenn diese letzteren gerade

auch Bezüge zum barocken Theater herzustellen versuchen, so verwundert, dass sie

nicht die Interaktion des zumindest damaligen Gläubigen in 'Aktionsstücken' der

katholischen Riten bedacht haben. Die Auflösung in Teilansichten, die Unmöglichkeit des

Überblicks, allenfalls von einem Weststandpunkt wirkt wie ein theoretisches Konstrukt

gegenüber der erlebten Wirklichkeit und eines synthetisch-prozessualen

Gesamteindrucks.

Im nächsten Abschnitt "Narration im Innenraum" spricht der Autor - allerdings nur für das

Langhaus gültig - die Macht, Kraft ('enérgeia') des Gnadenbildes als wichtiges Thema an,

wozu er auch anscheinend die Festschrift zur Jubelfeier von 1789 und den Predigtbeitrag

des Ehinger Superiors und Malerbruders, Fidelis Wetz, zitiert, der die Kraft eines Urbildes,

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einer zahllosen Reihe der Kinder als deren "Abschilderung" - also das frühchristliche

Marienbildnis und seine Kopien, Ableger - angesprochen hatte. Weniger richtig liegt wohl

van der Meulen, wenn er bei Johann Nepomuks Hauntingers treffender Äusserung von

1784 (S. 143), dass die Kirche eine "halbe Galerie " darstelle oder besitze, die Altarbilder

als Lichtreflexion, als Abbilder des Gnadenbildes ansieht. Weiter erwähnt er Ernst

Kreuzers Verdienste um die Aufschlüsselung der Inhalte der Fresken, wobei er dessen

schon bekanntes Résumé eines Abbildes des augustinischen Gottesreiches durch den

Hinweis auf die Thematik der anderen Fresken zu Recht zurückweist, um auf den

Marienkult durch Benediktiner und andere Orden abzuheben.

Im nächsten Abschnitt: "Bildrhetorik als Methode" werden die rhetorischen Analysen von

Frank Büttner oder Heinfried Wischermann, die Vorstellung von "Inventio" als

Programmentwurf, "Dispositio" als Verteilung und Anordnung, "Elocutio" als bildnerische

Ausführung mit Hinweis auf Christian Hechts "Katholische Bildertheologie" und dessen

Vorsicht vor Parallelisierungen und der Problematik von Wort- und Bild-Gleichungen in

Frage stellt. In Anm. 34 erwähnt er Frank Büttners schon erwähnte Forderung von 2001

nach einer primären Erforschung des historischen Kontextes (auch diesseits und jenseits

von Rhetorik). In der nächsten Anm. 35 findet sich eine Kritik an Hundemers

Beweisführung der "Imitatio" mit der Frage nach einem wirklichen Erkenntnisgewinn. Im

übrigen sehe er in der 'rhetorischen Bildanalyse' die Gefahr einer Schematisierung und

eher eine Erschwerung der sprachlichen Übersetzung eines Kunstwerkes durch das

rhetorische Vokabular. Die oft an die Stelle der Ikonographie/Ikonologie getretene

Bildrhetorik suggeriere eine Pseudonähe zum Kunstwerk, das auch eine eigene

bildnerische Syntax besitze und nicht durch Sprache ersetzbar sei. Über den von Heinfried

Wischermann zitierten Ausspruch Adolf Feulners, dass im Barock der Inhalt alles und erst

in zweiter Linie die künstlerische Form zu gelten habe, hätte sich der Leser noch eine

weitere Diskussion gewünscht, vgl. aber z.B. Bernhard Schurrs Äusserung der "höchsten

Virtuosität" oder die wiederholten Tagebuch-Einträge des Ottobeurer Abtes Rupert Ness

zur künstlerischen Qualität.

Der Abschnitt "Wallfahrt als synästhetisches Vorspiel" dient als solches zum folgenden

Kapitel II "Synästhesie - Hinweise zum Begriff". Van der Meulen versucht Zwiefalten

wieder unter die grossen Wallfahrtsstätten wie Altötting oder Maria Einsiedeln einzureihen.

Nirgendwo auch nicht aus den zitierten Äusserungen des Ochsenhausener Pfarrers

Joseph Kugler von 1789, dass Zwiefalten um die Liebe und Hilfe der Gottesmutter eifere,

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lässt sich eine grössere Wallfahrtstätigkeit in Zwiefalten herleiten. Das Gnadenbild besass

auch keinen eigenen Altar oder gar einen eigenen Kapellenraum.

Der vom Autor benutzte Begriff der "Synästhesie" korreliert mit neueren wahrnehmungs-

psycho-physiologischen Aspekten als auch mit der unvermeidlichen Diskussion um das

Gesamtkunstwerk seit Richard Wagner (und Hans Sedlmayr). Van der Meulen spricht bei

Zwiefalten von einem Zusammenwirken, einer Interaktivität der Künste, von einem

synthetischen Werk, das synästhetisch wahrgenommen werden will und muss. Diese

Alltagserfahrung soll aber auch durch einen Hinweis auf die phänomenologische

Perspektive eines Maurice Merleau-Ponty aufgewertet werden. Bei "Synästhesie im

spätbarocken Raum" wird die 'Liturgie als Handlung der Seele des Raumes'

herausgestellt, in "Liturgische Sinnlichkeit und barockes Schaugepränge" erfolgt ein leider

nicht wirklich weiter ausgeführter Hinweis auf die Zwiefalter Klosterbibliothek und ihren

Bestand an Liturgie-Literatur (s.u.) für eventuell besonders gepflegte Formen des Kultes.

Die schon erwähnte teils kritische, teils bewundernde Charakteristik Zwiefaltens durch B.

Schurr allerdings erst Anfang des 20. Jahrhunderts spräche für die Maximierung der

sinnlichen Eindrücke. Als vorzügliches Einzelbeispiel wird "Die Zwiefalter Kanzelgruppe"

herausgegriffen, wobei der dem 'Ezechiel' gegenüber agierende Prediger auf der Kanzel

zum "Kunstwerk" werde, als lebendige Erfüllung der heilsgeschichtlichen Prophezeiung.

Van der Meulen spricht weiter das Verhältnis von gehörtem fleischgewordenem Wort und

geschautem körperlichen Bild, das nicht nur nach Conrad Purselt stärker auf die Seele

wirken solle, an.

In "Blumige Äpfel" wird die Ezechiel-Installation unter die Lupe genommen als bildmässige

versinnlichte Form der Vision eines Textes mit Tempelgarten, Fluss des Lebens,

Obstbaum, Speisen und Heilung und weiter gefasst als nur die "Früchte vom Baum der

Erkenntnis". Die Predigt wird als "Speise des Geistes" innerhalb des allgemeinen

Vorgeschmacks auf das Paradies angeführt.

Mit "Cultus Mariani" (Genitiv? oder Plural?, verschiedene Formen, Weisen der

Marienverehrung?) kommt van der Meulen zu den vier Zwickeln des Mittelschiffs des

Langhauses, die seit Schurr als "Allegorie der wahren und falschen Kunst", der

"Fleischeslust", der "Augenlust" und der "Hoffahrt des Lebens" gedeutet würden, und die

er - wie schon 1992 der Autor dieser Zeilen - als Allegorien der Sinne erklärt. Die Zwickel

seien ein bildlicher Kommentar zum grossen Langhausfresko und seiner Bildlichkeit

gegenüber den Sinnes-Allegorien.

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Unter "Die Anwendung der Sinne" weist der Autor auf den Hintergrund eines Einflusses

der Jesuiten, der ignatianischen Exerzitien und ihrer Wurzeln in der Mystik hin. Hier wird

auch indirekt Hundemers Formulierung korrigiert, indem es um die Nachahmung Christi

und um die durch ihren Sohn und Herrn Gnade erlangende Maria gehe. Dass in den

Zwickeln ein Verzicht auf narrative Elemente festzustellen sei, kann nicht nachvollzogen

werden.

In "Rokoko-Appendix des Barock (?)" werden nochmals die von Rupprecht und Bauer

forcierte Stildiskussion als der Wirklichkeit kaum gerecht werdende Willkürlichkeit und die

verengende These von (Ab-)Bildhaftigkeit der Rokokokirche durch die tatsächliche

Raumerfahrung widerlegt und die ausschliessliche Betrachtung der 'Bildrhetorik'

ausdrücklich abgelehnt, die Erfahrungsweise des historischen und zeitgenössischen

Betrachters als Methode (und Ziel) favorisiert und die Erweiterung des kunsthistorischen

Blickes auch auf Liturgie u.ä. nochmals gefordert. Gegen Ende wird das Problem

angesprochen, ob durch die Synästhesie die religiöse oder eher die ästhetische Erfahrung

gewänne. Dass die 'Trinität' wegen räumlich-himmlischer Entfernungsdimension und

Abbildungsproblemen (vgl. auch Neresheim) gegenüber der doch ursprünglich ganz

menschlichen, im Mittelpunkt und näher stehenden, schwebenden Maria etwas zu

verblasst sei, zeigt auch bei van der Meulen die Gefahr der Überinterpretation. Bei der

abschliessenden Frage nach dem universellen, aber nicht unproblematischen

Wechselverhältnis von Ästhetik und Religion kann man vielleicht auf die Vorstellungen

vom 'Sinnlich-Sittlichen' des zumindest evangelisch getauften Schiller etwas vorgreifend

verweisen.

"Ikonische Hypertrophie" (Nicolaj van der Meulen II)

Dieser im eigenen Erleben nachvollziehbaren, aus einer relativ offenen sensualistischen

Einstellung, einer zuwendenden Anschauung heraus erfolgten und mit einigen plausiblen

Erkenntnissen aufwartenden Studie liess Nicolaj van der Meulen einen weiteren Aufsatz

folgen: "Ikonische Hyptertrophie - Zum Bild- und Affekthaushalt im spätbarocken

Sakralraum", in: "Movens Bild - Zwischen Evidenz und Affekt". Hg. Gottfried Boehm, Birgit

Mersman, Christian Spies, München 2008, S. 275-299, der erfreulicherweise auch im Netz

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unter: http://www.eikones.ch/fileadmin/documents/ext/publication/buchreihe_movens_bild

/Movens_Bild.pdf zu finden ist. Der Autor der jetzigen Zeilen hat diesen Aufsatz schon

ausführlich und prononciert besprochen

(http://www.freieskunstforum.de/hosch_2009_van_der_meulen.pdf), sodass hier nur die

Weiterentwicklung zum Vorangegangenen dargestellt werden soll. Wölfflins

"Unerschöpflichkeit des Bildes" wird hier verbal gesteigert zur "Ikonische(n) Hypertrophie".

Die anfänglich eher naiven Sinneseindrücke werden zu einem rhetorisch-persuasiven,

psychologisierend, prozessualen Affizierungsmodell (an Bewegungsfiguren des Körpers

gekoppelt und auf steuerbare Affektübertragungen beruhend), das er neben dem

Langhaus einschliesslich der Kanzel an zwei Beichtstühlen und an der Vorhalle

exemplifizieren will.

"Attentum parare": die Vorhalle

Nach der früheren Kritik an der Rhetorik überrascht schon, dass Nicolaj van der Meulen

die auch als Reverenz gegenüber dem alten romanischen Münster doch beibehaltene

Vorhalle (auch 'Propilaeum/Propýlaion' oder 'Vorzeichen' genannt) als "attentum parare"

(parans) auffasst, aber nicht wegen derer niedrigerer, dunklerer, etwas farb- und goldloser

Architektur, sondern mittels des mittleren, relativ kleinen Deckenbildes ("Schwellenbild")

von Franz Sigrist um 1763, das nach dem erhaltenen, recht ausführlichen Programm als

"Marianischer Schutz über das Reichs-Styft und Gotteshauß Zweyfalten" ausgewiesen ist

unter dem Gesamtkonzept: "Supra Propilaeum: Devotio Fundamentorum et Benefactorum

nost(ro)rum, nobilium etc. etc. erga B.[eatam] V.[irginem] in fundatione, dotatione etc.

M[o]n[aste]rii n[ost]ri". Die Drastik der acht durch Maria und die Schutzheiligen

überstandenen Gefahren war sicher im Sinne und Interesse des Troger-Nachfolgers

Sigrist und des Abtes. Ob die (negative) Affektübertragung ähnlich einer Predigt oder

Prediger-Schulung des Exjesuiten Würz zur Abwehr gegen die gezeigten 'Übel', oder ob

damit eher nur die Grösse der Gefahr und damit auch die Bedeutung des Schutzes

gedacht war, sei mal nur so dahingestellt. Im weiteren Verlauf wird die Vorhalle als

Schwellenraum vor dem Gitter, als Läuterung, als 'rites de passage' (Arnold von Gennep)

und existentiell als "Durchgangsort zu einem neuen Leben" (Otto Friedrich Bollnow)

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konnotiert neben den rhetorischen Begriffen 'exordium, principium' u.ä. Die Fresken auch

als Richtungsvektoren würden durch die exordiale "Rhetorik des Sehens" quasi ein

'ritardando' in der "Rhetorik des Gehens" verursachen. Wohl jedes gute, interessante Bild,

Kunstwerk lädt zum Verweilen ein. Dass der Eingangsbereich zur Busse, Einstimmung,

Vorbereitung, Reinigung u.a. dient, ist wohl Allgemeingut. Im übrigen hätte der Autor sich

der Trenn-Schwelle des Gitters wohl ausserhalb des Gottesdienstes (es gab ja auch noch

die benachbarte Leute- oder Pfarrkirche) etwas annehmen können.

"Enérgeia": die Macht der (Gnaden-)Bilder

Unter der Überschrift "Enérgeia" ("Krafteinwohnung") wendet sich Nicolaj van der Meulen

ganz nach der poetisch-rhetorischen M(eth)ode ('enérgeia' als affektive Wirksamkeit aber

anscheinend ohne 'enárgeia' als Erhellung, Anschaulichkeit; vgl. Gottfried Boehm u.a.)

dem Langhausdeckenbild zu, wobei er nach den seit 1964 bzw. 1992 veröffentlichten

Programmkonzepten, aber wahrscheinlich noch mehr aus eigener, intensiver Anschauung

eine wichtige, bislang nicht so herausgearbeitete Feststellung macht, dass das Werk

Spieglers "ein Bild über die Macht und Wirkung von Bildern, der Kultbilder insbesondere"

sei. Obwohl eigentlich - wie schon öfters gesagt - allenfalls eine Szene als Wallfahrt zu

deuten ist und vielleicht acht Gnadenbilder ("Fundamentalpunkt") zu entdecken sind, und

viele Szenen ohne solche ablaufen, überbetont auch van der Meulen den

Wallfahrtsaspekt. Er kann diese Szenen aber weder einer Einheit von Raum, Zeit und

Handlung zuordnen, obwohl eine erkennbare "archaische" Perspektive (und in einem

frühen Konzept vielleicht sogar) eine geographische Perspektive eingenommen sei. Von

der interessanten Frage nach den wirklichen und 'wirkenden' Gnadenbildern kommt er

wahrnehmungspsychologisch und kompositionell/strukturell bedingt zu seinem

notwendigen prozesshaften "Affizierungsmodell" und zu Wölfflins "Unerschöpflichkeit"

bzw. der "ikonischen Hypertrophie" zurück, die er auch mit Unendlichkeits-Vorstellungen

des Barock assoziiert. Eine auf den Beschauer gerichtete Wirkungsdynamik ("Enérgeia")

meint der Autor auch semantisch bei der göttlichen Wirkkraft von Urbild und ihren

Abbildern bemerken zu können.

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Das Staunen

Als nächstes verknüpft Nicolaj van der Meulen die "Unerschöpflichkeit, die ikonische

Hypertrophie" mit der "Ästhetik des Staunens", der Bewunderung. Das auffällige

Nichtvorkommen des Zwiefalter Gnadenbildes im Fresko erklärt sich der Autor nur durch

eine gezielte Aufmerksamkeitsveränderung vom Vertikalen des Freskos zum Horizontalen

des Chorgitters mit dem Kreuzaltar und der darauf wie im romanischen Münster

befindlichen "imago taumaturga B(eatae) Virginis Mariae" wie es in der 1992 abgebildeten

Disposition heisst. Das neben "Wundertätige" auch "Staunenswerte, Staunen Erregende"

der Figur soll durch das nur photographisch belegte Kalkül eines Aufleuchtens an Mariä

Verkündigung (25. März) bzw. Mariä Geburt (8. September) des goldenen

Strahlenkranzes ("Schein") durch den gleichen westlichen Sonnenstand (eigentlich

müsste der 18. September entsprechen) durch die Tür bzw. Tympanon oder das mittlere

Orgelemporenfenster (?) eine ultimative Steigerung bekommen. In der anschliessenden

Diskussion des Staunens im Barock nach Stefan Martschek erfolge dieses sowohl durch

die damit verbundene Lust wie durch theatermässig inszenierende Berechnung. Während

der Autor früher zur Rhetorik eher ein distanziertes Verhältnis offerierte, versucht er sie

jetzt für das Staunen (das aristotelische thaumázein) auch über den Glanz besonders

durch Analogien z.B. Quintilians bei Wort, Sprache, Rede zu untermauern, obwohl er

einen nicht materiell fassbaren Aspekt und einen Gegensatz zur bildenden Kunst und zum

Optischen betont.

Allegorien der Sinne

Unter dem gleichen Titel "Anwendung der Sinne" befasst sich der Autor wieder mit den

vier das Langhausdeckenbild flankierenden Kartuschen, die er jetzt nicht mehr primär als

Sinnes- denn als Tugenddarstellungen und den entsprechenden Apellstrukturen auffasst.

Es wird der mystische, meditative, jesuitische Ursprung wiederholt und etwas unterbaut

mit einem Hinweis auf Roland Barthes. Auch die gleichen ignatianischen Zitate in etwas

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anderer Übersetzung finden sich wieder angepasst an das sinnlich-sittliche, ikonische

Affizierungsmodell mit positiver und negativer Applikation von äusseren sinnlichen über

innere imaginäre, imaginative Bilder zur Vorstellung von Tugenden. Am interessantesten

im Fall Zwiefaltens und wohl auch gegenüber Hundemers obigem Ansatz ist das Zitat aus

der "Geistlichen Übung" Nr. 248 des Ignatius: "Wer im Gebrauch der Sinne unsere Herrin

nachahmen will, empfehle sich ein Vorbereitungsgebet, damit sie ihm Gnade dazu von

ihrem Sohn und Herrn erlange; und nach der Erwägung bei einem jeden Sinn bete er ein

Ave Maria".

Den Schluss bildet eine den Vorschlägen von 1992, S. 92 verwandte Verbalisierung oder

(rhetorische) Aufforderung an das Kirchenvolk unter Wiederholung des Zitates von

Jeronimo Nadal jetzt aber unter den Schritten von der "Unerschöpflichkeit der Bildes",

Seh-Bewegungserfahrung, Staunen und hier noch ästhetischer Tugenderwerb am/im

körperlich-ganzheitlichen 'Sinne'.

Die Temperaturen in den westlichen Beichtstühlen

Während van der Meulen hier sein schon 2001 Gesagtes, Geschriebenes stärker an

theoretisch-abstrahierten Leitlinien von Theologie, Rhetorik ausrichtet und vertieft, stellt

die folgende "Kanalisierung der Affekte im Beichtstuhl" ein neues Anwendungsfeld dar. Mit

dem steuernden, prägenden liturgisch-theologischen Vorwissen und der 'Brille' von

'ikonischer Hypertrophie und Affizierungsmodell zeigt sich auch die grosse Gefahr eines

kunstwissenschaftlichen Tunnelblicks bei den beiden schon erwähnten, an der Westwand

der Kirche oder Rückwand der Vorhalle und unter den westlichen Kartuschen der Decke

zum Tugenderwerb (etwas einfacher: 'so sollte jeder einzelne die Verehrung Mariens

ansinnen') befindlichen Beichtstühlen, die auch Rupprecht 1959 schon als Einheit von

Möbel/Plastik und Bild faszinierten. Nicht nur bei dem Thema Beichtstühle scheint van der

Meulen von Ursula Brossettes umfänglicher Marburger Dissertation von 1998 (gedr.

Weimar 2002): "Die Inszenierung des Sakralen ..." beeinflusst zu sein. Den tridentinischen

Dreischritt der Beichte mit Reue, Bekenntnis und Genugtuung (=Busse?) versucht van der

Meulen in einen ganzheitlichen, liturgisch-religiösen affektiven Funktions- und Ortsbezug

zu bringen: Vorhalle als Ort der Reue, Bekenntnis im Schiff (? oder wie in Neresheim eher

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in der Vierung) und Busse, ja wo?, zumindest mal in den Beichtstühlen. Der durch den

reinen verbalen Beichtakt ohne die hygienisch bedenkliche Handauflegung und seit Carl

Borromäus in einer tendenziell anonymisierenden Beichtstuhlsituation eher unsinnlich

gewordene Vorgang wird vom Autor mühsam bis zur Anrufung von Michel Foucault mit

dem (nur) "Fleischlichen der Sünde" wieder mit den Sinnen in Verbindung gebracht. Das

"ikonische Affizierungsmodell" des Ignatius wirke sich auf die Gestaltung der opulenten,

zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes 'grotesken' Beichtstühle aus. Van der Meulen

erwähnt wohl die (ursprünglichen acht?), jetzt drei Beichtstühle der

Langhauskapellenrückwände, die noch ganz der Welt der Rocaille mit den Voluten, den

Knorpelgebilden u.ä. um 1770 entstammen, wohl nach einem früheren, schon

vorhandenen Entwurf Johann Michael Feichtmayrs. Klaus Könner berichtet, in: Zwiefalten

1989, S. 432, dass am 18.2.1813 drei eingemauerte grosse Beichtstühle noch vorhanden

gewesen seien (vielleicht die drei erhaltenen), die eigentlich nach Stuttgart kommen

sollten. Die erwähnten beiden Beichtstühle an der Rückwand seien in die frühere

Pfarrkirche Zwiefaltens gekommen. Johann Nepomuk Hauntinger spricht 1784 (1964, S.

144) von zerlegbaren (= provisorischen?) Beichtstühlen. Ob damit zwei 1751 dem

Kunstschreiner Hörmann mit 60 fl. bezahlte Stücke (vgl. HStAS, B 555,Bd 102, fol.42)

gemeint sind, ist unklar. Van der Meulen interessiert sich aber nur für die beiden szenisch,

farblich-irdisch ganz Andersartigen der Schiffswestwand. Er erkennt ruinöse Mauern,

Tropfsteinwerk und Korallenformen dieser "Grottenbeichtstühle" mit den integriert-

aufgesetzten Tafelbildern Meinrad von Ows, aber nicht deren schon 1992 richtig

bestimmte Thematik. Statt die Macht der das "ego te absolvo" ausdrückenden "Autorität

der klösterlichen Rechtsprechung und der kirchlichen Schlüsselgewalt" haben wir eine

vom Beichten unabhängige "geistliche und weltliche Klostergründung" vor uns, die

eigentlich der Vorhalle zugedacht ist. In einem weiteren, das Thema "Beichtstuhl"

herausarbeitenden Aufsatz "Der Beichtstuhl als Bekenntnisarchitektur", in: Frühe Neuzeit

Info 20 Jg., Wien 2009, Heft 1/2, S. 109-127 dienen die beiden Zwiefalter Beichtstühle nur

als Aufhänger. Zumindest werden die Themen der Oberbilder jetzt richtiggestellt. Die

beiden Beichtstühle hätten auch an den gegenüberliegenden Wandseiten der Vorhalle

positioniert werden können. Van der Meulen versucht nun den religiös-psychologischen,

Scham behafteten Beichtakt mit dem Beichtstuhlgebilde in Einklang zu bringen: 1. Eintritt

des 'Beichtkindes' in die Konzentration fördernde, dunkle, schützende, angstlösende

Höhle: Reue; 2. das "erhitzte" Bekenntnis: das Ruinöse als alter Körper; 3. Lossprechung

und Busse: Palmen der Erlösung, Kühle, paradiesische Einsamkeit.

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Der Autor dieser jetzigen Zeilen hält dies für ein zu weitgehendes gedankliches Konstrukt.

Das ruinöse, vergängliche präromantische Zauberambiente mit den Siegespalmen

(Erlösung, Busse, Paradies, Neuer Bund u.ä.) bzw. gegenüber den zerbrochenen Säulen

(der Sünde der Verbrechens, Alter Bund u.ä. einschliesslich einer kleinen

perspektivischen, zielgerichteten Variante) sollte einer vordergründigeren (auch optisch-

haptischen) Analyse unterzogen werden.

Ein weiterer Punkt wäre der stilistische Vergleich mit den anderen, ohne

"Bekenntnisarchitektur" aufwartenden Beichtstühlen, die um 1770 zusammen mit den

Altären entstanden sein dürften. Die beiden erstgenannten Beichtstühle machen mit dem

etwas 'abraschelnden' Bewuchs und dem körperlos Erstarrten fast noch einen späteren

Eindruck, was auch durch die beiden Gemälde erhärtet werden kann, die fast bis um 1780

anzusetzen wären. Oder anders ausgedrückt: bei einer wahrscheinlich eher späteren bis

fast 1780 gehenden Entstehung, wie lassen sich die Vorstellungen van der Meulens mit

den damaligen, vielleicht nicht bis ins konservative Zwiefalten gedrungenen,

antijesuitischen Tendenzen vereinbaren?.

Die Kanzel

Als nächstes folgt das Kapitel: "Kanzel: Fleischwerdung des Wortes", 2001 noch einfach:

"Die Zwiefalter Kanzelgruppe" und noch um 1752/56 datiert, jetzt um 1770. Es hat sich

anscheinend die 1992 versuchte Späterdatierung auch bei van der Meulen durchgesetzt.

Nach Ulrike Weiss 1998, S. 113. sind die Kanzel-Ensembles überhaupt ein Anliegen

Feichtmayrs gewesen. Auf alle Fälle ist dieses beeindruckende Ensemble z.B. auch

gegenüber Ottobeuren zeitlich näher den obengenannten Beichtstühlen zuzuordnen. Aber

solche Fragen interessieren van der Meulen kaum, da es ihm um die Idee eines

'ikonischen Affizierungsmodells' als "Brennpunkt von Sprache" geht. Die literarische,

narrative Vorlage Ez. 34, 1-14 ist natürlich schon lange bekannt. Ein vom Autor

beigebrachter Stich aus dem Jahre 1727 diente höchstens als allgemeine Anregung. Die

Aktfiguren entstammen eher Anatomiebüchern oder den berühmten anatomischen

Sammlungen wie von Ercole Lelli 1740/46 im Auftrag von Papst Benedikt XIV in Bologna

oder von Gaetano Zumbo um 1680 für Florenz. Wie schon 2001 werden die drei

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christlichen Tugenden als die "Vier Winde" des Bibeltextes oder auch die Interaktion

zwischen dem visionären Ezechiel und dem lebenden, lebendigen Prediger erwähnt. Noch

stärker herausgearbeitet wird jetzt (2007) die homiletisch-rhetorische-ikonische

Verbindung von Totenerweckung mit dem 'fleischgewordenen' und 'fleischerweckenden'

Wort (= Christus im Evangelium) des Predigers. Die weiteren bildhaften Aussprüche eines

Lessing oder Cicero von dem Gerippe einer Rede und ihrer Fleisch-Lebendig-Werdung

durch den Redner kann man getrost als zu gewollt vergessen. Der Abschnitt aus der

Rede, Predigt des schon erwähnten Ehinger Superiors Fidelis Wetz von 1789 (S. 169/70)

angesichts des Kanzelgebildes fusst auf dem Ezechieltext mit dem Wunsche zum Tage

und am Ort der Auferstehung lebendig den Lobpreis Gottes mit erhobener Hand, Auge,

Herz und Stimme anstimmen zu können. Mit der allgemeinen Erlösungshoffnung durch

Christus und noch einigen ikonographischen Details sollte man es bei dieser theater-

guckkastenmässigen Inszenierung am Ende des Langhausmittelschiffs von Zwiefalten

belassen.

Das prozessuale Affektmodell und der parergonale Raum

Im letzten Abschnitt "Prozessuales Affektmodell und parergonaler Raum" erfolgt eine

Zusammenfassung und nochmals eine Erweiterung. Die "ikonische Hypertrophie"

verankere im Rahmen dieses prozessualen Affektmodells und im Betrachter

Bewegungsfiguren (verlangsamend, kreisend, herumwandernd mehr körperlicher Art) aber

auch mehr psychisch der "Introspektion" (Beichtstuhl) und psychisch-physischer

"Lebendigkeit" (Kanzel), dies alles auch sakramental, liturgisch-theologisch strukturiert. In

diesem Kapitel versucht van der Meulen am durchlässigen Langhaus-Deckenbild-Rahmen

noch Jacques Derridas Vorstellung vom Bild-Werk (ergon) und seiner Umgebung,

Rahmen (parergon) und deren Wechselbeziehung in einer Art Figur-Grund-Wechsel zu

exemplifizieren, um dem wandernden, schweifenden Blick eine philosophische Erklärung

zu geben. Van der Meulen sieht in dem schon von Fiske Kimball als quasi natürliche

Verlebendigung angesehenen Rokoko-Ornament in seiner dynamischen Blick- und

Affektlenkungsfunktion und damit auch rhetorisch dem 'ornatus' verwandt aber nicht nur

ein blosses 'Beiwerk'.

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Eigentlich ist der Ansatz van der Meulens mit seinen anfangs auf subjektiv

anmutungshaften, ganzheitlichen, prozessualen Sinneswahrnehmungen ("ansprechen und

angesprochen werden") basierenden (Selbst-) Beobachtungen das Liturgisch-

Theologische zu verknüpfen, um auch der damaligen zeitgenössischen Rezeption (auch

des gemeinen Pöbels', Gläubigen?) und Konzeption näherzukommen, von der durch

Ausbildung und Erkenntnisinteresse beeinflussten Einstellung und dem erlebnismässigen

Kontakt zum Werk/Objekt interessant und hat auch einige Einsichten (z.B. Gnadenbild-

Frage) erbracht. Manches wie das "Strahlewunder" von Zwiefalten oder die

'Beichtstuhlgeschichten' gehören eher in die Rubrik 'Curiosa'. Die akademischen

Anlehnungen an Gegenwartsphilosophie (Waldenfels, Derrida u.a.) wirken eher

modernistisch und historisch befremdlich, einige Übertragungen von liturgischen,

theologischen, rhetorischen Fundstellen auf die Zwiefalter Bilderwelt etwas bemüht und

gewollt. Gegenüber dem der Rhetorik oder der einseitigen Strukturalistik eher kritisch sich

äussernden früheren Aufsatz ist hier zugunsten einer umfassenderen und stärkeren

Systembildung auch das Rhetorische wieder eingebunden. Man kann fast von einer

sensualistisch (wahrnehmungs-physiologisch-psychologischen) -liturgisch-homiletisch-

theologischen Spielart von letzterem sprechen. Leider ist dem Verfasser dieser Zeilen es

nicht vergönnt gewesen, den Vortrag Nicolaj van der Meulens zu hören unter dem Titel:"

Zwiefalten und die Kartierung einer terra mariana - Das Langhausfresko von Zwiefalten als

kartographisches Konsolidierungsprojekt". Es scheint so, dass die schon 1992

angedachte, aus einem Programmkonzept auch etwas herauszulesende geographische

Ausrichtungsabsicht - also wenigstens eine Wahrung der Einheit des Raumes, wie es

nach Anm. 66 den Anschein hat - wieder einem gewissen Trend (z.B. Christine Buci-

Glucksman: Der kartographische Blick in der Kunst, Berlin 1997 oder Martin Jay: Die

Ordnungen des Sehens in der Neuzeit, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrwissenschaften,

1990, S. 40-45) folgt. Vielleicht beruft er sich aber auch auf den in zahlreichen Auflagen

verbreiteten und einflussreichen, angeblich über 1200 Orte der Marienverehrung

zeigenden "Atlas Marianus, sive, De imaginibus Deiparae per orbem Christianum

miraculosis", Ingoldstadt 1657-59 (4 Bände; ohne Nennung Zwiefaltens, aber von

Rottenburg, Weggental) des Jesuiten Wilhelm von Gumppenberg (1609-1675) oder die

von Heinrich Scherer (1628-1704) und ebenfalls Jesuit bearbeitete Variante "Atlas

Marianus sive Praecipuae Totius orbis Habitati Imagines et Statuae Magnae Dei Matris

beneficiis ac prodigiis inclytae succincta historia propositae et mappis geographicis

expressae", Dillingen 1702.

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Mit einem Vortragsthema "Beichtstühle als Bekenntnisarchitektur" zog Nicolaj van der

Meulen vor geraumer Zeit durch die akademischen Lande. Dieser Vortrag ist zumindest

auch im Druck erschienen. Eine immer wieder und seit langem angekündigte Basler

Habilitationsschrift: "Bild und Körper im spätbarocken Raum" oder auch " Der parergonale

Raum - Zum Verhältnis von Bild, Raum und Bewegung in der spätbarocken

Benediktinerabtei Zwiefalten", die die bisherigen Arbeiten zusammenfasst und weiterführt,

wird natürlich mit Spannung erwartet.

Da van der Meulen in seinem späteren Aufsatz die Büttnersche Forderung der genauen

Erforschung des ursprünglichen historischen Kontextes eines Werkes, seiner historischen

Rezeptions- (und Konzeptions-) Bedingungen bewusst oder unbewusst nicht mehr

erwähnt und ihr auch nur noch sehr bedingt gefolgt ist, soll mehr in diesem Sinne die

bisherige Forschung des barocken Zwiefalten knapp zusammengefasst werden in der

Hoffnung nach etwa 20 Jahren zumindest korrigierende Fortschritte feststellen zu können.

Zur Situation in Zwiefalten um 1750

Das 'Klima' in Zwiefalten

Kirchenpolitisch ist zu vermerken, dass das in seinem Konvent unruhige, spannungsvolle,

aufsässige Neresheim sich von seinem Öttingischen Schutzherrn wahrscheinlich mit

ideeller Unterstützung seines Heidenheimer-Württembergischen Nachbarn freikaufte,

allerdings unter Dreingabe selbst des Städtchens Neresheim zu Füssen des Klosters, das

im übrigen der nieder(ost-)schwäbischen bischöflich-augsburgischen

Benediktinerkongregation angehörte. Demgegenüber ging es in dem im Konstanzer

Bereich gelegenen und zur oberschwäbischen Kongregation gehörigen Zwiefalten intern

ruhig, diszipliniert, ja fast träge, lautlos zu. Nur gegenüber dem Nachbarn Württemberg,

aber auch gleichzeitig Schutzvogt, war man bereit fast alles zu geben, um den zumindest

seit 1748 von Abt Benedikt Mauz nach Placidus Scharl unter Vermittlung eines Juden

(wohl David Uhlmann gest. 1782, der 55 Jahre in herzöglichen Diensten war) betriebenen

Freikauf 1750 für ca. 300 000 fl. in bar und unter Dreingabe zahlreicher Dörfer und

Ländereien zu ermöglichen. Obwohl man sich mit dem klammen katholischen Herzog Carl

Eugen gütlich einigte, bezog der katholische Stuttgarter Hof in einem protestantischen

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Land die Beichtväter, Prediger, Messeleser und Sakramentenspender weiterhin vorrangig

von dem geographisch entfernteren, wahrscheinlich aber auch geistig moderneren

Neresheim.

Den schon 1738 begonnenen Kirchen-Um- bzw. -Neubau (z.B. früher Entwurf von Franz

Beer 1709) kann man also weniger direkt dem Wunsch nach Repräsentation der

Reichsstandschaft als dem nach einem Kirchenfestraum (aber nirgendwo ausdrücklich für

Wallfahrten) und eher einer Konkurrenzsituation gegenüber Marchthal, Weingarten,

Ochsenhausen, Beuron und dem Aspekt der Mode z.B. angesichts der eigenen neuen

Konviktskirche in Ehingen zuschreiben. Man war mit seinem dunklen, obwohl leicht

barockisierten, romanischen Münster nicht mehr zufrieden. Dass man in Zwiefalten vor

1738 anfänglich eher an einen kostengünstigeren Umbau ('renovatio') durch einen billigen

einheimischen Baumeister oder Maurer wie die Gebrüder Schneider dachte, ist nicht

überraschend, vgl. Reinhold Halder, in: 900 Jahre Benediktinerabtei Zwiefalten (=

Zwiefalten 1989), Ulm 1989, S. 212/13. Leider sind die zumeist aufschlussreichen

Kapitelsprotokolle seit der Säkularisation (wahrscheinlich auch ganz im Sinne der neuen

und doch wieder alten württembergischen Herren) verschollen. Auch sonst gibt es ausser

den Auswertungen der Professbücher von August bzw. Pirmin Lindner keine neuere

monographische Literatur zu den einzelnen Äbten. Zu der van der Meulen nicht

interessierenden Sozial- aber auch Mikrohistorie Zwiefaltens ist nach Lindner zu ergänzen,

dass nach dem Freikauf die Abtei noch über 10 Pfarreien, 17 Dörfer und Weiler aber

angeblich nur 1781 Einwohnern (sonst 8 000) und jährliche Einkünfte von 100 000 fl.

verfügte. 1802/3 bei der Aufhebung des Klosters konnte Württemberg zusätzlich fast 200

000 fl. an Aktivkapital einstreichen. Die bei van der Meulen kurz angesprochene

Bibliothekssituation wird von Heribert Hummel, ebenfalls in der Festschrift "900 Jahre...

Zwiefalten", 1989, so zusammengefasst, dass Zwiefalten nicht durch seine Bibliothek

(oder einen repräsentativen Bibliothekssaal) glänzte, dass man z.B. die Abteilung

"Predigt/Literatur" vergeblich sucht (S. 116), dass in Zwiefalten eher ein geistiges

Mittelmaß herrschte und der Freund Magnoald Ziegelbauers, Franz Martin Pelzel, die

Zwiefalter Mönche als träge, dumm, zänkisch und stolz einschätzte. Sicher ist, dass seit

dem aus einem Konstanzer Geschlecht stammenden Abt Beda Summerberger (1660-

1737) das Asketische (Herz-Jesu-Verehrung), die "disciplina et pietas" florierten, was auch

die postum herausgegebenen, 148-seitigen "Andachtsübungen des Abtes Beda von

Zwiefalten", Konstanz 1746 dokumentieren.

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Abt Augustin Stegmüller und Abt Benedikt Mauz

Der 1725 freiwillig (im Gegensatz zu Aurelius Braisch in Neresheim) zurückgetretene Abt

musste später nochmals die Abtsgeschäfte für 3 Monate übernehmen, da sein Nachfolger,

und Beginner des Baues, Augustin Stegmüller (1666-1744), wegen "Hypochondrie"

(heute: Depression) dienstunfähig war. Ansonsten war dieser ehemalige Weltpriester auf

dem Bussen juristisch nicht ganz unbeschlagen und durch seine langjährige Archivar- und

Bibliothekarstätigkeit eher auf dem Boden der Tatsachen, aber 1738 schon 72 Jahre alt

und zumindest seit dem 4. April 1744 krankheitsbedingt zur Resignation gezwungen.

In der Art Kunstgeschichte van der Meulens fast 'ohne Namen und Zahlen' wird der für

den Bau entscheidende Nachfolger seit 21.4.1744, Abt Benedikt Mauz von Radolfzell

(1690-1765), kaum erwähnt. Nach Pirmin Lindners Professbuch, Zwiefalten, Kempten

1910, Nr. 47 war Mauz seit 1701 Klosterschüler in Zwiefalten und nach seiner Profess

1707 unter Abt Summerberger von 1715 bis 1723 Lehrer am Zwiefalter Konvikt in

Ehingen, danach im Kloster (?) Lehrer für Rhetorik, Philosophie und Theologie. Er hatte

die Ämter eines Novizenmeisters, Hausexhortators, Moderators, Instruktors der

Laienbrüder, eines Custos sacrarii, eines Inspectors infirmariae und von 1734-1742 wieder

in Ehingen eines Superiors, also Leiter der klostereigenen Schule, inne. 1742 bis 1744

wurde er noch Statthalter der Zwiefalter Herrschaft Neuhausen an der Erms. Trotz oder

wegen dieses Aussenpostens wurde er wohl als fähiger Mann dann 1744 zum Abt

gewählt. Auf seinem nach 1765 (vielleicht sogar erst nach 1787 wegen der identischen,

fast fotografisch-stecherhaften Hand des Porträtisten) entstandenen, 1992 abgebildeten

Bildnis ist zu lesen: "D. Benedictus Mauz / de Ratholdi Cella / Pius, prudens, humilis /

Mon(aste)rium tutela / et omni nexu Wirtembergico eximit / Templum aedificat piissime obit

Ao. 1765. 18 julii. Eligitur Ao. 1744 21 April[is]". also: Herr Benedikt Mauz von Radolfzell /

(ist/war) fromm (gottesfürchtig), klug, demütig (bescheiden) / er hat das Kloster aus der

Schutzvogtei / und aller württembergischen Abhängigkeit freigekauft / er baut(e) den

Tempel (Gotteshaus). Er stirbt (starb) auf frommste Weise am 18. Juli 1765. Er wird

(wurde) gewählt am 21. April 1744. Weiter heisst es in zwei elegischen Disticha: "Te Patre

Templa simul simul aurea munera pacis / Magnifice Duplici restituuntur Aquae. / Sumptus /

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ubi rupto cessit Charitinia nexu / Enormis fuerit: pax pretiosa magis." oder übersetzt: 'Unter

Dir als Vater (Abt) wurden gleichzeitig die Tempel (Gotteshäuser) und die goldenen

Geschenke des Friedens herrlich (prächtig) der zweifachen Aach (also dem Kloster

Zwiefalten) wiedergegeben. Mag der Aufwand, wodurch Charitinia (=Württemberg) unter

Bruch des Bandes gewichen ist, auch ungeheuer gewesen sein: der Frieden ist mehr

wert'.

Die beiden Wunderheilungen an Frater Benedikt Mauz

Zwei den späteren Abt Benedikt Mauz wohl stärker prägende Einflüsse von

Wunderheilungen finden sich nach Pirmin Lindner in der Rotel: "Votum in honorem trium

Sanctorum Ratholdicellae patriae suae familiarium nuncupavit eorumque patrocinio (ut pie

creditur) caecitatis periculo brevi liber, illud oculorum acumen consecutus est, quod auxilio

conspiciliorum in seram senectutem non indigeret", - also: 'er hat ein Gelübde zu Ehren

der drei Familienheiligen (Hausherren: Zeno, Theopont, Senesius) seiner Heimat(stadt)

Radolfzell abgelegt, und durch ihre Fürsprache (wie man frommerweise glaubt) von einer

kurzzeitigen Gefahr der Blindheit frei, hat er jene Schärfe der Augen erlangt, dass er bis

ins späte Greisenalter die Hilfe von Augengläsern nicht benötigte'. Und noch interessanter

der spätere eigenhändige (?) Eintrag: "Immaculatae matri Dei valetudinem suam et

pristinum membrorum vigorem, primo a pleuratide ablatum, et paulo post variis unguentis,

spiritibus etc. non nihil restauratum, dein denuo deperditum in pluribus medicaminibus et

thermis frustra quaesitum, tribus pene annis exulantem jam vix non desperatum et novena

denique ad div. Lauretanam (haud procul a monasterio sitam) peregrinatione recuperatum,

praeter innumera prorsus alia beneficia in acceptis refert D.D.D. ejusdem misericordiae

matris et salutis infirmorum clientum et filiorum infimus F. Benedictus Mauz, Prof.

Zwiefaltensis 1712" - also in etwa: 'Auf die unbefleckte Mutter Gottes führte der

untertänigste Bruder und Zwiefalter Professe Benedikt Mauz im Jahre 1712 seine

Gesundheit und (wiedererlangte) frühere Kraft der Gliedmassen zurück. Anfangs befreit

vom Seitenstechen und wenig später durch verschiedene Salben, Tinkturen u.ä. war sie

(die Gesundheit, Lebenskraft) völlig wiederhergestellt, darauf aber war sie von neuem

verloren, durch verschiedene Medikamente und Bäder vergeblich gesucht, für drei Jahre

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(ans Krankenbett) fast verbannt, schon am Verzweifeln und schliesslich durch eine

neuntätige Wallfahrt zum Heiligen Haus von Loretto, nicht weit vom Kloster gelegen

(mittlerweile profanierte Loretto-Kapelle in Sonderbuch) wurde sie wiedererlangt neben

noch unzähligen anderen Wohltaten empfangen aus dem Mitleid der Mutter des

dreieinigen Gottes und aus Fürsorge für ihre leidenden Diener und Kinder'.

Abt Nicolaus II Schmidler

Für den zweiten relevanten Zwiefalter Abt, den Nachfolger Nikolaus II Schmidler von

Waldsee, lautet das jeweils postume Urteil: "Imago D(omini) D(omini) Nicolai II Abbatis,

nati ao. 1723, prof(essi) 1740. Sac(erdotis) 1747. elect(i) 1765. Subito nos eripitur 1787,

12. Februar(ii)":- also: 'Bild des Herrn Herrn Abtes Nikolaus des Zweiten, geboren im

Jahre 1723, Profess abgelegt 1740, zum Priester geweiht 1747, erwählt 1765, am 12.

Februar 1787 uns plötzlich entrissen'. In der Subscriptio liesst man auf diesem Stück der

Äbtebildnisse: "Musarum cultor, templorum conditor est Hic: / Defensor legis, forma,

decorq(ue) gregis, / Assiduus fautor virtutis, criminis ultor / Afflicti requies, pauperis ultima

spes". - also: 'Verehrer, Pfleger der Musen, Gründer von Gotteshäusern ist (war) dieser

hier, Verteidiger des Gesetzes, eine vorbildliche Gestalt und Zier in der Herde (Gottes),

beständiger Förderer der Tugend, Rächer des Verbrechens, Ruhe, Beruhigung für den

Angeschlagenen, Leidenden, letzte Hoffnung für den Armen'. In den von August bzw.

Pirmin Lindner veröffentlichten Roteln oder Personalakten heisst es noch: "Triginta septem

Opera comica in quibus peccati horrorem et virtutis amorem singularis cum industria et

dexteritatet docuit". also: 'in 37 Komödien hat er das Zurückschrecken vor der Sünde und

die Liebe zur Tugend einzigartig mit Eifer und Geradlinigkeit vorgezeigt'.

Während Benedikt Mauz über die süddeutsche Benediktinerlandschaft kaum

hinausgekommen zu sein scheint, war Abt Nicolaus II gleich nach seiner Wahl Präses der

Benediktineruniversität Salzburg und auch Präses der oberschwäbischen

Benediktinerkongregation und somit doch 'öfters auf Achse' oder 'im Sattel'. Von beiden

Äbten ist nicht bekannt, ob sie wie z.B. der Neresheimer Abt Benedikt Maria Angehrn in

Ettal sich noch bei den Bauvorhaben z.B. in Amorbach (vielleicht auch in Ottobeuren)

kundig gemacht oder Anregungen eingeholt haben. Am wichtigsten in unserem

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Zusammenhang ist die nicht genau belegte Feststellung Pirmin Lindners (Heft 1, Jg. 2, S.

80), dass Abt Benedikt die Fortsetzung und äussere Vollendung der Klosterkirche 1761

"betrieb" und dass diese "durch Abt Nicolaus auch die innere Ausgestaltung, die 1780

vollendet wurde"...(, erfuhr)... "mit einem Reichtum an Kunstwerken", weil damit alle

Feststellungen zu den Inhalten einen zeitlichen Rahmen erhalten und eine

geistesgeschichtliche Einschätzung (progressiv, konservativ o.ä.) erst möglich wird.

Anlässlich der Benediktion von Abt Nicolaus am 14. September 1765 durch Fürstbischof

und Kardinal Franz Konrad von Roth, erhielt auch die im Innern unfertige Klosterkirche

eine ehrenvolle Weihe. In der 6. Jubiläumspredigt am 13. September 1789 durch P.

Meinrad Lehner von Kloster Rheinau heisst es auf S. 135 entsprechend: "... Abt Benedikt,

dieser unvergeßliche Herr Reichsprälat, den das hochwürdige Reichsstift seinen Zweiten

Stifter nennt, (hat) ... den prächtigen Kirchenbau angelegt, ... Abt Niklaus der Zweite

brachte alles zur höchsten Vollkommenheit, was Abt Benedikt ruhmwürdigst

angefangen, ... Er legte die letzte Hand an den prächtigen Tempel, den wir wirklich mit

Augen sehen; ...".

Baugeschichte der Zwiefalter Klosterkirche

Während van der Meulens Auf- und Ansatz trotz einiger zeitgenössischer Zitate zeitlich-

örtlich-personell irgendwie unbestimmt bleibt, sollen hier die Abläufe und mögliche

Motivationen dargestellt werden. Leider ist die seit langem (1989) angekündigte

Dissertation von Reinhold Halder über 'Zwiefalten und seine neue Klosterkirche' immer

noch nicht erschienen und wahrscheinlich mittlerweile aufgegeben. Ausser auf die

Abschnitte der beiden überaus verdienstvollen Bände zum Johann-Michael-Fischer-

Jubiläum von 1995 (Fischer I 1995, S. 223-233 u. Fischer II 1997, S. 298-306) muss sich

folgendes wie schon 1992 wieder hauptsächlich auf den Erinnerungen und

Aufzeichnungen verarbeitenden Baubericht des Schneiders, Krankenwärters, Sakristans

und Zwiefalter Laienbruders Ottmar Baumann (1705-1773) stützen, der aber schon mit

dem Jahre 1762 - statt wie vorgesehen 1765 mit dem Abtswechsel - abbricht, nun

vielleicht stärker mit Blick auf die Auftraggeber, die Äbte.

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Die Anfänge unter Abt Augustin Stegmüller

Abt Augustin Stegmüller war - wie schon gesagt - knapp 72 Jahre alt, als er im Frühjahr

1738 im Kapitel den Beschluss zum Neubau aus den vorgenannten Gründen durchsetzen

konnte. Die ersten Pläne hatten zuvor die Maurer und angeblichen Klosterbaumeister (und

wohl Klosteruntertanen) Hans Martin und Josef Benedikt Schneider (vgl. Halder, in:

Zwiefalten 1989, S. 210 und Fischer II, 1997, S. 299) geliefert, die schon die Propstei

Mochental 1730/34 unspektakulär wieder aufgebaut hatten. Schon früher und bald nach

seiner Wahl (1725) hatte der Abt durch Franz Joseph Spiegler einen Vorraum in der

Prälatur mit konventionellen marianischen Themen ausstatten lassen. Nachdem aber

1738 ausser einigen logistischen Vorbereitungen nichts weiter erfolgt war, wurde am 10.

März 1739 nochmals ein Kapitelsbeschluss herbeigeführt, gleich darauf der Chor

abgebrochen und mit den Fundamentierungen v.a. wegen des instabilen Untergrundes

begonnen. Auf Vorschlag der Gebrüder Schneider wurde auch noch das Langhaus nach

dem 8. Mai 1740 demoliert und am folgenden 11. Juli der Grundstein und auch schon die

Turmfundamente gelegt. Da 1740/41 die Baumeister Schneider der Sicherheit und der

Einfachheit halber die Kuppel aus Holz ausführen wollten, statt wie vom Kapitel gewünscht

aus Stein, berief man doch den Emmeraner Benediktiner, Salzburger Hof- und Augsburger

Stadtbaumeister Bernhard Stuart als Sachverständigen, der auch wirklich über Augsburg

anreiste. Wahrscheinlich riet Pater Stuart dem Kloster zu einem fähigen und renommierten

Architekten wie Johann Michael Fischer, der zuvor für das zur gleichen

Benediktinerkongregation gehörige Kloster Ochsenhausen tätig war und auch von dort

Zwiefalten empfohlen worden sein könnte. Fischers erster Aufenthalt in Zwiefalten im

Jahre 1741 ist nicht ganz genau zeitlich zu bestimmen. Er dürfte die bisherigen

provinziellen Pläne der Schneiders studiert haben, Änderungen und eigene

Lösungsvorschläge durch Risse vorgebracht haben. Unter Beibehaltung nur der

Turmfragmente wurde im Frühjahr 1742 sein wohl über den Winter gemachter, definitiver

"neuer Rieß" angenommen und sogleich der Bau durch Fischer und seinen Polier Martin

Wöger begonnen. Ob die Gebrüder Schneider dabei anfangs noch die Bauleitung inne

hatten, ist etwas fraglich. Wieweit hier schon der in Ehingen durch seine zumindest

teilweise selbst entworfenen illusionistischen Kulissen für Theateraufführungen des

Klostergymnasiums aufgefallene Abt in spe, Benedikt Mauz, vielleicht nicht aus der

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grossen Ferne, aber doch nicht in nächster Nähe mitwirkte, ist auch nicht klar. Seine

vielleicht als eine Art Bewährung für höhere Aufgaben anzusehende Abordnung ins noch

fernere Neuhausen an der Erms zu diesem Zeitpunkt, ist auch etwas verwunderlich. Die

Wahl des zuvor keine höheren Ämter wie Prior, Subprior oder Cellerarius ausübenden

gebürtigen Radolfzellers wäre aus der riesigen Bauaufgabe heraus sogar verständlich.

Inwieweit der immer wieder kränkliche, um 1742 bis 1744 im 75. bis 77. Lebensjahr

befindliche Abt Stegmüller noch hinter dem Projekt stehen konnte, ist ebenfalls sehr

fraglich, aber 1742 wurden oder waren die Weichen gestellt. Prior in der fraglichen Zeit

(1741,1744, 1747; insgesamt 11 Jahre) war Franz Sales Zehetner (8.10.1996 - 2.2.1779),

der ab 1750 sich vorrangig in Mochental aufhielt und somit wohl keinen grösseren Einfluss

mehr auf das Baugeschehen ausübte. Ein weiterer unklarer Punkt ist, ob es neben dem

"Rieß" (sicher Grundriss, Aufrisse, Schnitte, Perspektiven) auch ein geschreinertes oder

teilweise in Gips ausgeführtes dreidimensionales zerlegbares Modell gab, wie es für

Kirchen dieser Grösse und Bedeutung (z.B. Münsterschwarzach, St. Gallen, Ottobeuren

durch Simpert Kraemer) durchaus üblich war. Gabriele Dischinger (in: Fischer II, 1997, S.

26) meint aus dem Christian-Relief am Abtsstuhl des Zwiefalter Chorgestühls auf das

Vorhandensein eines solchen Modells einschliesslich eines für die Fassade wegen

Perspektive und Untersicht schliessen zu können. Allerdings hätte auch eine

perspektivische Ansicht des Architekturbüros Fischer für Johann Joseph Christian

ausgereicht. Im Zusammenhang mit dem "Vorzeichen" wird noch darauf zurückzukommen

sein.

Der Innenausbau unter Abt Benedikt

Bevor der schnell vorangekommene Bau Mitte Oktober 1745 im Chor und Langhaus

bereits unter Dach und gewölbt war, musste sich der am 21.4.1744 zum Abt gewählte

Benedikt Mauz mit der Innenausstattung befassen. So rief er den wahrscheinlich schon

vor Baubeginn verpflichteten Riedlinger Bürger und zuvor in Mochental (um 1733 oder

1740) beschäftigten Johann Joseph Christian vor dem 10. August 1744 vom

Benediktinerkloster Mehrerau bei Bregenz zurück, wo Christian ab 1740 die Bau- also

Steinplastik für die Fassade und das Portal, d.h. die in Stein gehauene Portalumrandung

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(wie später in Zwiefalten), nach einem Wachsmodell (vgl. auch für das folgende: Ulrike

Weiß, "Geschnittene Bilder - Zu Ort, Funktion und Entstehungsbedingungen des Reliefs in

schwäbischen Kirchen zwischen 1715 und 1780", in: Tübinger Studien zur Archäologie

und Kunstgeschichte, Bd. 17, 1998, ab S. 94) und ab 1742 (oder 1743) das Chorgestühl

(Schreinerarbeit 1743/45: Clemens Seehuber) ebenfalls nach eigenem Entwurf (?) lieferte.

Wenn man das einfache v.a. mit Intarsien dekorierte Chorgestühl im ehemaligen

Benediktinerkloster St. Georgen-Villingen von Johann Martin Hörmann von 1738/39 (Weiß

1998: Abb. 88) mit dem etwas plastischer durch Pilaster und Gesimszone ausgestalteten

Mehrerau-Pendant (Weiß 1998: Abb. 89) und mit der im Abschluss und den

Reliefrahmungen ganz aus der Rocaille entwickelten Zwiefalter Variante ab 1744 (Weiß

1998: z.B. Abb. 19) vergleicht, fragt sich der kritische Betrachter, ob der Entwurf in

Zwiefalten auf Hörmann und Christian zurückgeführt werden kann. Von letzterem existiert

nebenbei bislang keine einzige gesicherte Zeichnung. Die Kooperation mit dem Schreiner

Hörmann aus Villingen lässt sich aus einem möglichen Aufenthalt Christians um 1727/28

in Villingen oder einer Zusammenarbeit in Waldkirch (Kanzel) erklären aber auch aus einer

durch den elsässischen Orgelbaumeister Silbermann beglaubigten Beziehung des

Zwiefalter Abtes mit seinem Villinger Amtskollegen und usurpierten Reichsprälaten

Hieronymus Schuh (reg.1733-1751). Vielleicht wurde ein erster, einfacherer Entwurf von

Christian und Hörmann später unter Einfluss bzw. Korrektur von Johann Michael

Feichtmayr 'aufgemotzt' (s.u.: Chorgestühl Ottobeuren). Begonnen wurde sicher zuerst mit

den Sitzen und den geschnitzten Wangen und kaum mit den Reliefs, wie Ulrike Weiß

1998, S. 104 nach den von Magnus Sattler nicht genau wiedergegebenen

Tagebuchaufzeichungen von Placidus Scharl im Zusammenhang mit den Ottobeurer

Reliefs behauptet. So dürfte das Kirchenmodell mit dem 'Vorzeichen' am/für das

Abtsstuhlrelief erst ab 1749/50 als Vorlage vorhanden gewesen sein.

Altarentwürfe (Johann Sebastian Straub)

Vom 19. November 1744 datiert eine mit einem x gekennzeichnete Zeichnung (hier nur als

spätere Kopie) eines ca. 4 m hohen geschweiften Altarrahmens für einen Aurelius-Altar

(der ersten Langhauskapelle der Nord- oder Evangeliumsseite) wohl nach den

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Maßangaben des Fischer-Baus(?). Entsprechend dem Baufortschritt waren die

Überlegungen des Abtes zur Innenausstattung also nicht verfrüht. Es ist natürlich gut

vorstellbar, dass der Architekt Fischer wie zuvor in Fürstenzell (1741-45) seinen Münchner

Landsmann Johann Baptist Straub für einen Entwurf des Hochaltares und des Kreuz-

Herz-Jesu-Marien-Altares am Choreingang vorgeschlagen hat. Vor allem Peter Volk

propagierte 1985, die drei fast gleich grossen, im Frankfurter Städel befindlichen Straub-

Entwürfe mit dem Hochaltar von Zwiefalten in Verbindung zu bringen. Der Erste und

Früheste (Inv. Nr. 15297) soll auf der Rückseite mit "Hochaltar Zwifalten" (nachträglich?)

bezeichnet sein. Die etwas grössere Variante zeigt im Hintergrund links eine

Säulenarchitektur ähnlich Zwiefalten. Die endgültige (?) lavierte Version variiert noch

etwas die Seiten- oder Altarwächter-Figuren. Peter Volk meint 1984 und 1985, dass

wegen der ikonographischen Veränderungen noch keine inhaltlich verbindlichen Vorgaben

vorgelegen haben und es sich letztlich um eine Mustervorlage handele. Dies hält der

Schreiber dieser Zeilen für sehr unwahrscheinlich. Es würde auch vermuten lassen, dass

Abt Benedikt Mauz sich thematisch noch im unklaren gewesen wäre, er verschiedene

Änderungen angefordert hätte, um dann doch unter dem Eindruck J. M. Feichtmayrs (?)

einen anderen Entwerfer und ein anderes Programm zu favorisieren. Eigentlich kann auf

dem bloss im ersten Entwurf mit Stift angedeuteten Altarblatt nur eine Christusszene

dargestellt gewesen sein, da Gott Vater und die Geisttaube den 'Dritten im Bunde'

erwarten. Alle Seitenfiguren scheinen für den 'Alten Bund' zu stehen. Am Tabernakel ist

wohl die 'Mannalese', seitlich Glaube', 'Hoffnung' und oben das 'Lamm' (Liebe) zu

erkennen.

Mehr Verbindung zu Zwiefalten scheint eine weitere, künstlerisch schwächere Zeichnung

in Berlin, Staatl. Museen, Preussischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek (Inv. Nr. Hz 4535) zu

vermitteln. Diese soll für den nicht so ganz so dringlichen Kreuzaltar ebenfalls um 1745

von Straub dem Abt vorgelegen haben. Wenn dies wirklich zutreffen sollte, hätte Christian

das 'Gnadenbild' vor 1745 und auch schon weit vor seiner Wiederaufstellung bearbeitet

gehabt - vorausgesetzt, dass die spätgotische Figur eine Schutzmantelmadonna gewesen

ist (s.u.). Ausser einigen kleinen Abweichungen in der Armhaltung des Jesuskindes ist die

Beziehung auch in der Herz-Jesu-Thematik zum 1755/56 aufgerichteten Altar schon

erstaunlich. Winfried Aßfalg wird sogar "das Gefühl nicht los, Christian habe die Skizze

Straubs gekannt". Allerdings muss man konstatieren, dass Haltung und Gestaltung des

Gnadenbildes, die anbetenden Engel und das Herz-Jesu-Motiv aber auch konventionell

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anzusehen sind. Andererseits ist es doch irgendwie seltsam, dass Abt Benedikt Mauz, der

zusammen (schon seit 1744?) mit seinem von Weingarten her erfahrenen Bruder und

zeitweiligen dortigen Prior, Herman Mauz (1700 bis 1761 in Zwiefalten), das ganze Projekt

bestimmte, nicht auch die vielleicht eigenhändigen Ideen, Entwürfe, Modelli (vgl. Knoller

und Neresheim) und Verträge gesammelt und erworben hat. Auch unter den Nachfolgern

scheint kein grösseres Dokumentationsinteresse vorhanden gewesen zu sein vor der

Aktenbereinigung nach der Säkularisation. Aber Zwiefalten war darin kein Einzelfall.

Neresheim, St. Blasien, St. Gallen, Ottobeuren sind da eher die Ausnahme. Als nächste

Frage stellt sich, wie und wann die Verbindungen zu dem Stukkateur und Innendekorateur

Johann Michael Feichtmayr hergestellt wurden, nachdem 1746 schon die Galerien und

Kreuzarme gewölbt und aussen auch die drei recht plastischen Rocaillekartuschen von

einem Bildhauer ''Michael" (aus der Truppe des Salemer Feuchtmayer?, der in Säckingen

als Polier auftretende Schweizer Maurer und Stukkator Johann Michael Hennenvogel?)

angebracht waren, der später ab 1747 in den Betrieb von Johann Michael Feichtmayr

übergewechselt sein soll. Letzterer hatte am 13. Juni 1744 einen Vertrag mit der

fränkischen Benediktinerabtei Amorbach gemeinsam mit Johann Georg Üblher

abgeschlossen. Diese dortige, ab 1742 neu errichtete Klosterkirche ging unmittelbar

Zwiefalten voraus, allerdings architektonisch (auch beim Hochaltar) mit grossen

Unterschieden. Da die Feichtmayr-Truppe am 18. Mai 1747 in Zwiefalten mit dem

Presbyterium und Chor beginnt und am 10. Mai 1747 (für den Riss?) schon eine erste

Abschlagszahlung erhält (vgl. Erika Petri, "Johann Michael Feichtmayr - Ein Beitrag zur

Geschichte des deutschen Rokoko", Diss. München 1935, gedruckt Mainz 1935, S. 13),

dürfte schon 1746 ein (Vor-)Vertragsabschluss stattgefunden haben. In Säckingen erfolgte

übrigens am 15. Februar 1752 ein Vertrag vor Verfertigung des Risses.

Bedauerlicherweise haben sich hier wieder keine Entwürfe erhalten, die man sich aber wie

die sehr präzise, ausführliche, perspektivische Wettbewerbszeichnung für die St. Anna-

Kirche in Augsburg von 1748, jetzt im Besitz der Städt. Kunstsammlungen Augsburg

(Inv.Nr. 44730) wohl vorstellen muss.

Die Fresken Spieglers (Presbyterium, Psallierchor, Vierung)

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Am 7. Juni 1747 wurde nach Bruder Ottmar Baumann die Vierungskuppel durch die

Maurer fertig, wobei die Namen von Abt, Prior, Subprior und Senior im Schlussstein

verewigt wurden. Nach der gleichen eher sekundären Quelle soll Franz Joseph Spiegler

vor der Spätherbst-Winter-Kälte das Fresko im Presbyterium noch zu Ende gebracht

haben. Da nach dem 1992 veröffentlichten Exzerpt des "Abteymanuals" Spiegler erst am

23. Oktober des nächsten Jahres, also 1748, 675.- fl ohne Zins erhält, dürfte es in der

Hauptsache auch erst in diesem Jahr entstanden sein. Dann dürften auch die

Dinkelscherbener Fassmaler des Rahmens erst im Verlaufe des Jahres 1748 von dem

Hohentenger Maler Johann Georg Messmer abgelöst worden sein. Dass Spiegler das

Presbyteriumsfresko 1747 nur angelegt (vielleicht nur das sonst nicht mehr verwendete

'Gitter', vgl. Hans Dieter Ingenhoff, Die Münsterkirche in Zwiefalten - Beobachtungen am

barocken Gesamtkunstwerk, in: Pantheon 40, München 1982, S. 208) und nicht beendet

haben dürfte, lässt sich auch aus dem vorangegangenen Auftrag im waldburgischen

Altheim bei Riedlingen erschliessen, wo die Josef-Anton-Feuchtmayer-Truppe 1747 die

Stukkatur lieferte und Spiegler wahrscheinlich erst anschliessend die mit 1747 datierten

und mit 1200.- fl bezahlten Malereien sicher innerhalb von höchstens zwei

Sommermonaten ausführte. Wenn Michaela Neubert in ihrer Spiegler-Monographie von

2007, S. 293 "mit ziemlicher Sicherheit" davon "(aus)geht", "dass der Maler (Spiegler) im

Jahre 1747, also vor der Ausführung seines Zwiefalter Meisterwerkes, in die Lagunenstadt

(Venedig) reiste", wäre es für Spiegler zeitlich noch enger geworden. Im übrigen deutet in

den Altheimer wie Zwiefalter Fresken nichts auf neue, frische italienische Eindrücke hin.

Gemeinsam mit dem etwas grösseren und zeitlich nicht umstrittenen Psallierchorfresko

wäre alles im selben Jahr gut zu bewältigen gewesen. Auch Ralf Scharnagl, (Der

Wessobrunner Stukkateur Johann Michael II Feichtmayr, S. 44) hat Probleme das Jahr

1747 in Zwiefalten für den Stukkateur zu füllen. Es ist sicher nicht besonders

entscheidend, wenn die obengenannte Autorin dem nicht immer zuverlässigen 'Baubericht'

folgend die Fresken in den Querschiffarmen ebenfalls schon 1748 entstanden sein lässt.

Den Schreiber dieser Zeilen bewogen 1992 neben dem Bezahltermin (und "Verding") vom

13. Oktober 1750 eine Entstehung dieser zwei Felder nicht schon 1748 anzunehmen,

sondern 1750 auch wegen der günstigeren Abfolge des Gerüstes von Ost nach West, von

der Mitte zur Seite, von oben nach unten, und auch um die potentielle Auftragslücke für

Spiegler in diesem Jahr zu schliessen. Wenn 1749 nach Baumann erst die Vierung (und

die Seitenarme) stukkiert wurden, konnte Spiegler auch nicht gleich im Frühjahr 1749 mit

der Vierungskuppel beginnen, die er nach der Signatur 1749 aber noch in diesem Jahr

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weitgehend vollendete. Im nächsten Jahr 1750 dürfte mit "Außfertigung [=Vollendung?]

der Cupl, der 4 Welt-theile in denen Zwickhel" Spiegler nicht ganz ausgelastet gewesen

sein, während die Feichtmayr-Truppe zu dieser Zeit das Langhausmittelschiff stukkierte.

Vielleicht konnte man so das von Baumann erwähnte Dankfest am 9. Juni 1750 zur

Befreiung vom württembergischen Joch in der Vierung und im Chor provisorisch abhalten.

1751 war Spiegler dann in der Lage das grosse, gegenüber Neresheim und Würzburg nur

wenig kleinere Fresko im Langhaus malen. Die vier seitlichen Zwickel und der Auszug des

Hochaltares dürften erst 1752 und vor dem im Herbst erfolgten Umzug nach Konstanz

fertiggestellt gewesen sein.

Das 'Vorzeichen' und die Fassade

Daneben ist auch die Geschichte des "Vorzeichens" zu erzählen: Ob das zu kurze

Langhaus, das Fehlen einer repräsentativen Reichsabtei-Kirchenfassade, die durch eine

Integration in den westlichen Klostertrakt ursprünglich "blind", fast unscheinbare, primäre,

schon vorhandene Lösung des Eingangs (zumal in einer angeblichen Wallfahrtskirche) zu

Fall brachten, ist nicht ganz klar. Zeitgleich mit den Sondierungsversuchen (1748 nach

Franz Quarthal, in: Zwiefalten 1989, S. 422) zur Ablösung des württembergischen

Vogteirechtes änderte Abt Benedikt die Vorhallenplanung. Der Fischer-"Rieß zu dem

Portal" von 1745 soll angeblich nur der alten, "blinden" Vorhalle gegolten haben. Ein

weiterer, nun geänderter Entwurf soll angeblich aus dem Jahre 1749 und von den

Gebrüdern Schneider stammen. Nach Baumann wurden die entsprechenden Teile des

Klosterflügels 1749 abgerissen und 1750 die Fundamente des heutigen 'Vorzeichens'

gelegt und die neuen Mauern hochgezogen, wobei Reinhold Halder keinen Anteil des

wenigstens November 1750 in Zwiefalten weilenden Fischer vermutet. Für die 1752/53

vollendete Fassade nimmt Gabriele Dischinger, in: Fischer II 1997, S. 26 wegen der

"plastischen Qualität" Joseph Christian als "Plan(er)", ja sogar als "Leit(er) des

Vorhausbaus" an, der wohl alle bildhauerischen Arbeiten (1751: Gesimse und Säulen;

1752: Widmungskartusche; 1753: die beiden Hauptpatrone und die beiden Stifter, die

Mutter Gottes; 1754: Benedikt) lieferte aber kaum den Entwurf für diese Fassade. Es gäbe

für Christian auch nichts Vergleichbares (vgl. oben Mehrerau) mit dieser Mischung von

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barockem guarineskem Schwingen und antikisierender Tempelfront. Karl Schömig in dem

Kirchenführer Münster Zwiefalten", München 1988, S. 38 nennt wenig überzeugend 'SS.

Vincenzo e Anastasio a Trevi' in Rom als mögliches Vorbild. Christian hatte

logischerweise Zugang zu den Modellen und Rissen. Die etwas besser schauseitig,

perspektivisch verdrehte Wiedergabe der um 1749 konzipierten Westfassade in dem

Relief des Abtsstuhles sollte nicht wie von Gabriele Dischinger in Richtung einer

Entwurfstätigkeit Christians ("die Künstlerpersönlichkeit in Zwiefalten") überbewertet

werden.

Innenausbau des 'Vorzeichens'

Ab 1753 wandte man sich wiederum nach Baumann dem Innenausbau zu: zuerst das

Gewölbe über der späteren Orgel, dann 1754 das unter der Orgel, das wohl mit den

gekuppelten toskanischen Säulen auf Podesten als Überleitung zum Schiff, aber

ansonsten über einem biederen, zweijochigen, dreischiffigen, querrechteckigen Raum als

sich durchdringende Tonnen aufliegt. Erst 1758 wurde dieses Gewölbe von der

Feichtmayr-Truppe stukkiert. Wenn Spiegler noch gelebt hätte und arbeitsfähig gewesen

wäre, hätte man ihm wohl die Freskoausmalung übertragen; so aber fertigte der

möglicherweise von Marchthal empfohlene Franz Sigrist sicher erst nach dem Tode des

von der auch zur oberschwäbischen Benediktinerkongregation gehörigen Reichsabtei Isny

gekommenen und nach dem Tode Wegscheiders in Riedlingen ansässig gewordenen

Johann Michael Holzhay Anfang 1763 im Verlaufe dieses Jahres die drei Felder dieses

"Propilaeums".

Die Gitter und das Gnadenbild

Bei Baumann finden sich zwei verschiedene Daten der Aufstellung des eisernen Gitters

zum Langhaus: 1754 (provisorisch?) und 1760 ähnlich dem Chorgitter (1751:

Holzprovisorium; 1757 Vollendung mit Einfügung der illusionistischen Füllungen; das

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Vorbild in Weingarten wurde 1730 nach einem Entwurf des Abtbruders Hermann Mauz

gefertigt, der auch hier für die Vorlage verantwortlich gemacht werden kann). Am 18.

Oktober 1752 holte man das durch keine Wunder bekannt gewordene 'Gnadenbild' nach

12 Jahren, 5 Monaten und 10 Tagen von der Pfarrkirche wieder in die Klosterkirche und

stellte es auf einen provisorischen Kreuz-Altar am Ende der Vierung und am Beginn des

Chores auf. 1756 ist der endgültige Altar aufgemacht worden. Das Gnadenbild erhielt noch

einen feuervergoldeten "Schein", nachdem es zuvor von Christian überarbeitet worden

war: am ehesten der Wolkensockel und angeblich die schon vor 1745 (?) entfernten

Hilfesuchenden unter dem Schutzmantel Marias. Dass man in einem Kloster, das sich so

sehr dem Schutze Mariens verbunden fühlte, eine altehrwürdige und vielleicht sogar

irgendwann einmal Wunder bewirkt habende gotische Schutzmantelmadonna auch aus

Gründen des Geschmacks, aber auch der Ähnlichkeit mit anderen berühmteren

Himmelsköniginnen so zurecht getrimmt hat, ist doch sehr erstaunlich.

Weitere Baunachrichten und der Hochaltar

Um den kommenden "Attribuzzlerei"-Datierungs-Deutungs-Problemen etwas besser

begegnen zu können, müssen noch weitere 'unterbauliche' Fakten aufgezählt werden, wie

z.B. die Abfolge des Chors, der Seitenkapellen, der Emporen und der Orgelbühne. Am 31.

10. 1752 konnte das aufgestellte, neue Chorgestühl benützt werden. Ob die (später?)

vergoldeten Schnitzreliefs der Rückwände schon eingesetzt waren, ist unbekannt. Im

gleichen Jahr ist auch der Hochaltar mit "Schleifen und Fassen" beendet worden. Den

Auszug dürfte - wie gesagt - Spiegler noch vor seinem Umzug im September 1752 nach

Konstanz gemalt haben. Über Winter 1752/53 fertigte er schon in Konstanz das wohl

horizontal gemalte, riesige, fast 8 m lange oder hohe Hochaltargemälde, das von vier

Personen vom neuen Wohnort abgeholt werden musste und ein über mehrere Monate

dienendes Provisorium ersetzte. 1753 wurde das Langhaus gepflastert. Die beiden

szenisch vorgestellten bzw. gehängten Stuckfiguren des Engels und des Evangelisten

Matthäus waren sicher 1753 noch nicht vorhanden, da auch Baumann nur die beiden

1754 auf die 'Opfergänge' gestellten Holzfiguren des 'Alten und Neuen Testamentes' von

Johann Joseph Christian erwähnt. Von der Gabler-Chororgel schreibt er 1755 als schon

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vollendet, während Placidus Scharl bei seinem Aufenthalt erst im September 1757 sie als

soeben funktionsfähig, aber kritisch sieht. Am 1. Januar 1755 ist in Rom die Bruderschaft

der 'Verkündigung Mariä' mit der des 'Herzens-Jesu' verbunden worden, sodass passend

im Jahre 1756 der Herz-Jesu-Altar aufgerichtet und auf ihm das schon hinlänglich

genannte Gnadenbild aufgestellt werden konnte. Mit dem Chorgitter 1756/57 war der Chor

bis zu Vierung weitgehend, aber erst 1758 völlig fertiggestellt. Was die letzten Arbeiten

(Vergoldung der Reliefs?, Fassmalerei?) waren, ist leider nicht bekannt. An anderer Stelle

heisst es um 1760 also zu Recht, dass die Klosterkirche "necdum vero ornatu perfecta

conspicitur", also in der "Zierlichkeit" noch unvollendet ausschaut. Mit einem 1762 von

Johann Georg Messmer von Hohentengen gemalten (oder gefassten?) "Herz-Jesu-

Bruderschaftsaltar" (s.o.) bricht Baumanns 'Baubericht' plötzlich ab.

Die Fresken über der Orgel, den Emporen und in den Kapellen

Noch unter Benedikt Mauz erfolgte 1764 die Ausmalung der Decke über der Westorgel

durch Andreas Meinrad von Ow und anschliessend der aber erst 1766 unter dem

Nachfolger Nicolaus II Schmidler beendeten Felder über den Emporen und in den

Seitenkapellen. Nach Reinhold Halder (in: Fischer II, 1997, S. 306) wurde auch erst 1765

der Boden dieser Kapellen gepflastert, sodass anlässlich der Benediktion des neuen Abtes

Nicolaus II durch den Konstanzer Fürstbischof und Kardinal Franz Konrad von Rodt schon

einen manierlichen, aber auch noch nicht ganz vollendeten Eindruck bei der gleichzeitig

erfolgten Kirchweihe machte. Die beiden grossen und die kleineren Seitenaltäre, die

Kapellenaltäre, die Kanzelgruppe, die Hochaltarszenerie waren zu diesem Zeitpunkt noch

nicht vorhanden oder erst im Entstehen. Als letzteres grösseres Unternehmen vor der

klassizistischen Ausgestaltung des Coemeterium-Anbaus entstand von März 1772 bis

1777 die grosse Westorgel durch Joseph Martin Hayingen wahrscheinlich mit grosser

Unterstützung durch den Subprior und Klosterkomponisten Ernest Weinrauch.

Die Magnuskapelle von Gossenzugen in einer Beschreibung aus dem Jahre 1760

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Die Probleme der richtigen oder besseren zeitlichen, personellen-autorenmässigen

Einschätzung des Zwiefalter Ensembles zeigt sich auch in der nahen Magnus-Kapelle von

Gossenzugen. In der schon genannten und 1992 abgebildeten und wohl noch vor dem 7.

Februar 1760 abgefassten Beschreibung der Zwiefalter Kapellen (vgl. HStAS. B 551, Hs

14a, fol. 16) heisst es: "Goßenzugen // Sacellum S(ancti) Magni Abbatis // Surrexit primum

Anno D(omi)ni 1749 in honorem Sancti et /Thaumaturgi Abbatis Magni Suevorum Apostoli,

ex oblatio- / nibus Fidelium, quibus S(anctae) Reliquiae de Pedo S. Magni contra infecta /

salutares fuerunt, adstipulante, et plurimum promovente / Rev(eren))d(issi)mo D(omino)

D(omino) Imp(erialis) Mon(aste)rii n(ost)ri Zwif(a)l(tensis) Abbate Benedicto, qui / ipse

anno praedicto, ipso die Festo S. Magni Abb(atis) 6.to Septemb(ris) / primum ejusdem

Sacelli lapidem posuit, primamque in eodem (sacello) / supra Aram portabilem Missam

celebravit, et mox 12. Septemb(ris) / alteram; cum antehac a Saeculis nullum in eo vico

aut Sa- / cellum esset, aut unquam Sacrum celebraretur // Fornicem, Aramque spectabilis

artificii pictura gratis / exornavit celeberrimus Pictor D.(ominus) Franc:(iscus) Joseph

Spiegler: / opus vero gypsatum pio pariter in Sanctum ductus affectu / confecit insignis

artifex ac plastes D(ominus). Joann. Michael / Feuchtmayer Civis Augustanus. //

Sacellu(m), quod Consecrationem adhuc exspectat, sicut / oblationibus erectum est, ita

iisdem conservatur: quippe / quod alium fundationem non habet" - oder übersetzt:

'Gossenzugen. Kapelle des Hl. Abtes Magnus. Sie ist zum ersten Mal im Jahre des Herrn

1749 zu Ehren des Heiligen und Wunder tätigen Abtes Magnus, Apostel der Schwaben,

aus Spenden von Gläubigen errichtet worden, denen die heiligen Reliquien vom Stabe des

Hl. Magnus gegen Infektionen heilbringend gewesen sind, unter dem Versprechen und der

grössten Förderung des Ehrwürdigsten Herrn Herrn Abtes Benedikts unseres

Reichsklosters Zwiefalten, der selbst im besagten Jahre gerade am Festtag des heiligen

Abtes Magnus den 6. September den ersten Stein derselben Kapelle gelegt hat, und in

derselben auf einem Tragaltar die Messe gefeiert hat; und bald am 12. September eine

weitere; weil seit Jahrhunderten in diesem Dorf keine Kapelle war oder irgendeine heilige

Handlung gefeiert wurde. // Die Decke und den Altar von einer ansehnlichen Künstlichkeit

hat der sehr berühmte Maler Herr Franz Joseph Spiegler mit einem Gemälde umsonst

ausgeschmückt. Die Gipsarbeit aber hat aus einer ähnlichen Zuneigung zu dem Heiligen

geleitet der ausgezeichnete Künstler (Kunsthandwerker) und Stuckbildner Herr Johann

Michael Feuchtmayer, Bürger von Augsburg, verfertigt. // Die Kapelle, die bis jetzt auf eine

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Weihe wartet [erst 1781; Glocke 1768], wird so wie sie von Spenden errichtet worden ist,

so auch von denselben Spenden unterhalten; da sie ja überhaupt keine andere Stiftung

besitzt'.

Der wichtige zweite Abschnitt liesse sich theoretisch auch so lesen, dass 'Spiegler die

Decke und den Altar mit (je) einem Gemälde von einer ansehnlichen Kunstfertigkeit

geschmückt hat'. Auch nicht ganz klar wird, ob mit 'Gipsarbeit' neben den Pilastern,

Kapitellen, den agraffenartigen Kartuschen der Altar, die Altarmodellierung einschliesslich

des Drachen und vor allem des Hl. Magnus gemeint sind. Ein Joseph Christian oder ein

Johann Michael Fischer tauchen als Stifter gar nicht auf. Auf alle Fälle besitzt das quasi

frei modellierte Altarretabel einen völlig anderen, manchmal naiven, improvisatorischen, ja

partiell dilettantischen Charakter gegenüber den teilschablonierten oder gegossenen

Kapitellen. Auch die Stuckkartuschen wirken gehilfenmässig. Der teilweise geglätte und

gefasste 'Hl. Magnus' und auch die konventionelle, stilistisch wenig passende

Stuckmarmor-Mensa heben sich von dem Unregelmässigen, Verwittertem des wohl

teilweise gemauerten, (holz-)über- und freistukkierten und farbig bemalten Retabels ab.

Das halbrund geschlossene, sehr schmale, dem Torbogen angepasste Ölgemälde einer

Marienvision in einer Wildnis mit Pilgern ist wohl auf einem Unter-Hintergrundholzrahmen

in diese 'Ruinen-Architektur' eingelassen.

Die Idee zu diesem Grottenaltar

Für ein solches 'natürliches' Gebilde muss es einen Entwurf auf alle Fälle vor 1756

gegeben haben. Die Idee könnte vom Abt Benedikt selbst ausgegangen sein. Von

Spiegler kennen wir in dieser integrierenden Art nur den Hochaltarauszug und die vier

Zwickelbilder unter dem grossen Langhausfresko, beides aus dem Jahre 1752 und in

engster Kooperation mit Feichtmayr. Von Christian findet sich z.B. in der 'Flucht nach

Ägypten', in der 'Anbetung der Hirten' in den vergoldeten Dorsalreliefs des Zwiefalter

Chorgestühls (wohl ebenfalls um 1752) schon ähnliches, man vergleiche den Bogen und

das Grottenwerk. Diese Reliefs wirken - wie schon früher bemerkt (z.B. "Barock in Baden-

Württemberg", Bd. 1, Bruchsal 1981, S. 158/59, B 3) - relativ unstimmig

zusammengestückt aus manieristischen 'Überschaulandschaften' und Zentralperspektive-

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Übungen. Auch der Figurenapparat ist Stichen entnommen. Die Reliefs von Christian sind

zumeist keine eigene Erfindung oder aus der Vorstellung entstanden. Christian wird

bislang aber doch ziemlich einhellig die nicht einmal halblebensgrosse Magnus-Figur

zugewiesen. Es wäre damit eine der ersten Stuckfiguren des Holz- und Steinbildhauers.

Von Johann Michael Feichtmayr ist allerdings ausserhalb des Zwiefalten- (und

Ottobeuren-) Komplexes (s.u.) auch nichts ähnliches bekannt, obwohl er die seit

Renaissance und vor allem Manierismus immer wieder auftauchenden Grotten-Motive

(vgl. z.B. Magdalenenklause, München um 1730, oder die Bayreuther Eremitage) aber

auch die Entwürfe François Cuvilliés und Johann Esaias Nilsons sicher am besten kannte

und in den Elementendarstellungen im Münster im Jahre 1750 Tropfsteinartiges sparsam

einsetzte. Ralf Scharnagl, in: "Der Wessobrunner Stukkateur Johann Michael II

Feichtmayr", Münster 1993, S. 47, schätzt diesen Altar "in seiner Art für Johann Michael II

Feichtmayr wohl einmalig (ein). Er ... hat hier ein Stück Volkskunst geschaffen". Auf S. 45

meint Scharnagl, dass Feichtmayr in Gossenzugen auch in der Stuckdekoration durch die

grössere Freiheit schon Entwicklungen (Zurücknahme, klarere und ruhigere Linie?)

andeutet, "die er erst wesentlich später umsetzt", was man auch für eine spätere

Datierung also nach 1749/50 ins Feld führen könnte. Der Autor dieser Zeilen überlegte -

ausgehend von der beinahe capricciohaften Verwendung in den Dorsalreliefs - bei dieser

plastisch-bildhaften Inszenierung zeitweise sogar daran, Christian einen Anteil über die

Magnus-Figur hinaus zuweisen zu können. Aber eine solche phantasievoll-erzählerisch-

spielerische Richtung dürfte doch eher in Richtung Feichtmayr und seiner Truppe gehen.

Der geringe physiognomische Ausdruck des 'Magnus' macht selbst hier Christian ziemlich

unwahrscheinlich. Vor einer Feichtmayr-Christian-Aporie hilft vielleicht eine

rekonstruierende Rückkehr zum zeitlichen Szenario etwas weiter. Warum gerade 1748/49

zum Zeitpunkt der intensivsten Ausstattungskampagne in Zwiefalten Abt Benedikt diesen

kleinen Bau in dem klosternahen Handwerkerdorf unternahm, ist eigentlich ein Rätsel

(Weiterbeschäftigung der Maurer, o.ä.?). Als Entwerfer der interessanten Rokoko-

Architektur wird in der Literatur immer Johann Michael Fischer genannt, der ja - wie schon

erwähnt - 1749 in Zwiefalten weilte. Wenn der Abt am September den "primum ...

lapidem", den Grundstein, (verspätet?) legte und gleichzeitig schon an diesem Tag und

knapp eine Woche später an einem Tragaltar das Messopfer (unter offenem Himmel?)

feierte, ergeben sich schon wieder Probleme. Günter Kolb meinte in: Zwiefalten1989, S.

380, dass am 6. September die Stiftungsurkunde für diesen "gleichrangig neben der

großartigen Klosterkirche" anzusehenden Bau ausgestellt worden wäre, dass der Bau

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1749 schon unter Dach und Fach gewesen wäre und Spiegler sein Deckenfresko mit 1749

bezeichnet hätte.

Das Gossenzuger Deckenbild

Michaela Neubert glaubte in ihrer Spiegler-Monographie von 2007, S. 540 unter einem

Sack noch Signaturreste "F.J. ..." aber ohne erkennbare Jahreszahl ausmachen zu

können und blieb so bei ihrer Datierung: "wohl um 1749". Wenn man das zeitgleiche

grosse Zwiefalter Vierungskuppelfresko betrachtet, kommen doch einige stilistische

Zweifel: eine andere kühlere Farbigkeit, dazu eine ganz andere bukolische, bislang

unspieglerische Motivik. Ausserdem ist kaum anzunehmen, dass Spiegler nach dem

vielleicht nicht ganz vollendeten Vierungsbild noch im Herbst 1749 dieses sicher in 2

Wochen (ca. acht Tagwerke) zu bewältigende Fresko eingeschoben hat. Eine Entstehung

im weniger 'dichten' Jahr 1750 wäre besser vorstellbar. Eine weitere Alternative wäre das

Jahr 1752 bis zum Umzug nach Konstanz. Ins Jahr 1751/52 gehören noch die 1752

datierten und signierten (nur der 'Josefs-Tod'), aber von Michaela Neubert

unbegreiflicherweise Spiegler abgeschriebenen Seitenaltarblätter in der Pfarrkirche von

Salmendingen.

Ein 'neuer Spiegler'

Ein weiteres, aber früheres, von Michaela Neubert übersehenes, bislang nicht erkanntes

Spiegler-Gemälde, die wohl aus der Totenkapelle des alten Münsters stammende und vor

einigen Jahrzehnten an der beichtstuhllosen Rückwand einer Langhauskapelle befindliche

'Beweinung Christi durch Maria, Maria Magdalena und Johannes', um 1730/35 hängt jetzt

im nördlichen Nebenraum der Vorhalle von Zwiefalten. Die dazugehörige, von ihr in die

40er Jahre datierte Skizze (S. 562, ÖS 33) befindet sich in St. Paul, Lavanttal.

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Feichtmayr und Spiegler in Säckingen seit 1752

Wenn Feichtmayr am 15. Februar 1752 einen Vertrag wegen der Stukkierung des

Langhauses mit dem Damenstift Säckingen abgeschlossen hat, müsste auch um die

gleiche Zeit die nur briefliche Abmachung mit Spiegler getroffen worden sein. Da nun

Spiegler am 18. Oktober 1752 schon 1000.- fl. (einschliesslich der Entwürfe?) erhalten

hatte, dürfte er auch nach dem Lohn für den 'Aufleger' im Jahre 1752 schon einiges

zustande gebracht haben, zumindest eine Aufteilung für die 'terrestrischen' Architekturen.

Bis zum 14. November 1753 bei der zweiten Abschlagszahlung von wiederum 1000.- fl.

müssten das grosse Mittelschifffresko, die Apostel und die Ursus-Gerichtsszene am

Chorbogen beendet gewesen sein. Während wahrscheinlich auch das Fresko über der

Orgel noch 1753 fertiggestellt wurde, ist das mit 1754 datierte Fresko am Eingang unter

der Orgelempore erst in diesem Jahr entstanden. Michaela Neubert datiert die Fridolins-

Szenen der Seitenschiffe ebenfalls in den Zeitraum 1752/53. Diese dürften aber erst nach

1755 oder sogar nach Spieglers Tod im April 1757 von Anton Morath teilweise nach

Spiegler-Entwürfen ausgeführt worden sein. Diese Gemälde und vor allem die erhaltene

Skizze für die 'Flossfahrt des Fridolin' kommen stilistisch den Gossenzuger Bildern sehr

nahe. 1754, vielleicht auch noch bis 1755 war Spiegler im Presbyterium und Chor der

Säckinger Stiftskirche tätig.

Die Signatur des Altarbildes von Gossenzugen und eine mögliche Beteiligung Christians

Ein weiteres Argument für eine möglichst späte Datierung von Gossenzugen ist die schon

1992 abgebildete Signatur des wohl zeitgleich mit dem kreisrunden Fresko entstandenen

schmalen Altarblattes, die eigentlich nur als "1756" und nicht "1750" gelesen werden kann.

Dies könnte auch bedeuten, dass Spiegler (und Feichtmayr) 1756 noch einmal nach

Zwiefalten bzw. Gossenzugen gekommen ist, um vielleicht nach Fertigstellung der

Wölbungen des 'Vorzeichens' im Jahre 1754 die Freskenflächen in Augenschein zu

nehmen. Inwieweit der Gesundheitszustand des zumindest in seinem letzten Lebensjahr

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1757 von seinem Schwiegersohn, dem Radolfzeller Arzt Kolb, behandelten Spiegler dies

zuliess, sei dahingestellt. Auch ein Ex-Voto für den 'Hl. Magnus' konnte ihm letztlich keine

körperliche Hilfe mehr bringen. Das bislang als letztes Werk des jetzigen Konstanzer

Beisassen angesehene und datierte Altarbild im Oratorium der Säckinger Stiftskirche

stammt aus dem Jahre 1755, vgl. Michaela Neubert, 2007, S. 542.

Wann genau Joseph Christian seinen bis 1767 dauernden Aufenthalt in Ottobeuren antrat,

ist leider nicht bekannt. Es müsste aber gegen Ende des Jahres 1755 gewesen sein. Auch

von daher ist eine Beteiligung Christians in Gossenzugen unwahrscheinlich. Grotten-

Karst-Motive finden sich jedoch auch wieder in einigen Dorsal-Reliefs von Ottobeuren, z.B.

'Wasserwunder Benedikts', 'Götzenbildzerstörung durch Benedikt', 'Himmelfahrt des Elias'

und v.a. in den (fälschlich s.u.) Feichtmayr zugeschriebenen Stuckreliefs über den

Beichtstühlen der Querarme. Wenn man die für 200 fl. von Christian entworfenen (?) und

figürlich wie ornamental durch Schnitzereien verzierten und von Joseph Buck

geschreinerten Seitenaltäre im Zwiefaltischen Wilsingen von 1752 betrachtet, kann man

nur feststellen: ein langweiliger, phantasieloser, symmetrischer Abklatsch von Feichtmayr.

Nach einigem Hin und Her lässt sich festhalten, dass vor 1760 oder spätestens ab 1756

im Zwiefalter 'Milieu' (vgl. Upflamör, Friedhofskapelle St. Blasius, der Altar soll eine

neobarocke Schöpfung sein, der Putto und die gemalten Köpfe von Hilfesuchenden

dürften aber schon um 1767 entstanden sein; oder Pfk.; Riedlingen, ehem.

Spitalrefektorium. um 1770; und das vom Stukkator Bernhard Heinz aus Bonndorf 1761

gefertigte 'Grottenwerk' der abgebrochenen Magdlenenkapelle von Kloster Rheinau in

Zusammenarbeit mit dem Konstanzer Bildhauer Johann Reindl und dem Spiegler-

Mitarbeiter und späteren Schwiegersohn, Johann Konrad Wengner, der 1763 die

Landschaften an den Wänden malte) solche grottenähnlichen Inszenierungen mit Malerei,

Relief, Vollplastik und Architektur möglich waren, wobei der Impuls und die Vorstellung

weniger von Spiegler als von Christian (aber sicher nicht in Gossenzugen), Feichtmayr

und Abt Benedikt ausgegangen sein dürften.

Nach Ende des 'Bauberichtes 1762: Seitenaltäre, Kapellenaltäre und Kanzel-Ezechiel-

Gebilde

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Aus teilweise ähnlichen Überlegungen heraus, wurden vor 1992 die im wahrsten Sinne

des Wortes Aufsehen erregenden Inszenierungen am Hochaltar, der Kanzel und ihres

Pendants immer zwischen 1752 und 1756 datiert. Baumanns 'Baubericht' bis 1762 hätte

zumindest die Kanzel, die Seitenaltäre sicher erwähnt, wenn sie bis dahin vollendet

gewesen wären. Auch aus der schon erwähnten 'Beschreibung' von 1760 und dem

aufgezeigten Baufortschritt muss der Verfasser dieser Zeilen nochmals konstatieren, dass

die Ausstattung diesseits des Chorgitters erst ab 1763 bis 1766 und über den Abtswechsel

1765 mit den fehlenden Fresken eingesetzt hat. Da Christian, Feichtmayr (und Hörmann)

spätestens ab 1767 wieder von Ottobeuren frei waren, dürften erst ab diesem, auch von

Reinhold Halder 1997 schon geteilten Zeitpunkt die noch älteren Plänen Feichtmayrs - wie

von Ulrich Knapp vorgestellt - folgenden Seitenaltäre des Querhauses, die Nebenaltäre,

die Kanzel-Ezechiel-Architekturen (wohl auch nach Entwürfen des 1767-1770 auch in

Vierzehnheiligen mit Altären befassten Feichtmayr) ausgeführt worden sein. Die

"Konzept"-Notizen von Abt Benedikt Mauz reichen nur bis zu den Kapellen- bzw.

Emporenfresken (1766). Vom Nachfolger Schmidler haben sich keine seiner sicher

vorhandenen 'Gedankhen' schriftlich erhalten. Aber er dürfte vielleicht in Weiterführung

von Unterredungen mit seinem Vorgänger und mit Feichtmayr (und Christian) der

eigentliche 'spiritus rector' der restlichen Zwiefalter Ausstattung gewesen sein. Auch die

Tafelgemälde der Kirche abgesehen vom Hochaltarblatt gehören alle in die Zeit nach

1767. Die grossen Seitenaltarblätter vom württembergischen Giosue Scotti bzw.

konstanzischen Franz Ludwig Herrmann sollen aus dem Jahre 1767 stammen wie auch

die Vorsatzbilder in den Seitenkapellen von Bernhard Neher. Die drei Guibal-Gemälde

sind - etwas versteckt - mit 1769 datiert. In den ähnlichen Zeitraum dürften die restlichen

von württembergischen Malern stammenden Gemälde der Kapellenaltäre zu setzen sein.

Die in die schwungvoll-plastischen Rahmen der Kapellenrückwände eingelassenen

Christus-Szenen malte Franz Ludwig Herrmann zwischen 1770 und 1772. Da der

Kapellenboden - wie schon gesagt - 1765 gepflastert wurde, sind die Altäre und die mit

den genannten Rückwandrahmen verbundenen sänftenartigen Beichtstühle sicher erst

danach aufgestellt worden. Es ist bislang nicht bekannt, wer oder welche Werkstatt die

beträchtlichen Schreinerarbeiten und Schnitzereien (Christian und Sohn?) zwischen ca.

1765 und 1770 ausführte. Christian lebte nach seiner Rückkehr von Ottobeuren seit 1768

nachweislich und bezeichnenderweise im Zwiefalter Hof (W. Aßfalg) und arbeitete auch

noch bis 1773 in Zwiefalten neben und vor seinen Aufträgen in Unlingen (1772/73) und in

der Stiftskirche Buchau (1774-76). Die Stuckfiguren vom Hochaltar (um 1767), der

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'Ezechiel' und die Kanzel (wohl um 1768/70), die Seitenaltäre (ab 1765/67), die

Kapellenaltäre (1769-1773; die Figuren stellen zu den Heiligen passend wohl die acht

Tugenden dar: Aurelius u. 'temperantia', Joseph und 'charitas', 14-Nothelfer und 'patientia',

Mauritius und 'fortitudo', Agnes und 'fides', Anna und 'spes', Petrus und 'iustitia'?, Ursula

und 'prudentia') sowie die in den genutzten Teilen geschnitzten (somit sicher ein Anteil der

zumindest seit 1773 auch über eigene Stukkatoren verfügenden Werkstatt von Christian

Vater und Sohn) und stukkierten Beichtstühle an der Westwand (ab 1772) müssten alle in

einem recht engen Zeitfenster zwischen 1767 und 1773 entstanden sein. Die integralen

Malereien des Kanzelkorpus mit der Gossenzugen ähnlichen Ruinen-Grotten-

Arkadenreihe hinter dem 'Totenfeld' stammt sicher von einem Maler des von Ow-

Umkreises (Bernhard Neher?) und ebenfalls aus der Zeit nach 1767.

Ezechiel

Auch wenn der Autor jetzt sich sicher ist, die Einzelplastiken weitgehend Christian geben

zu können, erstaunt doch ihre unterschiedliche Qualität. Die beste und wohl am meisten

inspirierte Figur ist zweifelsohne der 'Ezechiel' mit seinen auffälligen

Unterarmschwellungen. Weder vorher noch nachher ist es dem - nach der Spätdatierung

doch über 60jährigen Christian (ähnlich Spiegler) gelungen, eine solch raumgreifende,

anatomisch ziemlich korrekte und physiognomisch ausdrucksstarke Plastik zu gestalten.

Der 'Johannes der Täufer' von Ottobeuren mag ein - allerdings schwächerer - Vorläufer

sein. Der 'Matthäus' am Hochaltar von Zwiefalten mit dem pneumatischen, in Stucktechnik

relativ leicht herzustellenden Gewand steht dem 'Ezechiel' etwas nach. In der

entkörperlichten 'Gertrud von Helfta' kommt wie in einigen Büstenentwürfen (vgl. Barock in

Baden-Wüttemberg, Bd. 1, S. 160/61, B 6a u. b mit Nähe zu Üblher; die Tonbozzetti

Nummern B 1a u.b. und B 8 stammen eher vom Sohn Franz Joseph Christian) eine

verinnerlichte Physiognomik zum Ausdruck. Am 'Bittsteller' (angeblich 'Christus als Bettler',

aber ohne Wundmale) auf dem volutenähnlichen Knorpel am südöstlichen Nebenaltar

zeigt sich ein fast neapolitanischer, gekonnter Realismus. Eigentlich stellt man sich bei der

expressiv-realistischen Auffassung in Zwiefalten eher einen Künstler in jüngerem Alter vor.

Ein gewisses Nachlassen zeigt sich im Schlankerwerden, einer Entkörperlichung (z.B.

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'Allegorien' der Kanzel, der Kapellenaltäre und über der Orgelempore). Da immer noch

das Problem der Händescheidung (s.u.) ansteht, bleiben aber mögliche Gründe für die

qualitative Leistungssteigerung (üppigere Bezahlung, geringerer Zeitdruck, bessere

Vorlagen, höherer Anspruch des Auftraggebers oder an sich selbst, bessere seelisch-

körperliche Verfassung u.ä.) vorerst weitgehend allgemeine Spekulation. Weiteres zur

Ezechiel-Kanzel-Gruppe siehe unter 'Ottobeuren und die Feichtmayr-Christian-Frage'.

Die künstlerischen Talente des Abtes Benedikt Mauz

Aus dem leider nicht wörtlich transkribierten Tagebuch des Andechser Benediktiners

Placidus Scharl (1731-1814), herausgegeben von Magnus Sattler, Regensburg 1868, S.

102 lässt sich bei einer in den Sommerferien (August/September) 1757 unternommenen

Reise durch Zwiefalten entnehmen, "daß der Herr Reichsprälat selbst Baumeister war und

den ganzen Bau dirigierte; er war sehr gewandt im Zeichnen und verstand vorzüglich die

Optik und Perspektive, wovon sich in der Kirche wahre Meisterwerke befinden". Es folgt

die Schilderung des perspektivischen Chorgitters (wahrscheinlich eher nach einem

Entwurf des Bruders des Abtes, Hermann Mauz). Auf der Rückreise ist der Benediktiner

noch über Ehingen gekommen, wo er das kleine Schultheater besichtigte und das

"Meisterstück von Perspektiv-Malerei des Reichsprälaten, welches bei wenigen Szenen

dem Auge eine täuschende Tiefe des Schauplatzes darbot" (S. 105), bewunderte. Es

könnte sich - wie schon angedeutet - um ein gemaltes Proszenium und um gemalte

(Hintergrund-) Kulissen (vgl. Theater in Admont) gehandelt haben. Idee und Skizze dürfte

der damalige Superior Mauz geliefert, aber die Ausführung einem Ehinger Maler wie

Ferdinand Saur überlassen haben. Der Marchthaler Konventuale, Prediger, Dramatiker

und Ortspfarrer in Dieterskirch, Sebastian Sailer, hob in seiner im August 1765 gehaltenen

Leichenpredigt die "Liebe zum Theater" des verstorbenen Abtes Benedikt Joseph Mauz,

"sein großes Hirn", "seine künstlichen (kunstfertigen) Hände" und die "prächtige

Schaubühne" hervor (GLAK 98/2360).

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Christians Vorlagen

Mit grosser Sicherheit (z.B. aus dem Nachlass von 1777) lässt sich vermuten, dass der

wegen fehlender lukrativer Aufträge vor 1744 immer finanziell 'klamme' Christian wohl

über keine eigene grössere Stich- und Vorlagensammlung verfügte, und dass der Abt ihm

neben thematischen Vorgaben für die Dorsalreliefs einige Tipps, Wünsche, Vorlagen für

Perspektive und Ornamente, aber auch für Personengruppen von Spätgotik/Renaissance

bis Manierismus (z.B. Vredeman de Vries) übergab. Schon das Christian zugeschriebene

Kanzelrelief der Stiftskirche Waldkirch von etwa 1736 wirkt wie eine konturierte

Übertragung einer graphischen Vorlage. Bis auf die archivalisch nicht gesicherte

Orgelemporenbrüstung im Zwiefaltischen Aichelau nach dem Wappen noch unter Abt

Augustin Stegmüller (also vor 1744) macht das Frühwerk Christians keinen

überzeugenden künstlerischen Eindruck. Im Vergleich zum akademisch gebildeten Ignaz

Günther hatte der stärker handwerkliche Christian z.B. immer Schwierigkeiten mit der

Perspektive. Abt Mauz besass nach den erhaltenen Programmkonzepten ein gutes

Vorstellungsvermögen und auch ikonographisch-ikonologische Kenntnisse, obwohl er sich

z.B. nicht direkt auf Ripa oder ähnliches berief.

Kontinuität in Zwiefalten unter Abt Nicolaus II

Der Nachfolgeabt Nicolaus II Schmidler war wie gesagt - ebenfalls 'ein Mann des

Theaters', des Kirchenbaus und an komplexen Ikonographien wie in Daugendorf um

1767/1770 oder im unter ihm ausgestalteten Zwiefalter Coemeterium sehr interessiert.

Trotz äusserlicher Unterschiede - der kleine und agile Benedikt und der grössere,

behäbigere Nicolaus - herrschte im einheitlichen Zwiefalter Kirchenbau ein

Kontinuitätsdenken vor, weit mehr als z.B. in Neresheim oder Ottobeuren. Weniger mit

dem Auftreten Pierre Michel Dixnards (St. Blasien, Salem, Buchau) als mit Januarius Zick

(Wiblingen 1778, Zell 1780/81 und Dürrenwaldstetten 1782) schwenkte Abt Nicolaus II ins

barockklassizistische Lager über. Unter dem letzten Abt Gregor Weinemer (1738-1816)

kam bis zur Säkularisation nichts hinzu, aber auch nichts weg.

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In den Augen der Zeitgenossen (Hauntinger 1784)

Nach diesen Vorüberlegungen und mit diesem Vorwissen konfrontieren wir uns noch

einmal mit dem Ensemble Zwiefalten, seinen Einzel- und Gruppenobjekten, den

Programmen und den bisherigen Urteilen der Zeitgenossen und der gegenwärtigen

Kunstgeschichte.

Da Zwiefalten keine interessante Bibliothek oder naturkundliche Sammlung, kein

Observatorium o.ä., keine bedeutenden Wissenschaftler (ausser im Bereich der

orientalischen Philologie) besass, liessen die zumeist protestantischen schriftstellernden

Touristen der Aufklärung das Kloster links oder rechts liegen. Zwiefalten war aber

gegenüber Neresheim und besonders St. Blasien bei seiner Vollendung um 1780

geschmacklich fast veraltet. Immerhin wurde Zwiefalten von Philipp Wilhelm Gercken

(1784, S. 355) mit Münsterschwarzach und der Heidelberger Jesuitenkirche verglichen.

Der ehemalige Ehinger Konviktschüler und (spätere) Fürstabt von St. Blasien, Martin

Gerbert, erwähnt in seinen 1767 in Ulm gedruckten, 1759-62 durchgeführten "Reisen

durch Alemannien, Welschland und Frankreich ...", auf S. 197 die "sehr herrliche Kirche"

wenigstens kurz. Nur die Reise-Eindrücke-Erinnerungen des St. Galler Konventualen

Johann Nepomuk Hauntinger anlässlich einer Reise nach Neresheim im Jahre 1784 (hg.

von G. Spahr, Weissenhorn 1964, S. 143 ff) geben ein etwas ausführlicheres Bild: "... die

Kirche - obgleich keine Pfarre [d.h. ohne Taufbecken oder Recht zur Taufe wie z.B in

Neresheim] ... ist weitläufig und kostbar ... Architektur ... der Kirche überhaupt recht

schön... Von den Gemälden [Fresken?] hat mir der Herr Subprior [der Komponist Ernest

Weinrauch] selbst folgendes Urteil eines italienischen Kenners erzählt: Die Gemälde [an

den Kirchenwänden] sind von zwei verschiedenen Meistern; ein Teil davon von einem

gewissen Vogel und das übrige von einem anderen, auch deutschen Meister. Einer wollte

und konnte nicht, und dem anderen sieht man es an, daß er hätte Kunststücke liefern

können; wenn es ihm nur nicht am Willen gefehlt hätte. So hieß das Urteil des Kenners. ...

Orgel ... ungeheur groß ... Kirche mit einer halben Galerie ... Chor ziemlich dunkel. Die

Stukkatur ist im modernen Muschelgeschmacke mit Gold überschmiert, und sogar mit

kleinen Spiegelchen versetzt. Das mag gefallen, wem es da will. Die Altäre sind von

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geschliffenem Gipse, vielleicht wohl gar aus Alabasterstücken zusammengesetzt; ich

erinnere mich nicht mehr so pünktlich, alle in modernem Goût. Die Kirche hat nebst dem

Langhause, Chor und grosser Kuppel noch zwei Nebenkuppeln und sieht in der Bauart

jener von Ottobeuren so ziemlich gleich. Der Kanzel gegenüber steht, um die Symmetrie

nicht zu beleidigen, ein anderes Gebäude, das einer Kanzel gleicht und auch auf die

Verkündigung des Wortes Gottes Bezug hat; es stellt den Propheten Ezechiel vor, wie er

mit Gottes Machtworte die morschen Gebeine aufzuleben macht. Die meisten Beichtstühle

sind so verfertigt, daß man sie nach Belieben zusammenlegen kann und dann in einer

Minute sind sie wieder aufgebaut. Das Mittelstück des prächtigen Chorgitters (vgl.

Weingarten), welches ganz von Schmiedearbeit ist, stellt einen ganzen Altar in

perspektivischer Architektur vor, und wirklich ist auch in Mitte dieser Architektur ein Altar

angebaut. Der Chor [Gestühl] ist von schönem harten Holze ausgearbeitet, und über den

Stühlen sind schöne halberhabene Bildhauerarbeiten zu sehen, fast wie in unserem

Chore; allein diese sind viel kleiner und ganz mit mattem Golde überzogen. Über die zwei

Nebentüren, welche jeder Seite des Chores in zwei Teile abteilt, sind die Brustbildnisse

der zwei Stifter und Brüder Grafen von Achalm aus der nämlichen Materie und auf die

nämliche Art verfertigt...". Es folgen noch ein Hinweis auf eine Monstranz mit einer

unregelmässigen Perle und einen Ornat aus württembergischer weiblicher Galagarderobe

und schliesslich ein Bericht über Bibliothek und Studien in Zwiefalten.

Man kann dem wohl entnehmen (wie schon bei Neresheim), dass selbst ein Mönch kurz

nach der Vollendung primär ästhetisch nach gewissen Geschmacksvorstellungen (gegen

Gold, Spiegel; Stukkaturen und Altäre aber angeblich noch in der modernen Mode aber

nicht 'à la grecque') die Kirche beurteilt. Nur bei der Kanzel und dem für Hauntinger auch

aus ästhetisch-symmetrischen Gründen nötigen Gegenstück werden dahinter liegende

religiöse Gedanken angedeutet. Hauntingers Augenmerk fällt auf die Praktikabilität der

Beichtstühle, das illusionistische Chorgitter, das Chorgestühl mit den vergoldeten Reliefs,

die Curiosa von Monstranz und Ornat, die Stuckmarmoraltäre (beim Alabaster wohl eine

Verwechslung mit Salem), die unmässige Verwendung von Gold und (höfischen) Spiegeln,

die Empore, die Orgel und eine gewisse Ähnlichkeit, Verwandtschaft mit Ottobeuren. Am

interessantesten erscheint aber das Gespräch mit dem beachtlichen Musiker und

Komponisten Ernest Weinrauch, dem damaligen Subprior, wahrscheinlich während eines

Kirchenbesuches und einer Orgelprobe. Um welchen von Weinrauch zitierten

italienischen, schon klassizistischen Kenner es sich handelt, ist unbekannt. Hauntinger,

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der in seinem Zwiefalter Bericht bezeichnenderweise keinen der beteiligten Künstler

namentlich erwähnt - über die Inhalte der Malereien wird schon gar nichts mitgeteilt - ,

meint von einem gewissen "Vogel" (wahrscheinlich eine verbalhornende Kombination von

von Ow und Spiegler) gehört zu haben, Der Name Spiegler war ihm anscheinend schon

kein Begriff mehr. Mag bei dem Urteil eines 'Welschen' gegenüber den Deutschen ein

gewisses Ressentiment mitgespielt haben, so zeugt es doch auch von einem

Qualitätsbewusstsein. Er erkannte Spieglers Artifizialität gegenüber von Ows (guter)

Durchschnittlichkeit. Wahrscheinlich warf er Spiegler Fa-Presto-Manier, anatomische

Unbekümmertheit (z.B. gegenüber Martin Knoller) vor, ohne aber gerade diese

Einmaligkeit (vgl. Velázquez' 'sprezzatura') voll würdigen zu können. Das Urteil gegenüber

von Ow ist ungerecht. Einige Nebenfelder in Weingarten sind nicht besser. Von Ow gab

sich in Zwiefalten alle Mühe. Seine Felder passen sich den Spiegler-Bildern ausgezeichnet

an, sicher auch im Sinne der äbtlichen Auftraggeber.

Mögliche Motive der Äbte Benedikt und Nicolaus II

Über deren eigentliche, uns und v.a. die Kunstwissenschaft (von Bauer bis van der

Meulen) zu interessierenden Absichten teilen die beiden Zwiefalter Äbte gegenüber dem

red- und schreibseligen Abt Rupert Ness von Ottobeuren so gut wie nichts mit. Ein

Gebilde wie Zwiefalten ist primär (Selbst-)Bekenntnis des Abtes, des Konvents und nicht

der Auftragskünstler, auch nicht des "geniessenden und verwunderten, be-wundernden

Betrachters im (Ge-)Bild(e)" à la van der Meulen. Immerhin steht seit 1753 doch auf der

Rocaillekartusche im Zentrum der Fassade: "D(eo) O(ptimo) M(aximo) / MARIAE /

VIRGINI DEIPARAE / DIVISQUE / TUTELARIBUS / ZWIFULDA SERVATA / D (ono).

D(edit). D(dedicavit). oder: 'Dem besten und grössten Gott, der jungfräulichen

Gottesgebärerin Maria und den Schutzheiligen hat das bewahrte Zwiefalten (diesen

Tempel) zum Geschenk gemacht und gewidmet'. Dieses Grundmotiv des in der Welt

gestifteten, vom Nachbarn Württemberg gefährdeten und von himmlischen Mächten

geschützten Klosters und seiner Mitglieder taucht immer wieder auf (Chor,

Westbeichtstühle, Vierung) wie auch hier im Figurenprogramm der Fassade. Wer an

dieser im Vergleich mit anderen Fischer-Lösungen recht antikisierenden Front (vgl. auch

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die antike Weiheformel) vielleicht noch ein stolzes Wappen mit den Zeichen des

nunmehrigen Reichsklosters erwartet, muss stattdessen im Innern am Westende des

Langhauses emporblicken oder sich im Vierungskuppelfresko links unten umschauen. Im

Letzteren erscheint nur das Wappen der Maria verehrenden, ihr alles verdankenden

Reichsabtei, während am Chorbogen das 'sprechende' Wappen des Abtes Mauz (Katze

mit 2 Schwänzen, als zweiter Benedikt und der Waage der Gerechtigkeit/der Seele) mit

einer Krone für Maria darüber in Stuck und Malerei auftaucht. An der westlichen

Langhausdecke ist ein noch interessanteres Allianzwappen von Kloster und Abt Mauz

angebracht, wahrscheinlich von Johann Georg Messmer um 1752 gemalt und mit einem

gewissen 'clou': Die Waagschalen des Abtes Mauz enthalten ein für leichter empfundenes

Buch (formal, schriftgläubig, pharisäerhaft u.ä.?) gegenüber dem gewichtigeren

brennenden Herzen (des echten Glaubens, der Liebe, Empfindung u.ä.), wobei die graue

Katze etwas mit einer Tatze nachhilft. In einem schon 1992 zitierten Briefkonzept

zwischen Programmnotizen für die 'Vier Elemente' der Vierung (um 1749) macht Abt

Benedikt seine Anliegen deutlich: Die Rechtfertigung des "sumptuosen Kirchenbaus", der

ihm anvertrauten "braut Chri(sti) sc. Mein Gotteshaus" und des "überkostbaren

auslosungswerth a nexu Wurttemberg".

Von Abt Nicolaus II Schmidler, unter dessen Regierung doch grosse Teile der

Innendekoration zu Ende gebracht wurden, gibt es keine optische 'Duftmarke'. In einem

auf göttlicher Ordnung beruhenden Ständestaatenverbund wie dem 'Hl. Römischen Reich

deutscher Nation' des 18. Jahrhunderts mit klaren Regeln (Etiquette, Zeremoniell, u.ä.),

mit einem Repräsentationszwang konnten und wollten sich sich auch die geistlichen

Prälaten im Grafen- und teilweise im Fürstenrang nicht entziehen, sodass sich die Bauten

der (nicht ganz absolutistischen) Herrscher mit ihren Höfen und die (fast demokratisch von

den wahlberechtigten Konventsmitgliedern bestimmten) Vorsteher der Klöster formal

annäherten. Neben dieser politischen Ursachenkomponente wird nicht nur für Zwiefalten

im Zuge der Rationalisierung und Historisierung (Mauriner und Bollandisten) eine

zunehmende historische, quasi dynastische Legitimation wie das Alt-Ehrwürdige (z.B. bei

den Säkularfeiern) angeführt. Dass eine Benediktinerkirche den Stifter ihrer 'Uralt-Marke'

hochhält, ist im 18. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. Speziell für Zwiefalten wird

zumindest seit Hermann Bauer von einem schon wiederholt genannten Versuch des Abtes

Mauz ausgegangen, durch ein Gnadenbild und eine Wallfahrt das Kloster auch auf diesem

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(lukrativen) Gebiet sich in den Rang von Altötting oder Einsiedeln zu erhöhen. Wie aber

schon ausgeführt, ist im Langhaus allenfalls eine richtige Wallfahrtsszene dargestellt und

auch das umgearbeitete 'Gnadenbild' hatte in der Vergangenheit selbst beim Abt, der nach

Loretto bei Sonderbuch pilgern musste, keine Wunder bewirkt, und wie die Zeit gezeigt

hat, sind bislang auch keine bekannt und wohl auch nicht zu erwarten. Beim ansonsten

sehr rational denkenden und handelnden Abt Mauz spielten eher ein mit römischer

(ultramontaner) Kirchenpolitik weitgehend konformer Bruderschaftsgedanke (Marianische

Kongregation und Herz-Jesu-Verehrung) und letztlich eine (vor dem Hintergrund der

antireligiösen Aufklärung?) Förderung des Glaubens, der (persönlichen) Frömmigkeit die

entscheidende Rolle. Man braucht aber nicht auf Ignatius von Loyola zurückzugehen, um

z.B. ähnlich P. Franz Neumayers S.J.: "Idea cultus Mariani Sodalitatibus Dei parae

consecratis, München 1747/Augsburg 1751, v.a. fol. 36/40 die für das Volk bestimmte

Zwiefalter Langhausdekoration zu verstehen. Ein Zusammenhang des nicht nur

benediktinischen Vierungskuppelfreskos und der von Kreuzer erwähnten "Bulla aurea" von

1748 ist oder wäre sicher auch kein reiner Zufall. Der von Stefan Kummer und Michaela

Neubert dagegen ausgesprochene nachtridentinische gegenreformatorische Aspekt muss

dahingehend relativiert werden, dass damit nicht bekehrende, sondern den Glauben auch

via Bild/Gnadenbild verbessernde und stärkende Missionierungen nur im katholischen

Zwiefalter Gebiet nach dem Motto: 'mea regio - mea religio' und vor der bedrohlichen

'Aufklärung' durchgeführt wurden, wobei Abt Mauz sich der dazu besonders befähigten

und interessierten Jesuiten bediente.

Aus den exzeptionellen Kartuschen um das grosse Deckenbild lässt sich eine meditative,

exerzitienhafte Glaubensformung (van der Meulen) mit Blick auf das Vorbild Mariens

heraussehen. Theatermänner wie Abt Benedikt und Nikolaus II setzten dazu neben dem

Wort und dem Zeichen, Töne, Gerüche und vor allem das Bild, Bilder, Szenen und Akte

sehr überlegt orts- und funktionsbezogen ein. Auch ein Agnostiker wird Zwiefalten in voller

Messopfer-Aktion als ein 'Theatrum sacrum' erleben.

Ein Gesamtkunstwerk?

Selbst wenn man die doch etwas längere Entstehung der Zwiefalter Klosterkirche sich vor

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Augen hält mit den "dirigierenden" Äbten Mauz und Schmidler, kann man trotzdem fast

von einem Gesamtkunstwerk sprechen. Es war auf jeden Fall ein solches in den

Vorstellungen der Äbte intendiert. Die 'Unerschöpflichkeit der Bilder', die rastlose Zier (in

Analogie z.B. zur musikalischen Verzierung), die Pracht sollten nicht nur die Betrachter,

Besucher beeindrucken und von den höheren, gewogen zu machenden Mächten eine

Vorstellung verschaffen, sondern diesen letzteren sogar gefallen auch ohne rhetorische

Begründungen. Obwohl Grotten-Eremitagen u.ä. auch im höfischen Umfeld zur

pseudoreligiösen Abwechslung (auf)gesucht wurden, sind die an eine Art 'Erdlebenbilder'

(Carl Gustav Carus) erinnernden Tropfsteingebilde ab dem Chorgestühl doch ein

Charakteristikum Zwiefaltens - selbst bei der wohl eher dem jüngeren Christian

zuzuschreibenden 'Marienklage' von Unlingen - , ein Aus- oder Abdruck des 'genius loci',

der Karst- und Höhlenlandschaft der schwäbischen Alb. Ob sich aus dem

Langhausdeckenbild eine kartographische 'terra mariana' ablesen lässt, wird man vorerst

einmal mit einiger Skepsis begegnen müssen. Der frühere (vor 1747?) Entwurf des Abtes

Mauz hatte noch die bekannte Weltkugel-Vision des Benedikt zusammenhängend mit

einer Ost-West- (im Fresko de facto: Süd-Nord) Richtung, also östlicher (byzantinisch-

orthodoxer) und westlicher (römischer) Kirche zum Vorwurf. Eine systematische

Ausrichtung wie anscheinend in der Ehinger Konviktskirche (vgl. Georg Wieland,

"Benediktinerschulen und Ikonographie ihrer Kollegienkirchen im Zeiltalter des Barock ...",

in: Barock in Baden-Württemberg Bd. 2, Bruchsal 1981, S. 374 u. Anm. 132) ist in der

Ausführung für den Autor dieser Zeilen aber nicht erkennbar.

In der von Sedlmayr, Bauer, Rupprecht, Harries u.a. oft vertretenen heilen spätfeudalen

Welt hätten sich in der Rokokokirche volkstümliche, volksnahe (und früher sogar völkische

zumeist bayrische, vgl. 'stammesverwurzelter Formtrieb' u.ä.) Komponenten mit höfischen

der (geistlich-weltlichen) Herrschaft (von Gottes Gnaden) noch ideal vereint. Dieser

vordergründige Eindruck ergibt sich zum Teil aus der provinziell-handwerklichen, noch

selten akademischen Künstlerschaft, den oft aus Bauern- und Handwerkerfamilien

stammenden Prälaten-Bauherren und allenfalls dem Lauten, Unruhigen, Bunten,

Drastischen, Naiven und Erzählerischen der 'Gotteshäuser' zur Förderung der

Volksfrömmigkeit für ihr zahlenmässige Hauptkundschaft, den 'Pöbel'. Eine

Wiederverwendung oder Einbau von schon einmal 'gesunkenem Kulturgut' findet in den

hier angesprochenen, mit den weltlichen Herren und Höfen konkurrierenden Beispielen

nicht statt. Die vertikale (und qualitative) Einschätzung höfisch-innovativ-reflexiv bzw.

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volkstümlich-imitativ-naiv müsste auch zu Konsequenzen im Abstraktions- und

Anspruchsniveau der kunstgeschichtlichen Deutungen führen.

Nochmals das grosse Langhausdeckenbild von Spiegler

Die sich auf den Fels, die Natur aufbauende, von Rocaillen umtoste, panoramaartige

Treppen-Mauern-Turm-Anlage scheint die Vision des Bollwerks des Glaubens ('eine feste

Burg ist unser Gott' o.ä. vgl. Psalm 46 u. 84, aber auch Matth16, 18/19: "et super hanc

petram aedificabo ecclesiam meam, et portae inferi non praevalebunt adversus eam")

oder eine Kirche des ganzen Erdkreises, eine Weltkirche, die ihre Mutter, Patronin Maria

seit Benedikt und seinem Orden verehrt und verehren ("Mater ecclesiae" offiziell erst seit

Paul VI) gelernt hat, aufzunehmen. In den Vorbemerkungen der Festschrift zur Jubelfeier

von 1789 heisst es auf S. 2: "Allein der gerechte, der gütige, der vorsichtige Gott wollte

Zwiefalten nur drüken, aber niemal unterdrüken lassen. Siebenhundert Jahre hindurch war

er die Mauer, und eine solche Vormauer, daß / die Feinde dem geheiligten Sion nicht, wie

sie wünschten, zukommen konnten". Die Festschrift mit den sieben erbetenen Lob-

Predigten zur Festwoche ist sonst für Deutungen aber wenig ergiebig. Sie verteidigen den

Aufwand durch den Hinweis auf die Majestät Gottes, als einen fast calvinistischen Beweis

der Gnade desselben und als Reizung zur Andacht. So sehr man die Befreiung vom

württembergischen Joch feiert, so sehr fordert man doch noch den treuen, gläubigen

Untertanengeist. Man spürt in diesen Predigten die Verunsicherung durch die Aufklärung.

In den vier Ecken könnte man üblicherweise noch die vier Elemente, Himmelsrichtungen

vermuten, aber es dürfte nach Südosten das Unterirdische, die Unterwelt, das Sündige mit

dem reinigenden Feuer und gegen Nordosten die irdische, menschliche, materielle, auch

rein künstlerisch-ästhetische Seite durch den Stein-Bildhauer (eine Anspielung auf Joseph

Christian schon wegen fehlender Porträthaftigkeit eher unwahrscheinlich) ausgedrückt

sein. Über die echten und 'falschen' Gnadenbilder könnte man sich bis zu Ikonoklasmus

oder 'eikonomachia' noch weiter auslassen. Die beiden lagernd gemalten Stuckengel mit

Kreuz und Buch (Attribute der 'Ecclesia') stehen wohl für die Erlösung durch den Leib

Christi und das Wort Gottes. Auf der anderen Seite gegen Nordwesten unter der

Ertrunkenen-Szene kann man in der gemalten Rocaille-Schale nur mit grosser Phantasie

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Wasser entdecken, während auf der Südwestecke an der Vase mit goldenen Früchten den

Duft, die Luft herausziehen oder -ahnen kann. Die beiden kleinen gemalten Stuckputten

halten Weinreben, Efeu (?), Früchte, wohl auch Verheissungen des ewigen Lebens.

Hinter den vielleicht originesisch-thomasischen 'gradus ad fidem', zu Gott deutet sich noch

eine Kirchen-Tempel-Fassade (vgl. Ps. 45 und Abt Mauz: seine Zwiefalter Kirche als

"braut Christi") an, aber optisch nicht die Zwiefaltens an, so löst sich Bauers historisierend-

individualisierender "Verweis auf sich selbst" wenigstens im Langhaus wieder im Nebel,

Luft, Wolken und nur in der Stiftungstradition auf. Vielleicht ist Frank Büttner, der 2001

noch für Zwiefalten eine plausible Erklärung vermisste, auch mit diesen etwas über den

Versuch von 1992 hinausgehenden Überlegungen immer noch unzufrieden, aber sie

versuchten wenigstens seiner Vorstellung von der Rekonstruktion der historischen

Situation gerecht zu werden. Ob sich die modernistischen Bemühungen (van der Meulen)

um den "parergonalen Raum" der 'terra mariana' (vgl. Gumppenberg und Scherer)

wenigstens beim Langhausdeckenbild auch auf das ähnliche Säckingen - hier auf die

konventionelle Repräsentation der 'herrschenden' Damen im Bild wie auch in Ottobeuren

aber nicht in Zwiefalten (ausser dem Dorsal des Abtsstuhles) - übertragen lassen, werden

wir hoffentlich bald zu lesen bekommen und uns selber einen Reim darauf machen

müssen. Viel mehr lassen der Abt und auch der Maler nicht hinter ihre Kulissen, ihre

Gedanken und Geheimnisse blicken und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn ohne

eine geheimnisvolle 'Aura' von Bedeutung und Restzweifel wäre das Werk weniger

interessant, ärmer, nur noch 'künstlich' (vgl. oben Goethe). Die grossangelegte Studie von

Christian Hecht "Die Glorie - Begriff, Themen, Bildelement in der europäischen

Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock", Regensburg 2003, die auch als

Ergänzung der (Zwiefalten, Ottobeuren und Neresheim nicht berücksichtigenden) "Bilder

vom Himmel - Studien zur Deckenmalererei des 17. und 18. Jahrhunderts" von Bernd

Wolfgang Lindemann, Worms, 1994 angesehen werden kann und letztlich die teilweise

Transformation des mittelalterlichen Goldgrundes und des 'lumen spirituale' in das 'lumen

naturale' zeigen will, erwähnt auf S. 302/3 wohl Spieglers (falsches Todesdatum: 1756!)

grosses Langhausfresko im Zusammenhang mit Gnadenstrahl und Gnadenbild, bringt

aber ansonsten in seiner Berufung auf Ernst Kreuzer keine neuen Aspekte. Auf S. 240 und

243 formuliert Hecht für einen stark theologisch und ikonologisch (vgl. Karl Möseneder)

ausgerichteten Kunstwissenschaftler doch erstaunliche Positionen, dass "Ein

Deckenbild ... auf jeden Fall für Maler und Auftraggeber in erster Linie ein Kunstwerk - im

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Sinne eines kunstvollen Werkes - (sei)", weiter, dass "Eine persuasive Ausrichtung [des

Programmes für Niederaltaich] sich nicht feststellen (lasse)" und, dass "Es ... also

künstlerische Gründe und nicht theologisch-theoretische, auch nicht rhetorische (gewesen

wären), die bewirkten, daß vor allem in Italien, Süddeutschland und Österreich die

Deckenmalerei zu einer künstlerischen Leitform des Barock werden konnte".

Leider ist nach dem bisher Gesagten die seit 1931 von Norbert Lieb artikulierte

Feichtmayr-Christian-Frage (und die genauen Datierungen) dagegen immer noch nicht

gelöst, ja fast noch komplizierter und sie wird uns deshalb auch im nächsten Beispiel

Ottobeuren noch einmal beschäftigen. Die jüngsten Artikel von H.W. von Killitz über

"Johann Joseph Christian", in: AKL 19, München-Leipzig 1998, S. 40/41 oder Ralph

Scharnagl, über "Johann Michael II Feichtmayr", in: AKL 37, München-Leipzig 2003, S.

519/20 geben auch kein klareres Bild.

Ottobeuren

Vor einer wagemutigen Annäherung an den 'Feichtmayr-Christian-Knoten' mit hoffentlich

ausreichender Schärfe des Auges und Geistes geht der Blick wieder zuerst zu Hermann

Bauer und seinem Aufsatz "Der Himmel im Rokoko" von 1965, wo er in der Neuausgabe

1980 auf S. 103 noch meint, dass "In Zwiefalten ... dieser Weg in den Himmel nur über

das im Himmel im Fresko dargestellte Zwiefalten (gehe)", bevor er auf Ottobeuren zu

sprechen kommt. Nun, man erinnert sich an das Neresheimer 'Carmen epicum' von

1773/75 und in Zwiefalten an das wohl von Abt Benedikt initiierte, gemalte,

Kommunionschranken ähnliche Schmiedeeisengitter mit der offenen Tür ('porta coeli' o.ä.)

am Vierungskuppelrand. Allerdings ist abgesehen von der aufschwebenden Engelsgruppe

mit dem Klosterwappen, Stab und Schwert nichts im Fresko von dem darunter 'real

existierenden' Zwiefalten zu sehen, also wieder wenig 'Beweis von einem direkten

Verweis'.

Vierungskuppel: 'Schauplatz - Pfingsten'

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Ohne beigegebene Abbildung kommt Bauer anschliessend auf das von ihm auch aus

Unkenntnis der auch vom Baufortgang logischen Früherdatierungen (um 1758, seit Franz

Matsche und 1970) noch um 1763 angesetzte Ottobeurer Vierungskuppelfresko zu

sprechen mit dem 'Pfingstwunder' und der in der Apostelgeschichte 2, 1-13 gleich darauf

folgenden 'Jerusalemer Sprachverwirrung oder Sprachenwunder' für die Verbreitung der

christlichen Botschaft und der 'Sieben Gaben des Hl. Geistes' in alle Länder. Bauer sieht

die Porticus-Architektur mit der eigentlichen Pfingstszene in der Hauptblickrichtung als

Rest einer pozzesken Realarchitekturfortsetzung und gleichzeitig als Teil einer

panoramaartigen terrestrischen und architektonischen Aussenanlage, die er dann als

"Schauplatz", als eine "Theaterszene" über der Kirche in sein komplexes illusionistisch-

theatralisch-theologisierendes System zu integrieren sucht, um die Kirche von Ottobeuren

als "zweiten Schauplatz des Pfingstwunders" ... "gemeint" zu wissen. Wenn er die in ihrer

eigenen tafelbildähnlichen Bildwelt lebenden 'Vier Evangelisten' in den umgebenden

Zwickeln als kanonische Basis des christlichen Kirchengebäudes weiter anspricht, stellt er

den 'semantischen' Gesamtillusionismus selbst nicht in Frage. Die im folgenden an van

der Meulens "Affizierungsmodell' anklingenden dynamischen, auch selektiven

Wahrnehmungsprozesse hätten Bauer selbst vor seinen Vereinfachungen oder

Abstraktionen wie 'Bildhaftigkeit' und 'Selbst-Verweis'-Charakter etwas warnen sollen.

Vielleicht ist es auch einmal sinnvoll, sich in die praktischen 'Höh(er)ungen' zu begeben.

Der Freskant des Barock wird bei dem Auftrag in eine Kuppel eine Pfingstszene zu malen

wie Asam in Weingarten oder Aldersbach für einen zumeist schrägsichtigen

Betrachterstandpunkt eine pozzeske Innenraumsituation mit Kuppel und einer szenisch

bestückbaren Wand-Zone wählen; oder wenn er noch die Erdteile als Personifikationen

samt 'Ecclesia' integrieren muss, wird er wie Johann Jakob Zeiller logischerweise eine

gegenüberliegende paradierende, terrestrische Umlaufkomposition mit dem 'Hl. Geist' im

Luft-Äther-Bereich und in einem vielleicht etwas verrückten Mittelpunkt der Kuppel wählen.

Das ist ohne das Architektonische im Prinzip nicht viel anders wie z.B. in der Halbkuppel

bzw. Apsiskalotte von S. Apollinare in Classe, Ravenna schon um 549 n. Chr. geschehen.

Der Kirchenbau (auch von Ottobeuren) hat einen mit einem gerahmtem Bild und einer

Vision, Fiktion oder Szene aufgehobenen, transparenten Deckenspiegel. Die Untersicht

der Figuren und Architekturen vermittelt einen Höhenzug gegenüber der Austreibung der

stürzenden Laster oder dem unfreiwillig (z.T. durch die sehr schwache Zeichnung von dem

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z.B. in einer Ulmer Ölskizze für Fürstenzell sonst hervorragenden Zeichner Johann Jakob

Zeiller) von der Treppe fallenden Apostel, die zum realen Betrachter nach unten in der

Kirche führen. Letztere böte also nach Bauer den genannten "Schauplatz" eines "zweiten

Pfingstwunders", aber sie wird nicht dieser "zweite Schauplatz" sondern vielleicht besser

Ausblick, weniger der Ort eines erneuten, gerade gegebenen, aktualisierten

Pfingstwunders. Darunter wird übrigens das grosse vollständige Abts-und Klosterwappen

mit Stab und Schwert feierlich, repräsentativ enthüllt (in Zwiefalten an entsprechender

Stelle - wie erwähnt - nur ein Zeichen/Wappen des preisenden und gepriesenen Abtes

Benedikt).

Der 'Himmel im Rücken': ein Dorsalrelief von Christian

Auf die weiteren Fresken von Ottobeuren geht Bauer leider nicht weiter ein, aber man ist

etwas erstaunt den "Himmel im Rokoko" im Dorsale des Ottobeurer Chorgestühls

wiederfinden zu sollen. Dieses von Joseph Christian um 1757 (?) 'geschnittene (leider

wieder bei Bauer nicht abgebildete) Bild' eines Interieurs einer Rokokokirche, in der

Benedikt vor Zuschauern Psalmen singt, wird von Bauer wieder benutzt, um mit diesem

(im Verlauf des Jahrhunderts) zunehmend kritisierten Anachronismus bei Darstellungen

von Gründungsakten, Bauplänen, Kirchen- und Klostermodellen die (vielleicht manchmal)

in Jubiläumspredigten anklingenden 'Vollendungen des Heilsplanes' im gegenwärtigen

Kirchenbau zu erklären. Die Gegenwart werde im 'Theatrum honoris' im "Rahmen des

Ewigen", als "Erfüllung der Zeiten" aufgefasst: "Der heilige Benedikt steht in einer

Rokokokirche, weil sie als Erfüllung der Zeiten erscheint: Historisches und Unhistorisches

verschmelzen in einem sehr eigenartigen Himmel". Eigenartigerweise findet das Ganze

dann aber auf dem irdischen Boden des Kirchenchores statt. Der geschweifte Himmel

oder Deckenspiegel ist kaum sichtbar spärlich mit Engeln bevölkert. Wahrscheinlich muss

man nicht die (vorläufige) 'Vollendung des Heilsplanes', der wohl mit jedem neuen

Kirchenbau sich wiederholt, bemühen. Christian besass einfach keine Vorlagen und keine

Vorstellung eines frühchristlichen Kirchengebäudes. Er bemühte (musste sich) nicht um

historische Treue (bemühen) wie auch bei dem Gegenstück 'David singt Psalmen' (wo

eher ein Renaissancebau mit einem Rokoko-Sessel möbliert ist), sondern es ging ihm bei

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dieser 'Mischung der Zeiten und Realitäten' um lebendige Vergangenheit in der

Gegenwart, um einen wirkungsvollen, vielleicht etwas witzig-geistreichen 'Vortrag'. Man

sollte den 'Himmel' an seiner richtigen Stelle lassen und hier nicht den 'Heilsplan' oder

ähnliches bemühen.

Die Forschungslage zu Ottobeuren

Über Ottobeuren gibt es bezeichnenderweise relativ wenig neuere Literatur neben der

vorrangig baugeschichtlichen Untersuchung von Norbert Lieb aus dem Jahre 1931, den

für unsere Zwecke wenig ergiebigen Festschriften von 1964 und 1986, Aufsätzen von

Klaus Schwager zur Baugeschichte und zum Selbstverständnis einer Reichsabtei von

1977 auch im Kontext der Johann-Michael-Fischer-Gedächtnisausstellung 1995 (1995 u.

1997) und zuletzt 2004 von Peter Heinrich Jahn mit dem möglichen Einfluss Wiens auf

das Kloster. Gabriele Dischinger und Klaus Schwager veröffentlichten noch gemeinsam

2002 einen Beitrag zu Programm und Realisierung der Ottobeurer Klosteranlage, aber

immer noch nicht die seit über 30 Jahren angekündigte grössere grundlegende Publikation

von beiden, die endlich den Zustand der "Geheimwissenschaft" (B. Schütz) zu Ottobeuren

beenden sollte, da Akten v.a. in Ottobeuren selbst bislang (?, mittlerweile sollen zumindest

die Plansammlungen sogar im Netz stehen!) gesperrt sind und nur wenigen die 'venia

videndi et legendi' erteilt worden ist. 2007 publizierte Klaus Schwager in der Festschrift für

den bei ihm habilitierten Stefan Kummer "Architektur und Figur - Das Zusammenspiel der

Künste" einen weiteren 'vorläufigen' Aufsatz: "Wechselseitige Beziehungen zwischen

Architektur und Ausstattung bei der Planung der Klosterkirche Ottobeuren durch Johann

Michael Fischer - Zur Ensemblevorstellung des Architekten und den Entwürfen Joseph

Anton Feuchtmayers", S. 356-372, in dem der Salemer Bildhauer als Fischer stilistisch

eher näherstehender, aber letztlich abgelehnter Entwerfer auch für die Vierungsaltäre und

die nie errichtete Nordorgel an Hand einiger etwas problematischer Entwürfe

herausgestellt wird. Hoffentlich wird der ehemalige Schwager-Schüler Georg Satzinger,

Universität Bonn, als angekündigter Mit-Herausgeber der grossen Ottobeuren-

Monographie diesen beklagenswerten Dauerzustand nun bald beenden können. Eine

zufällige nachträgliche Internetrecherche zu Ottobeuren Anfang November 2011 erbrachte

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nun den Hinweis, dass im klösterlichen Eos-Verlag, St. Ottilien am 17. Oktober 2011 eine

dreibändige "Bau- und Ausstattungsgeschichte der Klosteranlagen 1672-1802" mit der

früheren Schwager-Schülerin und anerkannten Barockarchitekturspezialistin Gabriele

Dischinger als Bearbeiterin erschienen ist. Aber damit scheint die 'Geschichte' doch noch

nicht ganz an ihr (glückliches?) Ende gekommen zu sein, da die jetzt alleinige Verfasserin

in ihrem Vorwort auf die 2007 (S. 368) schon angekündigte, vierbändige (nur für 1672-

1740; zusätzliche ungezählte Bände für 1740-1803!) zu erwartende Version vom

ehemaligen Partner Klaus Schwager (vermutlich jetzt unter Mithilfe Georg Satzingers)

ausdrücklich verweist. Konkurrenz und Offenheit beleben das wissenschaftliche Geschäft.

Die hier schon früher verfassten folgenden Zeilen sind also ohne Kenntnis dieser beiden

grossen 'Lebenswerke' geschrieben. Vielleicht bestätigen sich doch einige der hier

vertretenen An- und Einsichten vor den jetzt (vollständig?) auf dem (Bücher-)Tisch

liegenden archivalischen Fakten. Der Verfasser wird vielleicht an anderer Stelle noch

gesondert auf das 'opus magnum' von Gabriele Dischinger eingehen und es hier vorerst

nur bei gravierenden Abweichungen in Klammern nachträglich zitieren. Ein in Band II,

2011, S. 575, Inv ZV 25 abgebildeter zeichnerischer Entwurf für eine Prunkkarosse hat

nach den Wappen wohl zuerst anlässlich der Hochzeit (Trauung am 26.11.1759 in

Bartenstein) Grafen Franz Xaver von Montfort mit der (gefürsteten) Sophia Theresia von

Limpurg-Styrum gedient. Leider bleibt das dreibändige Werk Dischingers ein Torso, da

Abbildungen v.a. auch der Entwürfe für die bildnerisch-malerische Ausstattung

Ottobeurens (Kirche und Abtei) weitgehend fehlen.

Vergleich: Ottobeuren und Zwiefalten

So gibt es vor allem zu Ottobeuren bislang kaum anregende Kontroversen abgesehen von

der Zuweisung der Hände der beteiligten Künstler und der genauen Datierung. Das

folgende wird auch deshalb vornehmlich auf einen hoffentlich erhellenden Vergleich mit

Zwiefalten hinauslaufen. Während Zwiefalten 1789 im Jahre der französischen Revolution

sein 700. Gründungsjahr feierte, meinte Ottobeuren 1764 auf 1000 Jahre (wie. z.B.

Amorbach) zurückblicken zu können. Seit 1268 und dem Ende der Staufer

reichsunmittelbare Abtei, aber von 1356 bis 1710 dem Hochstift Augsburg unterstehend,

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löste es sich unter Abt Rupert II Ness von Wangen für etwa ein Zehntel der Summe von

seinem geistlich-weltlichen Joch 40 Jahre früher gegenüber einem nur von einem

weltlichen Vogt abhängigen Zwiefalten (wie auch Neresheim). Während man in der

Konventgrösse nicht so weit auseinanderlag, war man in Ottobeuren von der Zahl der

Untertanen und vor allem vom Alter und dem Ansehen doch voraus und z.B. in der

nieder(-ost-)schwäbischen Benediktinerkongregation (darunter wie genannt auch

Neresheim) der Diözese Augsburg doch tonangebend. Während in Zwiefalten nach einer

barockisierenden Modernisierung der Konventgebäude ein (trotz der Ehinger

Konviktskirche und ihrer den Zwiefalter Missionsgedanken sogar geographisch

vorwegnehmenden Ausstattung) eher introvertierter Abt wie Beda Summerberger

zeitweise das Sagen hatte, wurde in Ottobeuren ein tatkräftiger Sohn eines wohlhabenden

reichsstädtischen Schmiedes, Johann Chrysostomus Ness, und zuvor Grosskeller zum

Abt als Rupert der Zweite gewählt, der sogleich als Interessenspolitiker und Bauherr des

Klosters auftrat. Die Nachbarn Ottobeuren sind neben dem Hochstift Augsburg, das

wittelsbachische Kurbayern, das Hochstift Kempten und die evangelische Reichsstadt

Memmingen, während für Zwiefalten Württemberg, das habsburgische Vorderösterreich,

die Fürsten von Hohenzollern und Fürstenberg und die evangelischen Reichsstädte Ulm

und Reutlingen zählen. Der Klosterneubau unter Abt Rupert II wird heutzutage mit dem

spanischen 'Escorial' verbunden und in einer damaligen Kirchweihpredigt sogar als ein

"schwäbischer Vatican" angesehen. Wahrscheinlich wollte der Abt im Grafenrang eher mit

den Fuggern in Schloss Kirchheim (ebenfalls als 'schwäbischer Escorial' bezeichnet und

1578-82 errichtet) oder den anderen oberschwäbischen Grafenhäusern wie Fürstenberg in

Messkirch (ab 1557) auch baulich konkurrieren. Der Abt war nach der Rückkehr von

Kurfürst Max Emanuel von Bayern aus Frankreich auf die dortige wieder auflebende

Hofkunst in der Innenausstattung (z.B. Jacopo Amigoni, Johann Baptist Zimmermann,

oder der Wangener Landsmann Franz Joseph Spiegler, vielleicht in München auch

Mitarbeiter Nikolaus Stubers) seiner architektonisch an Marchtal und Einsiedeln

angelehnten Anlage orientiert. Einige Missgriffe bei der Künstlerwahl wie z.B. mit Jakob

Pellandella oder mit Jacob Carl Stauder beim repräsentativen Saal, dem 'Kaisersaal', hat

der Prälat selbst bald bereut. Zwiefalten und Neresheim mit ihren älteren Klosteranlagen

dachten gar nicht mehr an einen Um- oder Einbau eines solchen, in Ottobeuren

vorgelagerten Gästetraktes auch nach ihrer 'Unmittelbarkeit' dem Kaiser und Reich

gegenüber. Der grösste Traditionsbruch erfolgte in Ottobeuren aber durch den Kirchenbau

mit dem Eingang oder der Fassade nach Norden, bzw. dem Chor nach Süden und nicht

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nach Osten (auf den Marktplatz) hin.

Eine kleine Baugeschichte

Die kunstgeschichtliche Literatur befasst sich vornehmlich mit den Planungsphasen der

Klosterkirche, die nach der apologetischen Aussage des Abtes die Klostergebäude an

Bedeutung und Pracht weit übertreffen sollte ("... einen raren Tempel SS. Trinitati zu

bauen, wo gegen das Klostergebäude nichts sein soll"). Nach den bei Norbert Lieb

("Barockkirchen...", 3. Aufl. 1969, Abb. 22-33) abgebildeten Rissen wurden ab 1731/32

und vor allem ab 1736 ernsthafte Überlegungen über die Kirche angestellt, wobei z.B. von

Andrea Maini eine Dreieckslösung als 'architecture parlante' für den vom Abt favorisierten

Trinitätsgedanken vorgelegt wurde. Der von Dominikus Zimmermann 1732 gezeichnete

Entwurf mit einem fast kreisrunden Zentralbereich wäre vielleicht für einen zentralen

Kreuzaltar oder Wallfahrtsaltar sinnvoll gewesen. Mit dem provinziellen Simpert Kraemer

kam 1736 wieder der (drei- oder vierblättrige) Kleeblattgrundriss/Trikonchos/Tetrakonchos

zum Tragen, den Effner und Fischer 1744 bzw. 1747ff. modifizierten. Ähnlich wie in

Zwiefalten mit den Schneider-Vorgaben wurden die unter Kraemer und Ness 1736/37

gelegten Fundamente mit dem Grundstein ab 1748 beim eigentlichen Baubeginn und

Teilabriss der Klosterkirche noch wiederverwendet. Der Rohbau bis Dachung und

Wölbung (1753/54, Vierung erst 1755) dauerte in Ottobeuren nur unwesentlich länger.

Logischerweise müsste 1754 auch schon mit Johann Michael Feichtmayr der erste

Vertrag über die Stukkierung wohl der Gewölbezone des Chores abgeschlossen worden

sein. Wenn - wie schon gesagt - im Juni 1754 für Johann Joseph Christian (?) wegen

"Zehrung und honor.(arium) auf der Zwiefalter Rays" eine unbekannte Summe von der

Ottobeurer Grosskellerei ausgegeben wird, ist nicht ganz klar, ob er von Zwiefalten nach

Ottobeuren gereist war mit Kostenerstattung, oder ob doch eher eine Ottobeurer

Delegation nach Zwiefalten zur Besichtigung gereist ist und dort Christian (?) für Entwürfe

entschädigt hat (Gabriele Dischinger 2011, Bd. I, S. 180/81 vermutet nach einer von

Zwiefalten bezahlten Bewerbungs-Reise angeblich der in Zwiefalten tätigen

Ausstattungskünstler nach Ottobeuren im Jahre 1751 bei dieser "dritten Zwiefalter Reise"

im Jahre 1754 jetzt den Zwiefalter Vergolder Johann Martin Knoblauch mit ebenfalls

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geringer Plausibilität). 1755 folgten die Verdinge des Chorgestühls, der Chororgeln und

wahrscheinlich auch des Hochaltares. Josef Anton Feuchtmayer von Salem kam mit

seinem April 1755 eingereichten Modell zu spät gegenüber seinem Augsburger

Namensvetter Johann Michael Feichtmayr. Wie in Zwiefalten folgten die Vettern Zeiller als

Freskanten den Stukkaturen J. M. Feichtmayrs beginnend vom Presbyterium nach

Norden. 1757 im Herbst waren anscheinend auch schon Teile der Vierung und die

Querarme freskiert. Der zweite Vertrag mit J.M. Feichtmayr wegen "Quadratur"

(Schablonenstuck) und Zierleisten von 1757 beinhaltete wohl die restlichen Gewölbe bis

zu den Gesimsen und auch die darunter befindlichen Stuckmarmorsäulen und -pilaster.

Wenn alles reibungslos von statten gegangen ist, dürften die Vettern Zeiller (1758 oder

etwa 1759) im wesentlichen bis auf den Eingangsbereich unter der Orgelempore (bez. u.

dat. erst 1763) fertig gewesen sein. 1759 war Feichtmayr mit Marmorieren beschäftigt.

Das Chorgestühl begannen Johann Joseph Christian und Johann Martin Hörmann ab

1755 bzw. 1756. September 1757 heisst es, dass die "Basreliefs des Chores...bearbeitet"

(Auszug der Tagebuchaufzeichnungen von Placidus Scharl: in: "Reisen und Reisende in

Bayrisch-Schwaben", Band 1, hg. von Hildebrand Dussler, Weissenhorn 1988, S. 220)

wurden und nicht wie in der freien Transkription durch Magnus Sattler 1868, S. 98 "schon

weit fortgeschritten" waren. Der Verfasser dieser Zeilen kann sich anders als Ulrike Weiss

(1998, S. 104) nicht vorstellen, dass Christian wirklich mit den Reliefs begonnen hat. Auf

alle Fälle wurden sie mit dem ganzen Gestühl erst Ende 1761 aufgerichtet und vergoldet

wie auch der Hochaltar. Auch dies entspricht mit zehnjährigem Abstand der Situation in

Zwiefalten. Es stellt sich wie in Zwiefalten die Frage, wie, wann und in welcher Zeit die

Feichtmayr-Mannschaft den Aufbau der Stuckmarmor-Altäre (ganz ohne Schreinerarbeit

durch Hörmann?) bewerkstelligte. Fast an keiner Stelle wird der nicht nur technisch

interessanten Frage nach dem Kern, dem Altargerüst (Aufmauerung, Holzkern wie in

Upflamör an Abplatzungen sichtbar, Eisen-Draht-Armierungen o.ä.) auch bei Stuckmarmor

nachgegangen. Ob Feichtmayr innerhalb seiner Truppe(n) eine Schreinerabteilung (vgl.

die auf 'Marmorart' eigentlich zu bemalenden Seitenaltäre aus Holz in Rangendingen)

hatte, oder ob er eher diesen Anteil mit Subunternehmern teilweise vor Ort bewältigte, wie

unspezifizierte Summen für ihn nahelegen, bleibt leider im Dunkeln. In Ottobeuren hat er

im Hinblick auf den dann doch nicht eingehaltenen Jubiläumstermin von 1764 nach dem

Hochaltar (1758) auch schon bald nach 1759/60 mit den grossen Querschiffaltären nach

gesondertem Verding begonnen. Die Kanzel mit Gegenstück dürfte frühestens Anfang der

60er Jahre angegangen worden sein. Das Schleifen und Fassen zog sich wohl bis zum

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Schluss 1763/65 hin, die Reliefs über den Beichtstühlen (die Schreinerarbeit darunter

vielleicht 1762/63) und die Arbeit an den Langhausaltären sogar bis 1765/66. Christian

war ähnlich wie in Zwiefalten nach dem Chorgestühl 1759-1762 teilweise für die

Fassadengestaltung zuständig, sodass die Stuckfiguren auch von daher hauptsächlich in

die Zeit ab 1762 je nach Altarbaufortschritt gefallen sein dürften. Während in Ottobeuren

die Ausstattung eigentlich ohne grössere Unterbrechung vorzustellen ist, gab es in

Zwiefalten dieses schon angesprochene mehrjährige, vielleicht auch ökonomisch ratsame

'Ritardando'. Wohl erst 1763 wurden von dem sein nicht fernes Ableben vorausahnenden

Abt Benedikt nochmals grössere Anstrengungen unternommen, um die fehlenden

Deckenfresken und Altäre, Kanzel und Gegenstück fertigzustellen.

Die 'Gedanckhen' von Ottobeuren und Zwiefalten:

Im Chor

Etwas festeren Boden der Tatsachen vermitteln die erkennbaren und bestimmbaren

Themen, die Programm-Konzepte oder Gedanken bei den Kirchen von Zwiefalten und

Ottobeuren, bevor dann vielleicht auf dahinter liegende mögliche Motive geschlossen

werden kann. Während in Zwiefalten Benediktinisches, Politisches und Missionarisches,

Erbauliches ein funktionales mariologisches (Schutz-) Programm durchziehen, ist bei dem

Trinitäts- und Michaelsverehrer Abt Rupert und seinem intellektuell eher noch höher

anzusiedelnden Nachfolger Anselm Erb die Gottesmutter eher an den Rand oder den

Hintergrund gedrängt. Erstaunlicherweise haben sich - soweit bekannt - keine Programme

oder Hinweise in Ottobeuren erhalten. Der Hochaltar ist der Dreifaltigkeit und dem

Ratschluss der Erlösung gewidmet (in Zwiefalten zum Vergleich: auch 'Ratschluss der

Erlösung' aber als Mutterschaft der Jungfrau Maria nach Matthäus). Statt dem

verschlungenen Namen Marias erscheint im Auszug das göttliche Dreieck mit dem

Tetragramm. Eher in 'Osservazione' als 'Conversazione' umrahmen die Apostelfürsten

Petrus und Paulus und die beiden Diözesanpatrone von Augsburg und Konstanz, Ulrich

und Konrad, das Altarbildgeschehen von Johann Jakob Zeiller (1763). Im Apsisfresko (J.

J. Zeiller, 1756) beten wie nicht selten die '24 Ältesten' das Lamm an, wohl in

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Korrespondenz zur Hostie im Tabernakel und dem Wandlungs- und Opfergeschehen.

Über dem Chor mit dem benediktinischen und typologisierenden alttestamentlichen,

bildszenisch bestückten Chorgestühl kämpft der Erzengel Michael gegen die Abtrünnigen

und Laster (Engelssturz) inmitten der 'Neun-Engelchöre'.

In der Vierung

Die schon oben angesprochene Vierungskuppel zeigt nicht wie in Zwiefalten einen

unmittelbaren Himmel über der Kirche, sondern eine weitere quasi irdische Szene der

'Begeisterung' zur Kirche (Pfingsten, Kirchengründung) und deren Verbreitung über die

ganze Welt (4 Erdteile; fraglich, ob 'Europa' in Verkörperung von Maria Theresia) durch

den Hl. Geist umgeben von seinen 'Sieben Gaben' (Wissenschaft, Rat, Stärke,

Gottesfurcht, Weisheit, Frömmigkeit und Verstand). Die vier Pendentivzwickel mit den vier

kanonischen Evangelisten bilden sozusagen die Basis dieser symbolischen Kirche

zusammen mit den vier Hauptkirchenvätern in Stuck von Feichtmayr auf dem Gesims.

In dem Querhaus

Die kurzen Querarme in Zwiefalten boten in Verbindung mit den darunter befindlichen

Seitenaltären die 'Himmelfahrten' des Ordensgründers Benedikt und des Protomärtyrers

und Reliquienhinterlassers 'Stephanus', während in Ottobeuren auf der einen Seite die

'Verurteilung der Hl. Felicitas und ihrer sieben Söhne und Verheissung des Martyriums'

durch die Palmwedel (darunter der Lokalpatron Alexander mit dem roten Mantel; der

andere Theodor von Amasea konnte hier aber keine Aufnahme finden; man vergleiche

auch Münsterschwarzach) und auf der anderen Seite 'Maria als Patronin' jeweils auf einer

Treppenkonstruktion aufbauend dargestellt sind, anders als die beiden idealen

himmlischen Ebenen des 'di sotto in su' von Zwiefalten. Das von J. J. Zeiller gemalte

westliche Bild wird pauschal mit 'Maria als Gnadenvermittlerin und Fürbitterin der

Christenheit' (Dehio, Bayern III, Schwaben, 2008, S. 870) bezeichnet. Bei genauerem

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Hinsehen nimmt die Skapulierspende neben der Rosenkranzspende im terrestrischen

unteren Teil einen gewichtigen Raum ein. Der im Chorhemd kniende Abt Anselm Erb (?;

neben ihm die Abtsmitra und der Stab) hält eine Dank-Opfer-Bittkerze (vielleicht auch eine

Bruderschafts-, Wallfahrts- oder eher Sterbekerze?) und empfängt das (einst dem

Karmeliter Simon Stock wie auf dem darunter befindlichen Skapulier-Bruderschafts-

Altarauszug) überreichte Skapulier, das eine Verkürzung des Fegefeuers (das immer noch

gültige 'Samstagsprivileg' seit Papst Johannes XXII) verheisst, worauf wohl die Nackten

(Verstorbenen) aus dem Erdreich hoffen wie auch als Marienverehrer (und

Skapulierträger?) der französische König (Ludwig der Heilige?), ein deutscher Kaiser (?),

ein Papst (Johannes XXII?), ein weiterer Fürst (von Bayern?), ein Kardinal, ein Priester,

ein Abt und ganz rechts ein Ordensritter mit rotgelber Fahne (aber wohl nicht Theodor,

angeblich zu den 'Hl. Ständen' gehörig). Soll im Hintergrund die felsige Landschaft mit

Burg und Kirche den Berg Karmel darstellen?. Neben dem Abt Anselm mit seinem Gefolge

bewegt sich eine Wallfahrergruppe in Bittprozession auf einen im offenen Feld stehenden

Altar mit einem Gnadenbild zu. Das jetzt darunter befindliche Faktische von Eldern weicht

aber davon stark ab. Die darüber schwebende demütig bittende Muttergottes bildet den

Anfang einer 'Gnadentreppe' über Christus, der auf Maria und sein Kreuz verweist und zu

seinem im Allmachtsgestus dargestellten Gott Vater blickt (nach einer Troger-Vorlage).

Während Abt Benedikt und Spiegler in Zwiefalten eine 'Mischung der Realität(sgrade)' und

einen direkten 'Verweis' tunlichst vermeiden, finden Abt Anselm und J. J. Zeiller nichts

dabei, dass ersterer unter die Marienverehrer gleichwohl in der zweiten Reihe aber in der

alten Tradition der Stifterbildnisse 'gemischt' wird. Der Abt mit Kerze nimmt in etwa die

Position der auf den nicht sichtbaren christlichen Gott verweisenden 'Felicitas' ein: einer

Szene der römischen Vergangenheit wird eine bis in die Gegenwart Reichende

gegenübergestellt.

Das auch in Ottobeuren Wohldurchdachte zeigt sich in den dazugehörigen Altären mit der

'Hinrichtung Alexanders' und dem 'Sieg von Lepanto' (typologisch mit dem Fresko

verwandt). Auch beginnend von den Chororgeln zum Hl. Geist und zur Trinität sind die

Altäre z.B. am Chorbeginn mit den Erzengeln Michael bzw. dem Schutzengel wohl

gewählt, nach P. Rupert Prusinovsky, Benediktinerabtei Ottobeuren, 7. Auflage 2010, S.

26 im Sinne von 'Tapferkeit' und 'Klugheit' zusammen mit 'Gerechtigkeit' (Hl. Joseph) und

Mässigkeit' (Johannes der Täufer) die vier Kardinaltugenden darstellend. Wie bei dem

Benedikts- zum Scholastika-Altar hätte man zum Anna-Altar eher wieder einen

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männlichen Patron erwartet, aber vielleicht muss man hier für die Geschlechtersymmetrie

auch den Johannes und den Josef an den Vierungsaltären miteinbeziehen.

Im Langhaus

Statt der das Langhaus betonenden Tonne in Zwiefalten mit dem grossen Spieglerfresko

findet sich ein flaches querovales Gewölbe in Ottobeuren mit einem Deckenbild, das -

abgesehen von den beiden genannten Altären im Querschiff - endlich auch den Anteil des

Ordenspatrons am Leben der Kirche in Szene setzt. Nach einer stukkierten und in

Österreich beliebten fingierten schmalen kassettierten überleitenden Rahmenzone öffnet

sich eine Himmel- und Erdenzone, worauf im Oval Gestalten auf den Wolken sitzen bzw.

auf der Erde stehen. Im leicht bewölkten Zentrum schwebt der Hl. Benedikt in Anbetung

der strahlenden Geisttaube, die vor dem blauen Weltall in einem strahlenden Feuerball

steht. Es ist also auf die bekannte, auch im Chorgestühl dargestellte Benediktsvision in der

Todesstunde des 'Germanus' Bezug genommen, wonach sich die ganze Welt in einen

Sonnenstrahl vereinigt haben und die Seele des 'Germanus' in einem feurigen Ball in den

Himmel geflogen sein soll, was auch der schräg links nach oben blickende Papst Gregor

überliefert. Das aufgeschlagene Buch unterhalb des Benedikt ist wohl seine Regel:

"Ausculta, o fili, praecepta magistri, ...". Die Gruppe der geistlichen Damen unterhalb wird

von Benedikts Schwester Scholastika mit ihrer Taube angeführt. Sicher zu identifizieren

sind Gertrud von Helfta mit dem Herz. Die Taube mit dem Nonnenschleier markiert

vielleicht Adelgundis von Maubeuge (nach Prusinovsky: Elisabeth von Schönau). Das

Fläschchen ist ziemlich sicher der Eichstätter Äbtissin Walburga beigegeben. Rechts im

Hintergrund sitzt die Hl. Ottilie mit ihren Augen. Links im Vordergrund könnte Radegundis

von Poitiers erscheinen. Vorne kniet noch eine Zisterzieneräbtissin (Hedwig von Andechs

oder Schlesien?, nach Prusinovsky: Mechthild von Hackeborn). Rechts schliesst sich eine

Gruppe von benediktinischen Märtyrern an: mit dem Schwert wohl der Benedikt-Schüler

Placidus. Es folgen einige Kirchenlehrer, am auffälligsten ein etwas popenhaft Gekleideter

mit einer Schrift "L II/ cont: / ARIAN", was auf den vorbenediktinischen Athanasius von

Alexandria und seine allerdings vier Logoi 'Gegen die Arianer', worin die für die Trinität

wichtige Gottgleichheit Christi verteidigt wird, verweisen könnte, aber nach Prusinovsky

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eher auf den Benediktiner Leander von Sevilla als Verfasser von nur zwei Büchern gegen

die Arianer und Bekehrer der arianischen Westgoten. Vielleicht ist der Bischof mit

Monstranz der teufelaustreibende Hugo von Rouen (nach Prusinovsky: Lanfrancus von

Pavia) und im Hintergrund der Mönch mit Schreibfeder Beda Venerabilis. Darüber

erscheinen 'Doctores mariani' oder Marienverehrer wie ein Abt mit Rose (nach

Prusinovsky: Anselm von Canterbury), im weissen Messgewand und mit Bild der

Immaculata wohl Ildefons, mit dem Krückstock und dem 'Salve Regina' eindeutig Hermann

der Lahme. Der Denker und Himmelsbeobachter müsste ein benediktinischer grosser

Naturgelehrter (also wohl nicht Anatolius von Laodicea) sein. Festeren Boden in der

Bestimmung betreten wir anschliesssend mit dem Drachenzerstörer Magnus, dem mit der

Kette hantierenden Amandus (nach Prusinovsky: Leonhard), Ottmar und seinem

Weinfässchen, dem einen Bären zum Lasttier degradierenden Korbinian (oder Maximin),

dem Wolfgang und seinem Beil, dem Meinrad und seinen Raben, dem Gallus und seinem

Brennholz schleppenden Bären, aussen dem Sachsenapostel Bonifatius und der vom

Schwert durchbohrten Hl. Schrift. Bei der folgenden Tauf- bzw. Missionierungsszene in

Amerika (und Afrika?) wird es wieder etwas unklar (Buellius wie in Zwiefalten?).

Während bislang der Anteil der Frauen in der benediktinischen Bewegung, die Märtyrer,

die Gelehrten, die Missionare und Klostergründer des Ordens vor Augen geführt werden

sollen, ist die umfängliche Gruppe mit dem schon genannten Gregor d. Grossen

schwieriger einzuordnen: rechts aussen als Erster ein Erzbischof mit einem dem Pantheon

ähnlichen Kirchenmodell (nach Prusinovsky: Bonifaz IV), nach links ein Patriarch (von

Konstantinopel?) und weitere Bischöfe. Zum Betrachter blickt ein (fast liegender) Papst mit

einer Kaiserkrone und der Doppeladler-Reichsfahne, angeblich Leo III, der Karl den

Grossen zum Kaiser des Hl. Römischen Reiches gekrönt und gesalbt habe, worauf Abt

Rupert auch im Zusammenhang mit dem 'Kaisersaal' ausdrücklich verweist. Der ein

umranktes Szepter hochhaltende Bischof in Pontifikalkleidung ist nach Prusinovsky

Burkhard von Würzburg. Der Bischof in ähnlicher Aufmachung mit grossem (Wein- oder

Salz-) Fass und Buch könnte der Gründer Echternachs, Willibrod, sein oder besser nach

Prusinovsky Rupert von Salzburg. Dazwischen hält ein unbekannter Kleriker einen Stab

mit einem Christusknaben an der Spitze. Die rechts darüber befindlichen Kardinäle bleiben

ohne Attribute unbestimmbar. Links folgt noch eine Gruppe von sieben Äbten, wobei der

Zisterzienser Bernhard von Clairvaux mit seinen 'Arma Christi' in den Händen keine

Identifikationsprobleme bereitet. Links davon erscheint noch ein weiterer Zisterzienser (?)

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mit Buch (Stephan Harding?, nach Prusinovsky: Petrus Coelestinus, Begründer der

benediktinischen Coelestiner und später Papst Coelstin V). Die weniger als hälftige Runde

scheint die offizielle Rolle der Benediktiner (einschliesslich des zisterziensischen

Tochterordens) in Kirche und Staat von Papst, Erzbischof, Bischof bis zu den Äbten

spielen zu sollen. Aber weder formal künstlerisch noch inhaltlich gedanklich besitzt dieses

Fresko die Einheit und 'Tiefe' Zwiefaltens. Die vier Stuckgruppen der Feichtmayr-Werkstatt

stehen für benediktinische Tugenden: Armut, Keuschheit, Gehorsam und die

Kreuzesnachfolge (nach Prusinovsky). Die vier camaieu-artigen Zwickelfresken sind

Benedikt und seinen Tugenden (der tapfere Benedikt und der Räuber Zalla bzw. der kluge

Benedikt mit der Leiter der Demut, der gerechte Benedikt und Florentius; der

unbestechliche Benedikt mit Stiftern) gewidmet.

Über der Orgel-Nord-Empore

Während in Zwiefalten über der Westorgel sinnigerweise das 'Salve Regina' auch optisch

angestimmt wird, ertönt in Ottobeuren der Jubelgesang auf das 1000jährige Kloster, seine

Gründer, Stifter und seine Bestätiger, Beschützer, die Klosterpatrone, also alles was wir in

den beiden Beichtstuhlaufsätzen und im Mittelfeld der Zwiefalter Vorhalle haben. Das von

zwei Engeln hochgehaltene Spruchband "Crescas in mille millia" (1. Mos. 24, 60)

verdeutlicht, dass der Zeitpunkt des Jubiläums 1764 bzw. 1766 nicht die "Erfüllung der

Zeit", wie manche honorierte Festpredigt im Taumel der Begeisterung Hermann Bauer

suggeriert haben mag (vgl. die Dissertation des Bauer-Schülers Peter Hawel: Der

spätbarocke Kirchenbau und seine theologische Bedeutung, Würzburg 1987, der die

Barockkirche als gebaute Theologie an Hand der für den konkreten Bau zumeist

unergiebigen Festpredigten ganz im Sinne Bauer zu erweisen sucht), gekommen sei,

sondern dass doch noch über den Tag hinaus (vielleicht bis zum 'Jüngsten Tage') zu

hoffen wagte. Aber es sollten für die meisten Klöster kaum noch 40 Jahre werden. Hier ist

der 'Verweis auf sich selbst' offensichtlich angebracht: das 1764 (oder um 1760 zumindest

weitestgehend, im Modell auf alle Fälle) fertige Kirchenäussere und ein Teil des

Klostergebäudes von einer einnehmbaren Position aus gesehen, nur wieder annähernd

mit dem gleichen Knick in der Fassade wie im Zwiefalter Chorgestühl durch Christian.

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Links halten noch zwei Pagen eine Fahne mit dem Gründungsbau von 764 bzw. dem vor

kurzem abgerissenen Vorgängerbau. Treppen, Brüstungen lassen die Untersicht und den

würdevollen Aufbau erahnen. Ganz unten kniet eher zu klein, bescheiden im Chorgewand

nicht wie oft fälschlich vermutet der eigentlich Erbauer der Kirche, Anselm Erb, wie im

Querschifffresko, sondern der auch nach dem Stauder-Porträt wohl hinlängliche, bei den

Klosterbauten faktische, bei dem Kirchenneubau mehr geistige Urheber oder Stifter, der

verstorbene Abt Rupert Ness, neben dem Kloster- und Konventswappen. P. Ulrich Faust

OSB plädiert allerdings in: "Abtei Ottobeuren, Geschichtlicher Überblick 764 bis heute" 2.

Auflage 2007, S. 63 Anm. 116 wieder für Abt Anselm Erb, was allerdings mit dem im

rechten Querhausdeckenbild Dargestellten physiognomisch kollidieren würde. Die

schwächere (von J.J. Zeiller?) obere Himmelszone zeigt in der Mitte den Hl. Benedikt,

rechts die beiden Hauptpatrone Alexander und Theodor mit dem berühmten

byzantinischen wundertätigen 'Heiligen Rock' und links die weiteren Patrone wie Peter und

Paul, Binosa (mit dem Pfeil im Haupt), Januarius, Maurus, Bonifatius und rechts Benedikt,

Viktoria und Pontianus (alle nach Prusinovsky, S. 37). Sie verehren ein Kreuz mit

dreifachem Querbalken (das sogenannte 'Spanische Kreuz' mit drei Partikeln), was

natürlich auch an die Trinität erinnert. Eine Maria wie in Zwiefalten - eigentlich auch eine

Erzpatronin der Kirche - taucht nicht auf. Die in Zwiefalten weitgehend vermiedene

Vermengung der 'Realitäten' und Zeiten ist hier wie sonst um die Jahrhundertmitte noch

üblich und voll erwünscht. P. Rupert Prusinovsky liest (2010, S. 37 f) die irdische

Mittelgruppe wie folgt: links Klostergründer Silach in Seitwärtswendung mit der knienden

Gemahlin Erminswint, dahinter der jüngste Sohn Tagebert. Ein weiterer Sohn, Guzibert,

Bischof von Vienne, hält den Stiftungsbrief, rechts davon als Benediktinermönch und

erster Abt Ottobeurens ein weiterer Bruder, Toto. Links angeblich zwei heiligmässige Äbte

Ottobeurens: Neodegar und Witigar. Auf der rechten Seite ein Kaiser (Karl der Grosse)

und seine Gemahlin (Hildegard) mit der Dotationsurkunde und im Verweis auf eine

"Confirmatio(nsurkunde)". Links dahinter Papst Eugen III, der 1152 Ottobeuren unter

päpstlichen Schutz nahm. Dahinter noch zwei weitere Äbte (Konrad I und Rupert I,

Vollender der romanischen Kirche). Der zweite ältere Kaiser rechts mit der für Karl den

Grossen üblichen Kaiserkrone soll Kaiser Otto I sein, der dem Bischof Ulrich von

Augsburg die "Exemptio(nsurkunde)" übergibt. Daneben folgt noch der Konstanzer Bischof

Konrad I. Darunter steht sehr auffällig ein gerüsteter Fürst mit dem Wappen des

Herzogtums Schwaben (3 staufische Löwen), allerdings mit dem weiss-blauen

(wittelsbach-?) bayrischen Umhang (das 'konradinische Erbe' Bayrisch-Schwaben?).

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Im Eingangsbereich und in den Seitenkapellen

Ganz konventionell ist das Thema des 1763 von J. J. Zeiller gemalten Freskos über dem

Eingang unter der Empore mit einer nie zustande gekommenen grossen Orgel: die in allen

vier Evangelien erwähnte 'Tempelreinigung', die auch schon in Neresheim zu bewundern

war. Weniger gebräuchlich sind die erweiternden biblischen Szenen 'Das Scherflein der

Witwe' (Markus 12,41-44) und die 'Pharisäer und Zöllner mit dem Teufel des Hochmuts'

(Lukas 18,9-14), die für Opfer, Busse und Gebet, Reue oder die richtige Einstellung beim

Kircheneintritt stehen.

Die vier Langhausaltäre mit den vier populären Heiligen Martinus, Antonius sowie Nikolaus

und (seit 1729 kanonisierte) Nepomuk haben eine Verbindung zum jeweils darüber

befindlichen Fresko und ergeben sich wie in Zwiefalten wohl teilweise auch aus den

vorhandenen Reliquien, nach Prusinovsky aber auch in Ausrichtung der Ordensmänner an

'Johannes d. T.' und seine 'Mässigkeit' und der Weltgeistlichen an 'Joseph' und seine

'Gerechtigkeit'.

Das Kanzel-Taufgruppe-Ensemble: Predigen und Taufen (in Zwiefalten: Sehen und

Sprechen) nach Bernd Wolfgang Lindemann

Interessanter ist der Vergleich der wohl von Österreich herkommenden Kanzel-

Gegenstück-Gebilde von Zwiefalten und Ottobeuren, wobei - um es vorwegzunehmen -

nach den bisherigen Überlegungen und Indizien Ottobeuren Zwiefalten zumindest in der

Ausführung vorangeht. In Ottobeuren scheint zumindest ab 1767 der Marmortaufstein

aufgestellt gewesen zu sein, womit pfarrkirchliche Rechte auch in die Klosterkirche

übertragen waren. Allerdings wirkt dieser Taufstein nicht sehr integriert sondern wie

nachträglich plaziert. Dass der 'Johannes' vom Johannes-Altar gleich um die Ecke wieder

in der Taufszene auftaucht, mutet auch nicht sehr glücklich an.

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Mit diesem Kanzel-Taufgruppen-Ensemble hat sich Bernd Wolfgang Lindemann,

"Bemerkungen zu Kanzel und Taufgruppe in Ottobeuren", in: Zeitschrift des dt. Vereins für

Kunstwissenschaft 43.1989, 1, S. 73-93, etwas als Vorläufer von Nicolaj van der Meulen

in ikonographisch-ikonologischer-theologischer und rhetorischer Weise

auseinandergesetzt. Offenbar ist bei ihm die ungewöhnliche Süd-Ausrichtung Ottobeurens

nicht berücksichtigt, sodass die Richtungsangaben korrigiert werden müssen: das

Kanzelgebilde hängt am Nord-Ost-Pfeiler, die Taufgruppe am Nord-West-Pfeiler der

Vierung bzw des Langhauses. Der Autor gibt eine Bestandsaufnahme mit der

'Transfiguration' von Christus vor den Aposteln und Moses und Elias zu Gott Vater mit der

Wolke (als Hl. Geist) auf dem Schalldeckel gegenüber einer ebenfalls vertikalen Trinität

des von Johannes getauften Christus mit der darüber schwebenden Geisttaube und

Gottvater. Des weiteren kommt er auf die Inschriften zu sprechen, die nach Matthäus

28,19 sich sinnigerweise von "Euntes docete / omnes gentes" zu gegenüberliegend

"Baptizantes / eos in nomine Patris et / Filii et Spiritus Sancti // Math. ulti" fortsetzen. Die

Adam-Eva-Reliefszene am Fuss der Taufszene mache die Erlösung von der Erbsünde

durch die Taufe sinnfällig, während auf dem Kanzelkorpus die 'Bekehrung Pauli', der

'Abschied von den Aposteln', sowie 'Judas' für Bekehrung, Sendung der Apostel und

Starrsinn (?) stehen sollen.

Über den für Ottobeuren bedeutsamen Trinitätsaspekt hinaus versucht Lindemann mit

Theologenhilfe wie Cornelius a Lapide auch eine Allegorese von Taufe mit der "Gabe der

Unschuld" und der 'Transfiguration' als "Sicherheit vor allen Übeln" oder eine "persuasio

ad imitationem" der Jünger Christi im Predigt- und Taufamt für die Ottobeurer Benediktiner

nachzuweisen. Der Autor fragt sich nun zu Recht, wer eine solche "argutezza des

Concettos" besessen habe, oder wer auf eine solche Idee gekommen wäre. Wie Franz

Matsche lehnt er Johann Jakob Zeiller schon als Vorschlag für die äussere Gestalt ab und

sieht ebenfalls zu Recht Johann Michael Feichtmayr in der Hauptverantwortung. Er meint

auch, dass das Ottobeurer nicht losgelöst vom Zwiefalter Beispiel gesehen werden könne,

da zumindest die Ausführenden weitgehend diesselben gewesen seien. Als wesentliche

Unterschiede neben der Thematik weist er für Zwiefalten auf dessen gemeinsamen

Erzählungszusammenhang (besser auch szenische Einheit) und die Kategorien von

Sehen und Sprechen (Predigen) hin. Allerdings ergibt sich zwischen Ezechiel und dem

Prediger ein Dialog, ja fast ein Widerstreit (zumindest optisch) und nicht immer eine "Ver-

voll-ständigung" oder Ergänzung. Lindemann bringt dann eine genealogische Reihe von

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mittelalterlichen Verkündigungsgruppen bis zur zeitgleichen Stadtpfarrkirche von

Amorbach (1753/54) durch Antonio Bossi. Das "kontrapostische Bezogensein von

figürlichen Pendants" versucht er immer wieder weniger formal als inhaltlich durch ein

Kategorienpaar zu erklären. Am Schluss bei der Frage nach dem Erfinder von Ottobeuren

(u. Zwiefalten) kann der Autor sich nur ein "theologisch gebildete(s) Mitglied" der beiden

Klöster vorstellen, die "offenkundig einen gelehrten Wettstreit ausfechten wollten"; aber die

entscheidende Umsetzung (das Mehr gegenüber dem Programm) werde der kongenialen

Zusammenarbeit von Feichtmayr und Christian mit einer Sensibiltät und Sensualität für

Raumwirkungen verdankt. Zeitlich setzte Lindemann bei Ottobeuren zwischen 1756 und

1766 bzw. bei Zwiefalten zwischen 1747 und 1758 an. Wenn man allerdings wie der Autor

dieser Zeilen seit 1992 die Ausführung in Zwiefalten nach Ottobeuren annimmt, ergeben

sich etwas andere und kompliziertere Szenarien. Die formale Idee scheint auch nach

Nicolaj van der Meulen (s.o.) auf Erfahrungen Feichtmayrs in/aus Österreich (z.B.

Dürnstein, NÖ.) zurückzugehen und dürfte von ihm dem Abt Benedikt in Zwiefalten um

1749, vielleicht sogar schon früher unterbreitet worden sein. Den Inhalt bestimmte sicher

der Abt. Ottobeuren dürfte vor allem durch Feichtmayr, Christian und Hörmann neben

einer möglichen Gesandtschaft im Jahre 1754 über das zeitweise vorangehende

Zwiefalten auf dem laufenden gehalten worden sein und könnte von dort auch von ersten

Überlegungen zur Kanzel-Ezechiel-Gruppe erfahren und daraufhin sein Trinitäts-Leitmotiv

adaptiert haben. Die nach 1992 andere, fast sinnvollere Variante ist die, dass Feichtmayr

(und Christian) nach Ottobeuren (1762-65?) das Kanzelensemble nun auch in Zwiefalten

(1767-1770?) propagierte(n), wobei wahrscheinlich der Nachfolgeabt Nicolaus II die

theatralischere Lösung mit Ezechiel und dem Totenfeld für Zwiefalten gefunden hat. Bernd

Lindemann sind in Zwiefalten die reichere Verwendung naturalistisch anmutender Details

wie "Erdschollen und Tropfsteine" aufgefallen. Kann man das als 'Kennzeichen'

(Zwiefaltens und seiner beiden Äbte) in eine logische Weiter- oder Sonderentwicklung

Feichtmayrs und Christians einreihen? - das sind Nebenaspekte bei dem Feichtmayr-

Christian-Komplex, nachdem wir oben schon festzuhalten versuchten, dass solche

Elemente seit ca. 1750 bei der Feichtmayr-Truppe auftraten. Zwiefalten ist auf alle Fälle

die originellere Lösung. In Wiblingen (Johann Schnegg und Benedikt Sporer, 1784 ff)

befinden sich die 'Aussendung der Apostel' über dem Taufbecken, darüber die Geisttaube

und gegenüber die Kanzel mit Gesetzestafeln (Korpus), Taube und Auge Gottes. Auch in

Neresheim mit Thomas Schaithauf (1788/89) sind über dem eingebauten Taufbecken die

'Aussendung der Apostel' und die 'Trinität' dargestellt.

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Das Zwiefalter Ezechiel-Kanzel-Gebilde aus der Nähe und seine biblischen Quellen

Wenn man an das Zwiefalter Ezechiel-Kanzel-Gebilde nicht mit der etwas 'hypertrophen'

(psychologischen, theologischen und rhetorischen) Einstellung eines Nicolaj van der

Meulen noch einmal herantritt und auch das 'Beiwerk' sich genauer anschaut, ergeben

sich einige neue Feststellungen und auch neue Fragen. Es geht auch darum, sich den

Entstehungsprozess zwischen Ideen-Auftrag-Geber (Abt Benedikt, Abt Nicolaus II) und

ausführenden Künstlern (Feichtmayr, Christian und Werkstätten) plausibel zu machen. Die

Themenwahl Ezechiel ist für die Mitte des 18. Jahrhunderts eher aussergewöhnlich. Auch

ein heutiger Leser dieses Propheten ist neben der Aussicht auf das 'ewige Leben' doch

von dem rächenden Gott und der Warn-Droh-Predigt zur Umkehr zum gottgefälligen,

gottesfürchtigen Leben beeindruckt. So etwas passt eher zu Predigten in Pest- und

Kriegszeiten des Mittelalters und des 17. Jahrhunderts. Der vorletzte Ottobeurer Abt

Honorat hielt kurz vor seinem Tode und der zeitweiligen Aufhebung des Klosters zwei

Reden im Kapitel über die Worte des Propheten Ezechiel (7,6): "so spricht der allmächtige

Herr: Unheil auf Unheil! Siehe, es kommt! Das Ende kommt. Es kommt das Ende" nach

der Chronik von P. Maurus Feyerabend (vgl. Ottobeuren, Schicksal einer schwäbischen

Reichsabtei", hg. von Aegidius Kolb, Kempten 1986, S. 186). Der Zwiefalter Abt Benedikt

oder Nicolaus wird wohl noch bemerkt haben, dass eine gewisse Schocktherapie (phóbos)

eine bessere Wirkung zeitige. Überdies weise Ezechiel auf die Befreiung von der

Knechtschaft (man erinnere sich des Zwiefalter Württemberg-Traumas), auf den 'Neuen

Bund', den neuen Tempel, das neue Jerusalem hin, was ganz gut zum jetzigen Neubau

passe. Und wir finden in der Tat einen vergoldeten Plan, Idealgrundriss dieses Tempels in

Jerusalem (natürlich nicht im platten 'Verweis' auf Zwiefalten). Mit den vier bzw. fünf

zumeist übersehenen Putten dürften die Zwiefalter Äbte noch etwas weiteres mitzuteilen

beabsichtigt haben. Wenn von den beiden mit dem Schwert kämpfenden Putten der eine

mit der Löwenhaut und dem Plan Jerusalems (?) das letztlich siegreiche Judäa (= Löwe

Juda, das gottgläubige Judentum des Alten Bundes) und der mit dem Helm das

bedrohende Königreich Babylon (= Heidentum) bedeutet, erhält das Ganze doch auch

eine witzig-heitere, kindlich-spielerische Note (auch hinsichtlich der unterschwelligen

Anspielung auf den Zwiefalten-Württemberg-Konflikt). In der höheren Sphäre um den

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Ezechiel befinden sich noch weitere Putten darunter auf der linken Seite einer mit einer

Waage der Gerechtigkeit und des Gebotes mit einer Flamme des Göttlichen und einer nur

mit einer Flamme, und auf der rechten Seite einer mit einem Weihrauchgefäss des

Glaubens, Gottgefälligkeit, Opfer, Reinigung und einer mit einem flammenden Herz (Liebe

zu Gott, u.ä.) zur Veranschaulichung der Botschaft und Forderung des Propheten bzw.

des zürnenden, strafenden, rächenden, aber letztlich versöhnlichen Gottes, vgl. Ezechiel

36, 26-27: "Und ich will euch ein neu Herz geben, und einen neuen Geist in euch geben;

und will das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen, und euch ein fleischern Herz

geben; Ich will meinen Geist in euch geben, und will solche Leute aus euch machen, die in

meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach thun". Durch den

Schalldeckel kommt die göttliche strahlende Inspiration von dem darüber zwischen den

'Vier Wesen'' (später auch der Evangelisten) sitzenden Gott, der eigentlich dem Ezechiel

den von ihm zu verschlingenden Brief hinhalten müsste. Durch Engel wird ein bequasteter

Teppichvorhang baldachinartig vor der Nische mit dem Propheten visionsartig

emporgehoben, der auf einer 'natürlichen', den Rand übergreifenden Bodenplatte steht,

während unten am Fuss auf Wolken ein grosser Engel mit dem Tempelplan neben den

beiden kämpfenden Putten noch schwebt. Eine unveröffentlichte Magisterarbeit zu diesem

Thema (Ellen Schneider: "Die Kanzel-Ezechielgruppe zu Zwiefalten", Tübingen 1990) ist

dem Autor dieser Zeilen leider nicht zugänglich gewesen. Ob noch Abt Benedikt oder erst

Abt Nicolaus II in der Folge diese Gedanken, Vorstellungen hegte, mündlich äusserte oder

schriftlich wie z.B. gegenüber Franz Sigrist beim Mittelbild der Vorhalle niederlegte, ist

vielleicht nicht entscheidend. Feichtmayr lieferte wohl zeichnerisch die konstruktive

Grundlage wie Sockel, Standplatte, Nische, Deckel, Vorhang und Auszug oder Himmel

und wahrscheinlich auch für das weitere Figürliche wie z.B. Dixnard für Christian beim

Buchauer Hochaltar. Von einem möglichen dreidimensionalen Modell mit kleinen Ton-

Wachs-Figuren Christians gibt es keine Kunde, auch nicht bei Ottobeuren. Christian dürfte

aber auf alle Fälle wie für den Ottobeurer 'Sebastian' ein Tonmodell für den 'Ezechiel'

angefertigt haben. Obwohl es bislang keine Belege gibt, dass die Feichtmayr-Truppe

spätestens 1766/67 auch wieder in Zwiefalten gearbeitet hat, ist doch anzunehmen, dass

dieser Altarbau-Abteilung alles bis auf die alabasterweissen Stuckfiguren zuzuschreiben

ist.

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Ein Vergleich von Ottobeuren und Zwiefalten

Leider gibt es zu dem (Konkurrenz-) Verhältnis Zwiefalten-Ottobeuren ausser den

gemeinsam beteiligten Architekten, Stuckateur-Stuckplastiker, Bildhauer-Stuckplastiker

und Kunstschreiner keine eindeutige Nachricht, ob z.B. die entscheidenden Kräfte von

Ottobeuren Zwiefalten besichtigten oder später umgekehrt. Wenn man die beiden

Kirchenbauten aussen und innen vergleicht, zeigen sich die unterschiedlichen Ansprüche

der Äbte bzw. der Konvente. In Zwiefalten: eine in den Klostertrakt zwischen zwei

Giebelfassaden integrierte Kirche mit einer auch durch den unverputzten und (zumindest

jetzt wie in Weingarten) nicht angestrichenen Haustein noch monumentaler wirkenden

Fassade, dem umlaufenden Steinsockel und den hinter das schmale Querhaus gesetzten

aufragenden Türmen; dagegen in Ottobeuren: ein nur an das Klosterareal angehängter

verputzter, nur 82 m (Zwiefalten: 93 m) langer, weitgehender Backsteinbau mit einem

Scheinquadersockel und trotz 49 m Breite mit engbrüstiger, kathedralartiger, Weingarten

reflektierender Zweiturmfassade, wobei das Ganze auch durch die vergleichsweise

unruhige Dachlandschaft der Kuppel und der Fenster irgendwie kleinteilig und künstlich

wirkt. Umso mehr überrascht der Innenraum durch seine Höhe (Hauptkuppel: 35,6 m;

Zwiefalten: ca. 28 m) und Weite des Querschiffs (58,3 m zu 32 m in Zwiefalten), was ganz

an Weingarten, Salzburg oder gar Rom gemahnt. Ein Nachteil der grossen Höhe macht

sich bei den gegenüber den zumindest im Langhaus (und Vierung) eine richtige

'Proportionalgrösse' erreichenden Spiegler-Gemälden zu kleinfigurigen und seitlich auch

noch mit verkleinernden Übergangspodesten arbeitenden Fresken bemerkbar, die

zweifelsohne auch von daher etwas an Wirkung verlieren. Durch die Emporenlosigkeit

erreichen auch die Kapellenaltäre, vor allem bei dem geringen möglichen Abstand eine

erschlagende, erniedrigende Turmwirkung. Dem gegenüber ist in Zwiefalten die

Ausstattung besser proportioniert und intimer. Der Richard Zürcher, Bernhard Rupprecht

trotzdem zu Urteilen wie 'Bildhaftigkeit' verführende Longitudinalcharakter Zwiefaltens

vermittelt aber auch eine stärkere Sogwirkung zum Hochaltar hin als das noch nicht wie in

St. Blasien an das Pantheon erinnernde, aber zum Zentralbau stärker tendierende

Ottobeuren, das sich eigentlich an dem annähernd zeitgleichen Bau in Zwiefalten allenfalls

in der Ausstattung etwas orientierte und orientieren wollte.

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Die Feichtmayr-Christian-Frage

Händescheidung: Sinn und Unsinn

Bei einer Art 'Gesamt-Kunst-Werk' wie in Ottobeuren und Zwiefalten lässt sich vielleicht

einwenden, dass es sich hier mehr um die Leistung eines Kollektivs von Auftraggebern,

Künstler-Werkstätten und Handwerkern handele und der individuelle, gar bekenntnishafte

Anteil des Einzelnen nicht so entscheidend sei. Dass dem doch nicht ganz so ist, zeigen

die zeitgenössischen (zumindest des 18. Jahrhunderts), auch indirekte (Selbst-)

Ruhmesworte und leider oft nicht ausreichende und auch nicht richtige Nennungen der

Namen und Taten. Gerade im Zeitalter des Repliken-Kopien-(Un-)Wesens ist die

Händescheidung eine nötige, schwierige, leider oft nicht gelingende Aufgabe vor dem

Hintergrund eines zu gewinnenden 'Bildes' von einer Künstlerpersönlichkeit und deren

Qualitätsbandbreite.

Adolf Feulner und Ernst Michalski

Adolf Feulner in seinem grossen Werk "Bayrisches Rokoko" von 1923 hält Johann Michael

Feichtmayr für einen der "geistvollsten Ornamentiker und einen Bildhauer von hohem

Rang" und sieht in Christian und Hörmann nur Ausführende, während dagegen Ernst

Michalski in seiner Arbeit "Joseph Christian - Ein Beitrag zum Begriff des deutschen

Rokokos", Leipzig o.J. (1926) in Christian und dem "genialen"(!) Schreiner Hörmann die

entscheidenden schöpferischen Gestalten erkennt, da Feichtmayr nicht gewohnt gewesen

wäre "selbst zu entwerfen". Alle Zwiefalter und Ottobeurer Stuckeinzelfiguren seien aber

doch von Feichtmayr und später vom Sohn Christians (nach Modellen des älteren

Christian in Ton?) ausgeführt worden, so die etwas seltsame Vorstellung Michalskis. In

dem Band des Handbuches der Kunstwissenschaft. "Skulptur und Malerei des 18.

Jahrhunderts in Deutschland" von 1929 sieht Feulner in dem Kunstschreiner Hörmann den

Entwerfer des Zwiefalter Chorgestühls und in Feichtmayr den für das Ottobeurer Pendant.

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Norbert Lieb und Erika Petri

Im Zusammenhang mit Archivforschungen für seine Dissertation über den Ottobeurer

Kirchenbau veröffentlichte Norbert Lieb einen bis heute grundlegenden Aufsatz: "Die

Feichtmayr-Christian-Frage in Ottobeuren", in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte

4.Jg., 1931, S. 175-187, wo er nach der Chronik von P. Magnus Feyerabend und den

Rechnungsbelegen eine aber immer noch nicht befriedigende Aufteilung versucht, um

letztlich doch einer künftigen "kunstwissenschaftlichen Stilbetrachtung" eine Entscheidung

in diesem "Kollektivismus" zu überlassen.

In der 1935 in Mainz gedruckten Münchner Dissertation von Erika Petri: "Johann Michael

Feichtmayr - Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Rokoko" werden bis auf die

beiden nachweislich Christian zugehörigen Holzfiguren auf den Opfergängen des

Zwiefalter Hochaltares zumindest die besseren Stuckfiguren Feichtmayr zugeschrieben

und wie alle übrigen Altäre zwischen 1754/58 datiert (S. 13).

Ulf (Rudolf) Huber und Winfried Aßfalg

Nach dem zweiten Weltkrieg meinte Ulf Huber 1948 (verändert gedruckt 1960) in seiner

Tübinger Dissertation über "Die bildhauerische Tätigkeit von Johann Joseph Christian und

Johann Michael Feichtmayr in Zwiefalten und Ottobeuren", dass der erste Entwerfer nicht

mehr genau auszumachen sei, und dass ein Ideentausch der verschiedenen Geister im

Werkprozess stattgefunden habe. In der Neufassung von 1960 wurde v.a. ein sehr

heterogenes Frühwerk 'angesammelt', worunter die 'Kreuzigungsgruppe' der Messkircher

Hofkapelle von 1738 (jetzt Emmingen ab Egg, Pfk) und die aber für Christian nicht wirklich

gesicherte Brüstung der Orgelempore in Aichelau mit ihren durch ein Gewand geschickt

(vgl. J. Chr. Wenzinger in St. Peter und Freiburg) verbundenen Hermenpilastern um 1742

noch unter Abt Augustin Stegmüller qualitativ herausragen, um die spätere Entwicklung zu

dem "in der Tat ...große(n) Bildhauer des Rokoko in Oberschwaben" (S. 16) verstehen zu

können. In Zwiefalten werde Christian ab 1752 (oder eher nach 1754) vom

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"Stein/Holzbildhauer zum Stuckbildhauer" (besser Stuckbildner) (S. 39/40). Huber macht

auch einen zutreffenden Unterschied zwischen Christian und Feichtmayr aus: letzterer

"form(e) vollplastische Figuren mit weich fliessenden Gewändern und wenig

ausdrucksvollen Gesichtszügen. Seine Plastiken (sähen) anders aus als die prägnanten,

von starkem religiösen Leben durchdrungenen und kontrastreich geformten Figuren

Christians" (S. 41). Beim 'Hl. Michael' in Ottobeuren fällt ihm schon die "stärker

gebändigt(e)" Auffassung auf (S. 53). Die Beichtstuhlreliefs von Ottobeuren sieht er auch

schon als schwierig einzuordnende Werke eher von Mitarbeitern an (S. 55/56). Zu den

Feichtmayr-Figuren auf dem Gesims von Ottobeuren merkt er an, dass sie "gerade nicht

so irreal und ornamental geformt" (S. 15) seien, wie Feulner dies erwartet hätte.

Winfried Aßfalgs Buch "Christian Vater und Sohn - Bildhauer von Riedlingen", Ostfildern

1998 bringt einige interessante archivalische Ergänzungen (S. 58: "er arbeitete auch 1773

in Zwiefalten", allerdings ohne Quellenangabe) v.a. zum Sohn Franz Joseph Christian,

aber auch unsinnige Neudatierungen (z.B. die Stuckfiguren von Datthausen jetzt 1734

statt wie bisher um 1770, oder auch die Tropfsteinnische im ehemaligen

Kapuzinerrefektorium Riedlingen, jetzt Heimatmuseum, um 1733 statt nach 1756 oder

sogar um 1770) und stilistisch sehr unterschiedliche, unbedeutende Zuschreibungen.

Ralf Scharnagl: Feichtmayr

Den anderen 'Heroen', Johann Michael Feichtmayr, hat sich der aus der Stuckpraxis

kommende Ralf Scharnagl in seiner Mainzer Dissertation: "Der Wessobrunner Stukkateur

Johann Michael II Feichtmayr", Münster 1993 ausgesucht. Er äussert sich v.a. zur

Technik, zur Werkstatt, zum Werkprozess und zum Sozialgeschichtlichen und meint, dass

dadurch die Stilgeschichte weitgehend überflüssig werden würde. Bei der Gruppenarbeit

käme es nicht so sehr auf die individuelle Ausführung als auf die Idee an. Das mag bei

zumeist nach einem unter Umständen doch individuellen Prototyp abgeformten Normteilen

zutreffen, aber schon nicht mehr bei den Freiformungen besonders im Figürlichen. Auch

bei der 'Gruppenarbeit' der Vettern Zeiller sind doch gerade die feststellbaren 'Hände'

aufschlussreich. Bei Scharnagls beschreibendem, technisch-handwerklichen und qualitativ

wertenden Werkdurchgang bei kleineren Irrtümern (z.B. die angebliche, aber doch nicht

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erlangte Reichsunmittelbarkeit von Kloster Langheim) wird der figürliche Stuckbildner

Feichtmayr weitgehend ausgeklammert (auf S. 90 wird an den Putten der Stichserie auch

auf Feichtmayr als Figurenzeichner abgehoben) zugunsten einer allgemeinen

entwerferischen Kapazität Feichtmayrs mit "hervorragendem perspektivischem

Verständnis"(S. 90). Scharnagl stellt aber auch fest, dass nach 1755 und seiner letzten

Schaffensphase bei Feichtmayr keine Entwicklung z.B. in Richtung klassizistischer

Ornamentik mehr auszumachen ist. Wie wichtig 'Zahlen und Namen' - zumindest eine

genaue Datierung - ja entscheidend für die weiteren Schlüsse sind, zeigt die von

Scharnagl übernommene alte Datierung v.a. des zweiten Ausstattungsabschnittes in

Zwiefalten (und Gossenzugen), der seit den Feststellungen von 1992 erst nach

Ottobeuren erfolgt sein kann.

Klaus Könner

Auch ein nicht unwesentlicher Teil von Klaus Könners Arbeit: "Der süddeutsche

Orgelprospekt des 18. Jahrhunderts", Tübingen 1992 ist dem seit fast einem Jahrhundert

die Kunstwissenschaft beschäftigenden Thema, nämlich der Händescheidung des

Figürlichen in Zwiefalten und Ottobeuren zwischen Feichtmayr und Christian gewidmet.

Viel deutlicher als die schon erwähnte, sich mit den eindeutig zugewiesenen

Chorgestühlen beschäftigende Ulrike Weiss gibt dieser Autor einen Überblick der

verschiedenen Standpunkte, bevor er auf Grund bislang teilweise nicht zugänglicher und

unbekannter Archivalien sich ein eigenes Urteil zu bilden versucht. Klaus Könner hat

natürlich vor allem die Chöre von Zwiefalten und Ottobeuren mit ihren Gestühl-Orgel-

Kombinationen im Blick. Mit einer besonders um die Silbermann-Korrespondenz

erweiterten Archivalienkenntnis versucht er den Ottobeurer Fall zu rekonstruieren: 1751/52

Beschaffung v.a. von Nussbaumholz für die 'harten Gestühle', Lindenholz für die

Bildreliefs. Eine schon öfters erwähnte, im Juni 1754 geleistete Zahlung an Christian (?)

"Zehrung und honor.(arium) auf die Zwiefalter Rays" interpretiert Könner als Herreise

Christians mit einem Entwurf (?), während Huber (1960, S. 48) von einer Delegation

Ottobeurens nach Zwiefalten (zwecks Besichtigung von Chor, Chorgestühl, Fresken und

Fassade) ausgeht. Wenn Johann Andreas Silbermann (1712-1783) im Mai 1755 seinem

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Tagebuch anvertraut, dass ihn im selben Monat Karl Riepp in Colmar besucht habe (S.

75) und ihm nach seinem Bericht von einem eigenen Besuch in Zwiefalten (nach S. 91

findet er im September 1753 statt; ein weiterer 1754 oder Anfang 1755 ist eher

unwahrscheinlich) und der dortigen Begegnung mit dem "Bildhauer" (Christian), der ihm

ein Modell und einen "sauber gezeigneten Riß" der Chororgel (von Ottobeuren?)

präsentiert hatte, gesagt habe, dass er (Riepp) diesen "Gedancken angegeben und den

"Riß (in Paris) zeignen" lassen habe. Was bedeuten würde, dass Christian vielleicht schon

1753 ein Modell der Orgel aus Ton/Wachs nach der zeitweise in Händen gehabten

Zeichnung angefertigt hat und zwar schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, da erst am 8.4.

1755 wegen dem "Modell der Chorstuehl" (aber nicht der Orgel-Kombination) Christian 4

fl. für Porto bezahlt wurden; er also nicht dorthin gereist ist. Feyerabend berichtet in seiner

Chronik zeitlich etwas ungenau um 1757: "die Kunstmeister Feuchtmayr und Christian

haben ihre Modelle zur Einsicht aufgestellt" (also wohl dreidimensional). Könner meint bei

den Oktober 1754 bzw. 28. Februar 1755 an den Schreiner Michael Weissenhorn

bezahlten (1755: 16) "Docken", dass es sich schon um die Wangen der Kirchenbänke im

Langhaus handeln würde, was aber eher unwahrscheinlich ist, da diese erst gegen

Ausstattungsende angefertigt wurden. Vermutlich sind es die Rohlinge der

Chorgestühlwangen für die weitere Schnitzarbeit durch Christian. All dies würde darauf

hindeuten, dass Christian beim Ottobeurer Chorgestühl einen gewichtigen entwerferischen

Anteil gehabt hätte. Der erst Anfang 1756 in Ottobeuren auftauchende Kunstschreiner

Martin Hörmann war sicher auch wieder für die Intarsien zuständig. Um 1755 dürfte auch

der Akkord mit dem Orgelbauer Karl Riepp endgültig getroffen worden sein. 1759 wurden

die Orgelgehäuse aufgestellt und am 23. Dezember 1761 Arbogast Thalheimer für

Vergoldung u.a. des Hochaltares und der "Basreliefs" (des Gestühls?) mit 522.- fl. bezahlt.

Sommer 1761 und sogar noch am 27. September berichtet Riepp an Silbermann, dass die

Orgel(n) noch unfertig seien, da die Chorstühle von Hörmann erst gemacht würden. Die

oberen Teile des Chorgestühls wurden durch Hörmann erst zu 1764/65 beendet. Wenn

Christian 2500.- fl. für die Orgelkästen erhielt, sind damit v.a. die reichen Schnitzereien

abgegolten worden, weniger die (oft unterbezahlte) Entwurfstätigkeit. Ganz eindeutig

zuzustimmen ist Klaus Könner, dass der zweite Stock und die Seitenelemente von

Feichtmayr und seiner plastisch bewegten, teilweise durchbrochenen Formsprache

abhängen. Um stilistisch die Handschrift Christians für den unteren, konventionellen Teil

des Ottobeurer Chorgestühls herzuleiten, greift Könner auf die beiden schon genannten

kleineren Altäre von 1752 in der zu Zwiefalten gehörigen Kirche von Wilsingen zurück, die

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von Christian (200 fl.-) und dem Gossenzuger Schreiner Joseph Buck (41 fl.-) hergestellt

wurden. Diese Altäre seien eine eigenständige Leistung Christians, da ja direkte

Beteiligungen Feichtmayrs und Hörmanns ausgeschlossen seien, und da sie auch

angeblich eine Verwandtschaft mit dem Ottobeurer Chorgestühl zeigten. Die Sache ist

leider so, dass Christian mindestens ab 1747 von dem erfahreneren und schon vielerorts

tätig gewesenen Feichtmayr beeinflusst ist. Besser wäre es gewesen, die Brüstung von

Aichelau als eigenständige Vorstufe für Zwiefalten und Ottobeuren in Betracht zu ziehen,

notfalls auch das bei Könner nicht vorkommende Gestühl von Mehrerau.

Der Stuckmarmor-Hochaltar von Unlingen 1772/73 in Gemeinschaft mit dem Sohn Franz

Christian und zwei Stukkatorengesellen von Landshut lässt sich nur bedingt als Beweis

einer grösseren 'architektonischen' Fähigkeit Christians heranziehen. Die von Könner zum

Vergleich angeführten, lockeren, teilweise atektonischen Beispiele der Feichtmayr-

Werkstätten in Haigerloch, Sigmaringen und Rangendingen demonstrieren auch die

Leistungsfähigkeit seiner verschiedenen Abteilungen. Einen Einfluss des erst 1746

erscheinenden Feichtmayr auf das Zwiefalter Chorgestühl schliesst Könner aus zeitlichen

Gründen aus. Wegen der Chororgel des seit 30 Januar 1751 in Zwiefalten nachweisbaren

Orgelbauers Gabler ist ähnlich wie in Ottobeuren sicher eine Änderung der oberen Teile

des 1752 auf-, mit der Orgel aber erst 1755 fertiggestellten Gestühls anzunehmen, wo

auch der 'Geist' Feichtmayrs schon herumgespukt haben könnte. Die Rocailleformen der

Wangen spiegeln aber einen Stil um 1740/45 nach Vorlagen wieder.

Sybe Wartena

Im Netz (http://edoc.ub.uni-muenchen.de/7999/1/Wartena_Sybe.pdf) findet sich

dankenswerterweise die Münchner Dissertation von Sybe Wartena: "Die süddeutschen

Chorgestühle von der Renaissance bis zum Klassizismus" aus dem Jahre 2008 als eine

Übersichtsdarstellung mit einem ausführlichen Katalog, worin natürlich auch Zwiefalten

und Ottobeuren auftauchen und die vorangegangene Literatur kritisch beleuchtet wird.

Wartena selbst geht bei den Chorgestühlen zeitlich von 1744-1751 für Zwiefalten und

1755-1762 für Ottobeuren aus und meint, dass die Orgelprospekte bei beiden schon

eingeplant gewesen seien und es sich nicht wie bei Weiss und Könner mit ihren

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"Nahtstellen" um "Nachgedanken" (S. 833) gehandelt habe. Bei der Frage nach

Feichtmayr als übergeordneter Ausstattungskünstler oder sogar Gesamtentwerfer (S. 828)

bringt er die These einer "Kollektivplanung" (Feichtmayr, Christian, die jeweiligen

Orgelbauer und die Äbte) wieder verstärkt ins Spiel. Wie schon 1992, S. 88 und ähnlich

Weiss 1998, S. 167 ("Befreiung") wird von ihm der "Entwicklungsschub" Christians in

Zwiefalten gegenüber Mehrerau herausgestellt. Interessanter sind aber die von Wartena

selbst abgelehnten Nachrichten von 1793 (S. 845), dass die Ottobeurer Reliefs

ursprünglich holzseitig belassen werden sollten und die Vergoldung nur zur Kaschierung

der farblichen, die plastische Erkennbarkeit störenden Differenzen erfolgt sei, und seine

eigene Vermutung, dass Teile der Reliefs wie die Karst-Ruinen gar nicht in Holz

geschnitzt, sondern (mit Hilfe von Schwämmen) in Stuck (oder schon in dem von Aßfalg

fälschlich Daktylotechnik benannten Kunstholz oder besser -stein wie bei Franz Joseph

Christian?) gestaltet worden seien. Gerade mit diesen Techniken wäre natürlich eine

kontrollierte Färbung leicht zu erreichen gewesen.

Zeitgenössische Ansichten: Augustin Bayerhammer,1767 und der Gemäldekatalog von

1793

Für die Differenzierung der Zwiefalter und Ottobeurer Stuckplastik gibt die Arbeit Könners

verständlicherweise so gut wie nichts her. Der Festplaner und Berichterstatter der

'Jubeloktav' von 1767, P. Augustin Bayerhammer, bringt in seiner schon im selben Jahr

gedruckten Festschrift: "Das Tausend=jährige / und durch die / Bischöfliche Einweihung /

der neuen / Kirche ( geheiligte Ottobeyren : / oder Merkwürdige Begebenheiten / welche

sich / Bey der Feyerlichen Einsegnung / der neuerbauten Kirche / und dem /

Tausend=jährigen / Jubl=Fest / Deß befreyten Reich=Stiftes / und Gottes=Hauses /

Ottobeyren / zugetragen. / Ottobeyren, Gedruckt bey Carl Joseph Wanckenmüller 1767..."

zumindest für Ottobeuren auf den ersten Seiten einen ganz brauchbaren kurzen

Kirchenführer, wobei die vier grossen Statuen des Hochaltares zu seinem

"Majestät=vollen" Aussehen, die "sehens=würdige Cantzel", der "besonders künstliche

Taufstein" (das ganze Gebilde oder nur das Echtmarmorbecken mit Holzdeckel?)

herausgehoben werden. Die Gemälde werden "dem Welt=berühmten ... Herrn Jacob

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Zeiller, S.K.M. Acad. Mahler ... und dem wegen seiner außnehmbaren Erfahrenheit

berühmte(n) Herr Frantz Anton Zeiller verdankt". Besonders erwähnt werden aber auch

Joseph Mages ("kräftige Pemsel") und Januarius Zick ("Annehmlichkeit") für je zwei

Nebenaltarblätter. Entscheidend ist das Folgende ebenfalls auf Seite 6: " Die Statuen

sowohl inner, als ausserhalb der Kirche, Bas Relief, Figuren und Zierarbeit [Chorgestühl?]

sind mehrmalige Proben der ungemeinen Geschicklichkeit deß Herrn Joseph Christian.

Die seltene, und wohlangebrachte Stuccador=Arbeit samt den Statuen auf dem

Haupt=Gesimse, und Basrelief ober den Beichtstühlen rühmet mit stummen Lippen die

schon in mehreren Ländern und Orten erwiesene Kunst des Herrn Michael Feuchtmayer,

wie Chor und Beichtstühle, die Thüren und übrige Holz=Arbeit ihre mit der Majestät

vereinigte Schönheit der Hand deß Martin Hermann [ist zu-] zuschreiben ...". Auf Seite 139

in der Jubelpredigt Sebastian Sailers heisst es noch über den 'Tempel': "Du bist von der

Bau=Kunst eines Fischers, eines Bayrischen Vitruvius, von den feinsten Gips= und

Marmor=Zierungen eines Feichtmayrs, von dem Pensel eines Zeilers, von dem

Kunst=Eisen eines Christians O! des Schwäbischen Phidias, von der schönen und

reinlichen Holtz=Arbeit eines Hermanns nach genügen heraußgeputzt."

Der Verfasser Augustin Bayerhammer (1729-1782) war Bibliothekar, Archivar und

'Cellerarius Conventus' und somit mit der ganzen Baumaterie doch einigermassen

vertraut. Ausserdem führte er für den altersschwachen Abt Anselm bei der im September

1767 veranstalteten Jubeloktav die Regie und richtete sogar eine Operette (wie sinnig: die

sich für ihren Gatten opfernde 'Alceste'; aber zeitgleich mit Willibald Glucks Vertonung)

ein. Es fällt aber doch auf, wie sehr er Martin Hörmanns Leistung oder Anteil

herausstreicht: "Majestät" und "Schönheit" vereint dürfte wohl eher mit mächtig, Grösse

und saubere, gute Verarbeitung weniger mit Entwurfstätigkeit zu verbinden sein. Ein

Urheber der Altäre wird nicht genannt. Ob unter "übrige Holtz=Arbeit" auch etwaige

Schreineranteile der Altäre, Kanzel, Taufgruppe, Kirchenbänke verstanden werden

dürfen?. Johann Michael Feichtmayr wird wohl als Stukkator und Stuckbildner genannt,

aber nicht als Entwerfer der Altäre. Als Plastiker werden ihm nur die zwölf allegorischen

Gruppen über dem Hauptgesims und die vier Stuckreliefs über den Beichtstühlen

zugeschrieben, aber nicht die (architektonischen Entwürfe der) Altäre und das Kanzel-

Taufgruppen-Ensemble. Bei Joseph Christian erwähnt er die vollplastischen (Stein-)

Statuen an der Kirchenfassade wie auch alle sonstigen (Stuck-) Figuren unterhalb des

Gesimses, nur die geschnitzten Flachreliefs, dann (weitere? Einzel) Figuren und die

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(geschnitzte) Zierarbeit (des Chorgestühls?, der Beichtstühle?) leider ebenfalls nicht sehr

detailliert und vor allem präzise.

In den Reisebeschreibungen des Salzburger Benediktinerpaters Konstantin Stampfer vom

September 1784, in: Reisen und Reisende in Bayrisch-Schwaben, Bd.1, hg. von

Hildebrand Dussler, Weissenhorn 1968, S. 261 wird die Kirche als "so prächtig, daß alles

von Gold, wie überhaupt, scheint" geschildert. Die meisten Altäre seien "mit schönsten

Statuen aus Alabaster geziert". Bei den Malereien werden doch nicht alle als

"Meisterstücke" angesehen, wobei er besonders "einige von Herrn Zeiller" negativ

erwähnt. Über die Inhalte lässt er sich wohl als nicht aussergewöhnlich leider nicht aus.

Wenn man die bei Norbert Lieb 1931 zusammengestellte, bis Bayerhammer retrograde

Literatur zur Ottobeurer Ausstattung heranzieht, sind vor allem das 'Abbatiale Registrum'

von 1802 und der handschriftliche Gemäldekatalog von 1793 interessant, wo die Figuren

der vier Vierungsaltäre von Christian und Feichtmayr gemeinsam oder aufgeteilt entstanden seien. Von Lipowskys Baierischem Künstlerlexikon 1810, S. 70 werden wie

von Bayerhammer die Basreliefs an den dortigen Beichtstühlen J. M. Feichtmayr

zugewiesen.

Vorläufige Schlüsse und Erkenntnisse

Vor einer "kunstwissenschaftlichen Stilbetrachtung" (Lieb) im Detail und aus der Nähe ist

wohl heute im einhelligen Konsens davon auszugehen, dass Johann Joseph Christian

primär Holz-Stein-Bildhauer (anscheinend in den Anfängen auch Steinmetz) war und erst

unter dem Eindruck Feichtmayrs nach 1752 (eher 1754 oder noch später) auch in der

nicht zünftigen, "freien Profession" des Stuckators arbeitete. Folglich sind auch in

Ottobeuren sichere Werke nur die bildhauerischen Arbeiten am Chorgestühl,

Orgelgehäuse und die Stein-Fassadenfiguren, währenddessen Johann Michael

Feichtmayr als Stukkator, Stuckbildner, (Innen-)Architekt, Gestalter angesehen werden

muss, dem primär alle Stuckarbeiten (Qadratur, freie Formung, Stuckmarmor, figürliche

Stuckreliefs) und Stuckfiguren im Wandbereich zugewiesen werden können. Im

Gegensatz zu den fünf bis sieben Schreinern um Martin Hörmann sind bei Feichtmayr für

Ottobeuren nur die beiden Poliere Thomas Sporer und Ferdinand Schnell bekannt. In

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Amorbach werden aber ausser Thomas Sporer, die drei Gebrüder Scheffler als Gesellen,

sowie 3 Lehrbuben genannt. Der in Zwiefalten übergewechselte Bildhauer 'Michael'

(Hennenvogel?, oder der Michael III Vogel von Bruchsal?) war anscheinend in Ottobeuren

nicht mehr dabei. Wieviele Kräfte (v.a. Schleifer) Feichtmayr in Ottobeuren einsetzte, und

ob er auch darunter einen stärker freiplastisch-figürlich arbeitenden Mann (Joseph

Scheffler, der Nachfolger Üblhers?) darunter hatte, ist leider ebensowenig bekannt wie der

persönliche Einsatz des Chefs des Unternehmens, der bei mehreren parallelen Baustellen

sehr viel auf Reisen sein musste und v.a. Aufträge hereinzuholen, die Entwürfe zu liefern

und die Arbeiten zu kontrollieren hatte. Während etwa im Zeitraum 1745-1755 in

Zwiefalten Christian noch Gehilfen wie Christian Jorhan, Joseph Hör nachgesagt wurden,

ist in Ottobeuren fast von einem Ein-oder Zwei-Mann-Betrieb zusammen mit seinem Sohn

Franz Joseph (geb. 1739) ab etwa 1755 auszugehen. Bei einer Gesamtentlohnung

einschliesslich Kost aber ohne Material für etwa 11 Jahre von 24 800.- fl. könnte man

einen Jahresverdienst von ca. 2000.- fl. annehmen, was als sehr auskömmlich anzusehen

wäre, wenn nicht der eine oder andere Gehilfe doch noch davon bezahlt werden musste.

In Zwiefalten also soll Joseph Christian Christian Jorhan (1727-1804) zwei ein halb Jahre

und später Joseph Hör (1732-1785) beschäftigt haben. Beide waren danach nur als

Bildhauer und nicht als Stuckbildner tätig, was auch daraufhin deutet, dass Christian bis

etwa 1754 (oder bis zum Ottobeuren-Aufenthalt sich nicht als Stuckbildner betätigte und

die Zwiefalter Altarfiguren erst nach 1767 entstanden sein dürften. Das von Hans Dieter

Ingenhoff ("Die Münsterkirche in Zwiefalten", in: Pantheon 40, 1982, S. 204) festgestellte

Vorkommen von in Holz geschnitzten neben in Stuck geformten Putten am Hochaltar, am

Tabernakel und am Kreuzaltar (alle wohl in die Zeit um 1752 bis 1755 zu datieren) zeigt

zusammen mit den beiden Holzfiguren auf den Opfergängen die Unentschiedenheit

zwischen einer 'solideren' Holz-Ausführung wie in Diessen und einer schnelleren und

billigeren Stucklösung und die Berührung Christians mit der Stucktechnik.

Im Gegensatz zu Joseph Anton Feuchtmayer und noch mehr Johann Christian Wenzinger

scheint sich Christian kein bekanntes oder nennenswertes Vermögen aufgebaut zu haben.

Wenn man die Summe für das Chorgestühl von 14 620 fl.- von den 100 310 fl.- ohne das

Material Holz - abzieht, war das Schreinerkonto doch beachtlich. Es müssten sich dahinter

wohl auch Holzkonstruktionen der Altäre oder ähnliches verbergen. Die Summe für den

Architekten-Polier Wöger von 3152 fl.- für etwa sieben Jahre hält sich in den üblichen

Grenzen. Ob die 4300 fl.- nur für den ca. 10 Jahre tätigen Baumeister Fischer ausgegeben

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worden sind, ist auch nicht ganz klar (einschliesslich der Entwürfe?). Die Beträge für die

Bauleitung z.B. in Ottobeuren beliefen sich auf 300 fl.- pro Jahr (in Zwiefalten nur 150 fl.-).

Feichtmayr als Figurist

Von dem grossen Ornamentiker Feichtmayr hiess es bislang zumeist, dass er figürlich

immer auf andere Kräfte angewiesen wäre wie z.B. Johann Georg Üblher. Friedrich Wolf

hat 1965 in seinem Beitrag "Der Stukkator Johann Michael Feichtmayer als

Figurenbildner", in: Oberbayerisches Archiv 87, München 1965, S. 89 -100, mit Blick auf

die Figuren des Hochaltares in der Abteikirche Amorbach (1748/50) und in der Anastasia-

Kapelle von Benediktbeuren (um 1753/54; auch ein Fischerbau und Zeiller als Maler)

Feichtmayrs Bandbreite zu erweitern versucht; ja er ging sogar soweit, den 'Hieronymus'

(Matthäus) - zwischen 1750 und 1755 von ihm datiert - und den Engel mit dem

Jerusalemer Tempelplan, um 1750 - beide in Zwiefalten - an Feichtmayr zu geben. Der

Bauer-Schüler Norbert Jocher bleibt in seiner Münchner Dissertation: Johann Georg

Üblher (1703-1763) - Ein Wessobrunner Stuckateur im 18. Jahrhundert", in: Sonderdruck

des Allgäuer Geschichtsvereins, Kempten 1988 etwas unentschieden (S. 225/26). Ein

besseres Unterscheidungsbeispiel sind die plastischen Hochaltarauszüge in Wilhering

(Üblher) und Amorbach (Feichtmayr). Letzterer ist anatomisch schwächer und im Gewand

eigenständiger. Jocher sieht Feichtmayr vorrangig als Dekorateur, der von dem ja auch

erst in Wilhering so richtig zum Plastiker gewordenen Üblher im Figürlichen abhängig (vgl.

S. 217/18) gewesen sei. Leider ist die seit Lieb und Huber vorgenommene Trennung von

Feichtmayr und Christian in Ottobeuren und Zwiefalten nicht völlig "überzeugend". Jochers

These, dass Üblher erst durch den "ornamentalen Konflikt" (Störung der Architektur durch

das Ornament) (vgl. S. 116 u. 263) sein plastisches Talent voll ausnutzen und entwickeln

hätte können (und müssen in der Arbeitsteilung?), ist etwas provokativ.

In einem Ausstellungskatalog "Johann Michael Feichtmayr d.Ä. - Altarbauer und

Zeichner", Landsberg am Lech 2009 konnte Elisabeth B. Hinterstocker der bislang einzig

gesicherten und signierten Wettbewerbszeichnung von 1748 in und für Augsburg, St.

Anna fünf weitere Altarentwürfe hinzufügen auch durch einen handschriftlichen Vermerk

des Münsterschwarzacher Abtes Christophorus von 1743. Diese sicher aus

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Werkstattbesitz Feichtmayrs stammenden Zeichnungen weisen doch einige

perspektivische Fehler auf, wie sie z.B. der Akademiker Ignaz Günther nicht machte, und

sind leider im Figürlichen wenig aussagekräftig. Sie kommen qualitativ an die grosse,

bedauerlicherweise ans New Yorker Metropolitan Museum gelangte Zeichnung für das

Querhaus in Zwiefalten nicht heran. Warum dieser von Ulrich Knapp vorgestellte, aus

einer Ravensburger Privatsammlung stammende Altarentwurf von der Autorin Feichtmayr

ab- und versuchsweise Joseph Anton Feuchtmayer oder gar Johann Joseph Christian

zugewiesen wird, ist nicht nachvollziehbar. Leider finden sich in dem Katalog auch keine

Abbildungen von den auch bei Scharnagl erwähnten Kupferstichfolgen, die allerdings

vornehmlich exzellente Ornamentik zeigen. Eine im Kunsthandel befindliche Radierung

'Fürbitte von Rochus und Nikolaus vor Maria in der Pestnot' ist eine seitenverkehrte Kopie

nach Pietro Testa und zeigt zumindest Feichtmayrs figürliches Interesse, das sich auch in

den zwölf Allegorien auf den Gesims in Ottobeuren manifestiert.

Eigene Ansichten

Das Folgende, notwendig Subjektive, von der fotografischen Aufnahmesituation oft

Beeinflusste kann und will einer noch zu erbringenden ausführlichen

Vergleichsuntersuchung von Feichtmayr und Christian im Figürlichen nur Anhaltspunkte

liefern oder bieten.

Der 'Kirchenvater Ambrosius' in der Ottobeurer Vierung ist eine gekonnte (vgl. linke Hand

des Heiligen) Mischung von Akademisch-Idealisiertem und Realistischem,

Erzählerischem, vielleicht aber nicht von grosser seelischer Tiefe und Individualität. Die

Gewänder sind wohl technisch bedingt eher weich, nicht blechern oder geschnitzt wirkend;

das Körperliche ist eher rundlich modelliert. Die weiblichen Personifikationen oder

Allegorien im Chorbereich (religiöse Grundtugenden) und im Langhausbereich

(Mönchstugenden) zeugen trotz nicht sehr variablem Gesichtstypus und trotz Anleihen bei

Ikonologien von eigenen, klein-szenischen, kompositorisch geschlossenen Erfindungen.

Während die Apostelreliefs mehr die eigene Hand oder die eines besseren Mitarbeiters

verraten, sind die zwei grossen Wandreliefs im Langhaus und die Atlanten der Empore

eher schwächere Werkstattarbeiten und auch nicht für den Stilvergleich repräsentativ eher

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schon das erstaunlicherweise in (Aussen-)Stuck ausgeführte Hochrelief 'Michael als

Engelsstürzer' an der Fassade. Wenn Feichtmayr nach Lieb (S. 178) 1761/62 für die

"schilt an der facciade" - also auch die Inschriftenkartuschen - nur 30 fl.- erhält, lässt sich

die bescheidene gehilfenmässige Qualität etwas erklären, obwohl dieses Relief doch so

etwas wie ein Werbe-, ein Markenzeichen nach aussen darstellt. Wenn man sich trotzdem

v.a. das Gesicht des Michael, seinen Helm und die Flügel einprägt und auf den 'Michael'

an einem der Vierungsaltäre überschwenkt, fragt sich zumindest der jetzige Autor, ob nicht

auch hier Feichtmayr mitmodellierend tätig war. Eine solche 'Klassizität' erreichte,

erstrebte Christian eigentlich sonst nie, und es ist hier (auch beim 'Schutzengel') eher

Feichtmayr vorzuschlagen (allenfalls unter Mitarbeit Christians beim Gewand), während

die beiden anderen Altäre 'Hl. Joseph' und 'Johannes d. Täufer' physiognomisch (auch die

Hände) und durch das blecherne Gewand eher an Christian erinnern.

Ein ganz heikles Kapitel stellen die vier Stuckreliefs über den Querhausbeichtstühlen, die

drei an dem Kanzelkorpus und das eine am Fuss des Taufgebildes dar. Die Stücke über

den Beichtstühlen deuten nur auf eine Hand, die nach Bayerhammer Feichtmayr sein soll,

obwohl die Verwandtschaft zu Christians vorangegangenen Dorsalreliefs am Chorgestühl

trotz der Technikunterschiede doch recht beachtlich ist v.a. auch bei den Fehlern in der

Perspektive oder bei dem Baumschlag. Für Feichtmayr würden sie eine Anlehnung an

Christian darstellen. Im 'Judas'-Relief der Kanzel kommt eine Teufelsfigur vor, die man mit

den 'Teufeln' der Fassade vergleichen könnte. Planerisch und organisatorisch einfacher

wäre bei den Stuckreliefs eine Bearbeitung innerhalb der Feichtmayr-Werkstatt, allerdings

waren Christian und Sohn ebenfalls vor Ort und zur Hand (nach Dischinger 2011, Bd. III,

S. 915 wurden entgegen Bayerhammer Christian für vier "Bastereliefs ob denen Beicht

Stiehln 200 fl." bezahlt). Zu Christian gehören wohl die in den Gewändern besseren und

ausdrucksvolleren Figuren wie des Hochaltares (Petrus, Paulus, Ulrich und Konrad) und

der Kapellenaltäre (z.B. Carl Borromäus), des Marienaltares im Querhaus (Dominikus, und

wohl auch noch Katharina), die Kanzel-Taufgruppe (auch der grosse Engel) u.a. Die

schwachen Figuren am Ursula-Altar (Barbara, Agatha) auch wegen der Nähe zu

Vierzehnheiligen stammen vielleicht eher von der Feichtmayr-Werkstatt, ebenso die

Putten über den Querhausbeichtstühlen. Dank der Einsichtmöglichkeiten für Ulrike Weiß in

das bislang unveröffentlichte Ottobeuren-Projekt von Schwager-Dischinger gibt es (Weiß

1998, S. 106) doch noch zumindest einige, das vorher Gesagte bestätigende, konkrete

Zahlen und Fakten: Christian wurden (wann?) für die "große und kleine Figuren der 2

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Hauptaltäre in denen Creuz Capeln 1620 fl.- " und (wann?) für "4 Altär im Langhaus, item

Kanzel und Taufst 3600 fl.- " bezahlt. Das bedeutet wohl, dass Christian alle Figuren der

beiden grossen Querhausaltäre lieferte, und dass er für die vier Kapellenaltäre ebenfalls

die Stuckplastiken schuf und wohl den aus echtem Marmor gehauenen "Taufst"(ein) oder

das ganze "Taufst(ück)". Ob die Reliefs an Kanzel oder Taufpendant eingeschlossen sind,

ist unklar. Es fehlen jetzt noch die Daten zu den Vierungsaltären und Nebenaltären im

Querhaus (Dischinger 2011, Bd. III, S. 915: " "4 Altär sambt dem Creuz Altar unter der

Cupel 1000.- fl"; "4 Altär im Creuz 1200 fl." jeweils an Christian).

Nach dem jetzigen Eindrucksbild des Autors dürfte es in Ottobeuren bei wenigen

Altarfiguren auch eine gewisse Aufteilung und ein Hand-in-Hand-Arbeiten zwischen

Feichtmayr, seiner Werkstatt und Christian samt Sohn gegeben haben.

Zwiefalten: das Feichtmayr-Christian-Problem scheint stilistisch weitgehend lösbar

In Zwiefalten sieht es nach einigen Detailaufnahmen für den Autor so aus, dass alles

Figürliche oberhalb des Gesimses und an den Wänden im direkten Verbund mit der

Stukkatur von Feichtmayr und seinen Mitarbeitern stammt, was auch Hans-Dieter

Ingenhoff 1982, S. 203 als Ergebnis aus der Restaurierung ab 1975 schon mitteilte. Die

'Vier Elemente'-Gruppen des Vierungsgesimses haben ihre Entsprechung in Ottobeuren

und Vorstufen in Diessen und Wilhering und sind etwa um 1749/50 entstanden, wobei sich

das bei Ottobeuren Gesagte weitgehend übertragen lässt. Ganz auffällig beim Element

'Luft' ist der die Schwerkraft, das Plastisch-Gewichtige aufhebende Vogel an der Leine.

Etwas früher entstanden von Feichtmayr wohl alle stuckweissen oder farbigen

Engelsfiguren an den Chorwänden, wie die wahrscheinlich abgeformten Putten von

Ottobeuren und Zwiefalten. Neben den wohl schwächeren, nicht für Nahsicht gedachten,

freigeformten, farbigen Engeln am Vierungskuppelrand müssen auch die Engel und Putten

in Gesims-Höhe und -Nähe des Langhauses (um 1751) Feichtmayr gegeben werden. Man

vergleiche z.B. das 'klassische' Antlitz des grossen Engels mit dem des 'Michael' von

Ottobeuren oder das 'Teufelchen' der 'Inbrunst'-Kartusche des Zwiefalter Langhauses mit

einem der Teufel der Ottobeurer Fassade. Erfindung und Ausführung der

Zwickelkartuschen mit dem Intermedium von Malerei und Plastik gehen auf Feichtmayr

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zurück, vgl. auch Amorbach mit Matthäus Günther, was auch von der Arbeitsorganisation

Sinn macht. Man wird sich das Entstehen der eher den Geist Feichtmayrs ausstrahlenden

Zwickelkartuschen so vorstellen müssen, dass nach schriftlichen und mündlichen

Vorgaben des Abtes und einer Absprache mit Feichtmayr Spiegler - wie aus dem eher

Wengner zuzuschreibenden, noch von der Begrenzung her unbestimmten Doppelentwurf

oder besser Kopie ersichtlich - das einfach stuckgerahmte Rocaillekartuschenfeld bemalte,

und unmittelbar darauf Feichtmayr die dazu bestimmten plastischen Teile anstuckierte;

weitgehend nach der Jahresangabe auf dem Beutel der 'Frau Welt' im Jahre 1752. Die

realistische Fassung und Angleichung erfolgte wohl unter Johann Georg Messmer.

Nach dem jetzigen Er-Kenntnis-Stand weist der Verfasser alle alabaster-porzellan-weissen

und farbigen Einzelfiguren der Altäre und der zweiten Ausstattungskampagne, also

'Matthäus' und sein Engel am Hochaltar, im Querhaus, am Ezechiel-Kanzel-Gebilde, in

den Langhauskapellen ab 1767 bis etwa 1772 Christian zu. Nur gegossen oder abgeformt

wirkende, zumeist vergoldete Engelsköpfe oder Masken an den Altären in Verbindung mit

den Stuckmarmoraltären könnten vom Feichtmayr-Team stammen. Die in einem Mischstil

gehaltenen Figuren mit den Vorhängen am Ezechiel-Baldachin und auf der Orgelempore

sind eher Gehilfenarbeit (Franz Joseph Christian oder ein Mitarbeiter der Feichtmayr-

Truppe). Ein Teil der Feichtmayr-Werkstatt müsste - wie schon gesagt - bei den

Stuckmarmor-Altären ab ca. 1765/67 und erstaunlicherweise fast parallel zu

Vierzehnheiligen in Zwiefalten wieder anwesend gewesen sein, lieferte im Figürlichen aber

wenig, allenfalls die schwachen, vergoldeten drei 'Tier-Wesen' am Ezechielgebilde.

Eines bleibt wie ähnlich auch bei Franz Joseph Spiegler verwunderlich, wie Christian als

etwa 60jähriger eine solche qualitative und expressive Steigerung beim 'Ezechiel'

gelungen ist, da mit Unlingen (1772/73, wo wohl auch der Sohn am eher gemässigten

architektonischen Säulenhochaltar neben den Landshuter Stukkaturgesellen mitwirkte)

und mit Buchau (1774-1776) doch ein verständlicher Qualitäts-, auch Vitalitäts-Abfall zu

konstatieren ist. Das Stuckmarmor-Wanddenkmal für Fürst Karl Friedrich von Fürstenberg

in Messkirch von 1776 - auch wenn vorrangig vom Sohn ausgeführt - zeigt wieder ein

additives Konglomerat. Es fehlt hier die kompositorische Idee eines Feichtmayr. Die relativ

perspektivisch korrekten Wiblinger Chorgestühlreliefs standen schon unter der Kontrolle

des 'Baudirektors' Zick (s.u.). Ein grösserer Anteil des älteren und nachweislich kranken

Christian an diesen Stuckreliefs ist jedenfalls fraglich. Mit der neuen Datierung und

Reihenfolge von Zwiefalten - Ottobeuren - und wieder Zwiefalten erscheint auch die

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stilistische Entwicklung Christians in einem sinnmachenden Licht. Christian als Holz- und

Steinbildhauer beginnt in einer mässig bewegten, auch vom Material bedingten

körperhaften Auffassung bis etwa 1754/55. Mit der schnelleren, dynamischeren,

variableren Stucktechnik und unter dem Eindruck Feichtmayrs entwickelt er eine vor allem

im auch anatomische Fehler kaschierenden Gewand sich manifestierende Bewegtheit.

Damit vermochte Christian ein sich z.B. in den geschnitzten Hermen des Ottobeurer

Chorgestühls zeigendes physiognomisches Interesse am Seelischen, Sensiblen,

Empfindsamen bei Figuren wie dem 'Ezechiel' in expressiver Weise zu verbinden.

Während die grossen Altarfiguren des linken Zwiefalter Querhausaltares (z.B. der

'Sebastian') eine Fortsetzung des noch etwas gemässigten Ottobeuren darstellen,

entwickelt er z.B. in der gegenüberstehenden 'Gertrudis von Helfta' eine Entkörperlichung

unter Betonung des Gewandes als Ausdruckträger bis hin zu den Manierismen einiger

sicher erst zuletzt entstandenen Figuren der Kapellenaltäre, woran sich die Unlinger

Altarwächter und die Buchauer Nischenheiligen direkt anschliessen lassen. Noch mehr als

bei Spiegler führte die anregende Konstellation in Zwiefalten und Ottobeuren bei Christian

zu einer Demonstration seiner Fähigkeiten. Seine oft sehr bescheidenen Frühwerke, das

Kompilierende der meisten seiner Reliefs lassen aber nicht vermuten, dass Christian über

das Ingeniöse wie für das Kanzel-Ezechiel-Gebilde nötig von sich aus verfügte. Hier ist

eher an den im Plastischen sicher unterlegeneren und konventionelleren, aber geistreich-

witzigen Feichtmayr zu denken. Die 'Kanzel' war nicht nur erst seit dem Münchner Kreis

um Ignaz Günther, Johann Baptist Straub und Franz Xaver Feichtmayr d.J. ein dankbarer

Ort, um allegorisch-erzählerische Phantasie (vgl. ehemals Löwen, Jesuitenkirche oder

Mecheln, St. Romuald) zu inszenieren unter den nicht nur theologischen Vorgaben und

Wünschen der Auftraggeber, der Äbte.

Schlussendlich: Ottobeuren ist in der Ausstattung Zwiefalten qualitativ unterlegen

Zusammenfassend lässt sich zu Ottobeuren sagen: Die Anteiligkeit zwischen Feichtmayr

und Christian (und Hörmann) ist leider bis in die letzte Gewissheit vor allem bei den

Nebenfiguren immer noch nicht ganz befriedigend geklärt und wird bei diesem

Werkstattbetrieb und der Kooperationswahrscheinlichkeit nicht völlig zu klären sein.

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Feichtmayr war aber nicht nur der grosse "Ornamentiker" sondern der Verantwortliche für

die Innengestaltung. Von der Klosterseite, dem Abt Anselm, kamen wahrscheinlich nur die

inhaltlichen, programmatischen Vorstellungen. Die Ideen für die bildnerische Umsetzung

z.B. der Taufe-Kanzel-Gruppe stammen mit grosser Sicherheit von Feichtmayr. Christians

Leistung in Ottobeuren liegt in den Chorgestühlreliefs, den interessanten, Befindlichkeiten

ausdrückenden Atlanten- und Altarfiguren. Den qualitativen Abstieg unter Abt Honorat

Goehl zeigen die vier erschreckend schwachen und störenden Wanddenkmäler für Stifter,

Äbte u. dgl.. Das mit grossem Anspruch auftretende Ottobeuren ist trotz seiner

durchüberlegten Ausstattung und dem Versuch P. Rupert Prusinovskys sie als

Glaubensbekenntnis zu sehen, zu lesen, nicht sehr innovativ und individuell. Das geringe

Interesse der Kunstwissenschaft zeigt auch die spärliche und nicht kontroverse Literatur.

Für Systembildungen u.ä. auch politischer Art eignet sich der Gesamtkomplex des fast an

St. Gallen im Alter herankommenden Klosters und angeblichen 'schwäbischen Escorials'

zwischen fürstlicher Repräsentation und geistlichem Vorbild innerhalb des ausgehenden

Hl. Römischen Reiches wohl nur sehr bedingt. Die von Stefan Kummer in: Zwiefalten

1989, S. 394 eher negativ angesprochenen "Diskrepanzen zwischen der architektonischen

Hülle [besser: Gefäss] und der dekorativen Haut" in Zwiefalten erklären sich auch aus der

dortigen weniger gewichtigen und mächtigen Architektur im Vergleich mit Ottobeuren.

Wiblingen

Die vorangegangenen Probleme von Händescheidung und Datieren werden uns leider

auch beim 'letzten Grossbau des Barock', der vorderösterreichischen, also nicht

reichsständischen Benediktinerabtei Wiblingen vor den Toren Ulms wieder begegnen und

dazu noch andere wie das Verhältnis von Spätbarock/Frühklassizismus und Aufklärung

einschliesslich eines neuen Selbstverständnises von Auftraggeber und Künstler.

Leider bietet Hermann Bauer bei Wiblingen keinen Einstieg, da er in seinem erwähnten,

postum erschienenen Buch von 2000 auf Seite 186 nur die bekannte Bibliothek und auf

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Seite 214 das Wiblinger Rotundenfresko 'Einzug des Heraklius in Jeruslaem' wohl

anspricht, aber über die nackten Daten hinaus nur einige Begriffe wie Verismus,

Bühnenbilder, pathetische Triumphalarchitektur u.ä. andeutet.

Ein Literaturüberblick: Michael Braig, Gustav Bölz, Adolf Feulner, Alois Harbeck, Josef

Strasser, Michael Roth, Karl Suso Frank, Martina Oberndörfer; Otto Beck, Erwin Treu,

Ingrid Kessler-Etzig, Ingrid Münch, und andere

Zu Wiblingen gibt es im Gegensatz zu Zwiefalten eine 1834 gedruckte, 2001 in

Weissenhorn wieder aufgelegte "Kurze Geschichte der ehemaligen vorderösterreichischen

Benediktiner Abtey Wiblingen in Schwaben“ von dem ehemaligen Kapitularen P. Michael

Braig (1774-1832). Der zeichnerisch begabte Braig besuchte ab 1787 das Zwiefalter

Konvikt in Ehingen und trat 1794 als Novize in das Kloster Wiblingen ein, sodass er

wirklicher Zeitzeuge nur der letzten Jahre bis zur Auflösung 1805 war, also nicht mehr der

Hauptphase des Kirchenbaus von 1771 bis 1783 (Braig 2001, S. 203-216); aber er erlebte

noch als letzter Professus den Abt Roman Fehr (Laupheim 15.7.1728 - Wiblingen

21.11.1798; Abt seit 5.7.1768; altershalber resigniert 17.4.1798). Braig stellt in seinem

Werk bedauernd fest, dass er nur aus Hinterlassenschaften des ehemaligen Priors und

späteren Pfarrers von Unterkirchberg, Amandus Storr (1743-1818), aus den Pfarrarchiven

Wiblingens und seiner Umgebung schöpfen konnte, nicht aber aus den durch die

Besitzerwechsel nach der Aufhebung etwas zerstreuten originalen Klosterakten. Während

Zwiefalten als letztes Kloster 1789 mit dem Beginn der französischen Revolution noch sein

700. Gründungsjubiläum gebührend und gedruckt für die Nachwelt feierte, wagte es 1793

oder 1799 das wie Ochsenhausen von St. Blasien aus besiedelte und mit einer

Kreuzreliquie u.a. von den Grafen von Kirchberg bedachte Wiblingen nicht mehr mit

erbetenen und honorierten Lobpredigten sein ebenfalls 700jähriges Alter, seine als Beweis

der Gnade Gottes vielleicht nicht ausreichende Prosperität literarisch selbst zu

dokumentieren. So ist der Leser auf Braig verwiesen, der auf den Seiten 208 und 209 die

wichtigsten Akteure - sei es Auftraggeber oder Künstler - vorstellt, bevor er von S. 210-213

eine teilweise kritische Beschreibung der Klosterkirche abgibt: das Mittelportal sei zu klein,

die Türme und das Frontispiz seien "wegen dem Drange der Zeit" nicht vollendet. Auf

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Seite 212 schreibt deshalb Braig, dass "Mehr als das Äußerliche der innere Anblick der

Kirche dem Aug und Herz [aber nicht dem Kopf, Hirn oder Verstand!] ergötzend" sei. An

einigen, leider nicht genau spezifizierten Stellen, fehle noch die Vergoldung. Er erwähnt

auch noch die Illusionsmalerei bei Rosetten und Figuren und auf S. 215 den "in der Luft

schwebende(n) Weltrichter", der "die Bewunderung eines jeden Kenners an sich" reisse.

Die Balustrade der Galerie sei "nach antiquem und niedlichem Geschmacke" verfertigt.

Der nördliche Chororgel-Prospekt sei nur Attrappe. Das ehemalige eiserne Chorgitter sei

1810 nach Stuttgart gekommen. Schon 1796 im Verlaufe der Kriegswirren musste das

feuervergoldete kupferne Tabernakel des mittlerweile nochmals veränderten Kreuzaltares

durch ein hölzernes ersetzt werden.

Erst nachdem die Klosteranlage als Kaserne nach den alten Plänen um 1915/17

pietätvollerweise spiegelbildlich komplettiert war und ein einigermassen geschlossenes

Bild abgab, beschäftigte sich der Erwin Fiechter-Schüler und Architekt Gustav Bölz in

seiner 1922 verfassten Stuttgarter Dissertation monographisch mit der gesamten

Baugeschichte Wiblingens (diese Arbeit existiert nur noch in einem einzigen, als

maschinenschriftlicher Durchschlag xerokopierten Exemplar in der Universitätsbibliothek

Stuttgart. Hier wäre eine Digitalisierung wirklich angebracht). Bölz wertete die im

Staatsarchiv Ludwigsburg befindlichen Grosskeller- und Kapitelsrechnungen mit den

Abschlagszahlungen an den Architekten Johann Georg Specht und den Maler und

Innenarchitekten Januarius Zick aus. Interessanter und ergiebiger sind die leider nur in

Auszügen wiedergegebenen Stellungnahmen von 1783 im Streit um Nachforderungen des

Bildhauers Franz Joseph Christian gegenüber Abt Roman und dem Kloster vor dem

zuständigen Gericht der Markgrafschaft Burgau in Günzburg, die ebenfalls nach

Ludwigsburg gelangt sind. Neben der Weiterführung der Aussagen Braigs zu Künstlern

und Themen der Darstellungen bietet die Arbeit von Gustav Bölz kunsthistorisch nur wenig

abgesehen von der Stildiskussion um Spätbarock und Klassizismus.

Auch Adolf Feulner mit seinem Führer "Kloster Wiblingen' von 1925 nach seiner

Monographie "Die Zick - Deutsche Maler des 18. Jahrhunderts", München 1920 wies nicht

viel weiter. Erst nach dem 2. Weltkrieg versuchte 1966 der Walter-Otto-Schüler Alois

Harbeck im Sedlmayr-Bauer-Umfeld an Hand der Wiblinger Fresken in seiner Münchner

Dissertation die Problematik illusionistischer Deckengestaltung strukturanalytisch, aber

letztlich formal-konstruktiv, inhaltlich und weltanschaulich anzugehen. Harbeck weist sich

in seiner Webseite (www.alois-harbeck.de) auch als Schüler des früheren NS-Künstlers

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Hermann Kaspar (1904-1986) an der Münchner Kunstakademie aus. Eine

unveröffentlichte Magisterarbeit unter Hermann Bauer von Sabine Birk "Die Klosterkirche

Wiblingen" war dem Verfasser dieser Zeilen wie üblich nicht zugänglich. Als eine knappe

Festschrift entpuppt sich das von Ingrid Kessler-Wetzig, Erwin Treu, Wolfgang Urban und

Pia Daniela Volz verfasste Bändchen 'Kloster Wiblingen - Beiträge zur Geschichte und

Kunstgeschichte des ehemaligen Benediktinerstifts', Ulm 1993 mit einer neueren

Literaturauswahl am Ende. Im gleichen Jahr fand im Ulmer Museum eine grössere und

informative Ausstellung "Januarius Zick und sein Wirken in Oberschwaben" statt mit einem

ausführlichen Begleitkatalog, in dem auch der Hermann-Bauer-Schüler Josef Strasser, der

dann 1994 seine grundlegende Münchner Dissertation "Januarius Zick 1730-1797,

Gemälde, Grafik, Fresken" im Anton H. Konrad-Verlag, Weissenhorn veröffentlichen

konnte, viele der hier anstehenden Fragen sich stellte und zu beantworten suchte.

Von dem aus Wiblingen stammenden Freiburger Theologen und Kirchenhistoriker P. Karl

Suso Frank stammt ein v.a. das Wiblinger Chorgestühl betreffender und inhaltlich

klärender Beitrag "Ordensikonographie in der ehemaligen Benediktinerkirche Wiblingen" in

der Festschrift "Kunst und geistliche Kultur am Oberrhein" für Hermann Brommer zum 70.

Geburtstag (Hg. von Bernd Matthias Kremer), Lindenberg 1996, S. 85-96.

Im Jahre 2006 erschien in Ulm eine mehr volkskundlich-kulturgeschichtliche, grössere

kaleidoskopartige Untersuchung von Martina Oberndörfer "Wiblingen - Vom Ende eines

Klosters" (Rez.: http://www.sehepunkte.de/2008/10/12344.html), die neben Michael Braig

auch die ganzen Pfarrarchive und Chroniken in der Wiblinger Gegend auswertete. Für das

Kunstgeschichtliche und den Kirchenbau ergaben sich daraus leider aber keine

unmittelbar neuen Erkenntnisse.

Damit scheint neben Kreisbeschreibungen und einigen Kunstführern wie von Otto Beck,

Sankt Martinus Ulm-Wiblingen, Lindenberg 1997 (2. Auflage 2003), und Ingrid Münch,

Kloster Wiblingen, München 1999 die neuere Literatur über Wiblingen aufgezählt zu sein.

In den zum Teil schon genannten Einzeluntersuchungen zu den einzelnen Künstlern wie

Johann Michael Fischer, Johann Michael Feichtmayr, Johann Joseph Christian und Sohn

und Januarius Zick findet sich natürlich weiteres, im folgenden benütztes Material.

Eine kleine Entstehungsgeschichte: Christian Wiedemann und Johann Michael Fischer

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Auch wenn ein Baubericht wie vom Zwiefalter Bruder Ottmar Baumann oder eine

ausführliche neuere Geschichte der Äbte und des Klosters Wiblingen fehlt, ist doch die

Wiblinger Baugeschichte vornehmlich nach Gustav Bölz weniger umstritten. Spätestens

seit dem Idealplan des Jahres 1732 von dem Donauwörther bzw. Elchinger Baumeister

Christian Wiedemann (um 1680-1739), der schon wegen den 1714 begonnenen nord-

östlichen Ökonomiegebäuden weiter zurückgereicht haben muss, war eine neue Kirche

schräg neben dem nicht genau geosteten romanischen Vorgängerbau, der z.B. auf der

Zeichnung Gabriel Buzelins von 1630 erkennbar ist, vorgesehen, nachdem man sich 1701

von dem gräflich-fuggerischen Vogt auch als Nachfolger der Stifterfamilie von Kirchberg

freigekauft, aber sich dann doch unter den Schutz Habsburgs in Vorderösterreich begeben

hatte. Mit der ursprünglichen Anlehnung an einen quadratisch-achteckigen Zentralbau

einer Gnadenkapelle für das Hl. Kreuz wie in Einsiedeln mit angehängtem Chor, hätte der

Neubau auch dem 1768 in St. Blasien Begonnenen etwas geähnelt. Unter Abt Meinrad

begann Wiedemann unterstützt von seinem Sohn Thomas 1732 dann aber erst mit dem

Gästebau, dem nordwestlichen Flügel des Klosters. 1737 folgte der 'Studentenbau' oder

anschliessende Trakt mit der 1744 von Franz Martin Kuen ausgemalten Bibliothek im

Mittelpavillon. 1750 wurde jetzt unter der mit 150 fl. honorierten Leitung des schon von

Zwiefalten und Ottobeuren bekannten Münchner Baumeisters Johann Michael Fischer der

östliche, erst 1762 vollendete Trakt oder eigentliche Konventbau mit dem Kapitelsaal im

Mittelpavillon begonnen. Auf dem dort 1754/59 (?) gemalten Deckengemälde von Franz

Martin Kuen ist aber immer noch der alte Idealplan von 1732 abgebildet, sodass z.B.

Gabriele Dischinger eine Mitwirkung Fischers bei der Neuplanung der Klosterkirche

ablehnt, während Gustav Bölz (S. 70-72) einen Fischer-Entwurf für möglich hält, da schon

1760 mit der Baumaterialbeschaffung begonnen worden wäre und - eher unwahrscheinlich

- Fischer 16 Jahre bis zu seinem Tode die Oberleitung in Wiblingen ausgeübt hätte,

während Dischinger (Fischer II, 1997, S. 335) Fischer wie in Ottobeuren spätestens 1757

'aussteigen' lässt.

Nach dem ersten Schlaganfall von Abt Meinrad März 1761 und dem tödlichen am 1. März

1762 wurde dann am 16. April der von Neresheim gebürtige Prior Modest Kaufmann im

Alter von 51 Jahren zum Abt Modest II gewählt. Ob unter dem hageren und zunehmend

kränklichen Abt das Kirchenbauprojekt energisch weiter betrieben wurde, ist eher

unwahrscheinlich, da Modest nach relativ kurzer Regierungszeit schon am 17. Juni 1768

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verstarb.

Sicher aufgegriffen und entscheidend vorangetrieben wurde das Vorhaben vom aus dem

nahen Laupheim gebürtigen Nachfolger Roman Fehr. Der Neresheimer Konventuale P.

Paulus Weissenberger entdeckte 1935 im Turn- und Taxis-Archiv in Regensburg in den

dortigen Neresheim-Beständen einen Satz von sieben Bauzeichnungen zusammen mit

einem halben Grundriss von Ottobeuren, die von ihm als Entwürfe Fischers bzw. seines

'Büros' angesehen wurden, aber von Gabriele Dischinger 1997 und schon zuvor von

Harald Möhring ("Johann Michael Fischers Kirchenbauten", Diss. Stuttgart 1992, v.a. S.

413-423) vor allem wegen Fehlern wie oben angedeutet Fischer abgeschrieben wurden

und einem Unbekannten, der Zugang zu Fischers Entwürfen gehabt hätte, mit dem

Entstehungsdatum 1760/65 - also noch zu Lebzeiten Fischers - zugewiesen wurden. Der

Schütz-Schüler Frank Purrmann sah 1999 ("Die Regensburger Planrisse für die

Abteikirche Wiblingen: Forschungsrevision und Vorschläge zur Neubewertung", in:

Architectura 29, 1999, S. 35-72: "engster Mitarbeiter Fischers um 1750") und 2003

("Wiblingen und Schussenried - Baugeschichte und baupolitische Beziehungen zweier

oberschwäbischer 'Escorial'-Klöster im 18. Jahrhundert", in: Zeitschrift d. deutschen

Vereins für Kunstwissenschaft 54/55, 2000/2001, S. 199-237: "Johann Wiedemann nach

Ideen Fischers um 1750/60") in ihnen dagegen Kopien von Entwürfen Fischers. Bislang

spekuliert die Forschung auch, wann, wie und wieso diese Entwürfe nach Neresheim

gelangt sind: im Zusammenhang mit der Bewerbung Fischers um die Neumann-Nachfolge

am 1. September 1753? (das macht wegen der schnellen Absage von Neresheim keinen

Sinn), unter Abt Modest zur Begutachtung durch den Neresheimer Abt Benedikt Maria

Anghern und dessen damaligen, 1756 entlassenen Bauleiter Dominikus Wiedemann?

oder bei einer Art Ausschreibung unter Abt Roman in den Jahren 1768/70, an der sich

Angehörige des Baubüros der Fischer-Nachfolge beteiligten?. Trotz der Einwände wegen

der Turmlösung am Beginn des Presbyteriums und anderer Fehler ist dieser Bausatz doch

eine konventionellere Nachahmung von Ottobeuren. Am auffälligsten sind vielleicht das

starke Vorziehen der Fassade und ihre strebepfeilerartig über Eck gestellten

Mauerzungen.

Der Roh-Bau unter Oberamtsbaumeister Johann Georg Specht

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Auf alle Fälle fand dieser Entwurf kaum Gefallen im Gegensatz zu dem des Allgäuer

Maurers und Baumeisters Johann Georg Specht. Zumindest seit Michael Braig wird als

äusserer Anlass und als Rechtfertigung für den Kirchenbau, die um 1770 beginnende

Klimaverschlechterung durch einen fernen Vulkanausbruch, die folgenden Missernten,

Teuerung und Niedergang der Wirtschaft und die Notwendigkeit einer Gegensteuerung

durch Investitionen angesehen. Wenn April 1771 (Bölz 1922, S. 13-15) angeblich aufgrund

der Pläne Spechts ein Kapitelsbeschluss zum Kirchenbau getroffen wurde, muss der

bregenzische Oberamtsbaumeister Johann Georg Specht (1721-1803) schon um 1770 mit

Wiblingen in Kontakt gekommen sein. Es wird dabei immer (auch bei Bölz 1922, S. 73-75)

angeführt, dass das von Specht seit 1767 errichtete Schloss in Laupheim, der Heimat von

Roman Fehr, den Empfehlungsausschlag gegeben habe, wie es auch in einer angeblichen

Specht-Autobiographie bei Hugo Bilger/Ludwig Scheller: Ein Allgäuer Barockbaumeister,

Kempten 1977, S. 49 (vgl. auch S. 76, Anm. 5) heisst. Specht war aber bislang nicht durch

einen grösseren Kirchenbau vielleicht mit Ausnahme von Wiggensbach (1770/71) in

Erscheinung getreten. Wahrscheinlich gehört die Wahl Spechts in die Rubrik anfänglicher

'schwäbischer Sparpolitik' wie in Zwiefalten und Ottobeuren. Der immer wieder

abgebildete Aufriss mit Teilgrundriss für die Fassade und der Grundriss (aus dem

Nachlass von Amandus Storr?) wurden sicher wie bei den meisten Fischer-Entwürfen

nicht vom Baumeister selbst gezeichnet, sondern von einem Spezialisten, der hier wohl

extra 'angeheuert' wurde.

Von Erwin Treu (1993, v.a. S. 30-38) werden die Unterschiede zwischen dem doch mehr

dem traditionellen Longitudinaltypus entsprechenden Entwurf aus dem Fischer-Umfeld

und dem saal-rotunden-artig zentralisierenden Vorschlag Spechts herausgearbeitet und

auch auf mögliche Vorbilder Spechts (St. Gallen, Birnau - beide unter Peter Thumb) und

für die Fassade mit den über Eck gestellten Türmen auf den Deutschordensbaumeister

Johann Caspar Bagnato (St. Gallen 1751/52) und den Schussenrieder Klosterbaumeister

Jakob Emele (Stiftskirche Bad Waldsee, nach 1757, 1765/68 ausgeführt in Konkurrenz

zum Bagnato-Sohn und Nachfolger Franz Anton; vgl. auch Neues Schloss in Tettnang)

abgehoben.

Während man die Änderungen im Innern für eine auch zu Wallfahrten geeigneten Kirche

mit einem zentralen Wallfahrtsaltar (Kreuz-Altar), der mehr zu Gebet bzw. Wort

tendierenden Liturgie und auch stilistisch zum Hellen, Weiten sich erklären kann, ist die

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Fassadenlösung doch mehr einem gewissen Imponierbedürfnis (des Abtes Roman?) und

der relativ geringen Breite oder Engbrüstigkeit des Eingangsbereiches zuzuschreiben, was

durch die Drehung der seitlichen Türme optisch etwas gemildert wird. Der Drehwinkel ist

aber nicht wie in Bad Waldsee einfach 45° über Eck, sondern so, dass die Mittelachsen

sich genau in der Mitte des grossen Kuppelrundes schneiden oder treffen (vgl. das 'Arma-

Christi'-Schema). Die noch zweimal so hoch zu ergänzenden Türme (ca. 80m) hätten eine

himmelragende Wirkung gehabt, zumal das (evangelische) Münster zu Ulm seinen

heutigen Ziel gebenden Turm (Höhe ca. 91m) auch noch lange entbehren musste.

Allerdings entstanden den rechten Winkel störende Richtungen und problematische Ecken

besonders auch zum nordwestlichen Gästetrakt bzw. südwestlichen Weiterbau des frühen

20. Jahrhunderts. Es wird immer wieder behauptet, dass Januarius Zick sich gegen einen

Ausbau der Fassade ausgesprochen habe. Zumindest der letzte Abt Ulrich IV Keck (1784-

1805) bemühte sich gegen 1800 um eine Weiterführung und veranlasste die heutige

Frontispiz-Notlösung (vgl. Braig 2001, S. 226). Letztlich war wohl die finanzielle neben der

politisch-religiösen Situation nach 1780 bis 1805 ausschlaggebend. Wahrscheinlich hätte

sich eine stilistisch modernisierte niedrigere Turmvision wie z.B. in Hechingen oder St.

Blasien von Pierre Michel Dixnard angeboten. Auch das Frontispiz wäre wohl etwas

antikisierender ausgefallen.

Um wieder etwas zur bekannten Chronologie (hauptsächlich nach Bölz) zurückzukommen:

auf der Basis der wohl korrigierten Entwürfe musste Specht mit seinem Sohn Thomas

zwischen 1771 und 1772 ein grösseres hölzernes Modell erstellen (für 22 1/2 fl und mit

erstaunlich hohem Fuhrlohn von 15 fl), worauf am 19. Februar 1772 ein Kontrakt mit

Specht geschlossen und gleich Vorbereitungen zum Bau getroffen wurden wie

Platzebnung (15.4.1772), sodass am 14.5.1772 eine überlieferte feierliche

Grundsteinlegung mit Sammlung für die Bauleute (vgl. Bölz 1922, S. 81) stattfinden

konnte, wobei am Ort des zukünftigen Hochaltares ein über 5m hohes Holzkreuz

aufgemacht wurde und auf einem dekorierten Tisch in der Mitte der späteren Vierung, also

annähernd der Position des jetzigen Kreuzaltares, das besagte, leider nicht mehr

erhaltene Modell platziert wurde. Sinnigerweise wurden der 84. Psalm ("wie lieblich sind

Deine Wohnungen, Herr Sabaoth") und andere passenden Sprüche zu Gehör gebracht. In

den Grundstein (am Nordturm?) legte man neben (Kontakt-) Reliquien auch ein

Schriftstück (vgl. Bölz 1922, S. 88): "In Honorem B(eatae). Virginis Mariae, Sanctae Crucis

et Sancti Martini, sub Regimine Reverendissimi Perillustris ac amplissimi, D(omi)ni,

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D(omi)ni Romani hujus Caesareo regii, anterioris Austriae M(o)n(aste)rii Wiblingani

O(rdinis) S(ancti) B(enedicti) abbatis vigilantissimi nec non almae Congregationis

Josepho-Benedictinae Convisitatoris dignissimi" also: 'Zu Ehren der gepriesenen Jungfrau

Maria, des Heiligen Kreuzes und des Heiligen Martin unter der Regierung des

hochverehrten, durchlauchten und hochangesehenen Herrn, Herrn Roman, dem sehr

wachsamen Abt dieses Kaiserlich-Königlichen vorderösterreichischen Benediktinerklosters

Wiblingen und nicht zuletzt sehr würdigen Convisitators ('Aufsichtsratsmitglied') der hohen

Benediktinerkonregation zum Hl. Joseph'.

Da jeweils im Winter die Steine zubereitet wurden, waren die Mauern bis 1774 schon

soweit gediehen, dass der Specht-Schwiegersohn und Zimmerer Johann Georg

Stiefenhofer ebenfalls von Lindenberg mit der Dachstuhlkonstruktion beginnen konnte.

1776 war das ganze Gebäude unter Dach und am 6.4.1777 wurde das Richtfest gefeiert,

wobei vielleicht auch schon die hölzernen Gewölbe wenigstens teilweise fertiggestellt

waren. Bölz nimmt S. 92 an, dass Specht für die zu entlohnende Maurerarbeit insgesamt

ca. 35000.- fl. erhielt, wobei sich die Jahreszahlungen von durchschnittlich 5000 fl. 1775

(Gewölbebau?) auf über 9 000.- fl. erhöhten. Für 1776 fehlt anscheinend ein Nachweis,

aber Bölz nimmt 4300.- fl. an. 1777 erhält Specht wohl als letzte Abschlagszahlung und

als Abfindung 5850.- fl.. Bis aus die Türme und das Frontispiz scheint der Bau fast soweit

gediehen zu sein, wie z.B. Fischer Zwiefalten (ohne Vorhalle) bzw. Ottobeuren ver- oder

hinterlassen hat.

Der Trierer Hofmaler Januarius Zick 'tritt auf den Plan'

Es stand in Wiblingen mit Stukkierung und Freskierung der Innenausbau an. Der Abt hatte

sicher schon ab 1776 Fühler nach geeigneten Kräften ausgestreckt. Mit Dixnard. der kurz

zuvor im nahen Damenstift Buchau oder in Gammertingen neben St. Blasien tätig war,

nahm er anscheinend keinen Kontakt auf, da der Franzose zumindest von Herbst 1777 bis

Anfang 1780 fast ständig in Koblenz und damit nicht abkömmlich war. In der angeblichen

Specht-Autobiographie (vgl. H. Bilger/Scheller, Kempten 1977, S. 63) wurde das

Ausscheiden Spechts verdächtig ähnlich wie im Falle Christians so dargestellt: "Die

Arbeiten gingen ziemlich rasch voran, als plötzlich im Frühling des Jahres 1778 der

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Kunstmaler Januarius Zick aus Ehrenbreitstein, durch den Abt herbeigerufen, nach

Wiblingen kam. Dieser Herr hatte sogleich an meinen Plänen und Arbeiten allerhand

auszusetzen; es war ihm alles nicht modern genug, alles sollte in antikem Geschmack

gebaut werden. Für diese neue Idee hatte er den Abt sehr bald gewonnen, der auch die

Aufsicht über die Bauhandwerker haben sollte und der ihn zum Bau- und

Verzierungsdirektor eingesetzt. Für die Weiterführung des Rohbaus, besonders für die

Fertigstellung der Fassade und der Türme hatte man jetzt gar kein Interesse mehr. Ich

hatte in Wiblingen nichts mehr zu schaffen". Die (nach S. 76, Anm.5) zitierte Stelle ist

anscheinend einer von Gustav Bölz verfassten, fiktiven Autobiographie Spechts

entnommen und gab dem Wechsel zu Januarius Zick romantisierend eine fast tragische

und auch intrigante Note seitens des Letzteren, was allerdings Josef Strasser (1993. S.

64) bei dem von ihm 1994 als Dokument Nr. 6 auf Seite 565 wiedergegebenen

Warnungsschreiben (mit Selbstempfehlung) vom 17.5.1780 beim Kirchenbau in

Pfaffenhausen zu relativieren sucht. Neben einigen bautechnischen Differenzen sind es

eher die stilistischen Auffassungsunterschiede zwischen einem eher biederen,

handwerklichen Allgäuer Maurermeister und einem Akademiker, Mann von Welt, der Höfe,

einem kurtrierischen Hofmaler, die aufeinander gestossen sind.

Die von Strasser aus den Grundrissen abgelesenen und ablesbaren "Regel"-Verstösse

Spechts sind: die radial auf die Rotunde ausgerichteten Orgelemporen-Stützen, die

teilweise unterbrochenen, schwingenden Brüstungen der Langhausgalerien, die über die

Rotunde ursprünglich bis in den Chor reichten und jetzt nur noch optisch in den

Orgelprospekten des Chores beibehalten wurden. Dass die Mauern nicht mit den

Gewölben übereinstimmten, und dass ganze Eichenstämme zur Absicherung von Zick (an

den Gurtbögen?) eingezogen werden mussten, lässt sich eigentlich aus den Grundrissen

nicht eindeutig ablesen. Die ursprünglich vorgesehenen geschwungenen Treppenstufen

zum Portal zwischen dem Turmpaar sind vielleicht schon vor Zicks Eingreifen weggefallen.

Die vornehmliche Aufgabe Zicks und seine Leistung war es nach "modernem" (antiken)

Geschmack die baulich-räumlichen Vorgaben als "Verzierungsdirector" zu interpretieren

und zu gestalten, ihnen ein anderes, neues Gesicht (quasi eine 'renovatio praecox') zu

geben. Während in Zwiefalten und Ottobeuren der Stukkator Feichtmayr die

entscheidende Figur war, gab in Neresheim anfänglich und in Wiblingen letztlich der Maler

die Gliederung natürlich in Grenzen von oben her vor. Zick war wohl wie Knoller in

Neresheim anfangs nur für die über dem Hauptgesims gemalten illusionistischen

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Deckenbereiche vorgesehen. Das verlorene Modell und sicher auch ursprünglich

vorhandene Schnitte Spechts müssen einen ungefähren Vorschlag für die Innendekoration

enthalten haben. Auch wenn die aus dem Allgäu stammende Malerfamilie Zick in

Elchingen, Biberach bekannt gewesen ist und Januarius Zick 1745-1748 bei Jakob Emele

in Schussenried eine Maurerlehre absolvierte, ist es doch erstaunlich und auch für Josef

Strasser etwas rätselhaft, dass der seit Anfang der 60er Jahre als Kurtrierer Hofmaler in

Ehrenbreitstein Ansässige in Wiblingen zum Zuge kam. Ausser den profanen Fresken in

Schloss Engers und in der Trierer Residenz ist Zick anschliessend nicht mehr weiter als

Fresko- und gar als Kirchenmaler in Erscheinung getreten. Wie die beiden Ottobeurer

Altargemälde von 1766 weisen, gehörte er seit seinem Frankreich-Aufenthalt 1756/57 zu

den Malerhoffnungen in Deutschland. Die Stärken des Viel- und relativen Schnellmalers

lagen besonders in seiner französisch-flämischen Genremalerei mit der er im Rheingebiet

von Basel, Frankfurt bis Düsseldorf ziemlichen Erfolg hatte, dass ihn sogar Goethe,

Lavater und Basedow auf ihrer Rheinfahrt am 15. Juli 1774 besuchten. Über die ebenfalls

in Ehrenbreitstein ansässige Sophie von La Roche und ihren Mann, den wohl illegitimen

Sohn des 'aufgeklärten' Grafen Friedrich Stadion auf Warthausen aus altem

schwäbischem Geschlecht und Kanzler unter dem Trierer Fürsterzbischof Clemens

Wenzeslaus von Sachsen, Georg Michael Frank von La Roche, dürfte es weiterhin

Verbindungen nach Oberschwaben gegeben haben. Denkbar wäre auch, dass der (Braig,

S. 222) 1776 aus der Fremde kommend in Wiblingen als Laienbruder eingetretene,1748 in

dem nicht weit von Lachen dem Ursprungsort der Zick gelegenen Eichenberg geborene

Martin Dreyer einen Hinweis auf Zick gab.

Josef Strasser berichtet in seiner grossen Zick-Monographie von 1994 nur von einer Reise

des Ehrenbreitsteiner Malers nach Basel im Jahre 1775 und von einem Besuch des dort

ansässigen Druckers und Verlegerfreundes aus dem Wille-Umkreis, Christian von Mechel.

1776 fertigte Zick noch das Porträt der Frühindustriellenfamilie Remy. Auch aus dem

folgenden Jahr 1777 sind nur wenige datierte Gemälde Zicks bekannt. Zur Wende

1775/76 wandte sich Abt Roman wegen des Chorgestühls naheliegend an den in Buchau

tätigen Riedlinger Bildhauer Johann Joseph Christian, der sich wie oben angedeutet

einen guten Ruf erworben hatte. Nach Bölz (S. 106) lieferte Christian am 13.2.1776 ein

Modell, aber erst im Jahr darauf am 13.4.1777 wurde der Akkord getroffen bei

Fertigstellung innerhalb von vier Jahren. Dies dürfte auch bedeuten, dass Abt Roman bis

Mitte 1777 mit einer gemässigten Spätrokokoausstattung noch einverstanden war. Für die

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Stukkaturen und die Altäre dürfte um 1776 schon der Nachfolger des 1772 verstorbenen

Feichtmayr und Bruder des Feichtmayr-Paliers Thomas Sporer, Benedikt Sporer,

ausersehen gewesen sein. Für die nötigen Einzelfiguren dachten der Abt und seine

Umgebung wohl auch zuerst an Christian. Vielleicht erst unter dem Eindruck des stark von

Dixnard ausgehenden klassizistischen Stilwandels in Buchau (1774/76) und Wurzach

(1775-1777) und des sicher nicht sehr kapablen Specht - wie auch Strasser vermutet -

dürfte der Wiblinger Abt und seine Umgebung umgesteuert haben. Aber man wandte sich

nicht an den dort tätigen barockklassizistischen Maler, ehemaligen Maulbertsch-Schüler

und Rompreisträger Andreas Brugger von Langenargen (1737-1812), der vor der

Rückkehr (1781) seines in Wien als Architekturmaler ausgebildeten Bruders Anton nicht in

der Lage gewesen sein dürfte, eine solche klassizistische Gesamtdekoration zu entwerfen.

Am ehesten bewiesen die Gebrüder Brugger dieses erst später (1782-1785) in der

Pfarrkirche St. Kolumban und Konstantius in Rorschach.

Der Innenausbau unter dem Bau- und Verzierungsdirektor Zick: Christian Vater und Sohn,

Laienbruder Martin Dreyer und das Chorgestühl, der Abtssitz und der Hochaltar

Die Entwicklung der Wiblinger Innendekoration lässt sich wie auch bei Strasser (1993, S.

66/67) am besten aus der Perspektive des Christian-Sohnes Franz Joseph Friedrich

(1739-1798) rekonstruieren. Winfried Assfalg (1998, S. 72) zitiert aus den Ratsprotokollen

im Stadtarchiv Riedlingen, dass der jüngere Christian 1778 nicht von einer "übereilten

Krankheit" seines Vaters berichtete, und dass "solcher schon in Wiblingen kranck lage",

was bedeutet, dass der über 70jährige Christian nach dem Akkord für das Chorgestühl

vom 13.4.1777 bald krank und in Wiblingen bettlägerig wurde. Er muss aber noch nach

Hause transportiert worden sein, da er nach dem Sterbeeintrag im Pfarrarchiv Riedlingen

am 22.6.1777 nachmittags um halb nach 3 Uhr, angeblich "mit grösster Andacht" (also bei

vollem Bewusstsein? und wohl nicht an einer Infektion oder Schlaganfall, eher

Wassersucht leidend?) die Sterbesakramente empfangen habe und verstorben sei. Die

Diskussion, inwieweit der ältere Christian zum Chorgestühl noch beigetragen hat, wird sich

weiter unten noch finden. Der jüngere Christian dürfte in Wiblingen am Chorgestühl im

Sinne seines Vaters und des genehmigten Modells weitergemacht haben. In dem 1783

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anhängigen, leider auch von Bölz nicht vollständig und wörtlich zitierten Rechtsstreit vor

dem zuständigen markgräflich burgauischen Gericht in Günzburg wegen einer

Nachforderung Christians gibt letzterer zu Protokoll (nach Bölz, S. 107), dass Zick (erst) im

Frühjahr 1778 in Wiblingen angekommen wäre. Bölz berichtet auf S. 96 von einem ersten

Vertrag mit Zick wohl Anfang 1778 (3. Mai 1778) und nur bezüglich der Deckenmalerei

über 7000 fl und 500 fl. Douceur (also in einem finanziellen Rahmen wie bei Spiegler in

Zwiefalten), wobei er aber kaum schon Entwürfe für die Hauptfresken mitgebracht hatte.

Die Thematik war sicher schon 1776 weitgehend festgelegt. Ein zweiter, auf den 2. August

datierter Vertrag über 1500 fl. beinhaltete noch das Hochaltarblatt (wohl für 500 fl.-) und

weitere Bilder (Kreuzaltar, bzw. 2 Seitenaltäre zu je 250 fl.-) und die hinzugekommenen

zahlreichen Entwürfe als 'Verzierungs- und Baudirektor' für die übrige Ausstattung wie

Altäre, Beichtstühle, Kanzel, Oratorium u.a., in ganzem Wortlaut bei Strasser 1993, S. 64

bzw. 1994, S. 564, Dok. 4, (Bölz 1922, S. 96 folgend).

Interessant ist nun die bei Bushart 1975, S. 64/65 nach P. Paulus Weissenberger (1934)

geschilderte Ankunft des Wiblinger Priors Amandus Storr mit dem "dasigen H.

Kirchenmahler" (Zick) am Abend des 11. August 1778. Bushart nimmt dabei an, dass Zick

sich vor allem vom Abendmahlfresko - wie in Wiblingen im Presbyteriumsbereich - hat

inspirieren lassen (z.B. bei dem zumindest seit Poussin üblichen Leuchtereinsatz?). Das

würde auch nahelegen, dass Zick nach der Rückkehr ab Ende August bis September (=

ca. 5 Wochen) das Wiblinger Abendmahl noch im Jahre 1778 gefertigt haben dürfte. Nach

Bölz (1922, S. 96) erhält Zick am 20. September 1778 schon 1100 fl.. Der im Koblenzer

Mittelrheinmuseum befindliche zeichnerische Entwurf für das Presbyterium bzw. den

Hochaltar (Strasser Z 182) in etwas freier, aber räumlich gut nachvollziehbarer Ansicht

lässt die wohl noch nicht realiter vorhandene Deckenmalerei in der Kirche weg, weswegen

auch eine Datierung schon vor August 1778 anzunehmen ist. Zicks weitere Entwürfe und

Vorschläge darf man sich wohl wie die 1782 zu datierende, 1945 dem Mittelrheinmuseum

entwendete Federzeichnung für das Zwiefaltische Zell vorstellen. Die vorangegangenen

Monate Mai, Juni, Juli bis Anfang August dürften mit den Vorbereitungen, Gliederungen

und Entwürfen ausgefüllt gewesen sein. Jedenfalls scheint Zick schon bald nach seinem

Erscheinen in Wiblingen die Zeichnungen und Modelle des jüngeren Christian für das

Chorgestühl 'bemängelt' und Korrekturen vorgebracht und vorgezeichnet (als "Caprize" =

wohl skizzenhaft) zu haben. Wiederum fragt man sich, worin diese genau bestanden

haben, und wieweit Christian schon mit seiner Arbeit seit April 1777 gediehen war. Aus

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seiner gerichtlichen Beschwerde wird klar, dass die "Brustwände" d.h. die Pultwände der

ersten Reihe des Chorgestühls für die Laienbrüder und Novizen von Zick wieder

hinzugefügt wurden. Von Christian Senior stammt der Entwurf und vom Junior die

Ausführung der geschnitzten Wangen und Docken des Gestühls und das Dorsal mit den

Atlantenhermen bis zum Gesims. Die im harten Eichenholz etwas gröber nur zu

schnitzenden Wangen (oder Docken) verraten bis auf die klassizistischen Lorbeergehänge

nichts vom Eindruck Dixnards in Buchau. Mit den Rosetten, den Akanthus ähnlichen

Elementen könnte man sie sich auch fast aus dem 17. Jahrhundert stammend denken.

Zu dem ersten, mit Vater und (?) Sohn Christian verabredeten und noch vor Januar 1781

(teil-) abgerechneten Akkord (vgl. Huber 1960, S. 89: 4500.- fl, was sehr ordentlich ist)

gehörten sicher die vom Junior in Gips eher erst um 1780 ausgeführten Hermen oder

Atlanten. Eine Rötelzeichnung (Strasser Z 170) eines muskulösen Bärtigen mit freiem

Oberkörper steht mit einem weniger Muskulösen und Bartlosen des Chorgestühls in

Zusammenhang. Strasser weist sie aus stilistisch-qualitativen Gründen nicht direkt Zick,

sondern dem Gehilfen Martin Dreyer zu, der für Christian nach Aussage des Abtes 11

Entwürfe für Basreliefs, vier für ca. 1,35m grosse Figuren, 38 (!) für Kindlein in

verschiedenen Akten (=Stellungen), 16 für Vasen unterschiedlicher Grössen, zu den

(Tympana der?) Chortüren, aber auch die Chorgalerie, die Kragsteine (Zahnschnitt) und

den darüber befindlichen Architrav für Christian entworfen haben soll. Ausser den

unspezifizierten ganzen übrigen Teilen der Chorstühle (15 fl.-) finden die Atlanten beim

Abt Roman Fehr keine Erwähnung. Wenn man Dreyers sonstige und eigene Arbeiten

betrachtet und sich die Atlanten der Christians in Ottobeuren und sogar noch in Buchau

vor Augen führt, war eigentlich keine (auch stilistische) Notwendigkeit in diesem speziellen

Bereich Vorschriften zu machen oder Vorlagen zu liefern. Die Zeichnung ist qualitativ der

für den jüngeren Christian physiognomisch eindeutig zuzuordnenden Ausführung nicht

überlegen. Da die Volute des Auflagerns und der Balken der Abstützung weggelassen

sind, ist eher an eine Halbakt-Studienarbeit eines Gehilfen (z.B. Fidelis Mock?) zu denken.

Wie schon erwähnt bringt 1783 der Abt elf Basrelief-Entwürfe Dreyers Christian in

Gegenrechnung (121 fl.-), worunter man die zweimal vier oder acht Gipsreliefs an der

Dorsalverlängerung mit den oben geschweiften Rahmen, die beiden dreipassförmigen

Reliefs über den Türen und das grosse Stifterrelief mit der Idealansicht des Klosters am

Abtsdreisitz, also insgesamt elf Stück, vermuten könnte. Was Dreyer aber an eigener und

eigenhändiger Malerei in den Langhausaltären und den Altarrückseiten und den Predellen

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der Rotunde abgeliefert hat, lässt an den Worten des Abtes etwas zweifeln, ausser man

versteht darunter schon die Kopier-Kompilier-Tätigkeit Dreyers für Christian aus

verschiedenen (hauptsächlich Architektur-)Vorlagen. Bei den "vier Figuren zu 4 1/2

Schuhe" (ca. 1,35m) denkt man natürlich an die vier Nischenfiguren der Kirchenväter,

wovon allerdings ausser dem Hieronymus alle übrigen eher noch aus dem Christian-

Fundus stilistisch stammen dürften. Für Christian sind ausserhalb des Akkords an den

Chorgestühlwänden und dem Abtsdreisitz zwei grosse Basreliefrahmen (über den

Chortüren?), drei grosse Rosen (an den "Brustwänden" und dem Abtsdreisitz?), acht

kleine Rosetten (in den Ecken?), sowie hundert kleine Tragesteine (am Chorgestühl wie

Abtssitz?) als Schnitzarbeit, also v.a. die Ornamentik in eher 'antiquem Geschmack'

hinzugekommen. Das Chorgestühl und auch der Abtssitz waren nach Aussage Christians

bis auf vier Urnen und zwei Figuren Anfang Januar 1781 fertig, was die Gehilfen

Christians anscheinend bis zum 14. Januar 1781 auch noch erledigten, worauf Christian

wenigstens 275 fl.- ausgezahlt bekommt. Nach den Einlassungen Christians könnte man

fast vermuten, dass vor dem Eintreffen Zicks auch der Hochaltar an die beiden Riedlinger

ursprünglich gehen sollte. Aber es bleiben für den jüngeren Christian ausser Akkord und in

Abhängigkeit vom Zickschen Entwurf nur die figürlich-plastischen Teile an diesem

architektonischen Altar, die 1780/81 ausgeführt wurden. Bei einem - wohl dem rechten -

grösseren Engel wurde nach Abbau des Gerüstes eine falsche, von unten nicht richtig

erkennbare Gesichtsstellung moniert, die aber Christian der eigentlich nicht mehr

erkennbaren Vorlage Zicks 'in die Schuhe schieben' wollte. Vor dem 6.12.1781 (und

wahrscheinlich noch vor der Weihe am 20.10.1781 - die eigentliche Weihe erfolgte erst am

28.9.1783 durch den Konstanzer Weihbischof Wilhelm Joseph Leopold Willibald von

Baden) hatte er selbst die Kopfhaltung verändert, und nicht - wie der Abt vermutete - erst

die durch Prior Amandus Storr und Bruder Martin Dreyer als selbsternannte

'Kunstverständige' immer wieder beeinflussten, aber von Christian angestellten Gesellen

(Johann Michael Steinhauser und Fidelis Mock v.a. fürs Figürliche). Christian scheint also

bis Ende 1781 in Wiblingen sich aufgehalten zu haben, bevor er definitiv 1782 zu seinem

Bruder und als Columban neuerwählten Abt von St. Trudpert nach dorthin aufbricht. Der

Brief Zicks an Christian vom 29.6.1780 wegen einer raschen Rückkehr zeigt den Zeitdruck

durch den Wiblinger Abt, und dass Christian auf einer ersten Reise nach St. Trudpert zu

seinem am 6. Juni zu Abtswürden gekommenen Bruder neben einem familiären Grund

auch ein legitimes Auftragsinteresse dokumentierte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt

(1781/82) muss man in Wiblingen daran gedacht haben einen neuen (und besseren?)

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Bildhauer unter Vertrag zu nehmen, der die vier grossen Altarfiguren zu liefern hatte, die

wohl ebenfalls wie das von dem Wiblinger Schreiner Christian Unsöld gefertigte

Tabernakel (fraglich nach Entwurf Zicks?, s.u.: erst 1791) erst nach dem 1781 datierten

und eingesetzten Hochaltarblatt aufgestellt wurden. Um bei der Scheidung der Hände von

Christian Senior und Junior etwas weiterzukommen, nachdem im neuen Allgemeinen

Künstler-Lexikon, 19, 1998, S. 40/41 die Zuschreibungen Gerhard Woeckels von 1958 an

Franz Joseph Christian wieder zurückgewiesen wurden, muss man sich wieder etwas

ausführlicher in die mikrohistorische Detailforschung hinab begeben.

Christian Vater und Sohn in Buchau

Winfried Assfalg (1998, S. 70) berichtet von einem zu überprüfenden Posten in den

Buchauer Kapitelsrechnungen von 1773, dass in das "Quartier" Christians am 28.5.1773

"6 Handtücher... und Faden" geliefert wurden, was ihn zum Schluss verleitet, dass

hotelmässig für die Hygiene von sechs Personen (Vater, Sohn und vier Mitarbeiter)

gesorgt werden sollte. Der "Faden" diente wohl zur Reparatur der Arbeitskleidung?. Der

Schreiber dieser Zeilen vermutet darin eher, dass Christian Senior sich ab Ende Mai in

Buchau aufgehalten hat, um bei seiner anfänglichen Entwurfstätigkeit Ton- (weniger Gips-)

Modelle von Figuren, Nischenaltären (und Chorgestühl?) in Absprache mit Dixnard und

der Fürstäbtissin in Tüchern feucht zu halten. Auch der "Faden" (=Schnur?) hatte eine

direkte Funktion im Zusammenhang mit dem Kirchenneubau noch vor dem eigentlichen

Kapitelsbeschluss vom 23.7. bzw. 12.8. 1773. Ausser einer zweimaligen Erwähnung im

Mai 1774 und am 30. August 1776 vor der am 14.9.1776 durch den Konstanzer

Fürstbischof Maximilian Christoph von Rodt erfolgten Weihe wurden die Christian bislang

in und für Buchau nicht aktenkundig. Während Huber (1960, S. 87) und ihm folgend

Assfalg (1998, S. 70) Christian "Basreliefs" (im Chor oder an der Emporenbrüstung?) nach

Buchau führen liess, waren es bei Erich Franz ("P.M. Dixnard", Weissenhorn 1985, S.

252) in erstaunlich abweichender Lesung der Kapitelsrechnung Nr. 409 (1775/76) nur

noch "Fässer" (Gips?). Huber (1960, S. 87) berichtet aber ohne Nachweis auch noch von

einem Eintrag im Jahre 1777. Nach Assfalg (1998, S. 70) zähle Huber (1960, S. 62) die

Buchauer Hochaltarszenerie "zu den besten Werken des Bildhauers" (Christian Senior),

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vor allem der scharfkantige 'Longinus' gehöre zu seinen "zerbrechlichsten Figuren" (Huber

1960,S. 61). Zumindest kann Huber (S. 61) sich nur den älteren Christian selbst als

Entwerfer und Ausführenden vorstellen. Nach unserer Auffassung ist in der ohne Eleganz

und Sensibilität erfolgten Ausführung bis vielleicht auf den Christus sicher Franz Joseph

Christian die Hauptarbeit zugefallen. Man beachte auch das Stein-Karst-Gelände des

Golgotha-Hügels.

Ein im Koblenzer Staatsarchiv aufbewahrter Riss des Hochaltares angeblich von der Hand

des Architekten Dixnard (Franz 1985, S. 144 m. Abb.) verrät die bis in Ausstattungsdetails

gehende Gesamtplanung, aber auch die im Figürlich-Zeichnerischen völlig dilettantische

Hand des einflussreichen Baumeisters. Die Thronnischen für die Fürstäbtissin und den

Stiftsdekan, das schlichte Chorgestühl, die Stifter-Erinnerungsmale darüber, alles dies

dürfte von Dixnard vorgegeben worden sein. Bei den über dem Dorsal eingelassenen,

teilweise panoramaartig breiten, schlicht rechteckig gerahmten Stuckreliefs stellt sich

wieder die Frage nach dem Entwerfenden und Ausführenden, die Woeckel (1958, S.

113/114) mit guten Argumenten zugunsten des jüngeren Christian beantwortet, dem er

auch noch eindeutiger die Atlanten unter der Orgelempore oder die Reliefs der

Orgelemporenbrüstung zuweist. Etwas stärker an den Vater erinnern die 'Maria vom

Siege' oder die Nischenfiguren der Seitenaltäre v.a. Carl Borromäus. Auch die wohl sehr

spät (um 1776) entstandenen Gruppen auf den Beichtstühlen sind mit grosser Sicherheit

vom Sohn ausgeführt worden. Der Anteil des älteren Christian in Buchau dürfte sich auf

Modelle und Korrekturen beschränkt haben. Wenn Huber (1960, S. 67 u. 98) über die

nicht erkennbare "eigene Handschrift" und die "Stilentwicklung" des jüngeren Christian

klagt und Assfalg (1998, S. 90) bei schwächeren Arbeiten auch auf eine mögliche darüber

hinausgehende Werkstattbeteiligung verweist, kommen wir auf den zentralen Punkt der

Qualitätsvarianz der Beteiligten. Die mit "F.J. Christian 1774" signierte und datierte, in Holz

geschnitzte 'Allegorie der (überlegenen, höheren) Bildhauerei und der Malerei bei

Huldigung an das Fürstenhaus Hohenzollern' im Schloss Sigmaringen oder die in Zell

befindlichen, geschnitzten Prophetenfiguren angeblich von 1780 sind von so bescheidener

Qualität, dass sie für den Vergleich mit den zur Debatte stehenden Wiblinger Arbeiten

eigentlich nur bedingt herangezogen werden können Auf höherem Niveau erscheint ein

von Assfalg (1998, S. 111/12 m. Abb.) Christian archivalisch für 1786 zugewiesener,

geschnitzter 'Hl. Joseph mit Kind' in Öffingen am Bussen. Von Assfalg wurde übersehen

(vgl. Franz 1985, S. 44), dass Christian immerhin 1790 noch einmal für die Ausgestaltung

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des 'Tafelzimmers' in den Stiftsgebäuden von Buchau herangezogen

wurde.

Die Wiblinger Chorgestühlreliefs

Beim Blick wieder zurück auf die Wiblinger Chorgestühl-Stuckreliefs ergeben sich so

manche Fragen. Diese 'Basreliefs' sind bei weitem qualitativ höher- und den Ottobeurer

Reliefs näherstehend. Von ihrer 'Zeichnung' können sie aber nicht mit Januarius Zick oder

Martin Dreyer verbunden werden, v.a. wenn man sie wieder mit den schwachen

eigenhändigen Malereien des Laienbruders vergleicht. Es verwundert auch nochmals,

dass sich Dreyer neben Amandus Storr zum 'Kunstverständigen' emporschwingen konnte.

Hat sich etwa Abt Roman mit seiner Aussage über Dreyers Entwurfstätigkeit

für elf Basreliefs (am Tabernakel befinden sich nur fünf) (bewusst?) vertan?. Allerdings

kam anscheinend von Christian Junior kein Dementi. Seit Ernst Michalski (1926, S. 60)

geistert die Nachricht in der Literatur, dass für die Architekturen dieser Reliefs Joseph

Bergler (der ältere und Bildhauer?) Pate gestanden habe, leider ohne weitere Angaben

oder Abbildungsbelege.

Nach dem momentanen Erkenntnisstand vermutet der Verfasser, dass Christian Senior

noch (Ton-) Entwürfe oder Modelle (schon im Verlauf von 1776?) vor seinem Tode lieferte,

die der nicht immer in einem guten Verhältnis zu seinem Vater stehende Sohn verwenden

konnte. Bei dem für den erst nach 1778 von Zick konzipierten, etwas möbelmässigen (vgl.

die Zickschen Intarsienentwürfe für die befreundete Kunsttischlerfamilie Roentgen in

Neuwied) Abtsdreisitz entstandenen Stifterrelief dürfte kein Entwurf vom Vater Christian,

aber dafür andere Vorlagen (für die Ritter und natürlich den Idealplan von 1732) für den

Sohn vorhanden gewesen sein, die er imitativ doch in beachtlicher, auch für Zick sicher

akzeptabler Qualität umsetzten konnte.

Die weitere Ausstattung durch Johann Schnegg, Eustachius Haberes, Fidelis Mock und

andere

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Wenn man der von Gustav Bölz transkribierten Wiedergabe (S. 108) der Prozessakten

weiter vertrauen darf, hat "der sogenannte Baudirektor Mahler Zick ... vor(geschlagen), die

Gewölbungen der Kirchenfenster mit beyläufig zween Schuhe hohen Köpfen, die er mir

auf einem Papier mit Kohlen vorzeichnete, zu verzieren. Hierauf habe ich das Modell dazu

gemacht und es durch mich und meine Gesellen (Fidelis Mock und Johann Michael

Steinhauser) 10 dergleichen Köpfe abgegossen und an das gehörige Ort gesetzt worden.

Die übrigen zu giessen, welches nach einmal vorliegendem Modell leicht war und

hinzusetzen, ersuchte ich den dortigen Stuccator, Benedikt Sporer, der mir die Gefälligkeit

willig leistete". Es handelt sich also um die antikisierenden Köpfe von Engeln, Genien am

Chorgestühl (insgesamt 2 x 5 =10) und im Bereich des Chors und Presbyteriums (4), der

Rotunde (4), Orgelempore (2) an den Scheiteln der Fensterlaibungen. Auch dieser

akademisch konventionelle Kopf verrät nicht mehr eindeutig die Entwerferhand Zicks.

Diese Abgüsse und Befestigungsaktionen dürften erst 1781, aber vor der Weihe des

Chores fertiggestellt gewesen sein. Die weiteren 10 Abgüsse für Vierung und Schiff hatte

aus Freundschaft oder Kollegialität (und ohne Gegenleistung?) der Stukkator Sporer

(1717-1803) übernommen, der wohl auch erst 1781 mit dem Gesims, Pfeilern und Säulen

einschliesslich der Kapitelle fertig gewesen sein dürfte. Aus den bei Braig (S. 209 u. 210)

übermittelten Daten der Einsegnung (des Hochaltares und des Kreuzaltares am

20.10.1781 mit dem Einzug und Nutzung des Chores beim Gebet), der feierlichen Weihe

am 28.9.1783 durch den Konstanzer Weihbischof Leopold Wilhelm von Baden und der

von Hauntinger Anfang August 1784 mitgeteilten Beobachtung (1964, S. 135), dass man

"mit deren innerer Auszierung man noch beschäftigt ist", kann man wohl schliessen, dass

die übrige Ausstattung ab Rotunde nach Westen also auch Taufgruppe und Kanzel, erst in

die Jahre 1782/83 zu setzen ist. Die beiden Seitenaltarblätter in der Rotunde von

Januarius Zick sind 1783 entstanden ('Verkündigung' signiert und datiert 1783). Während

man sich den aus dem Feichtmayr-Kreis stammenden Wessobrunner Benedikt Sporer

etwa zeitgleich oder etwas später, da die Zick-Fresken oberhalb des Gesimses ganz ohne

Stuckrahmung auskommen, von Wiblingen angefordert noch gut vorstellen kann, ist das

Auftauchen des Tirolers Johann Schnegg (Schneck) (1724-1784) doch etwas

verwunderlich. Letzterer kam um 1745 nach Bayreuth, wurde dort bald markgräflicher

Hofbildhauer und 1756 Lehrer an der kurzlebigen dortigen Kunstakademie, bevor er 1761-

69 in Berlin im friderizianischen Umfeld tätig wurde. Nach einer angeblich abenteuerlichen

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Flucht mit seinen Modellen teilweise als Versteck seines Ersparten lebte er wieder in

seiner Tiroler Heimat als angesehener Bildhauer und Plastiker. Ob die Verbindung zu

Schnegg (nach Braig, S. 209: von "Brixen") über Zick oder eventuell über den Brixener

Hofmaler und Ottobeuren-Dekorateur (beide 1778 in Ranggen, Tirol tätig) Franz Anton

Zeiller ging, ist wie der genaue Zeitpunkt (Ende 1778 oder erst um 1780/81, nachdem Zick

mit dem nicht-akademischen und 'langsamen' Franz Joseph Christian nicht so richtig

harmonierte) bislang unbekannt. Christian erwähnt seinen Konkurrenten (oder eher

Nachfolger?) Schnegg nicht. Auch ist kaum anzunehmen, dass Schnegg schon Ende

1778 in Wiblingen erscheint, um z.B. mit den Hochaltarfiguren zu beginnen, und sich dann

bis zu der Taufgruppe (um 1783) fast fünf Jahre in Wiblingen aufzuhalten. Von der

schnellen Stuckbildnerei her sind für diese Figurenanzahl eher nur 2-3 Jahre (also 1781-

83) zu veranschlagen. Der von Christian angestellte, aber von ihm in Wiblingen nicht

figürlich eingesetzte und damit kaum nachweisbare Geselle Steinhauser ist vielleicht mit

dem 1761 in Schlingen bei Bad Wörishofen tätigen Stukkateur Johann Michael

Steinhauser identisch. Besser sieht es bei dem angeblich von Sigmaringen stammenden

(Braig, S. 209) Fidelis Mock (1745-1820) aus, der in Breitenthal (1790, Chorgestühl) und

Schiessen (1791, Figuren am Hochaltar) im näheren Umkreis und im Umfeld von Konrad

Huber, eines Brugger-Schülers und Zick-Nachfolgers, tätig war. In Wiblingen werden ihm

(nach dem Abgang Christians?, eigenhändig?) die Apostel (um 1783/84) auf den

Galeriebrüstungen zugewiesen. Wahrscheinlich dürften auch einige der vielleicht teilweise

gegossenen Putten der Altäre von ihm herrühren. Michael Braig lässt das um 1791 zu

datierende Holztabernakel (Fassung: Martin Dreyer) vom klösterlichen Schreinermeister

Christian Unsöld hergestellt sein. In der schon erwähnten, um 1778 zu datierenden

Entwurfszeichnung der Choraltararchitektur ist das Tabernakel noch sehr reduziert und mit

einer Strahlenmonstranz und einigen Putten bekrönt. Die grob geschnitzten (?) oder

stukkierten vergoldeten fünf Reliefs stammen aber wohl nicht von Unsöld, sondern eher

von Mock. Ausserdem wird von Braig (S. 213) mitgeteilt, dass der Weissenhorner

Eustachius Haberes den 'Joseph mit dem Jesusknaben' (und die Putten?) geschnitzt

hätte, während die anderen aus Stuck (und nach Entwürfen von Zick) bestünden oder

(wohl von Schnegg und Mock?) gefertigt wären. Als Entstehungszeit ist wohl ab 1782/83

(oder später?) anzunehmen. Es verwundert, dass nur eine Figur in Holz ausgeführt wurde:

als wahrscheinlich zu langwierig erachtete Bewerbungsarbeit um 1781/82 des vorrangigen

Bildhauers?, als Stiftung (von der Seite der ehemaligen Vogts-Familie Fugger-

Weissenhorn?, Anton Joseph v. Fugger-Weissenhorn, reg. 1781-1790?)?. Stilistisch-

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qualitativ hebt sich diese Figur kaum von den übrigen Altarfiguren der Rotunde ab;

vielleicht ist sie noch etwas stärker barock aufgefasst. Das in Ottobeuren geschnitzte und

nach Wiblingen um 1790 geschenkte Kirchengitter wirkt noch spätrokokohaft verspätet.

Die 'Gedankhen' der Ausstattung

Diesem Versuch einer Vergegenwärtigung der Entstehung nach Zeit und Person soll eine

Betrachtung der verwendeten Themen, Motive, Inhalte folgen. Ausgehend von der

wundertätigen Kreuzreliquie, der Altardisposition der alten, bis 1781 bestehenden

Klosterkirche und einigen anderen, auch benediktinischen Gepflogenheiten hatten Abt und

Konvent einigermassen konkrete Vorstellungen, was wo hinkommen sollte. Am wenigsten

dürften die wohl mehr dekorativen Wand- und eventuell Deckenmalereien in dem

flachgedeckten Vorgängerbau ein Vorbild abgegeben haben. Ob solche 'historische

Szenen' - um hier Hermann Bauer recht zu geben - wie die 'Kreuzauffindung' und

'Kreuzwiederbringung' schon damals zu finden waren, muss sehr bezweifelt werden.

Zumindest gibt es keine Anhaltspunkte für frühere Versionen der im 17. Jahrhundert relativ

selten dargestellten Kreuzlegende (vgl. als rares und älteres Beispiel: Duttenberg a.d.

Jagst, Kreuzkapelle, um 1480/90 unter Einfluss des Deutschordens).

Das Presbyteriumsfresko: 'das Letzte Abendmahl'

Dass vielleicht der Prior Amandus Storr für das Presbyteriumsfresko in der

Apsishalbkalotte - quasi die Anfangsszene der Kreuzesgeschichte - 'Das Letzte

Abendmahl' (am ehesten nach Lukas , v.a. 22,19, weniger 1 Kor 11,23) verantwortlich

gemacht werden kann, ist auch durch die schon erwähnte Besichtigung des Knoller-

Vorbildes in Neresheim im August 1778 gestützt. Hauntinger (S. 136), der beide Werke

kurz hintereinander 1784 vergleichen konnte, spricht von der Zick-Version als "ein

herrliches Stück", aber dennoch findet er Knollers zehn Jahre früher entstandenes

Gemälde "reizender", wohl durch die Mehrzahl der Figuren, einschliesslich der

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Engelsschar, das pozzeske Gewölbe und die (formal nicht optimal gelöste)

Treppengeschichte, gegenüber Zicks auf-aus-geräumtes, etwas gotisierendes Gewölbe

mit Stichkappen und dem ähnlich die Apsisrundform aufnehmenden Schachtunterbau. Ein

vergleichbarer vierarmiger Leuchter gibt hier fast kein Licht ab, während bei Knoller das

'lumen naturale' neben dem 'spirituale' fast eine Energieverschwendung darstellt. Ein

nüchternes, fast bürgerliches Ambiente Zicks öffnet sich hinter dem visionär gerafften, ver-

und enthüllenden Vorhang.

Auch unter Eindruck von Le Bruns 'passions' oder deren Nachfolger legt Zick noch

stärkeren Wert auf eine physiognomische Charakterisierung der Jünger um Jesu. Die

Gesamtkonzeption mit dem Hochaltar (vgl. auch den zeichnerischen Entwurf) machen die

auf dem Giebel plazierten Putten mit den Leidenswerkzeugen von Christian deutlich. Bei

Knoller - vielleicht als Anregung - überschneiden als 'stucco finto' gemalte Putten mit

diesen 'Arma-Christi'-Symbolen das folgende Auferstehungsfresko. Leider erfahren wir in

Alois Harbecks Münchner Dissertation "Die Fresken von Januarius Zick in Wiblingen und

die Problematik illusionistischer Deckengestaltung" unter Walter Otto und Norbert Lieb

ausser einigen Überlegungen zu Illusion, 'di sotto in su', raumvertiefende Mittel und zu

"einfach(en), ernst(en) und fast nüchtern(en)" Farben nicht viel neues. Harbeck bewegt

sich – wie angedeutet - in seiner 'strukturalisierenden' Arbeit im Dunstkreis von Sedlmayr,

Rupprecht und Bauer (siehe weiter unten).

Das Chorfresko: Findung und Bestätigung des Hl. Kreuzes und die Wiblinger Kreuz-

Geschichten – Schattenrisse der Auftraggeber

Das folgende querovale, von der Rotunde aus zu betrachtende Chor-Deckenfresko in

einem fingierten Gold- und Gebälk-Rahmen zeigt die bekannten Szenen nach der

'Legenda aurea' mit der 'Bestätigung der Echtheit durch eine Wunderheilung im Beisein

der Kaiserinmutter Helena und des Jerusalemer Bischofs Makarios' und 'Finden des

Grabes Christi auf dem Golgotha'. Auf einer tieferen 'archaeologisierenden' Erdrampe (vgl.

Bruno Bushart) haben die nachgrabenden Arbeiter die Nägel und die Inschrift des Kreuzes

entdeckt. Links in der Ferne wird der hadrianische Venustempel über dem Grab geschleift.

In den Eckzwickeln sind vier Szenen der legendenhaften Versteckung und Wiederfindung

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des Wiblinger Kreuzpartikels zwischen 1632 und 1636, also während der Schwedenzeit,

dargestellt. Dazwischen befinden sich kleinere Medaillons mit Silhouetten von Mönchen

auf Goldgrund. Otto Beck (Kirchenführer 'Sankt Martinus Ulm-Wiblingen', 2. Auflage,

Lindenberg 2003, S. 18) sieht darin die damaligen Retter und Wiederfinder der

Kreuzreliquie. Nach Meinung aller übrigen (auch schon bei Braig, S. 215) sind es die

zeitgenössischen Hauptbewahrer dieser Reliquie und Hauptverantwortlichen dieses

Kirchenbaus Abt Roman Fehr (O), Prior Amandus Storr (N), der Subprior Werner Stadler

(S) und der Pater Oeconomus oder Grosskeller Sebastian Molitor (W). Für Amandus Storr

gibt es einen annähernd lebensgrossen vereinfachten Schattenriss (vgl. Strasser 1993, S.

143, Kat. 97), der aber nicht unbedingt für das viel lebensnähere Medaillon gedient haben

muss. Da sonst keine inhaltlichen Unklarheiten herrschen, greift Harbeck (S. 124) v.a. die

Illusionismus-Frage auf, wobei er trotz einer perspektivischen Rampenuntersicht des

querformatigen Gemäldes sich eher an ein Tafelbild erinnert fühlt, das durch seinen

Bildraum das Gewölbe nicht zu ersetzen vermag. Während die Zwickel und die

Porträtmedaillons eindeutig für 'quadri riportati' stehen, ist es beim grossen Mittelstück

nicht so eindeutig, ob Zick hier ein normales Tafelgemälde illusioniert sehen wollte. Eine

stärkere Fluchtung oder ein grösserer Höhenraum (Untersicht) hätte die szenische

Lesbarkeit oder Erkennbarkeit sicherlich erschwert. Nach unserer Auffassung blieb Zick in

der vom Abt auch geforderten zusätzlichen thematischen Parallelisierung bei den Zwickeln

nur diese Zwitter-Lösung übrig. Während die vorangegangenen Jahrzehnte (vgl. auch

Ottobeuren) die Zeiten und 'Realitätsgrade' noch bildimmanent mischten oder durch ein

Wappen den herrschenden Abt herausstellten, wurden hier und zwar fast einmalig und

zeitgemäss die Klosteroberen bis heute verewigt. Strasser (1994, S. 543-546) datiert die

genannten Fresken ins Jahr 1778-81. Auch aus Verteilungsgründen der bei Braig (S. 214)

erwähnten Sommerkampagne über drei Jahre hinweg dürfte das Abendmahlfresko noch

mit Spätsommer 1778 und das Chorfresko mit 1779 zeitlich anzusetzen sein. Über bzw.

hinter den Chororgelprospekten befinden sich jeweils ein in Grisaille gemaltes Brustbild

'Eremit mit Abtskreuz und darüber die Sonne' auf der Nordseite: wohl Benedikt (und nicht

Kolumban, Apostel Alemanniens), auf der Südseite wohl die Scholastica mit ihrer Taube.

Das Rotundenfresko: die Wiedergewinnung des Kreuzes und die Erhöhung des Kreuzes –

die 'Virga' des Moses – die Ehrenmedaille für Januarius Zick in Vorder- und Rückseite

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In das kreisrunde Rotunden- oder Vierungsfresko setzte Zick diesmal auch formal

passend in gekrümmter panoramaartiger Anlage mit zentralem Licht-Fluchtpunkt die

spätere Legende mit dem 'Wiedererwerb des Kreuzes durch Heraklius', der 'demütigen

Kreuztragung vor Jerusalem' und letztlich die 'Kreuzerhöhung vor dem Tempel in

Jerusalem' und die Wundererwartung der Gläubigen zu Füssen auf Bodenstufen. Auf der

gegenüberliegenden (West-) Seite füllt ein oströmisches Soldatenpaar vor teilweise

Gefesselten (Christen?) die Lücke und hemmt in der Blickrichtung die vielleicht intendierte

szenische, gegen den Uhrzeiger zu lesende Abfolge von Norden - (Westen) - Süden -

nach Ost. Konstruktives und inhaltliches Zentrum ist ein strahlendes (göttliches)

Himmelslicht mit einem dunklen verdeckenden und repoussoirartig vertiefenden

Wolkenbogen. Dieses wie aus einem opaionartigen Schacht gesehene Panorama wird

von einem architektonischen, gemalten Goldrahmen umgeben und füllt die faktische

Flachkuppelkalotte, während die faktische Pendentivzone mit einem weiteren gemalten

Weiss-Gold gehaltenen architektonischen Rahmen und vier ädikulaartigen Ecknischen,

Kartuschen und zwei von Engeln gehaltenen Medaillons (im Westen: Klosterwappen

Wiblingen; im Osten: das Verbundwappen des Abtes Roman Fehr mit Stab und Schwert;

im Norden: Porträtmedaillon Zicks und im Süden: eine Ehrenschrifttafel) illusionistisch,

teilweise räumlich überschneidend gestaltet ist. Es ist wohl anzunehmen, dass der Abt

Roman in Verbindung mit dem Prior (auch Heraldiker und Numismatiker) Amandus Storr

Zick mündlich und schriftlich die gewünschten Inhalte vermittelt hat, sodass Zick sich wie

schon Harbeck (1966, S. 76) feststellte, nicht direkt an der 'Legenda Aurea' orientieren

musste. Für die in den Nischen dargestellte Moses-Aaron-Szene (im Nordosten) mit der

'ehernen Schlange' als Typologie der 'Kreuzerhöhung und -verehrung' und die drei

Weiteren mit um Hilfe suchenden Israeliten diente als Vorlage natürlich 4 Mos 21, 7-9: "Da

kamen sie zu Mose, und sprachen; Wir haben gesündigt, daß wir wider den Herrn und

wider dich geredet haben; bitte den Herrn, daß er die Schlangen von uns nehme. Mose

bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte

sie zum Zeichen auf; wer gebissen ist und siehet sie an, der soll leben. Da machte Mose

eine eherne Schlange, und richtete sie auf zum Zeichen und wenn jemanden eine

Schlange biß, so sahe er die Schlange an, und blieb leben". Harbeck (1966, S. 86)

verweist auch noch auf Joh 3, 14-15 als biblische Grundlage: "Und wie Moses in der

Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß der Menschen Sohn erhöhet werden. Auf daß

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alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben". Die

Wunderrute des Moses ist die 'virga', die - wie Martina Oberländer (Wiblingen 2006, S. 52,

Abb. S. 41) darlegt - den Titel zu einer 1745 gedruckten Wiblinger Schrift abgab, in der bis

dahin (aber nur) 55 anerkannte Mirakel durch das Heilige Kreuz aufgelistet sind, und die

auf 2 Mose 7, 9-10 fusst.

Kloster- und Abtswappen sind nichts Neues (z.B. Vierung von Zwiefalten) im Vergleich zu

Avers und Revers einer Preis- oder Ehren-Medaille für einen Künstler. Wie schon im Chor

die Silhouetten der sich verewigt sehen wollenden 'Bauherren' - als Eigenlob wären auch

die Stukkateur-Kartuschen in der Wallfahrtskirche Steinhausen und in der Bibliothek von

Schussenried anzusehen - gibt es aber auch dafür gewisse Vorstufen, wenn es Spiegler in

Zwiefalten gestattet war gerade in der Vierung (sonst eher im abschliessenden

Eingangsbereich) seine Signatur anzubringen; allerdings kann man z.B. bei Spiegler auch

in Ermangelung eines wirklichen Selbstbildnisses kein Kryptoporträt entdecken. Gerade an

diesem Hauptraum ist natürlich ein Bildnis des Künstler-Architekten und seine

'Lobpreisung' doch etwas aussergewöhnlich und der 'Genie-Zeit' und den besonderen

noch auszuführenden Wiblinger Verhältnissen geschuldet. In Wiblingen fehlt bis auf die

Altargemälde von Zick also die zu lesende (oder gar im Bildakt nach Horst Bredekamp

redende oder sprechende) Signatur. Die auf der Gold-Ehren-Medaille angebrachte

Datierung 1780 gibt wohl den Zeitpunkt für den Abschluss der Ausmalung über dem

Gesims.

Die Querschifffresken: Himmelsaufnahmen von Benedikt und Maria

Das Rotundendeckenbild dürfte schon 1779 weitgehend abgeschlossen gewesen sein,

während bei den beiden kleinen flankierenden, konventionell mit ihrer himmlisch-idealen

Ebene anmutenden 'Himmelfahrten' von Benedikt im Süden auf der Männerseite und von

der makellosen (Lilie und Spiegel) Maria mit dem himmelsblauen Haarband im Norden auf

der Frauenseite vielleicht erst um 1780 entstanden. Bei beiden dazugehörigen Entwürfen

fehlen die auch Leerstellen belebenden gemalten Vasen mit sich teilweise versteckenden

Putten, die aber auch wie auf das faktische Gesims gestellt wirken. Die im Germanischen

Nationalmuseum Nürnberg befindliche Skizze der Marienszene zeigt nur den Bereich in

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der Mitte und wirkt ziemlich tafelbildhaft ähnlich Knollers Neresheimer Entwürfen (s.o.).

Die im Mittelrheinmuseum Koblenz aufbewahrte, schlecht erhaltene Skizze zum

Gegenstück versucht mehr dem späteren Fresko näherzukommen. Michael Roth (1993, S.

140/41, Nr. 55) ist bemüht die zusätzliche illusionistisch gemalte Rampe als weiteres

transitorisches Moment zu deuten. Es hätte in der Ausführung eine weitere Schmälerung

des Formats bedeutet und einen ähnlichen Effekt wie das Abendmahlfresko bewirkt. Die

Skizzen dürften wohl zwei Stufen einer frühen Entwicklung um 1778 dokumentieren.

Leider ist die verschollene Skizze für das Hauptbild nur noch in einer Schwarz-Weiss-

Abbildung zu erahnen. Sie entspricht weitgehend der Ausführung bis auf das Lichtzentrum

und den noch nicht durch die sphärische Krümmung in Untersicht kurvig erscheinenden

Architektur-Horizontalen.

Das Langhausfresko: das 'Jüngste Gericht'

Das folgende ebenfalls kreisrunde Deckenbild im Langhaus oder Gemeinderaum stellt

einhellig das Ende der Heilsgeschichte 'Das Jüngste Gericht' dar in ähnlicher Rahmung

wie das Rotundenbild nur ohne inhaltsvolle Eckkartuschen abgesehen von den verloren

wirkenden Putten mit den vier Posaunen der Himmelsrichtungen und Atlantenhermen,

fingierten Putten und lateinischen Bibeltexten und vier Vasen. Die Schriftrolle in der Mitte

lautet übersetzt nach Matth. 24, 30: "Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des

Menschensohnes im Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden

und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer

Kraft und Herrlichkeit". Nicht auf der Rolle konnte der folgende Vers 31 untergebracht

werden: "Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen und sie werden sammeln

seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem anderen".

Im Osten mit trauernden Putten ist Phil 3, 18 aufgeschlagen: (in Übersetzung) "Denn viele

wandeln, von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber sehe ich auch mit Weinen, die

Feinde des Kreuzes Christi". Und im Westen 1 Kor 1, 18: "Denn das Wort vom Kreuz ist

eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber, die wir selig werden, ist eine

Gotteskraft". Hinter dem fingierten, teilweise illusionistisch überwachsenen Goldrahmen

öffnet sich ein schrägsichtiger Ausblick auf eine frühchristliche Grabes- und Ruinenstätte

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und in einen teils düsteren Himmel, wo sich Sonne und Mond wie bei der Kreuzigung

wieder verfinstert haben. Im Himmelsbereich auf Wolken lagern der lichtweisse, etwas

gepolsterte Thron umgeben von zwei Cherubim und vier Engeln mit vier Posaunen, links

eine Anbetungsgruppe des Alten Testamentes (Moses, Aaron und König David mit den

gut erkennbaren Gesetzestafeln). Etwas über dem faktischen Kuppelscheitelpunkt

beginnen die Füsse des stark untersichtig dargestellten Heilands mit der

Auferstehungsfahne in der Linken. Darüber schwebt ebenfalls stark perspektivisch das

helle, astralartige, auratisch oder mandorlaartig umgebene Kreuz, über dem als

unsichtbarer Zentralpunkt Gott Vater als Ursprung, Anfang und Ende der Welt vielleicht

hinzuzudenken ist. Auf der Erde, aus den Gräbern erheben sich 'leibhaftig' die 'gerechten'

Toten und blicken nach oben. Auf wundersam gewollte Weise sind wieder die Gräber der

spätantiken Heilig-Kreuz- Ver- und Ent-ehrer der vorangegangenen Fresken dargestellt,

aber nicht als direkter 'Verweis' wie bei den Silhouetten 'auf sich (also die Historie

Wiblingens) selbst'. Während der Kaiser Heraklius halbnackt mit seinem roten

Königsmantel selbst seinem Grab "HERAC: IMP" entsteigt und rechts der Kaiser

Julian(us) II Apostata, der Kreuzesverächter, als Gerippe, aber doch fast im

Adorantengestus in seinem Sarkophag verharrt und verdammt ist, machen sich einige wie

um den leeren Sarg der Kaiserin Helena "HELENA AUG:(usta)" zu schaffen. Ingrid

Kessler-Wetzig (Kloster Wiblingen 1993, S. 58 u. S. 61 m. Abb.) erkennt darunter die zum

Betrachter blickende verschleierte Helena, den blondgelockten jugendlichen Makarios,

Entdecker des Jesus-Grabes, und dazwischen als Halbakt Heraklius, was etwas seltsam

anmutet. Auf das Grab des Makarios deutet vielleicht der kleinere Sarkophag mit der

Bezeichnung "BM" (Beatus Makarios?, Bischof?, warum nicht Episcopos?). Vielleicht ist

Helena vom Betrachter aus schon rechts hinter dem Thron als Errettete in Belohnung ihrer

Tat zu sehen.

Die Kapellen- und Emporenfresken: Szenen mit Sebastian und Maria Magdalena

Die Deckengemälde in den Seitenkapellen sind links dem oft dargestellten Martyrium des

Pestheiligen Sebastian durch numidische Bogenschützen und rechts der wie üblich vor

dem das ewige Leben verheissenden Kreuz bzw. Kruzifix und mit dem Totenschädel als

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Vanitassymbol in einer Höhle genrehaft eremitisch büssenden und meditierenden

ehemalige grossen Sünderin (zumindest nach Gregor I) und 'Fusspflegerin' Maria

Magdalena gewidmet. Während auf der darüberliegenden Empore ihre Erhebung beim

Gebet (vgl. 'Legenda aurea' und keine Himmelsaufnahme wie in den Rotundenannexen

oder Querschiffarmen) dargestellt ist, findet sich gegenüber auf der anderen Seite eine

Christus ähnliche Grablegung des christlichen Anführers der diokletianischen Leibwache

durch Lucina und andere Klagefrauen und Putten mit den Zeichen des glorreichen

Martyriums. Die unteren Kapellenaltäre besitzen Rokokoaltäre aus der alten Kirche:

'Christus am Ölberg' mit Bild Franz Martin Kuens und eine plastische, Dominikus

Herberger zugeschriebene 'Marienklage', während die auch heute normalerweise nicht

zugänglichen Emporenkapellen den fast noch populäreren, aber 'jüngeren' Heiligen Fidelis

von Sigmaringen und Antonius von Padua gewidmet sind. Ein direkter Bezug zum Heiligen

Kreuz ist hier nicht auszumachen. Die unteren Fresken sind künstlerisch, farblich,

technisch und erhaltungsmässig besser einzuschätzen, während v.a. die 'Grablege

Sebastians' mit den noch deutlich erkennbaren Rasterritzungen wie das grosse 'Jüngste

Gericht' auch durch stärkere Secco-Partien und auch sichtbaren Tagewerkgrenzen nicht

so ansprechend erscheinen. Die im Wallraf-Richartz-Museum Köln befindliche Ölskizze

zum 'Sebastian' zeigt noch einen fast schachtähnlich zu interpretierenden Rahmen (in der

Ausführung faktisch stukkiert) über den der rote Mantel der kaiserlichen Leibgarde und

des Blutzeugen hineinragt. Diese Skizze könnte auch zu den Erstentwürfen gehören.

Das Vorraumfresko: Stiftung von Kloster und Kreuzreliquie

Es bleibt noch das querovale, aber fast runde Fresko über dem Eingangsbereich: 'Stiftung

Wiblingens' oder besser seines Kreuzpartikels mit blossen Händen durch die Brüder

Hartmann und Otto von Kirchberg, die 1099 nach der Rückkehr aus dem Heiligen Land,

den vom Papst Urban II bestätigten Kreuzpartikel in Patriarchen-Kreuzform dem knienden

ersten, von St. Blasien gesandten Abt Werner von Ellerbach überreichen. Die Szene spielt

in einem wie von einer Krypta mit Stufen und Geländer aus gesehenen Kirchenraum mit

flacher, vergoldeter Kassettendecke und einer Apside, vor der ein Putto den Grundriss der

alten romanischen Klosterkirche und einen Stab (Maßstab?) hält. Hinter den beiden in

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Rüstungen des 16./17. Jahrhunderts steckenden Stiftern hält auf einem mit einem roten

Tuch verhangenen (Altar-?) Tisch ein Muslim mit Turban das Kirchberger bzw. Wiblinger

Wappen der 'Mohrin mit der Mitra'. Daneben liegen noch ein Helm und eine Kreuzfahne

der beiden Kreuzfahrer und ein Siegel der Bestätigung der Kreuzreliquie (?) oder der

Stiftung Wiblingens insgesamt. Der teilweise geraffte Vorhang macht das Visionäre,

Legendenhafte deutlich. In den drei Mönchen am Eingang zur Klausur (?) kann man wohl

den Prior, Subprior und Grosskeller vermuten, allerdings nicht anachronistisch mit Porträts

der Zeit der Freskoentstehung um 1780 wie z.B. am Abtsdreisitz von Zwiefalten. Hier ist

also ein direkter 'Verweis auf sich selbst' gegeben als reines Historienbild ohne den

sichtbaren göttlichen Einfluss in der Heilsgeschichte, wenn man den goldenen-göttlichen

Kassettendeckenhimmel und den mehr einem Knappen ähnelnden Genius mal ausnimmt.

Leider hat Harbeck das Gemälde selbst vom 'projektiven Standpunkt' aus nicht genauer

analysiert, obwohl es aber nur bei längerer Betrachtung konstruktiv auffallende

Unstimmigkeiten aufweist. Während der dem Rahmen gebogen angepasste Treppen-

Podest-Unterbau noch einer hemisphärischen 360° Horizontalprojektion folgt, sind die

Mauern in einer planen schrägen Untersicht konstruiert, wobei die Kassettendecke in

quasi frontaler Untersicht erscheint. Leider gibt es keine Entwürfe, um eine etwaige

Entwicklung oder einen Eigenanteil von Mitarbeitern ableiten zu können. Fast dasselbe

Problem taucht auch schon im 'Letzten Abendmahl' in der Apsis auf.

Das Hochaltarblatt: der 'Lanzenstich'

Nach den Deckendekorationen sollen die ortsfesten Wand- und Altargestaltungen und die

mobilen Ausstattungsgegenstände 'ins Visier genommen' werden und zuerst der Hochaltar

mit seinem signierten und 1781 datierten grossen Altarblatt, das strenggenommen den

Lanzenstich durch den Centurio Longinus zeigt nach Joh. 19,34. Diese Lanze wurde auch

durch die Kaiserinmutter Helena wieder aufgefunden und gehört zu den 'Arma Christi', den

Leidenswerkzeugen, die von den vier Putten über dem Altargiebel gehalten werden:

Nägel, Rohr mit Schwamm, Dornenkrone, Rute auf der linken Seite und Lanze und Geisel

auf der Rechten. Dem Lanzenstich 'verdankt' z.B. Kloster Weingarten seine Hl-Blut-

Reliquie. Zu dem auf der schon erwähnten Federzeichnung des Altares noch nicht

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erkennbaren grossen Altarbild (etwas kleiner als in Zwiefalten und Ottobeuren) finden sich

die 1993 in der Zickausstellung einmalig versammelten Entwürfe bzw. Studien wie eine in

Koblenz aufbewahrte und 1780 datierte Ölskizze und eine unbezeichnete, qualitativ fast

bessere und der Ausführung näher kommende andere Fassung in Berlin, die von Strasser

(1994, S. 376, G 153) wegen einer Ähnlichkeit mit einer in der Eigenhändigkeit stark zu

bezweifelnden lavierten Federzeichnung im Ulmer Museum (Z 67; 1993: Nr. 59)

unverständlicherweise als früher (1778/79) angesehen wird. Eine weitere, viel schwächere

Variante in Würzburger Privatbesitz (G 152; 1993: Nr. 61) und mit einem

rembrandteskeren Christustypus in geneigter, weniger heroischer Haltung wird von

Strasser auch um 1778 datiert, während sie 1993 mit grösserem Recht als Werkstattreplik

und um 1780/85 eingeschätzt wird. Leider nimmt sich Strasser nicht der möglichen

Vorbilder (Rubens, Rembrandt) für Zick neben einer Aktstudie eines relativ Athletischen

vor der Natur und von nachcaravaggieskem Realismus an. Der Traueraspekt z.B. bei den

beiden Trauerengeln könnte mit dem 1993 angeführten Zitat des Propheten Sacharja

12,10: "Sie werden sehen auf den, in welchen sie gestochen haben, und werden ihn

beklagen" in einen Zusammenhang gebracht werden.

Die vier Evangelisten des Hochaltares

Die schon von Zick um 1778 in der schon öfters angeführten Federzeichnung konzipierten

vier Evangelisten stehen natürlich für die (Schrift-) Zeugen des Kreuzigungsgeschehens:

von links Matthäus, Markus, Johannes und Lukas, wobei Johannes herausgehoben

aufschaut. In der Ausführung durch Johann Schnegg (eher um 1782) wirken die

Evangelisten in ihrer zweifachen Überlebensgrösse v.a. gegenüber dem Christus am

Kreuz, aber auch gegenüber der Zeichnung etwas überdimensioniert und damit

'übergewichtig' v.a. aus geringem Abstand. Auch wenn man den nicht sehr individuellen,

der alpenländischen Bildhauertradition und einem erschlafften Klassizismus verpflichteten

Figuren des von Braig als Brixener angesehenen Schnegg die Zick-Vorgaben eigentlich

kaum ansieht, müsste letzterer doch für die Maße verantwortlich gewesen sein. Auf der

bekannten Zeichnung steht im Giebelfeld des Tempelaltares die Inschrift: "DOMINVS IN

TEMPLO SANCTO SVO / DOMINVS IN COELO SEDES EJUS" nach Psalm 11,4: Der

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Herr ist in seinem heiligen Tempel, des Herrn Stuhl ist im Himmel; seine Augen sehen

drauf, seine Augenlider prüfen die Menschenkinder', was wohl zusammen mit dem Spruch

über dem Eingang das Motto oder die Einstellung Wiblingens über das Gebäude hinaus

verrät. Bei der Realisation ist man dann doch von Klosterseite auf den Psalm 29,2

übergegangen: "(adferte Domino gloriam et honorem adferte Domino gloriam nomini eius)

ADORATE. DOMINVM. / ATRIO. SANCTO. EJVS." - also (bringt dem Herrn Ruhm und

bringt dem Herrn Ehre Ruhm sei seinem Namen) betet den Herrn an in seinem heiligen

Vorhof' (= Psalm 95/96,9), was auch bei der Kirchweihe angewandt wird.

Das Tabernakel

Um die Lücke zwischen den Evangelisten zu schliessen wurde ein anscheinend erst 1791

entstandenes, recht dunkles Pseudostuck-Tabernakel in zwei Zonen aufgestellt, die mit

drei und zwei relativ schwachen, vergoldeten und wohl geschnitzten Medaillons dekoriert

sind, die angeblich auch von dem Klosterschreiner Christian Unsöld (vgl. Wiblingen 1999,

S. 38: "um 1780") stammen und von links oben bis nach unten rechts folgende

eucharistische alt- und neutestamentliche Themen haben: 'Opfer Isaaks', 'Moses mit

seiner Zauberrute und der Mannaregen', 'Passahmahl', unten: 'Melchisedek und Abraham'

sowie 'Emmaus-Mahl'. Insgesamt macht dieses Gebilde nicht mehr den Eindruck, dass es

unter den Augen Zicks oder nach seinen Plänen entstanden ist. Braig (S. 249) spricht wie

schon erwähnt von einem "noch abgängigen (also fehlenden) Tabernakel am Hochaltar"

zum Jahre 1791.

Die Themen der Reliefs der Chorstühle

Während Braig (S. 213) die "Abbatialstuhl-En-Bas-Reliefs'' (Flachreliefs) mit oben "Plan

des Klosters nebst den beiden Reliquien- und Klosterstiftern Hartmann und Otto" (von

Kirchberg) und unten "der erste Abt Werner (mit der Kirche von Kirchberg?) vorstellend"

genau bestimmt, hat er für die "10 geschnitzelte (!) Gruppen en bas relief" des

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Chorgestühls, die "das Aug ... besonders ergötzen" nur "teils biblische teils

Ordensgeschichten vorstellend" übrig. Hauntinger (S. 136) erinnert sich an Szenen des

Alten und Neuen Bundes und der alten Mönchsgeschichte, wobei ein Tempel gerade

gebaut werde, und eine anderer in gotischem Geschmack errichtet sei. Ganz wichtig ist

ihm, dass die Reliefs in Gips ausgeführt sind. Alle seien Werke eines dasigen

Klosterbruders (Martin Dreyer). Bei Huber (1960, S. 89) findet sich eine erste Bestimmung,

die aber noch hinterfragt und auch visuell kontrolliert werden soll. Wenn man die Reliefs

der Nord- und Südseite jeweils in Richtung auf den Hochaltar (auch zeitlich) 'liest', beginnt

es südlich mit 'Einzug des tanzenden David mit der Bundeslade in Jerusalem', wobei die

Saul-Tochter und David-Ehefrau (mit jetzt abgebrochenem Arm) 'not amused' ist nach 2

Sam 6,15-16. Huber meint, dass "die Bundeslade auf den Berg Tabor gebracht" wird.

Gegenüber befindet sich 'Die Tempelweihe Salomons in Jerusalem' mit dem Auftauchen

der göttlichen Wolke nach 1 Kön 8, v.a.10. Wieder auf der anderen Seite folgt als

nächstes: 'Heilung des Lahmen durch Petrus und Johannes' vor dem Tempel in Jerusalem

nach Apg 3, 1-10, der die 'Grabeskirche in Jerusalem' gegenüber stehen soll. Aus dem

Symmetriedenken des 18. Jahrhunderts wäre eigentlich eher eine weitere

neutestamentliche Szene z.B. mit Paulus zu erwarten. Das Relief mit einer Höhle links und

einer Unterkirche oder Gruft, Katakombe (Märtyrergräber wie für Romanus?) bleibt auch

für den Kirchengeschichtler Karl Suso Frank (1996, S. 92) etwas rätselhaft. Über den

Durchgängen befinden sich unbestritten nördlich der die Vorschriften Gottes übermittelnde

'Moses vor dem brennenden Dornbusch' mit seinem Wunderstab (virga) nach 2 Mos 3 u. 4

und südlich 'Benedikt schreibt an seinen Regeln' und speziell an der Nummer 52:

"ORATORIVM / HOC SIT QVOD / DICITVR NEC / IBI QVIDQVAM / ALIVD GERA- / TVR

AVT / CONDATVR" mit der das Chorgebet 'geregelt' werden soll, wie auch der genauer

hinblickende Karl Suso Frank 1996, S. 92 schon feststellte. Auf dem folgenden, wieder

einem Tafelbild mit einem oben geschweiften Rahmen entsprechenden Relief 'Benedikt

und die Mönche bei Subiaco' wird dem mit wenigen Gefährten in einer einsamen Gegend

lebenden Heiligen von einem Engel eine Tafel gereicht, worauf "MANE / MERIDIE /

VESPERE" (nach Psalm 54 oder 55, 18) und "XII / PSAL / MI" steht, womit die

Benediktiner zum täglichen Gebet mit Psalmen v.a. gegen die Widersacher aufgefordert

werden. Karl Suso Frank 1996, S. 92 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wobei er eine

Vermischung der Überlieferung mit einer Version des Ägypters Pachominus annimmt.

Gegenüber soll eine 'Verzückung des Hl. Benedikt' dargestellt sein, wobei in einem

kirchlich ausgestatteten, aber wie ein aufgeschnittenes Gefängnis wirkenden Holzbau

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einer der Mönche mit Skapulier Flügel erhält und etwas darüber schwebt. Eine solche eher

an die Verzückung des Paulus' erinnernde Szene ist für Benedikt (wenigstens dem

Verfasser) nicht bekannt. Karl Suso Frank 1996, S. 93/94 sieht darin eine 'nächtliche

Erscheinung des Benedikt und die Anweisung des Klosterbaus in Terracina' allerdings

auch nicht entsprechend der Benedikts-Vita bei Gregor dem Grossen und nicht völlig

überzeugend, da eigentlich nichts auf eine Bautätigkeit hindeutet. Bei Gregor II, 22, 13

wird auch noch auf die 'Schwerelosigkeit des Propheten Habakuk verwiesen. Im letzten

Relief auf der Südseite zum Hochaltar hin ist ein eher in die Gotik versetzter Phantasiebau

von Monte Cassino dargestellt, wobei links Benedikt und seine Brüder 'beten' und andere

beim Steinbrechen und der Architekt für den Bau 'arbeiten'. Karl Suso Frank 1996, S. 93

hebt auf die Legitimation und Identitätsstiftung für den Wiblinger Bau ab. Nach Franks

Meinung sei die 'Venus pudica' links der Bildmitte aus kompositorischen Gründen bislang

noch stehen gelassen. Nach Gregor II, 8, 11 handelt es sich um einen Apollo-Altar.

Möglicherweise ist auch die Szene mit dem "unbeweglichen Stein" (II, 9,1) dargestellt, der

durch Benedikts Gebet leicht und 'ledig des Feindes' wurde.

Gegenüber ist das 'Martyrium des Benedikt-Schülers Placidus und seiner Gefährten durch

Seeräuber' in einer Kirche in Messina wiedergegeben. Man geht wohl auch jetzt schon

nicht ganz fehl in dem gesamten Chorgestühl ortsbezogen und funktional die

Gottesverehrung durch Errichtung, Weihe einer Kirche und das Chorgebet zu sehen.

Der Kreuzaltar

Einen noch bedeutenderen Mittelpunkt, auch von dem Wallfahrtsgedanken her hinter bzw.

vor dem seit 1810 nicht mehr vorhandenen Chorgitter und dem ursprünglichen Standort

des Abtdreisitzes bildete wie in Zwiefalten der Kreuzaltar mit seinem 1749 gefertigten,

1796 verschwundenen (vgl. Braig, S. 192 u. 213) versilberten Tabernakel mit der

Kreuzreliquie. Das heutige, aus schwarzem Holz mit Silberbeschlägen, von einem

silbernen 'Schein' und Wolken mit vergoldeten Putten und von einem silbernen

Wolkensaum umgebene Monstranzartige Kreuzreliquie-Gebilde scheint demnach eine

Neufassung, eine Nachschöpfung zu sein (vgl. Braig, S. 129 m. Abb. 32). Über dem Altar

hängt heute ein aus dem Ulmer Münster stammender spätgotischer Kruzifix, der vom

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westlichen Eingang gesehen den Kruzifix des Hochaltarblattes verdeckt und mit den sonst

etwas überdimensionierten dahinterliegenden vier Evangelisten jetzt grössenmässig ganz

gut harmoniert. Ein in der Seitenkapelle hängender, noch aus der alten Kirche

stammender, etwas kleinerer spätgotischer Kruzifixus hat mit seinem leptosomen Körper,

dem waagrechten INRI-Schriftzug wohl Einfluss auf Januarius Zicks ersten, oben

genannten Entwurf für das Hochaltarblatt in Koblenz (1993: Nr. 58; G 154) gemacht. Wir

haben also in Wiblingen nicht mehr den ursprünglichen Raumeindruck vor uns. Der Altar

war nach Braig (S. 213) in schwarz-braun bemaltem (wohl von Martin Dreyer) Holz

gehalten, wodurch er mit dem Hochaltartabernakel und der Kanzel sowie dem Taufgebilde

ganz gut zusammengepasst haben dürfte. Davor muss man sich aber noch einen

dreiteiligen Kommunikantentisch oder eine Kommunionbank denken.

Die Rotundenaltäre

Auf der rechten oder südlichen Rotundenhälfte stehen zwei Stuckmarmoraltäre mit

Sarkophagunterbau, Mensa und einer Art Retabel mit Predella, einem Podest umgeben

von jeweils zwei Putten und eine lebensgrosse Figur bzw. Gruppe an den mächtigen

Pilaster-Säulen-Kombinationen und ein Altar dazwischen freistehend. Diese Seite ist dem

Nachchristlichen und Benediktinischen gewidmet. Im Südosten steht also der 'Martins-

Altar' für den zweiten Hauptpatron der Kirche, der seine bekannte Mantelspende an einen

Bettler (vgl. Zwiefalten) ausführt. Die darunter befindlichen Putten halten die Bischofsmitra

und den Stab links, und rechts den Schild des ehemaligen spätrömischen Kriegers,

während das letzte 'Kindlein' (nur?) betet. Im Predellenbild stellte Martin Dreyer die

'Agonie Christi in Gethsemane' dar.

Der herausgehobene und -gestellte mittlere Altar ist dem Ordenspatron Benedikt

gewidmet, wobei zwei Cherubim ein grösseres Bild von Zick in Tondoform mit dem 'Tod

des Heiligen bei der Messe' und seiner zum Himmel wandernden Seele halten. Die

Rückseite von Martin Dreyer stellt die 'Aufnahme von Placidus und Maurus' dar. In der

darunter befindlichen Predella ist wieder von Martin Dreyer die 'Gefangennahme Christi'

eingelassen. Oben halten zwei Putten den Becher mit der Schlange und einem Raben

(nicht die Amsel, die er mit dem Kreuz verscheucht), weil er Giftanschläge (im Getränk

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und im Brot) überlebt hat. Die vier Putten seitlich im unteren Bereich zeigen von links ein

Birett, das einem demütig knienden Putto aufgesetzt wird (wohl für Kleriker allgemein),

einen mit dem Abtsstab und einen mit einem Gürtel (cingulum) wohl für das Mönchstum.

Ob wie in Ottobeuren auf Mönchstugenden wie Demut, Gehorsam, Keuschheit und Armut

angespielt werden soll, ist fraglich.

Es folgt im Uhrzeigersinn wieder an der Pfeiler-Säulen-Wand der Altar der Benedikt-

Zwillingsschwester Scholastika mit ihrem Äbtissinnenstab in der Hand im verzückten Blick

nach oben, die Hände über der flammenden (?) Brust. Bei den begleitenden, erläuternden

vier Putten trägt der Linke kein Attribut (urspr. Buch?), der folgende nochmals ein Pedum

und rechts die beiden übrigen ein Buch (?), Skapulier (?), eine (Seelen-)Taube als ihr

Hauptkennzeichen und einen Totenschädel als Vanitaszeichen (?). Die Predella zeigt die

'Geiselung Christi' wieder von Martin Dreyer.

Weiter im Uhrzeigersinn auf der linken Seite folgen Altäre für die Familie Christi und

natürlich der Zeit Christi. Zur Wahrung des Gleichgewichts der Geschlechter steht der

Anna-Altar wieder an der Wand, wobei die Mutter Mariens ihre Tochter mit erhobenem

Zeigefinger in der Hl. Schrift unterweist. Die begleitenden Putten von links 'lesen,

'beherzigen', leiten und lassen sich 'belehren'. Das Predellenbild von Martin Dreyer zeigt

diesmal die 'Verspottung Christi'. Der wieder 'vorgezogene' mittlere 'Frauen'-Altar ist der

weiteren Hauptpatronin Maria gewidmet. Das ebenfalls von zwei Cherubim gehaltene

Altarbild von Januarius Zick (bez. u. dat. 1783) zeigt die bekannte 'Verkündigungsszene',

wobei der Erzengel Gabriel auch mit der Haltung und Grösse seiner linken Hand und dem

etwas lieblos nach unten gehaltenen Lilienstengel nicht ganz der üblichen Etikette

entsprochen haben dürfte. Die Rückseite von Martin Dreyer stellt die 'Geburt Christi' dar.

Die Putten darüber führen die Sternenkrone, ein Szepter (?) der Himmelskönigin mit sich,

während durch die unteren von links mit Nähen (?), demütiges Knien die dienende,

häusliche Frömmigkeit von Maria, und rechts die Verkündigung mit Lilie oder die Taufe

Christi kindhaft nachgespielt, -gestellt werden. Das Predellenbild von Martin Dreyer ist der

'Kreuzigung' gewidmet.

Auch in logisch-zeitlicher Folge schliesst sich wieder vor der Wand der 'Josefs-Altar an,

wobei der gelernte Zimmermann sein Adoptivkind auf dem Arm trägt. Diese stilistisch

kaum abweichende Figur soll - wie schon erwähnt - von dem Weissenhorner Bildhauer

Eustachius Haberes in Holz geschnitzt sein, während alle übrigen (zumindest Haupt-)

Figuren von Johann Schnegg in Gips geformt wurden. Die vier darunter befindlichen

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Putten führen von links einen Wickel mit einem Maßband (?), eine Zimmermannsaxt und

rechts einen Maßstab. Vielleicht ist das Attribut des vierten verloren gegangen. Das

Predellenbild von Martin Dreyer ist der 'Grablegung' gewidmet.

Die Kanzel und das Taufbeckengebilde

An den Wänden der Vierungspfeiler zum Langhaus oder Gemeinderaum hin sind wie in

allen hier behandelten Kirchen auf der rechten Seite (Epistelseite) die Kanzel und auf der

linken (Evangelienseite) ein Gegenstück angebracht. Am Kanzelkorpus halten Putten die

Gesetzestafeln des Alten Bundes. An der Rückwand hinter dem Prediger ist das

Trinitätszeichen zu erkennen. Auf der um 1778/79 zu datierenden Entwurfsskizze (1993,

S. 154/55, Nr. 64; Z 183) war hier noch Joh 10,9 vorgesehen: "ich bin die Tür; so jemand

durch mich eingehet, der wird selig werden, und wird ein und ausgehen und Weide

finden". Unter dem kreisrunden Schalldeckel schwebt die Geisttaube; auf ihm sind Vasen,

Posaunen (d. Gerichts?), Hostienkelch vor der aufgeschlagenen Bibel und ein Kreuz

(Neuer Bund) angebracht. Auf der geöffneten Doppelseite ist der Psalm 18 oder 19,8

wiedergegeben: "Das Gesetz / des Herrn / ist / untadelig / und zieht / die Seelen / an sich",

was noch weiter unten etwas interpretiert werden soll. In dem Entwurf vermerkte Zick nur:

"Eva / ngel / L / iA". In einem weiteren, leider mittlerweile verschollenen Aufriss (teilweise

Schnitt) von zwei Seiten liest Strasser (1994: S. 510, Z 184) die sicher nicht eigenhändige

Beschriftung: "(Ansicht) von der zu Wiblingen / (...) stimenden Predigt Kanzel". Sie dürfte

aber so zu entziffern sein: "Profil von der zu Wiblingen / existierenden Kanzel / Jan. Zick

inv. et del. ".

Gegenüberliegend auf einer annähernd kreisrunden, von Martin Dreyer relativ dunkel

marmorierten Holzkonstruktion mit einem tropfenartigen Anhängsel steht ein Zitat nach

Matth 28,19: "Gehet hin, Lehret alle Völker und taufet Sie im Namen des Vaters, und des

Sohnes, und des heiligen Geistes". Während in der in Koblenz aufbewahrten

Entwurfsskizze (1993, 154/55, Nr. 64) auch dann wie in Ottobeuren eine 'Taufe Christi' im

Naturambiente mit der Geisttaube und dem Auge Gottes umgeben von einer Wolke

darüber um 1778/79 (?) angedacht war und entsprechend Matth. 3,17: "Dies ist mein

lieber Sohn, an welchem ich wohlgefallen finde" angeschrieben ist, wurde in der

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Ausführung der erste Aspekt eine "Aussendung der (eigentlich nicht sehr kenntlichen)

Apostel durch den wiedererstandenen und in die Ferne (Zukunft) schauenden Christus

gewählt, der wohl Petrus segnet, dem er in Matth. 16,19 ja schon die nicht mehr

sichtbaren Schlüssel übergeben hatte. In diesem Zusammenhang sind auch die

"alabasterartig eingekleidet(en)" Statuen der Apostel der Balustrade von Fidelis Mock eher

nach den Rotundenaltären und vielleicht sogar nach der Jünger-Gruppe, aber vor August

1784 entstanden zu sehen. Wahrscheinlich hatte der Gläubige jener Tage auch noch den

bei Matth. 28,20 folgenden Schlusssatz parat: "Und lehret Sie halten alles, was ich euch

befohlen habe, und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende". Über der

Szene schwebt noch die Geisttaube in einem Wolkenkreis mit einigen Putten, in dem oder

hinter dem wohl noch der Himmel und Gott Vater zu denken ist. Während die

physiognomisch wenig differenzierten Gipsfiguren Johann Schnegg zugewiesen werden,

wird das übrige bis auf die Bemalung oder Marmorierung durch Martin Dreyer immer mit

Benedikt Sporer in Verbindung gebracht. Der Verfasser fragt sich bei diesen vorrangigen

Holzkonstruktionen welchen Anteil der Stukkator ausser bei vielen in Stuck ausgeführten

ornamentalen und imitierenden Teilen hatte. Wenn das Figürliche noch von dem 1784

verstorbenen Schnegg stammt, müsste es etwa 1783 entstanden sein. Es wird nicht ganz

klar, was Hauntinger meint, wenn er 1784 noch anstehende Auszierungsarbeiten

vermeldet. Der dazugehörige Taufstein ist ganz schlicht.

Die Altäre im Langhaus und in den Kapellen

Auf alle Fälle gehören die beiden an die Predigt-Missions-Gebilde anschliessenden,

volkstümlichen Altäre links des Allgemeinpatrons 'Schutzengel' und rechts des

Viehpatrons 'Wendelin' zu den spätesten Ausstattungsgegenständen und auch zu den

qualitativ schwächsten angefangen von den beiden von Martin Dreyer stammenden

Altarblättern bis zu den wohl abgegossenen Putten.

Die aus der alten Kirche 1781 (Braig, S. 209) herübergetragenen, 1681 mit grossem Stolz

erworbenen 'Hl. Leiber' einiger angeblich frühchristlicher Märtyrer (Benignus, Modestus,

Herkulanus, Bonifatius, Justus, Fortunatus und Felicianus) auch in wohl metallenen

Büsten ähnlichen Reliquiaren sollten in eine der Nebenkapellen aufgestellt werden, was

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aber nach Braig (S. 214) bis 1805 und sogar bis 1834 nicht geschehen sein soll. Ihr

Schicksal ist dem Verfasser unbekannt (im Museum ?). Die angeblich von Zick

entworfenen zahlreichen, aber weitgehend seriellen Beichtstühle sagen etwas über die

handwerklichen Fähigkeiten des Klosterschreiners Christian Unsöld und den im Vergleich

zu Dixnard in Buchau eher fast bis in die Renaissance zurückreichenden Geschmack des

Trierer Hofmalers aus. Ausser einigen weiteren Wanddenkmälern für Äbte und adelige

Stifter sind hoffentlich alle wirklichen Bedeutungsträger hier erfasst worden, bevor auf

Absichten, Ausdruck von Mentalitäten im folgenden eingegangen wird.

Die Fassade

Wenn der Besucher Wiblingens wieder den Kirchenraum verlässt oder sich dem Gebäude

nähert, fällt neben den einfachen Quergliederungen bei der Fassade trotz der gedrehten

Turmstümpfe die relativ strenge, fast romanische Gliederung mit flachen , ionisch

endenden Pilastern und den stockwerksähnlichen Quergliederungen auf. Dazu steht im

Kontrast der mit verwilderten korinthischen Pilastern und Säulen markierte Haupteingang.

Ein geschwungener Giebel mit einem ein- und angepassten Fenster, zwei aufgeklebten

Rocaille-Kartuschen markieren eine Geschmacksauffassung vor dem Auftreten von

Januarius Zick. Es ist also zu vermuten, dass dieser Teil vor 1778 durch einen bisher

unbekannten Steinmetz ausgeführt worden ist in Abwandlung des Specht-Aufrisses ohne

Figuren. Das Zentrum des Giebels mit den unschön nach oben zu Konsolen der darüber

liegenden Fensterrahmung gebogenen flachen Bändern markiert ein dem Hl-Kreuz-

Reliquiar nachempfundenes Gebilde mit zwei (künstlichen?) Rot-Marmor-Platten, wovon

eine die von einem vegetabilen 'Schein' umfasste Reliquie in Patriarchenform (nach Braig,

S. 212: nur das Konventswappen) zeigt, die andere Platte darunter mit folgender, in Gold

hinterlegter eingegrabener Schrift wohl mit dem Wiblinger Zentralmotto oder Gedanken:

"Wir / betten Dich an / CHRISTE JESU // und danken Dir / weil Du durch Dein Kreuz / die

Welt erlöst hast". Der Text ist dem Antiphon der franziskanischen Kreuzwegandacht bzw.

der Karfreitagsliturgie entnommen.

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Der Innenraum

Es dreht sich in Wiblingen eigentlich fast alles von vorne nach hinten bzw. von aussen

nach innen um das 'Heilige Kreuz'; nur 1681 versuchte man mit der Kopie der Einsiedler

Madonna und den 'Hl. Leibern' als frühen Glaubenszeugen das Programm etwas

auszuweiten. Das Benediktinische ist wohl im Chorbereich (Chorgestühl) noch stärker

ausgeprägt, im für die Laien zugänglichen Bereich aber nur noch gering. Die vier Altäre

der Rotunde an der Wand sind eher bürgerlich, christlich menschlich zu deuten und zu

werten: Lehre, Lernen am Anna-Altar; Lieben am Familien- und Josefsaltar; Helfen am

Martinsaltar; Glauben, Vertrauen am Scholastikaaltar und kommen den josephinischen

Vorstellungen von der 'Bruderschaft der tätigen Nächstenliebe' (un-) bewusst sehr nahe.

Die gegenüberliegenden Hauptaltäre alludieren wohl an irdisches (Zeugung, Geburt) und

ewiges Leben (Tod). Bei den Kanzel-Taufgebilden stehen Aufgaben und Pflichten von

Klerus und Laien im Vordergrund, auf dass man beim 'Jüngsten Gericht' wieder 'leibhaftig'

auferstehen darf. Ein Vergleich mit der entsprechenden, etwas später zumindest

ausgeführten Rotmarmor-Lösung (1788/89) in Neresheim ist vielleicht etwas

aufschlussreich. Dort finden sich ebenfalls die Gesetzestafeln des Alten Bundes aber an

der Spitze und am Korpus ein Stuckrelief, das den predigenden Petrus darstellen soll.

Grössere Unterschiede bietet das Taufgebilde: in Neresheim ist das Taufbecken optisch

und faktisch gut integriert und nur vier allerdings künstlerisch sehr schwache, etwas

bewegtere Figuren mit fast austauschbaren Visagen stehen um Christus quasi unter

einem Dach. In Wiblingen befinden sie sich unter freiem Himmel mit der Geisttaube und

der göttlichen Wolke, während in Neresheim sich (nur für den Gläubigen eigentlich

sichtbar) Gott Vater auf einer Wolkenunterlage menschenebenbildlich niedergelassen hat.

Hier stellt sich die Frage, ob Januarius Zick diese Lösung vorgeschlagen hat, oder ob eher

Abt, Prior und Konvent eine alttestamentliche oder aufgeklärte Zurückhaltung in der

Abbildung des nicht menschlich gewordenen, in Naturerscheinungen wie Feuer und

Wolken sich offenbarenden Gottes bevorzugt haben. Zumindest kann man diesen

Eindruck gewinnen. Zick hätte als Auftragskünstler sicher das jeweils Gewünschte

geliefert.

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Die Auftraggeber: Abt Roman Fehr und Prior Amandus Storr

Für die weitere Beurteilung des Wiblinger Komplexes kommt man jetzt an den Punkt, an

dem die Mentalitäten v.a. der Auftraggeber, der Künstler und des Publikums (Bevölkerung

und in gewisser Weise auch der Konvent) gefragt sind. Und die erste Frage geht an den

Hauptverantwortlichen den Abt Roman Fehr, wobei wir wieder auf den persönlichen

Zeitzeugen P. Michael Braig vorrangig angewiesen sind, der ihm gegenüber am

28.10.1795 die Profess abgelegt hatte. Nach Braig stammt der am 15.7.1728 von

Laupheim gebürtige Fehr aus einem edlen Geschlecht, das mit dem des kanonisierten

Kapuzinerpaters Fidels Roy von Sigmaringen verwandt gewesen sein soll. Fehr muss

einen 1740 geborenen, jüngeren Stiefbruder Adalbert Ignaz Hamm gehabt haben, der im

zu Wiblingen gehörigen Stetten bei Laupheim 1769-1797 Pfarrherr war; somit war die

Mutter des Abtes vor 1740 in zweiter Ehe verheiratet und sein leiblicher Vater relativ früh

verstorben. Wenn man das Wappen des Abtes Roman in der Kirche auch am Abtsstuhl

betrachtet, scheint es sich nicht um ein tradiertes Familienwappen zu handeln, sondern

um ein selbst zugelegtes und für sich selbst sprechendes: Eine Sonnenblume (Heliotrop)

vor blauem Himmelsgrund mit einer Sonne, was wohl auf Benedikt, dessen Vision und die

himmlische Nachfolge und unverbrüchliche Treue anspielen soll. Am Schieferepitaph von

Abt Roman in der Kirche trägt ein trauernder Putto die geknickte Sonnenblume. Das bei

Braig (S. 202) abgebildete, noch ganz rokokohafte Notariatssignet des späteren

apostolischen und kaiserlichen Notars und Benediktiners Roman Fehr, Profess abgelegt in

Wiblingen, zeigt in einer emblematischem Kartusche einen Rokokotisch mit Urkunden

über dem wie in der Benediktsvision die Sonne mit dem Trinitätszeichen und dem

providentiellen Auge Gottes steht. Auf einem Band darunter wird die kritische und

warnende Stelle bei Jeremias 8,6 zitiert: "Ich merke auf und höre". Zuvor hatte der

Halbwaise das schon öfters genannte Zwiefalter Konvikt in Ehingen besucht. Danach

wurde er Novize in Wiblingen, wo er den Namen Roman(us) eines in der Laurentius-

Katakombe (S. Lorenzo fuori le mure in Rom) bestatteten Märtyrers annahm und an

Martini (11.11.) 1746 die Profess ablegte. Danach scheint er in Innsbruck Theologie

studiert zu haben, bevor er am 23.7.1752 in Wiblingen die Priesterweihe empfing. Nach

Braig war er Seelsorger in Bihlafingen, Steinberg, Bronnen, Küchenmeister, Moderator

und Professor der Philosophie und Theologie im Kloster, bevor er "bestens verdienter

Hausökonom" (Pater cellerarius) von etwa 1764-68 war. Am 5.7.1768 wurde er zum Abt

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gewählt. Braig beschreibt ihn als von mittlerer, "besetzter" (also untersetzter?) Statur und

mit einem ernsthaften, aber lieblichen Gesicht, heller und durchdringender Stimme, die er

aber in den letzten Lebensjahren verloren hätte. Ausserdem wurde er nach Braig im Alter

auch noch von epileptischen Anfällen geplagt. Es gibt von Roman Fehr zwei bekannte

Porträts. Auf dem wohl um 1770 zu datierenden, von Braig 1824 gestifteten Gemälde

unbekannter Hand mit der Widmung: "Wahre Abbildung des Hochw(ürdigen),

Hochgeb(orenen) Gnaedigen / Hrn.Hrn. Roman Fehr / vorletzten Praelaten in Wiblingen

und Erbauer des Tempels / als Denkmal der Liebe und Dankbarkeit hieher gesetzt von /

seinem letzten Profess Sohne / P. Michael Braig / d(er) Z(eit) Pfarrer in Iller- / rieden

1824", das ihn noch relativ jugendlich zeigt, während der Schattenriss im Chor der

Wiblinger Klosterkirche um 1779/80 einen eher fülligen, gemütlichen, aber auch

tatkräftigen Mann suggeriert, wenn man einmal auf Lavaters Spuren wandeln darf. Herzog

Carl Eugen von Württemberg schreibt nach seinem Besuch in Wiblingen vom 17.12.1786

in sein Tagebuch (hg v. Robert Uhland, Stuttgart 1968), dass "Der Prelat mag in guter

Mann sein, aber ist ohne Talente und Gelehrsamkeit. Auch das Übrige des Klosters (wohl

der Konvent) will gar nichts bedeuten", dementsprechend hatte es keine bedeutenden

Köpfe. Braig (S. 204) meint dagegen, dass unter Abt Roman Wiblingen "eine wahre

Schule der Tugend und Wissenschaften (v.a. Disputationen)" gewesen sei und erwähnt

(S. 224-25) noch weitere Bautätigkeiten (Bihlafingen, Langhaus 1784; Armenhaus

Wittmers 1785; Ausmalung Kapelle Unterweiler 1786; Schulhaus Unterweiler und Stetten,

beide 1786; Steinberg, Dorndorf neues Schulhaus 1787; und weitere zahlreiche kleinere

Bauten und Veränderungen). Abt Roman dürfte der Initiator des Baus der Klosterkirche

gewesen sein, den der alte Ökonom Sebastian Molitor bekanntermassen kontrollierte,

aber nicht der eigentliche Bestimmer oder Ideengeber der inneren Gestaltung. Dieser

dürfte in Prior Amandus Storr zu suchen sein, der von Carl Eugen als "ein Mann der

Gelehrsamkeit" und "ganz gesittet" nach einem Vortrag über den Nutzen der alten Drucke

eingeschätzt wurde, und wohl die anschliessende Führung in der "neu erbauten... gross

und schön(en) " Kirche übernommen hatte, wie auch zweimal am 5. u. 6. September 1807

beim Neffen, König Friedrich, als dem neuen Herrn, der sich (nach M. Oberländer:

Wiblingen 2006, S. 528) alles ausführlich über Architekt, Künstler und über "gewisse mehr

bedeutende Gegenstände" (also die 'Gedankhen') von Storr erklären liess und sich

begeistert geäussert haben soll: "superbe eglise, tres belle eglise".

Auch der letzte Prior Gregor Ziegler spendet Storr ausdrückliches Lob (vgl. August

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Lindner, Die Schriftsteller und die um die Wissenschaft und Kunst verdienten Mitglieder

des Benedictiner-Ordens im heutigen Königreich Württemberg vom Jahre 1750 bis zu

ihrem Aussterben, in: Studien und Mittheilungen aus dem Benedictiner- und dem

Cistercienser-Orden V (1884), Heft 1, 113-115), als "Vir prorsus incomparabilis, disciplinae

regularis, verum oraculum, eruditionis vastissimae, laboris infracti amator fratrum et

scriptor ultra quem credi potest copiosus. Prioris munere Amandus iste, XXV annis

functus, chorum diu noctuque frequentavit diligentissime, Artis architectoniae satis peritus

plurimum contulit ad augustam templi Wiblingensis recens erecti struem nec non ad

augendam fratrum culturam", auf Deutsch in etwa: 'Ein geradezu unvergleichlicher Mann,

ein wahre Weissagung der Klosterdisziplin, von breitester, umfassendster Bildung und

ununterbrochener Schaffenskraft, den (seinen) Klosterbrüdern zugetan und ein

unglaublicher Vielschreiber. Dieser Amandus hat 25 (fast 24) Jahre das Amt des Priors

ausgeübt, auf das sorgsamste Tag und Nacht das Chorgebet besucht. In der Baukunst

sehr erfahren hat er sehr viel zum erhabenen Gebilde der jüngst errichteten Wiblinger

(Kloster-)Kirche beigetragen und nicht zuletzt zur Vermehrung der Bildung seiner Brüder".

In Martina Oberländers Buch über Wiblingen von 2006 lesen wir z.B. auf S. 331, dass der

1743 in Ulm geborene Storr ein reger, für alles aufgeschlossener Mann gewesen sei, der

nach der Schule im Wengenkloster Theologie, Geschichte und Naturwissenschaften und

in Dillingen und Ingolstadt Philosophie und Theologie aber auch Rechtswissenschaft und

Mathematik studierte, und dass er im Kloster Kirchenrecht, Kirchengeschichte und

Hermeneutik gelehrt und Disputationen veranstaltet habe. Sein sprechendes Wappen

('Storren'= Baumstumpf; vgl. das ähnliche Wappen des Malers Johann Christoph Storer)

verrät die Herkunft und Zugehörigkeit zu einem besseren Haus (Vater: höherer Beamter

des Deutschordens in Ulm; Geschwister: Klosterangehörige und Arzt). Braig berichtet von

seinem ehemaligen Vorgesetzten (S. 241), dass Storr an Martini 1761 die Profess

abgelegt hätte, am 20. September 1766 zum Priester geweiht worden wäre und

anschliessend für Philosophie, Theologie, Kirchenrecht und bürgerliches Recht und für

Numismatik und Heraldik als Professor und Bibliothekar zuständig war. Am 18. Oktober

1776 wurde er von Abt Roman zum Prior ernannt, und vom letzten Abt Ulrich am

26.10.1799 ohne Begründung (vermutlich Alter und allgemeines Revirement) als Pfarrer

nach Unterkirchberg versetzt, wo er weiter als Hauschronograph und Altertumsforscher,

aber auch Schöpfer einer Gartenanlage, eines 'Hohenheim en miniature', Bienenzüchter,

Metereologe u.ä. rastlos tätig war. Das Datum 1776 lässt aufhorchen. Abt Roman suchte

nach einem fähigen jungen Mann an seiner Seite, der den Innenausbau in die richtigen, in

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neuere Bahnen lenken sollte, oder Storr drängte sich geradezu auf. Leider wissen wir

bislang nicht, was Storr ausser der Mathematik (und wohl auch der Geometrie und

Perspektive?) an Kenntnis im Bereich der Architektur besass. Erst mit Storr dürfte der

Geschmackswandel und auch die verzögerte Entscheidung bei dem Christian-Modell für

das Chorgestühl erfolgt sein. Wie man dann auf Januarius Zick kam, wird dadurch aber

nicht wirklich durchsichtiger. Alles bisher gesagte über die Programmatik v.a die

historische Ausrichtung wird aber durch Storr verständlicher. Auch durch die

Hinterlassenschaft eines Bandes von 42 Plänen und Rissen (jetzt im Universitätsbauamt

Ulm) über Michael Braig deutet auf den grossen Anteil Storrs im Bau- bzw.

Ausstattungsgeschehen.

Ganz deutlich wird das Zusammenspiel bei den Medaillons, wo der Numismatiker Storr

und der von Lavater 'heimgesuchte' Ehrenbreitsteiner Maler Zick sich zusammengefunden

haben zu einer Art 'imago clipeata' als Silhouette, wie sie im bürgerlichen Umfeld aber

auch bei Braig weiterhin bis ins 19. Jahrhundert vorphotographisch-antikisierend gepflegt

wurde. Der oft sehr fortschrittliche, moderne Storr war nach Oberdörfer (S. 44) aber auch

"Praeses des Seelenbundes des Hl. Kreuzes", einer Art Bruderschaft, und bis zu seinem

Lebensende 1818 ein grosser - auch liturgisch-literarisch - Förderer der

Reliquienverehrung. Man kann wohl kaum fehlgehen, in dem nur partiell aufklärerischen

Storr den spiritus rector der Wiblinger Ausstattung zu sehen sicher im Einklang mit dem

Abt und der schweigenden Mehrheit im Konvent. Ob Storr von Anfang an den modernen

antiken Geschmack im Sinne hatte, ist nicht bekannt. Dass dieser Wandel aber

angekommen war, bezeugt auch der Brief des schon erwähnten Pfarrers Adalbert Ignaz

Hamm (1740-1797), Stiefbruder des Abtes Roman, an letzteren vom 19.8.1787 bei der

Renovierung der Kirche von Stetten bei Laupheim "anstössige Bilder" und die

überflüssigen "Nebenzierungen" an den Altären angelegentlich zu entfernen. Die von dem

nach der Renaissance erneuten und stärker nachahmend-historisierenden Rückgriff auf

die Antike und damit auch auf Vorchristliches ausgehende Gefahr dürfte den

entscheidenden Akteuren in Wiblingen damals nicht so bewusst gewesen sein. Man

wähnte sich wohl in einem das jüdisch-hellenistisch-römisch-christlichen,

heilsgeschichtlichen Kontinuum und auf der Höhe der Zeit.

Der Einfluss und die Einstellung von Januarius Zick

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Die sich anschliessende Frage ist, was und wie sich Januarius Zick in Wiblingen

eingebracht hat. Er wird die klassizistische Formensprache wie Lorbeergehänge und

andere Festons, Lambrequins, Kassetten, Rosetten, dorisches Kyma, Vasen und

irgendwelche, noch genauer zu bestimmende Vorlagen nach Delafosse, Neufforge u.a.

unter Eindruck der zeitgenössischen Antiken-Ausgrabungen vorgestellt haben. Auf die

Inhalte und ihre Anordnung dürfte er nur in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht Einfluss

gehabt haben. Auch die Reise Storrs mit Zick deutet darauf hin, das Storr selbst schon

gewisse Vorstellungen und Wünsche gehabt haben dürfte. Wenn wie in Triefenstein,

Pfarrkirche bei der 'Bekehrung des Saulus zum Paulus' oder bei der 'Marienaufnahme'

wieder eine Darstellung Gottes oder des geöffneten Himmels statt nur einer quasi

natürlichen Licht- und Wolkenerscheinung vom Auftraggeber gewünscht gewesen wäre,

hätte Zick sie sicher dementsprechend geliefert. Zicks Hang zum Genrehaften, Natürlich-

Realistischen - eine Art Verismus – liess veständlicherweise auch die ausser-über-

irdischen Erscheinungen zurückdrängen. Über Zicks eigene religiöse Vorstellungen gibt es

keine vom damals Üblichen abweichende Anhaltspunkte. Ob er bis ca. 1744 oder 1745

beim Eintritt in die Maurerlehre bei Jakob Emele noch in Freising oder München die

Lateinschule absolvierte, wissen wir ebenfalls nicht. Die Schreibweise z.B. "Bibliteg" für

Bibliothek lässt eine grössere formale Bildung eher fraglich erscheinen. Während seines

Parisaufenthaltes (1756/57) kam er auf jeden Fall mit Johann Georg Wille in Kontakt,

fraglich ob auch zu den dort verkehrenden Enzyklopädisten. Der Aller-Welts-Mensch Wille

war auch mit Denis Diderot befreundet, vgl. Hein-Thomas Schulze-Altcappenberg: "Le

Voltaire de l'Art" - Johann Georg Wille (1715-1808) und seine Schule in Paris, Münster

1987, S.26. Derselbe Autor sagt (S. 20) auch noch, dass für Wille Religiosität nach aussen

keine Bedeutung gehabt hätte. Ein immer wieder angeführter Aufenthalt Zicks im Zentrum

des Katholizismus in Rom ist abzulehnen, da er im Gegensatz zu Knoller oder Brugger

eigentlich nichts Römisches aus erster Hand in seinen Bildern verrät. Über Lavater, den

vom Prior des benachbarten Elchingen, Meinrad Widmann, scharf angegangenen

Pädagogen Basedow, Goethe oder Zicks Freund und Mitschüler bei Wille, Johann Georg

Mechel hörte er wohl von dem in Berlin lebenden Schweizer Ästhetiker Johann Georg

Sulzer. Aus dem eher lutherisch-calvinistischen Umfeld (z.B. Frankfurt a. M oder gar

Berlin) kamen wohl die Anregungen (oder Aufträge) für den die 'Preisaufgabe von Dijon

lösenden Rousseau' oder die beiden früher fälschlich als Newton-Allegorien angesehenen,

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aber dem Sulzer-Umkreis als 'Triumph der Einbildungs- und der Verstandeskraft'

zuzurechnenden Pendants im Landesmuseum von Hannover (G 388-89) ohne Zick damit

in eine bestimmte weltanschauliche Schublade stecken zu können. Ein weiterer

aufklärerischer, zumindest religions-kirchenkritischer Einfluss könnte von dem

Ehrenbreitsteiner Mitbewohner und bis 1781 hohen Trierer Hofbeamten Michael Frank von

La Roche und seiner ursprünglich protestantischen Ehefrau, bekannten Schriftstellerin und

Exfreundin Wielands, Sophie von La Roche, ausgegangen sein. Auf alle Fälle ist

Januarius Zick einer der wenigen west- oder süddeutschen Kirchenmaler des 18.

Jahrhunderts, die faktisch (u. potentiell) einem nicht nur katholisch-aufgeklärten Umfeld

ausgesetzt waren. Man kann aber nirgendwo feststellen, dass er sich jenseits der

Strömungen innerhalb der katholischen Kirche seiner Zeit gestellt hätte. Bei Hauntinger

1784 (1964,S.136) heisst es z.B. zu dem Zick-Mitarbeiter Martin Dreyer ganz anders als

später bei Braig, dass "diese Basrelief ... lauter Werke eines dasigen Laienbruders (seien),

der das meiste beim neuen Kirchenbau besorgt hat, von dem man aber gleichwohl wegen

seines schlechten Betragens (Kritik?, Aufmüpfigkeit?) wünschte, daß er nie Wiblingen

gesehen hätte. Er war mit einem anderen Bruder (?, wohl nicht Joseph Nickel?), welcher

vor einiger Zeit sich wegbegeben hatte, sehr gut einverstanden, und dies ist die Ursache,

warum seine Gegenwart dem Kloster beschwerlich fällt".

Wofür Zick verantwortlich gemacht werden kann, ist die Innengestaltung, die nicht dem

strengen rechteckigen französischen Geschmack einer Pierre Michel Dixnard verpflichtet

ist, sondern mit gerundeten Ecken Flachbogen, kreisrunden oder querovalen Oculi oder

quadri riportati, was das Vertikale-Horizontale von Säulen, Pfeilern und Gesimsen mildert,

und wenigen ganz antikisierenden Giebelformen aufwartet. Hinzu kommt der Weiss-

Ocker-Gold-Grundklang mit den Farb- und Dunkelakzenten der Fresken, Tafelbilder und

weiterer Ausstattungsgegenstände. Ebenfalls aus der Anmutung heraus wirken das

Kreisen der Deckenbildrahmen und der etwas lineare Rhythmus der Kassettenfelder der

Gurtbögen und der Balustrade. All dies in Zusammenhang mit der Lichtheit des Raumes

lässt sich diese 'antike, griechische Art' nur als äusserliche oder oberflächliche

Hinwendung zum Vorbild Antike und kaum als Ausdruck einer radikal neuen Gesinnung

deuten, was sich auch in Zicks fehlender physiognomischer Klassizität seiner Figuren

zeigt.

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Eine Wiblinger Spezialität: Schattenrisse zwischen Personenkult und Physiognomie

Wirklich neu und in Wiblingen fast einzigartig und eigentümlich ist die schon

angesprochene, aus der numismatischen Passion des Priors sicher entwachsene

Ehrenmedaille mit Lobeshymne für (nicht von wie z.B. in "Wiblingen - Kloster und

Museum", Stuttgart 2006, S. 13 von Raimund Waibel zu lesen) den Trierer Hofmaler.

Während von Knoller in Neresheim der Spruch: "Hier kann, hier muss ich mir Ehre

machen" überliefert ist und er separat im 'Carmen epicum' gepriesen wird, widmeten der

dankbare Prior, Abt und Konvent Zick diese lateinische und dem 'Pöbel' nicht

verständliche Eloge als Signaturersatz wohl gegen Ende des Freskierens (unter

Mitwirkung Dreyers?): "VIRO IN / CLVTO. IANVARIO. / ZICK. CONFLVENTINO /

PICTORI. ET. ARCHI / TECTO. OB. REGVLAREM. / TEMPLI. HVIVS. INTER / NVM.

DECOREM / MDCCLXXX". also: 'dem <laut>bekannten Manne Januarius Zick, Maler und

Architekt von Koblenz, wegen der inneren Zier dieses Tempels nach den (allen) Regeln

(der Kunst)'. Ob der vermutliche Verfasser Prior Amandus Storr damit speziell die

moderne klassizistische Art der Ausstattung oder allgemein die gelungene, einheitliche,

passende Ausgestaltung gemeint hatte, lässt sich nicht eindeutig klären. Auf alle Fälle ist

die Formulierung ein Beweis für die sinnliche, ästhetische, geschmackliche Bedeutung

und Einschätzung eines Kirchenbaus in seiner und konsequenterweise für unsere Zeit.

Eine Vereinfachung, Purifizierung war natürlich weniger dem strenggenommen nur für die

landsässigen bayerischen Klöstern gültigen Mandat des wittelsbachischen Kurfürsten von

1770 oder einer ähnlichen habsburgischen Verlautbarung geschuldet als auch den

knappen finanziellen Ressourcen des Klosters. Was Storr bei seiner Widmung vermeidet,

ist das um 1780 fast zur Seuche gewordene Wort Genie (vgl. Graf von Werthern: "Über

das Genie als eine Seuche unserer Tage"). Man vergleiche z.B. die Widmung des

freimaurerischen Wiener Bildhauers Franz Zauner an den 'Genius' seines verstorbenen

'Bruders' und josephinischen Kirchenkritikers und Naturwissenschaftlers Ignaz Born. Die

hohe (und berechtigte) Selbsteinschätzung Zicks als "Inventor" und nicht als Kopist hätte

dazu gepasst. Das 'Genie' steht eher ausserhalb der 'Regeln', gibt sich selbst die Regeln

und ist eher gefährlich und problematisch einzustufen v.a. für ein schwäbisches

landsässiges Klosters in der Provinz. Und trotzdem huldigte man in Wiblingen irgendwie

doch dem Personenkult nicht durch mehr oder weniger ersichtliche Kryptoporträts sondern

in der optisch ungemein auffälligen, entkörperlichten Schattenrissgestalt und nicht in dem

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goldenen (Schein-)Reliefbildnis der Münze oder Medaille. Der Schattenriss 'transportiert'

einiges wie: das Alte, Antike, Griechische, Erfindung der Zeichnung, der Vasenmalerei,

aber auch das Billige, Surrogathafte, Bürgerliche (Vorbiedermeier) und Dilettantische, aber

auch das Optisch-Technische und das Psychologisch-Empfindsame. Man ist gleich an die

'Physiognomischen Fragmente zur Menschenliebe und besseren Menschenerkenntnis '

des Züricher evangelischen Pfarrers Johann Caspar Lavater erinnert. Und siehe da: beim

Aufschlagen des 1778 (!) in Leipzig und Winterthur erschienenen vierten Bandes kommt

dem Betrachter auf den ersten Seiten diese Art des Schattenrisses (z.B. 'Joseph II') doch

sehr bekannt vor. Man darf wohl sagen, dass sich Storr (ob auf Empfehlung von Januarius

Zick?) für eine solche Vorlage mit der Öse und dem Band für Wiblingen ausgesprochen

hat und sie von Zick oder eher einem Gehilfen wie dem Malerbruder Martin Dreyer hat

ausführen lassen. Man nehme zum Beweis dessen Arbeiten in Bihlafingen, wo er sich

doch einmal als passabler Maler von 'stucco finto' erweist. Während in Wiblingen Putten

z.T. mit Maßstab und Stechzirkel das Halsband der Ehrenmedaille primär für den

Architekten Zick halten, sind die mit Ehrengirlanden geschmückten Medaillons für die

Wiblinger 'Steuerungsgruppe' eher als nicht fest angebrachte Ehrentafeln gegeben.

Ob das Kloster, Storr oder Zick Lavaters bekannteste Schrift, für die viele deutsche

Künstler wie Tibri Wocher u.a. die Kupferstichvorlagen lieferten, besessen hat, und ob sie

auch inhaltlich mit ihrer philanthropisch-pädagogischen und psychologisierenden Tendenz

('Erfahrungsseelenkunde') übereingestimmt haben, ist nicht bekannt, aber es spiegelt den

'common sense', die damalige aktuelle Strömung wieder.

Wiblingen zwischen Aufklärung, Reliquienkult und Ketzerprozess

So sehr dies für ein Auf-der-Höhe-der-Zeit-Sein deutet, so schwer fällt auf die Wiblinger

Herrschaftspitze doch ein Schatten, nicht in dem Lichte des Raumes sichtbar, aber in dem

der Toleranz und Menschlichkeit: die bekannte Affaire Joseph Nickel von 1776. Dieser

ehemalige Wiblinger Klosterzögling sattelte von der Theologie auf Jura um und studierte

u.a. auch im progressiven Freiburg und sogar an der evangelischen Universität Tübingen.

In einem Söflinger Wirtshaus liess er sich angeblich gegen den Exjesuiten, Exorzisten und

Wunderheiler Johann Joseph Gassner (1727-1779), den übrigens Lavater 1778 in

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Augsburg besuchte, über die Mutter Gottes und den Hl. Joseph despektierlich aus. Ähnlich

wie das von Nickel bewunderte 'Originalgenie' Christian Daniel Schubart auf

württembergischen Boden wurde der absolvierte Jurist auf Wiblinger Gebiet vom

Klosteroberamtmann auf Befehl des Prälaten verhaftet und wegen Gotteslästerung, nicht

nachgewiesenem Diebstahl und Religionsfrevel in einem ohne Gutachten unfairen

Prozess sogar zum Tode verurteilt und öffentlich zur Schaulustbefriedigung und zur

Abschreckung wie der Apostel Paulus mit dem Schwert (als civis academicus?)

hingerichtet, nachdem man sich nun schon einmal die Hochgerichtsbarkeit mit dem

Zeichen des Schwertes im Wappen von den Grafen Fugger von Kirchberg erkauft hatte.

Das Verbrennen und Verstreuen der Asche in der Iller beugte auch einer möglichen

unerwünschten Reliquienverehrung vor. Zusammen mit dem letzten Hexenprozess in

Kempten (1775) und Glarus (1782) ist dies dem Verfasser einzig bekannte Todesurteil,

das von einem klösterlichen Gericht nach 1770 ausgesprochen und anders als in Kempten

gnadenlos am 1.7.1776 vollstreckt wurde. Schubart sprach oder schrieb auch

dementsprechend von "Bluthunde(n)" (vgl. Oberdörfer 2006, S. 224-227, v.a. 207). Mit

diesem wissenden Augen muss man die ganzen Kreuz- und Märtyrergeschichten und

sonstiges in Wiblingen zumindest heute auch lesen und betrachten. Man versprach dem

'Pöbel' , der willigen Herde das Heil und drohte dem Ketzer, Häretiker, Agnostiker oder gar

Gottlosen mit der Todes- und ewigen Höllenstrafe spätestens bei der 'Wiederkehr des

Kreuzes' und des Gekreuzigten. Auch wenn Wiblingen keinen offenen 'wahren'

(Anti-)Aufklärer wie den schon erwähnten Elchinger Prior Meinrad Widmann in seinen

Reihen hatte, der die Frage "Wer sind die Aufklärer - nach dem ganzen Alphabet"

beantworten konnte, und mit dem übrigens Zick in Elchingen (dort künstlerisch viel

genrehaft-bürgerlicher) zu tun hatte, so muss man doch konstatieren, dass Wiblingen und

auch Prior Storr trotz aufgeklärtem Anschein und Anzeichen 'hölzern und knöchern' an der

selbst von Kardinal Garampi bei seinem Wiblingen-Besuch 1763 bezweifelten Authentizität

und dem Kult der Reliquie bis zum bitteren Ende und darüber hinaus festhielten. Das Hl-

Kreuz gehörte auch lukrativ zur 'corporate identity' Wiblingens und bediente die

hoffnungsvollen und angstererfüllten Erwartungen des 'Pöbels', wogegen das

Erzieherische und Ordensmässig-Benediktinische nur eine Nebenrolle spielte. Vor dem

Hintergrund der josephinischen Reformen wie Toleranz, Reduktion der Feiertage, des

Wallfahrtswesens und der nicht produktiven Klöster in einem Gebiet wie Wiblingen mit

nicht voller (kirchen-)politischer und kultureller Hoheit ist die Haltung des nach Braig sich

mit Zucht, Tugend und Wissenschaft (zumindest äusserlich mit einem interessanten

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Bibliotheks- und Schultrakt) auszeichnenden Klosters eher als konservativ und vielleicht

sogar als reaktionär einzustufen.

Ein weiterer, ikonographisch-ikonologischer und ins Religiös-Mentalitäts-

Geistesgeschichtliche reichender - oder besser verlockender - , von Wolfgang Urban

öfters angesprochener Punkt ist die als fortschrittlich anzusehende Vermeidung eines

geöffneten Himmels bis auf die unumgänglichen Aufnahmen und Visionen von Maria,

Benedikt und Maria Magdalena zugunsten von alttestamentlich und muslimisch gedachten

natürlichen Erscheinungen wie Licht, Wolken und 'Luftbeherrscher' wie die Taube. Wenn

man die (heilsgeschichtliche) Entelechie der ganzen Kreuzesgeschichte sich klar macht,

wäre es fehl am Platze bei Storr und Co. deistische oder pan(allenfalls -en-)theistische

Vorstellungen annehmen zu wollen. Die Wunder-Geschichten bezeugen schon zu genüge

das Wirken Gottes und die quasi historischen Quellen erzählen dabei nichts von einer

'leibhaftigen' Erscheinung v.a. Gott Vaters. Durch die Vermengung von Wunder und

Historie wird auch Bauers Kategorisierung in Akt und in Vision, Wunder hier in Wiblingen

fragwürdig und unbrauchbar. Ähnliches gilt für Bruno Busharts Unterscheidung in:

Deutsche Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, 2. Teil, S. 23 von

Historienbild und Erlebnisbild.

Das 'Ende der Welt' in der 'Wies' und in Wiblingen

Für das letzte, auch problematischste und widersprüchlichste Deckenbild der 'Parusie'

bietet sich ein Vergleich mit dem früheren, 1753/54 zu datierenden Fresko von Johann

Baptist Zimmermann in der zu Kloster Steingaden gehörenden 'Wies'-Kirche an, das das

Kunsthistorikerpaar Hermann und Anna Bauer quasi paradigmatisch in dem von beiden

1985 verantworteten Band: "Johann Baptist und Dominikus Zimmermann - Entstehung

und Vollendung des bayrischen Rokoko", Regensburg 1985, S. 242-246 in der

Bauerschen Einstellung gesehen und gedeutet haben. Anders als in Wiblingen steht auf

einer Rocailleübergangszone gegen Osten eine Portalarchitektur mit dem sich in den

Schwanz beissenden Schlangen-Ewigkeitssymbol und einem überwundenen Gott der Zeit

auf den Stufen, am Boden liegend vor einer (noch) geschlossenen Tür, während auf dem

gegenüberliegenden Ende eine Thronarchitektur mit einem enthüllten Thronsitz auf den

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wiederkehrenden Weltenrichter wartet. Dadurch, dass etwas verkleinert, also (noch) in

einer gewissen zeitlichen und räumlichen Ferne Christus auf einem grossen Regenbogen

als Friedenssymbol (Neuer Bund) sitzt inmitten eines geöffneten Himmels und den

Engelsheerscharen, Posaunenengeln, Aposteln u.ä. und darüber in einem Lichtzentrum

asymmetrisch und exzentrisch das Kreuz schwebend getragen wird, werde das alte

Glorienthema entwertet, distanziert und sei nur noch attributiv. Der Himmel sei aber kein

Himmel über einer Landschaft wie z.B. in Steinhausen, sondern doch noch die barock-

illusionistische Himmelsöffnung. Durch die eigentlich vermittelnde Ornamentzone (man

vergleiche die Zickschen Goldrahmen) entstünde jedoch eine Distanzierung. Es würde das

Deckenbild nicht in den Realraum (also quasi di su in sotto) herabkommen, sondern der

Realraum würde in einen Kunstraum (des-) illusioniert. Die 'mikromegalische' (vgl. Bauer

1962, S. 62/63), auch durch die acht Seligkeiten nach Math 5, 3-10 erzählerisch und

semantisch aufgeladene 'kritische' Rocaille-Ornament-Übergangszone würde zwischen

Bild und Architektur changieren. Der Realismus der Architekturen im Fresko gegenüber

der lichten unwirklichen Realarchitektur würde quasi eine Umwertung der (aller) Werte

erzeugen. All dies seien Charakteristiken des Rokoko, die im Spiel mit den Realitäten den

inneren Bruch des Rokoko durch Skepsis und Ironie verraten würden. Ausserdem sieht

das Autorenpaar Bauer in der 'Wies' die vielleicht nicht völkische aber doch volksnahe

Kirchenarchitektur mit der höfischen Ornamentkunst gepaart. Dass in der 'Wies' ein

gegenüber Wiblingen variiertes, ebenso stringentes Programm vom Leiden, Opfer und

Erlösung zur Anschauung kommt, ist offensichtlich. Was aber das Autorenduo in seiner

kategorialen, systembildenden, voreingestellten Art von Rationalität nicht merken, ist, dass

es dem Auftraggeber, Künstler (und auch Betrachter) darum ging und geht, einen sinnlich

erfahrbaren, ekstatischen, transzendierenden Einheitsraum oder Raumeinheit 'intuitiv' zu

generieren, in der sich das kommende Weltende und der 'Ewige Friede' schon etwas

voraussehen lässt; dass man sich in die 'heile Traum-Welt' schon beruhigt hineinversetzt

fühlt oder hineinversetzen kann. Das sieht in Wiblingen doch etwas anders aus: die acht

Seligpreisungen finden sich z.T. an den Beichtstühlen, aber das Deckenbild erinnert eher

an die vier Wehklagen des Lukas 6, 25-27, auch wenn in der zentralen Schriftrolle das

folgende Wehklagen der Völker ausgespart ist. Statt der Seligpreisungen der

Rocailleumrahmung in der 'Wies' halten in der Rahmenzone in Wiblingen gemalte Putten

Bibelstellen gegen die Feinde der Verehrung des Kreuzes. Der auferstandene Christus mit

blutrotem Gewand und dem bewimpelten Kreuzstab fährt herunter vom Himmel auf den

Thron des 'Jüngsten Gerichts', während unten für die Welt und die Menschheit die letzten

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Tage bzw. die Endzeit schon angebrochen ist. Wie gnädig Christus urteilen wird, ist

ungewiss. Der versöhnliche Regenbogen fehlt. Die untere Gräberpartie zeigt eigentlich

noch das barocke 'Schröckende'. Axial aber ebenfalls aus dem Zentrum versetzt schwebt

selbständig das 'Kreuz' im verklärenden Licht und in Untersicht also mit Bezug zum

Betrachter. Alois Harbeck sieht mit seinem Focus natürlich die perspektivischen,

konstruktiven Brüche z.B. den frontalansichtigen oder aufrissartigen, weissen Sitz

gegenüber dem vorher Geschilderten. Er erkennt wohl den dynamischen

Perspektivewechsel, erklärt sich in Sedlmayrs-Richtung aber letztlich Zicks trotzdem noch

barocke Malerei (S. 197) als Entsprechung zu dem Nachlassen der religiösen

Glaubensinbrunst (S. 195; aber weniger im Volk als in den gebildeten Schichten unter

Joseph II und vor der katholischen Reaktion unter Franz II). Wenn man v.a. in

Dürrenwaldstetten immer wiederkehrende, eigentlich kaum Sinn machende

perspektivische Brüche (oder Unsicherheit, Fehler) sieht, ist man versucht auch einen

Gehilfen Zicks (Anton Boog?) verantwortlich zu machen, bevor man im Sinne von Bauer

diese als Ausdruck einer religiösen Verunsicherung, Distanzierung, o.ä. deutet.

Nach Meinung des Verfassers muss man aus dem Vorangegangenen dieses letzte Bild

zumindest von Storr her als Abwehr gegen die 'aufgeklärten' Kreuzesverächter und als

Strafandrohung für die Rückkehr zum richtigen Glauben und zur Kreuzesverehrung sehen.

Wie schon vermerkt sollte der vorliegende Versuch über Wiblingen noch einmal durch ein

neues intensives Studium der Archivalien ergänzt und korrigiert werden.

Irsee

Wenn man die kaum eine unmittelbare Resonanz hervorrufende Stiftskirche der

Benediktiner-Fürstabtei Kempten mit ihrem komplexen Programm an Stiftern,

Benediktinern und weiteren Figuren im Gotteslob als Vorläufer einer neuen (v.a.

malerischen) Ausstattung und das Augustiner-Chorherren-Reichsstift Wettenhausen nach

dem 30jährigen Krieg ausser Acht lässt, findet sich im östlichen Schwaben erst wieder um

1700 ein vergleichbar anspruchsvoll anmutendes Konzept in der Kirche des

Benediktinerklosters Irsee, das Hermann Bauer auch in seinem postumen Buch von 2000

leider nicht einmal am Rande erwähnt, obwohl seine bekannten Leitbegriffe wie

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historische Perspektive, Ordensgeschichtliches, Selbstreferenzialität und

(Ab-)Bildhaftigkeit und natürlich die Rhetorizität auch hier schon auf die Probe gestellt

werden können.

Die meisten Irseer Klosterakten v.a. die Rechnungen scheinen verloren gegangen zu sein,

sodass die nicht sehr umfängliche Literatur nach Tilman Breuer und Adolf Layer mit der

Festschrift von 1981 (hg. von Hans Frei mit Beiträgen von Walter Pöltzl, Gabriele

Dischinger, Eva Christina Vollmer) und Karl Pörnbacher (Kloster Irsee, Weissenhorn 1999)

sich auf die Klosterchronik von P. Placidus Emer und die eigenen Eindrücke stützen

musste.

Das Kloster, seine neue Kirche und ihre Ausstattung

Das relativ kleine Kloster mit einem Konvent von max. 20 Mitgliedern (einschliesslich

Novizen und Fratres) verfügte nur über wenig Grundbesitz (ca. 15 km²), Untertanen (ca.

4800) und geringe Einkünfte von ca. 50 000 fl. zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Im Jahre

1682 feierte Irsee sein 500. Gründungsjubiläum. 1692 erkaufte man sich die letzten

Hoheitsrechte wie den Blutbann oder die Hochgerichtsbarkeit von der Fürstabtei Kempten

zurück und erwarb sich somit die volle Reichsunmittelbarkeit. Nach dem 'grossen Krieg'

hatte sich Irsee wie Wiblingen und andere Klöster neue Reliquien aus den römischen

Katakomben wie angeblich des heiligen afrikanischen Königs Eugen (1661), des

Faustinus und zuletzt des Candidus beschafft, ohne dass sich daraus aber eine grössere

Wallfahrtstätigkeit entwickelte. Das ziemlich abseitige Kloster besass neben einer nicht

erhaltenen Pfarrkirche St. Stephanus bis 1699 ein romanisches Gotteshaus mit zwei

Türmen zu Seiten des gotisierten Chores. Ob Abt Romanus Köpfle (1692-1704) und sein

Konvent schon vor dem Einsturz der Türme mit Beschädigung grosser Teile der Kirche am

19. Mai 1699 an eine repräsentativere, standesgemässere Modernisierung oder

Barockisierung gedacht hatten, ist unbekannt. Auf alle Fälle war dieses Unglück der

Anlass noch am 25. August desselben Jahres den Grundstein zu einem völligen Neubau

zu legen nach Plänen des in dieser Zeit in Zwiefalten angestellten Franz Beer II von

Blaichten (1660-1726). Der relativ schmucklose Bau geriet also zu einer Wandpfeilerkirche

vorarlbergischer Prägung mit Doppelturmfassade. Die vielleicht für die leeren acht Nischen

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vorgesehenen Steinfiguren der Schutzheiligen (Maria, Benedikt, Petrus, Paulus und die

drei neuen Katakombenheiligen?) wurden anscheinend nicht ausgeführt. Die 1702/03

gefertigte Stuckdekoration wird als Höhepunkt vor der Wende vom Hochbarock zur

Régence' (vgl. Hugo Schnell, Uta Schedler, Lexikon der Wessobrunner, München 1988, S.

248) angesehen, zumal als Werk des nicht einmal 20jährigen Joseph Schmutzer (1683-

1752). Wahrscheinlich hatte man ursprünglich den 1698/1700 in der Weingarter Propstei

Hofen tätigen, am 12. Mai 1701 verstorbenen Vater Johann Schmutzer (1642-1701) im

Blick (und im Akkord?). Gegenüber den lebendigen Akanthusranken des Vaters in

Obermarchtal, Rot. a. d. Rot und an anderen Orten wirken die gegossenen, gesägten,

gebohrten Eichenblätterrahmungen und die Lorbeergehänge des Sohnes reichlich steril,

aber sie geben schon ziemlich grosse Flächen für die Malerei auch durch die optische

Zurückhaltung frei. Die Entwicklung zum Freskenbarock markiert ganz deutlich das

Beispiel der Ellwanger Wallfahrtskirche auf dem Schönenberg, in der die ursprünglich nur

stukkierte Decke von 1683 ff. nach einem Brand (1709) verändert unter Einbeziehung von

Freskenfeldern für Melchior Steidl wiederhergestellt wurde. Die Gründe für diesen Wandel

dürften vielschichtig gewesen sein wie eine anfänglich durch die Reformation gebremste

Erzähl- und Bilderfreundlichkeit mit der Konsequenz der Niedergangs der

Monumentalmalerei, die über die Theatermalerei, Vorbilder aus dem profan-höfischen

Bereich (z.B. Lustheim) und aus Italien einen neuen Aufschwung erfuhr. Anfänglich

wurden zumeist in die Deckenfelder, -spiegel, Kassetten u.ä. wie in Über-Kopf-Galerien

Schnitzwerk wie z.B. Schloss Heiligenberg, Fuggerschloss Kirchheim oder Tafelgemälde

(quadri riportati) eingebracht, wie auch in Irsee. Sie stammen sicher um Gotteslohn von

dem in Graz gebürtigen, in München aufgewachsenen, französisch-stämmigen, in Irsee

1699 als Klosterbruder Magnus (sein jüngerer Bruder Michael Profess schon 1695 als

Pater Benedikt) eingetreten Carl Ludwig Remy (1674, Profess 1700, gest. 1734). Zu

einem späteren Zeitpunkt (Primiz 20. 10. 1720) wurde er trotz mässiger Latein- und

wahrscheinlich Theologie-Philosophie-Kenntnisse zum 'Pater honoris sc. artium causa'

vom Bischof von Augsburg auf Betreiben des Klosters befördert. Der auch später für und

in Ottobeuren (z.B. Winterabtei 1717) tätige Malerbruder soll bei einem Maler Jonas Wolff

in München gelernt haben, der immer mit dem bekannten und bedeutenden Sohn und

Münchner Hofmaler Johann Andreas Wolff (1652-1716) identifiziert wird. Vom jüngeren

Wolff stammen einige untersichtige, an Venezianer wie Carl Loth erinnernde Deckenbilder

auf Leinwand ursprünglich für die Münchner Residenz, die sich aber qualitativ kaum mit

dem viel schwächeren Remy verbinden lassen, zumal letzterer sich noch drei Jahre (von

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1696-1699?) im Ausland (Venedig und Rom) weitergebildet haben soll. Am ehesten

dürften Tizian, Tintoretto und vielleicht noch Antonio Zanchi ihn beeinflusst haben.

Modernes, Römisches z.B. Pietro da Cortona, Carlo Maratta lässt sich eigentlich nicht

feststellen. Das der Tradition Verhaftete zeigt sich auch in der Wahl der Technik der etwas

grobschlächtigen Ölfarbenmalerei hier auf recht grosser Leinwand. Im Mittelschiff vom

Chor bis zur Orgelempore folgen einer quadratischen 'Gott-Vater'-Darstellung in Konnex

mit dem späteren (1722) Hochaltarblatt einer 'Himmelsaufnahme Mariens' zwei querovale

Engelsszenen (Seraphim und Cherubim) mit Saiteninstrumenten des 'Sanctus' und

Blasinstrumenten des auch richtenden Wortes Gottes und - alternierend in

mehrpassförmigen Quadraten - in der Vierung die 'Apostel' u.v.a. die Patrone Petrus und

Paulus in Verehrung (der Trinität)', die 'Vision des hl. Benedikt' umgeben von

Benediktinerheiligen verschiedenster Position und Herkunft mit Zeichen der abgebenden

geistlichen und weltlichen Herrschaft auf Erden, die 'Klosterpatrone Eugenius, Faustus

und Canididus und andere Märtyrer' in Anbetung (einer Kreuzreliquie?), dann 'elf weitere

Heilige' (Blasius, Vitus, Georg?, Laurentius, Martin, Stephan) in 'sacra conversazione'

unter einem Engel mit Kreuz und zuletzt im Westen die Stiftung und Schlüsselübereignung

des Klosters durch Markgraf Heinrich von Ronsberg und seine beiden, das romanische

Kirchenmodell tragenden Söhne unter dem Patronat der Gottesmutter auf der Mondsichel.

Rechts sind auch noch spätere Stifter wie die Ronsberg-Erben von Benzenau (bis 1564)

und andere mit einem unbekannten Wappen (von Weiler?) dargestellt. Es wären Heinrich

von Bickenried, Johann von Ramschang oder Anna von Ellerbach eigentlich zu erwarten.

Ob die dargestellte Portikusszene vor dem Abt Marquard von Isny oder dem ersten Abt

Cuno aus Ottobeuren sich abspielt, bleibt etwas unklar. Die Mondsichelmadonna und das

Ronsberg-Wappen wurden zum geistlich-weltlichen Markenzeichen des Klosters Irsee

(vgl. auch rechts und links im Chorseitenbereich).

Ein benediktinisches Te-Deum?

Zumindest seit Adolf Layer werden die ersten sieben Bilder als "Benediktinisches Te-

Deum", als Illustration eines dem 'Credo' (vgl. Neresheim und Ottobeuren) ähnlichen

Gotteslobes, angesehen. Im Benediktiner-Umkreis war das 'Te-Deum' oder der

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'ambrosianische Lobgesang' anfangs Abschluss des Nachtoffiziums; später bildete es

zumeist den feiertäglichen musikalischen Ausklang der Messe. Bei einer Lektüre

beginnend natürlich mit dem (grossen) 'Gott-Vater', dem Lobgesang der Engel (Cherubim

und Seraphim), den Aposteln, Propheten, Märtyrern, der Kirche vor der Dreifaltigkeit folgt

ein christologischer Teil, Christus sitzend zur Rechten Gottes als Richter, die Bitte um

Rettung und Erbarmen, verbunden mit dem Lob. Es lassen sich mit diesem Gebet am

ehesten die ersten vier Deckengemälde verbinden, während es im Gemeinderaum mit der

Benediktsvision, den fast anonymen Märtyrern, den bekannten Heiligen und ganz

besonders der Stiftungsszene benediktinisch, volkstümlich und spezifisch 'irseeisch'

zugeht.

Zum formalen Aufbau und der Anordnung der zumeist symmetrischen, wie 'oculi'

untersichtigen Gemälde lässt sich sagen, dass der im 19. Jahrhundert stark überarbeitete

'Gott-Vater' mit den beiden ovalen Engelsszenen des Chores in einer dahinter befindlichen

'idealen Himmelsebene' verbundenen zu denken ist. Die Apostelszene in der Vierung hat

dagegen ihr eigenes spirituelles Lichtzentrum. Die 'Märtyrer' in der Mitte des Langhauses

markieren eine Wende, da der Betrachter sie beim Hinausgang mit Blick zum Westen erst

'richtig' wahrnimmt. Während von Osten her alle sieben Felder einer 'idealen' himmlischen

Wolken-Ebene verpflichtet sind, ist die auch typologisch weit zurückreichende

Stiftungsszene über der Orgelempore mit symmetrischer, untersichtiger Säulenarchitektur

ähnlich schon früher in Benediktbeuren von Hans-Georg Asam mehr irdisch verankert.

Insgesamt hält sich das Remy gegebene Talent doch in Grenzen auch durch die wohl

untersichtigen, aber stereotypen, ausdruckslosen Figuren mit oft langen Händen. Während

die Felder in der Vierung und daran anschliessend die beiden ersten des Langhauses

1702 datiert sind, tragen die beiden Engelsdarstellungen im Chor erstaunlicherweise das

Datum 1704, obwohl in der Chorapsis die Stukkaturen deutlich mit "MDCCII" anzeigt sind.

Die unter den Emporen der Orgel (schmerzhafter) und der Seitenschiffe im Laienraum

(freudenreicher und glorreicher) angebrachten Rosenkranz-Darstellungen bieten ein

ergänzendes Marienlob. An den Deckenfeldern über den Emporen auch im Chorbereich

befinden sich benediktinische Heilige und Marienverehrer ähnlich später in Zwiefalten.

Unter den Querhausgängen kommen noch die theologischen Tugenden (Glaube und

Hoffnung) hinzu. Die Brüstungen im Langhaus sind quasi historischen Benediktsszenen

vorbehalten. Bei den Altären sah die programmatische Verteilung an der rechten Seite

einen Marienaltar mit einer an ein Wallfahrtsbild erinnernden Mondsichelmadonnenfigur

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vor, während links der 'Hl. Leib des königlichen Märtyrers Eugen' gekrönt und in antiker

Rüstung aufgebaut steht zeitweise verdeckt durch ein späteres Vorsatzbild. Es folgen

nach den beiden anderen Märtyreraltären die mehr volkstümlichen Altäre der 'Hl. Familie',

des 'Antonius', der Katharina' und natürlich des Allgäuer Apostels 'Magnus' aus Füssen.

Die Altarblätter sollen nach Eva Christian Vollmer angeblich schon 1704 von Remy

angefertigt worden sein (eher 1714 oder gar nach 1722). Es lassen sich

zusammenfassend eine funktionale Ortsbezogenheit und mit gewissem Vorbehalt ein

allgemeines Gesamtthema des Gotteslobes und eine mögliche zeilen-abschnittsweise

Anlehnung an Gebet und Liturgie unterstellen. Wenn man die Bilder auf ihre 'Historizität'

und 'Realitätsgrade' hin betrachtet, bleiben die drei östlichen überzeitlich-himmlisch,

während nach Westen die christliche Zeit u.v.a. die frühe anschaulich wird (die Apostel als

Zeitgenossen Christi), das Benediktinertum seit dem 5. Jahrhundert, die frühchristlichen

Märtyrer und die grossen Heiligen und Helfer der frühen Tage bis zur Geschichte der

Abtei, ihre Gründung, ihre Stifter und Wohltäter. Ist damit nicht schon um 1700 in dieser

Zeit eines Jean Mabillon (1632-1707) neben der vertikalen, hypäthralen-sakralen

Perspektive die horizontale, geschichtliche Zeitachse und ein gewisser Verweischarakter -

nach Bauer erst ein 'ikonologisches Stil- oder Strukturmerkmal des Rokoko' - in Irsee

vorhanden oder erkennbar?. Unter dem Blickwinkel der damals wohl noch nicht in Frage

gestellten Rhetorik und speziell der Syllogistik hat bislang noch niemand diese einfach

strukturierten Deckengemälde zu betrachten gewagt.

Etwas verwundert, dass Irsee seine rechtlich-standesmässige Unabhängigkeit nicht 'an

die grosse Glocke' oder heraldisch über den Eingang oder wo auch immer gehängt hat.

Nur das unter Abt Bernhard Beck (1731-1765) errichtete Orgelgehäuse im

Zusammenhang mit der Verlegung des Chorgestühls auf die Empore trägt ein äbtliches

Wappen. Der Grossteil der Ausstattung wird aber dem Vorgängerabt Willibald Grindl

(1704-1731) verdankt, darunter die schon von den Zeitgenossen als 'rarum' beschriebene

szenische Schiffskanzel (vgl. die Kanzeln der schon genannten Klöster). Das

Kircheninnere war also von 1704 bis ca. 1720 weitgehend ein Provisorium oder eine

Baustelle.

Die Klostergebäude und ihre Ausstattung (das Treppenhaus und der Südwestpavillon)

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Der Errichtung der mehr praktisch funktionalen Nord-Ost-Südflügel der Abtei 1707-1709

folgte erst zwanzig Jahre später der repräsentativere Westteil mit der Prälatur und der

Gästewohnung ohne Kaisersaal aber doch mit aufwendigem Treppenhaus (man

vergleiche damit die in der Ausstattung bescheidenere Anlage in Zwiefalten) unter Einfluss

Ottobeurens. Welcher Geister Kinder die verantwortlichen Äbte Romanus Köpfle

(9.3.1642-11.3.1704) aus dem allgäuisch-tirolerischen Reutte und Abt Willibald Grindl

(geb. 6.11.1668 Tittmoning; Wahl 2.6.1704, Weihe zusammen mit der Kirche 12.10.1704;

gest. 16.9.1731) aus dem ferneren Salzburgischen waren, lässt sich an Hand der

Zeugnisse und der Literatur nicht genauer erfassen. Unter Abt Roman hatte der Prior Virgil

Krazer zumindest in der Verwaltung zuletzt ab 1701 das eigentliche Sagen. Abt Willibald

übte in der niederschwäbischen Benediktinerkongregation zwischen 1708 und 1718

zahlreiche Ämter aus, zwischen 1715 und 1718 sogar an der Benediktineruniversität

Salzburg. Mit P. Meinrad Spiess hatte das Kloster einen herausragenden und

überregionalen Komponisten und einen Schwerpunkt in der Pflege der Musik. Genannt

werden auch der Mathematiker Eugen Dobler (1714-1796), Erbauer der Sternwarte in

Kremsmünster, der Philosoph, Mathematiker, Physikus, Mitglied der Bayrischen Akademie

der Wissenschaften und Einrichter des Irseer Naturalienkabinetts, Ulrich Weiss. Es lässt

sich aber kein, auch für die Künste verbindliches Klima, ein Leitmotiv daraus ableiten. An

den ehemaligen Vogt Stift Kempten mit seinen Hofkünstlern orientierte man sich in Irsee

kaum. Ein im Band 'Kloster Irsee' von Karl Pörnbacher 1999 als Abb. 18 abgebildeter 'Tod

des Hl. Benedikt' ist wenigstens eine Kopie nach dem kemptischen Hofmaler Franz Georg

Hermann (vgl. Ottobeuren, Benediktskapelle, 1734 für 75.- fl.).

Das grosse Irseer Treppenhausdeckenfresko ist leider etwas entstellt und müsste

stilistisch mit den Anklängen an C.D. Asam (u. J.G. Bergmüller) eher zu den Frühwerken

des Ottobeurers Franz Anton Erler (um 1700-1745) gezählt und um 1729/30 datiert

werden; aber es dürfte trotzdem nach seiner Rückkehr aus Italien (wohl wie Daniel Gran in

Neapel und Rom) und nach dem Treppenhaus in Ottobeuren (1728) gemalt sein. In

Gabriele Dischingers schon erwähntem grossen Ottobeuren-Opus (St. Ottilien 2011, S.

254) und ebenso im Allgemeinen Künstlerlexikon 34 (2002, S. 399) von Matthias Kunze ist

von einer Tätigkeit für Ottobeuren ab 1725 und von einer vermutlichen Reise 1726 mit

Amigoni für zwei Jahre nach Italien die Rede. Erler wird als Lehrjunge des Fassmalers

Franz Joseph Spiegler in Wolfegg, der aber sicher nicht mit dem gleichnamigen

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Hauptmaler Zwiefaltens identisch ist, und als Geselle des Ottbeurer Malers Arbogast

Thalheimer (1720) gehandelt. 1721 soll er als Meister genannt worden sein. Erler hat erst

sekundär in Ottobeuren Einflüsse Spieglers und noch mehr Amigonis (von letzterem bei

dem immer wieder zu Unrecht Franz Anton Zeiller zugewiesenen Deckenbild im ersten

Obergeschoss des südwestlichen Pavillons von nirgendwo ausgewiesener Funktion und

noch mehr in dem ganz Amigoni-haften Antonius-Deckenbild des Erdgeschosses)

aufgenommen.

Das zumeist richtig gedeutete, wahrscheinlich noch unter Abt Grindl entstandene

Treppenhausdeckenbild zeigt in einer wiederum geöffneten Scheinkuppelarchitektur die

'Turmvision des Benedikt' (samt Schwester Scholastika), die ihm nach der 'Providentia' mit

geöffneten Buch: "Facientibus / Haec (regna patebunt superna)..." (oft Schluss der letzten

Benediktregel 73: Denen die dies tun, stehen die ewigen Reiche offen) also durch die

wirkenden Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung (u. Stärke und Gerechtigkeit) zuteil wird.

Eine weitere Beschriftung : "SIC ORCO / ELISO / VIRTUS / EXPUGNET / OLYMPUM"

weist auf die Überwindung der Unterwelt, des Verderbens und die Erkämpfung des Olymp

durch die ewige Tugend hin, was in den seitlichen Nebenszenen mit Bekämpfung der

Laster (Neid, Geiz, Streit... und mit Errettung eines reuigen Sünders in Gestalt des

Malers?) veranschaulicht wird. Ob die 'tragenden' Atlantenfiguren des Tugendtempels die

elementare kosmische Natur, die Himmelsrichtungen, die Temperamente o.ä. markieren

sollen, ist so unklar wie die Bedeutung der vier seitlichen kleinen Trabanten-Medaillons,

die nicht so recht passend als die 'Vier Fakultäten' (Theologie, Philosophie, Iurisprudenz,

Medizin) angesehen werden und somit für die weltlich-geistig-wissenschaftliche Basis oder

Begleitung stehen könnten. Im Kirchenführer (Dischinger/Vollmer) von 2011 (30. Auflage)

wird eher an die vier klassischen Kardinaltugenden gedacht: Klugheit, Gerechtigkeit,

Tapferkeit und Mässigung.

Das andere schon erwähnte Gemälde im ersten Obergeschoss des Südwestpavillons und

in einem funktional nicht genau bestimmten Raum wird oft als Allegorie der 'Sieben Artes

Liberales' und als Werk Franz Anton Zeillers (1716-1794) (Frühwerk nach seiner Holzer-

Göz-Mitarbeit?) angesehen. Aber die Ölmalerei auf Putz stammt ziemlich sicher in der

Ausführung von Franz-Anton-Erler-Werkstatt (um 1735, z.B. auch mit Beteiligung von

Benedikt Gambs?) und stellt doch eher eine 'Allegorie der Künste und Wissenschaften'

(natürlich auch bezüglich des Klosters Irsee) dar: Unter einem Firmament (Raum-Zeit-

Bogen, aber ohne Stunden- oder Zodiak-Kennzeichnung) bringen Putten Ehrenkränze und

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ein Band der Unsterblichkeit, Unendlichkeit der zentralen weiss-gold.gekleideten

bekrönten Figur (Intellectus, Doctrina, Sapientia, o.ä.) dar. Linker Hand von ihr befindet

sich die 'Fama' oder der Ruhm mit ihren Posaunen. Auf einer riesigen Erdkugel sitzt eine

dem Apoll ähnliche Gestalt mit der Leier (wohl Poesie, Dichtung), daneben noch eine

Flötistin (Musik?). Links vom Betrachter aus schwebt eine Figur mit Spiegel (oder

Himmelsglobus?) wohl als Vertreterin der 'Scientia' (Naturwissenschaft). Darunter streut

ein Putto aus seinem Füllhorn Gaben auf die Künste: wie die 'Bildhauerei' mit einer Büste,

die 'Malerei' mit Pinsel, Palette u. Maskenmedaillon der Nachahmung, daneben etwas

versetzt die 'Architektur' mit Winkel, Stiften (?). Darunter sitzen zwei weibliche allegorische

Figuren mit einem Buch und Federkiel (sicher: 'Geschichte') und mit Hinweisgestus (wohl

'Memoria', Gedächtnis), wofür Chronos mit dem Stundenglas als 'Zeit' und mit seinem

Rücken als Pult herhalten muss.

Eine weitere erwähnenswerte charakteristische Hinterlassenschaft besitzt Irsee

abschliessend im Vergleich zu dem unpersönlichen Zwiefalten in den teilweise

individuellen, realistischen Äbteepitaphien des 15.-17. Jahrhunderts jetzt unter der

Orgelempore und in den geschnitzten Wangen des Laiengestühls.

Sankt Blasien

Auch wenn die äusseren Entstehungsdaten Wiblingens zeitlich fast übereinstimmen, wird

der berühmte Kirchenneubau der gefürsteten Benediktierabtei Sankt Blasien im südlichen

Hochschwarzwald von der Kunstgeschichte einer anderen, der nächsten Epoche nämlich

dem Klassizismus zugeordnet. Leider können uns die bisher herangezogenen Autoren

anscheinend nichts zur Auseinandersetzung mit dem 'kritischen' Übergang von

Spätbarock, Rokoko oder Zopfzeit beitragen. Das Folgende möchte also diesem besagten

Stilwandel und seinen möglichen Hintergründen exemplarisch etwas nachgehen.

Über die zeitlichen und personalen Zuordnungen im Falle St. Blasien gibt es seit der

grossen Untersuchung des Architekten und Denkmalpflegers Ludwig Schmieder: "Das

Benediktinerkloster Sankt Blasien - Eine baugeschichtliche Studie", Augsburg 1929 keine

185

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grossen Differenzen. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Abteien findet sich ausser

ungedruckten Archivalien wie Tagebücher bezeichnenderweise auch eine umfangreiche,

von Georg Pfeilschifter und Wolfgang Müller zwischen 1931 u. 1934 bzw 1957 u. 1962

herausgegebene Korrespondenz der bedeutenden Äbte Martin II Gerbert (1720-1794, erw.

1764) und Mauritius Ribbele (1740-1801; erw. 1794). An Sekundärliteratur muss v.a. auf

den Aufsatz von Georg Peter Karn: "St. Blasien - Sakralbaukunst und kirchliche

Aufklärung" im Katalog der bis zur Französischen Revolution reichenden

Barockausstellung in Bruchsal, Band 2, S. 157-166 verwiesen werden. Die 1000-Jahrfeier

der Abteibestätigung bzw. das 200. Jubiläum der Klosterweihe im Jahre 1983 begleiteten

ein zweibändiger Ausstellungskatalog (Hg. Historische Ausstellung Kloster Sankt Blasien,

Blasien 1983 e.V.) und eine Festschrift (Hg. Heinrich Heidegger und Hugo Ott) mit

wichtigen Beiträgen. Zuvor war schon 1970 eine Festschrift zum 250. Geburtstag des

"Martin II Gerbert - Fürst und Abt von St. Blasien" von Franz M. Hilger, Konstanz

erschienen. Die Untersuchungen von Hans Jakob Wörner: "Architektur des

Frühklassizismus, München und Zürich 1979 und Erich Franz: "Pierre Michel d'Ixnard

1723-1795", Weissenhorn 1985 sind mehr stilgeschichtlich auf mögliche Vorbilder bzw.

monographisch, genetisch nach den Entwürfen ausgerichtet mit dem Schwerpunkt auf

dem Architektonischen, während hier möglichst alle Bereiche in den Blick genommen

werden sollen und besonderer Berücksichtigung von Historizität, Selbst-Refenzialität,

Theatralik, Rhetorizität u.ä., um Absicht, einen (oder mehrere) Sinn oder eine Logik

dahinter entdecken zu können.

Eine kurze Kunst- und Künstler-Geschichte von Sankt Blasien

In der auch im 'digitalen Netz' vorhandenen, im September 1783 abgehaltenen

"Feyerlichkeit / des / in dem fürstlichen / Stift St. Blasien / auf / dem Schwarzwald /

eingeweihten / neuen Tempels", gedruckt in St. Gallen 1784 wird ausser dem Ablauf und

den Festpredigten eine Ansprache des Fürstabtes Martin II Gerbert wiedergegeben, worin

auch die Anfänge St. Blasiens seit der Einsiedlerzelle 'Cella Alba' an der Alb und der

Überbringung einer 855 in Rom erworbenen Armreliquie des Hl. Blasius von Kloster

Rheinau durch den Hl. Fintanus erwähnt werden. Die 800-Jahrfeier des einem der 14

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Nothelfer geweihten Klosters gründet sich auf eine seit 1905 als Fälschung erkannte

Urkunde Ottos II mit Bestätigung von Gebieten und Rechten. Die rasch wachsende

Bedeutung des nunmehrigen Klosters zeigt sich auch in den in dieser Festschrift

aufgeführten Tochterklöstern wie Muri, Engelberg, Wiblingen, Donauwörth,

Ochsenhausen, Göttweig, Garsten und Ensdorf. Trotzdem blieb St. Blasien immer ein

landsässiges, die meiste Zeit von dem Hause Habsburg abhängiges Kloster, was sich

auch nach dem Erwerb der reichsunmittelbaren Herrschaft Bonndorf Anfang des 17.

Jahrhunderts (1612) nicht änderte. Ob die Erhebung in den stimmrechtslosen

Reichsfürstenstand durch den neugewählten und gekrönten Kaiser Franz I von Lothringen

im Jahre 1746 den diplomatischen Diensten, der Treue zu Habsburg und einer finanziellen

Gegenleistung zu verdanken ist, sei dahingestellt. Im Vergleich zu den ebenfalls

gefürsteten Abteien Ochsenhausen und Muri war die Standeserhebung sicher

gerechtfertigt. St. Blasiens Konvent zählte im !8. Jahrhundert an die 100 Mitglieder und

damit weit mehr als die anderen hier behandelten Benediktinerklöster. Von der

Ertragskraft war es Zwiefalten vergleichbar.

Mit der seit 1727 von dem anscheinend Italien erfahrenen Architekten Johann Michael

Beer von Bleichten errichteten, Ottobeuren etwas vergleichbaren, Schloss ähnlichen

Klosteranlage hatte St. Blasien auch Fürstlich-Standesgemässes zu bieten. Im Innern des

Neubaus wirkten wie in Ottobeuren vielleicht weniger grossartig Franz Joseph Spiegler

1744 im 'Hofsaal' (Festsaal, kein wirklicher Kaisersaal, vgl. den Habsburger Saal im

Südwestpavillon) und in der Bibliothek ('Deo ignoto') für insgesamt 1000 fl. (Wörner 1983,

S. 102 ff) und Jakob Carl Stauder ('Vita Sancti Blasii', Stiegenhaus und andere kleinere

Arbeiten), dessen "Pensel ..." - nach der Chronik v. P. Gumpp (vgl. Schmieder 1929, S.

130) - "(wir) schon (kennen), wir wollen einen anderen Pensel (wie Spiegler, der aber auch

schon 1724 Gemälde nach St. Blasien lieferte) sehen". Für die Hauptaufgaben also löste

Spiegler, der sicher über Ottobeuren, Zwiefalten sich empfohlen hatte und schon in

Bonndorf noch unter dem an Malerei interessierten Abt Blasius III tätig war, seinen

Konkurrenten aus Konstanz nach 1743 endgültig ab. Das Thema des in acht Wochen

(nicht Tagen) für 1000 fl. noch vor Kriegsausbruch gemalten Deckenbildes des ungünstig

geschnittenen Hauptsaales im zweiten Obergeschoss des westlichen Mittelrisalits soll

eher einer Bibliothek passend 'Dem oder einem unbekannten Gott' und von einem "ignoto

Autore herkomme(n), findet seinen ingress nit" (zu verstehen als: wird hier nicht darauf

eingegangen?; vgl. Manuela Neubert: Franz Joseph Spiegler, Weissenhorn 2007, S. 594

187

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u. Apostelgeschichte 17,16-34: die 'Predigt des Paulus in Athen'). Ebenfalls verlustig

gingen die Steinfiguren von Johann Christian Wenzinger, der sicher auf Empfehlung von

St. Peter und wegen der geographischen Nähe (Freiburg) engagiert wurde. Während St.

Blasien um 1669 noch mit Johann Christoph Storer in Konstanz einen Künstler der ersten

Garnitur für das Hochaltarblatt (vgl. Sibylle Appuhn-Radtke: Johann Christoph Storer,

Regensburg 2002, S. 352/53, D 48 m. Abb.) des 'Neuen Münsters' engagierte, kann kann

man das von dem sich selbst gleichwohl richtig einschätzenden Oberitaliener Francesco

Antonio Giorgioli wahrlich nicht behaupten. Giorgiolis Erfolg nicht nur in St. Blasien

sondern in Muri, Säckingen, Rheinau bis zuletzt noch in St. Trudpert zeigt den Mangel an

guten Freskanten im Südwesten gegenüber Bayern, Österreich mit Carpoforo Tencalla,

Johann Anton Gumpp, Johann Melchior Steidl, Hans Georg Asam u.a. um 1700. Die

Barockisierung des ursprünglich hirsauischen 'Neuen Münsters' mit 17 Deckenfelder muss

man sich ähnlich wie in der kurz darauf nach vorarlbergischem Muster gebauten

Klosterkirche von Rheinau vorstellen zumindest optisch. Über das Programm gibt es in der

Literatur keine Hinweise. In Rheinau befindet sich im Chorbereich ein benediktinisch

angereicherter Allerheiligenhimmel, im Mittelschiff sieben Felder der 'Mysterien der

Jungfrau Maria', in den Querschiffflügeln eine 'Geburt Christi' und eine 'Anbetung der

Könige', was in den Seitenschiffen und -Kapellen durch weitere Szenen aus dem Leben

Jesu komplettiert wird. Im Eingangsbereich der Reinigung und Busse tauchen die

'Tempelreinigung' und die büssenden und bereuenden 'Maria Magdalena' bzw. 'Petrus'

auf. Das Langhaus (2. Phase um 1704/05) des 'Neuen Münstes' in St. Blasien besass fünf

Joche bis zum Chorgitter, was drei mal fünf oder 15 ungünstig kreuzgewölbte

Deckenfelder vermuten lässt. Wenn man noch die beiden Seitenkapllen hinzunimmt, käme

man auf die genannten siebzehn Felder. Wie der Chor, die Vierung mit Kuppel und der

Turmbereich mit den Vincentius- und Laurentiusaltären aus der ersten Ausstattungsphase

um 1701/02 dekoriert waren, ist ebenfalls nicht genau bekannt. Ob thematisch ebenso

gebetsartig oder katechismusartig kaum untersichtige Marienszenen und Christusszenen

als eine Art Bilderbibel, oder ob vielleicht Episoden aus dem Leben des Hl. Blasius und

anderer Vertreter aus dem Reliquienbesitz oder eine Stiftungsszene dargestellt waren,

bleibt leider bislang unserer Kenntnis verborgen. Paul Booz (2001, S. 232) nimmt nach

den Tagebuchaufzeichnungen Abt Augustins (1641-1720, gew. 1695) an, das eine "Coena

Domini" unter dem ''hinteren gewölb" (Abtskapelle?) zwischen den beiden Westtürmen

(oder eher wie in Neresheim und Wiblingen im Hochaltar-Presbyteriums-Bereich?)

vorhanden war. Eine grössere Diskussion über Syllogistisches, Stilhöhen und anderes

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Rhetorisches hätte sich sicher schon aus Qualitätsgründen bei diesen Malereien

weitgehend erübrigt. Nur ganz wenige Gegenstände sind aus diesem 'Neuen Münster' in

die heute noch bestehende ehemalige Klosterkirche hinübergerettet worden.

Nach der Tätigkeit Giorgiolis hielt sich von 1709 bis 1713 das Kloster ähnlich wie

Weingarten sogar einen eigenen Hofmaler, den 1685 in Innsbruck geborenen Balthasar

Renn, der vor dem 7.1.1715 (Bürgeraufnahme in Innsbruck) wieder aus den St. Blasianer

Diensten ausgeschieden war. Paul Booz (2001,S. 248) fühlt sich bei Renn an Franz

Joseph Spiegler erinnert. Leider sind die Fresken Renns im Kloster Berau (1712/13) und

im Freiburger St. Bläsihof nicht erhalten und es hat auch sonst aus der St. Blasianer Zeit

Renns wenig überdauert. Nach Schmieder (1929, S. 86) restaurierte "unser mahler

Balthauser" (= Balthasar Renn?, als Laienbruder?) das 1701 von Johann Georg Glückher

gemalte Hochaltarbild und fasste 1711 wohl die Laurentius-Vincentius-Altäre in den

Turmkapellen. Als angeblicher Schüler der Malersippe Waldmann brachte Renn tirolische

und italienische Elemente in den Schwarzwald mit. Das unter Abt Augustin 1711

entstandene, in das seit 1727 St. Blasianische Priorat Oberried gekommene Gemälde

'Maria Magdalena' ist doch recht beachtlich. Umsomehr ist der nur kurze Aufenthalt Renns

im Schwarzwald zu bedauern. Der in Rottweil ansässige Storer-Schüler Johann Glückher

(1658-1731), der 1681 den Entwurf für die nach Wien gekommene Todtmooser

Silbervotivtafel geliefert hatte, konnte da nicht mehr mithalten. In Dehio, Baden-

Württemberg II, 1997, S. 630 wird von einer (nicht mehr erkennbaren) Ausmalung der

Friedhofskapelle St. Martin in St. Blasien durch Renn nach 1711 berichtet.

Unter den nunmehr Fürstäbten Franz II Schächtelin und Meinrad Troger hat das Kloster

sich wieder Hofkünstler oder als am Hof Angestellte wie den Maler Anton Morath und den

Bildhauer Joseph Hörr geleistet, die zuvor als Klosteruntertanen Stipendien angeblich in

Konstanz bei Franz Joseph Spiegler und in Zwiefalten bzw. Riedlingen bei Johann Joseph

Christian erhalten hatten. Das bezeichnete und 1749 datierte Deckengemälde Moraths im

Priorat Todtmoos unter Abt Meinrad verrät keinen Einfluss von Spiegler, sodass die auf P.

Paul Kettenacker zurückgehende Tagebuchnotiz, dass Morath bei dem erst 1752 nach

Konstanz verzogenen Spiegler dort die Malerkunst erlernt hätte, etwas zweifelhaft bleibt.

Sicher ist nur, dass Morath nach Spieglers Ausfall die angefangenen Arbeiten in der

Klosterkirche Säckingen z.T. noch nach den Entwürfen Spieglers zu Ende brachte. Dass

Morath angeblich noch 1775 bei dem angeblich bezeichneten und so datierten

Seitenaltarblatt 'Marientod' in Todtmoos Spiegler auch qualitativ so imitieren konnte, ist

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(wäre) doch sehr erstaunlich. Der ledig gebliebene Morath starb am 5.9.1783 im Kloster

St. Blasien zur Zeit der Einweihung der neuen Klosterkirche, an deren Ausgestaltung er

auch aus Altersgründen keinen Anteil mehr hatte.

Der Bildhauer Joseph Hörr (19.12.1732 Bläsiwald - 9.3.1785 Freiburg) war noch unter Abt

Meinrad aus dem Hofdienst ausgeschieden und hatte auf Empfehlung des letzteren

September 1763 das Bürgerrecht der Universität Freiburg erlangt. Kloster St. Blasien

entledigte sich also schon unter Meinrad Troger seiner Hofkünstler. Der Zeichner Peter

Mayr, Schüler des aus Löffingen stammenden Wiener Porträtmalers Johann Baptist Glunk

und der Wiener Akademie, war seit 1756 ebenfalls schon akademischer Bürger in

Freiburg. In der seit 1754 bestehenden eigenen Druckerei samt Verlag hielt man sich

wenigstens noch den Kupferstecher bei Hof, Johann Baptist Haas (vgl. P. Booz, 2001, S.

382).

Die Abtei vor und nach dem Brand von 1768

Die jetzt als Jesuitenkolleg dienenden, nur beschränkt zugänglichen Klostergebäude und

ihre Ausstattung fanden wahrscheinlich wegen der nach 1768, 1874 und 1977 erfolgten

Erneuerungen nicht die nötige Aufmerksamkeit auch hinsichtlich einer photographischen

Wiedergabe. Am besten informiert darüber der 2003 in 3. Auflage erschienene

Wegweiser: "St. Blasien - Kirche - Kloster - Kolleg" von Josef Adamek SJ (+1996) ab S.

28.

Die Fassade, die Treppenhäuser und Gänge

Das Frontispiz des repräsentativen Mittelpavillons der Schauseite nach Westen erhielt

schon nach dem ersten Brand von 1768 - dem Entwurf aus der Salzmann-Mappe

entsprechend - statt dem imposanten Wappen des Erbauerabtes Franz II nur eine auch

heute vorhandene Doppeluhr. Die ursprünglich sieben grossen Steinfiguren Christian

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Wenzingers (Blasius, Laurentius und Vincentius und andere Patrone) wurden auf drei

reduziert (heute nur noch eine Kopie einer 1714 geschaffenen Blasius-Figur): Christus und

die beiden Hauptapostel Petrus und Paulus?. Die auf dem Salzmann-Entwurf zur

Wiederherstellung nach 1768 anfänglich noch wieder vorgesehenen Säulen fielen dann

letztlich zugunsten einer Pilastergliederung weg. Aber auch vom gekurvten schwingenden,

raummässig ungünstigen Grundriss her blieb der Spätbarock-Rokoko-Charakter dieses

Gebäudeteils erhalten. Die in der schlichten Eingangshalle angebrachte, 1771 datierte und

von Hörr entworfene, vielleicht in einer Eisenhütte mit Klosterbeteiligung gegossene

Ofenwandplatte mit dem Wappen von Abt Martin II ist eine moderne Anbringung.

Immerhin ist sie eine der wenigen Herrschaftszeichen dieses Abtes. Wie Irsee und fast so

wie manche bischöfliche Residenz verfügt St. Blasien über hier binnenhofseitige, ein und

zweiläufige Treppenhäuser, die nach 1768 anscheinend kaum verändert wurden. Die erst

am 25.6.1763 aufgestellten, ursprünglich für Wenzinger vorgesehenen Figuren (Blasius,

Benedikt?) von Joseph Hörr an der Stelle der jetzigen Vasen bzw. Laternen sind

verschwunden, wie das sicher nicht grosse und eingelassene Deckenbild Stauders 'Sieg

Konstantins an der Milvischen Brücke' und damit der Sieg der christlichen Religion. Es

wurde durch ein in der Grösse vergleichbares, weniger narratives Stuckrelief von Ludovico

Bossi um 1772 ersetzt. Adamek (S.32) meint "Putten mit Blumensträussen, Füllhorn,

Kränzen und Fackeln" als "Verheissung von "Glück und Reichtum" zu erkennen. Bei

genauerem Hinsehen haben die vier Putten einen Blumenzweig (Frühling), Ähren

(Sommer), Äpfel/Weintrauben (Herbst) und eine befeuernde Fackel (Winter) in der Hand,

sodass eher zuerst an die 'vier Jahreszeiten' als eine Art Glückwunsch für das ganze Jahr

zu denken ist. Die Deckenzentren der beiden Nebentreppenhäuser sind nur ornamental

gestaltet. Allen Treppenhäusern sind bogenartig, aber auch oft wandartig den Blick

verstellende Binnenkonstruktionen zu eigen. Im Haupttreppenhaus haben sich trotz der

Hitze die guillochenartigen, kalligraphischen Ziergeländer vielleicht aus einer

klostereigenen Werkstatt erhalten. Die beiden Gemälde des Klosterpatrons 'Hl. Blasius'

und des Ordenspatrons 'Hl. Benedikt' sind moderne Kopien des im 'Roten Salon'

hängenden, immer als von Stauder angesehenen, aber in Thomas Onkens Stauder-

Monographie nicht verzeichneten Bildes bzw. einer Vorlage von Bartolomeo Altomonte in

der Abtei Kremsmünster von 1764. Der 'Blasius' im Treppenhaus erinnert gar an Anton

Morath. Das Original im 'Roten Salon' stammt ganz sicher nicht von Stauder, sondern

erinnert eher an Franz Joseph Spiegler. Von der geschweiften Form her dürfte es

ursprünglich als Altarbild gedient haben. Vielleicht entstand es im Auftrag von Abt Blasius

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III Binder um 1727.

Die Gänge im I. und II. Obergeschoss

Nach Augenschein und nach Wörner (1983, S. 198) haben sich von Hans Georg Gigls

Stuckausstattung noch die (ab-)bildhaften Supraporten-Rahmungen des ersten

Obergeschosses des Abteigebäudes erhalten. Die dazu passenden künstlerisch

unbedeutenden Gemälde der "Vierfüssler" (Adamek nach Grandidier?) scheinen

erstaunlicherweise den Brand ebenfalls überdauert haben. Stilistisch wirken manche wie

die "Zweifüssler und Zweiflügler" des zweiten Obergeschsses in einfachen

klassizistischen, Eierstab ähnlichen ornamentalen Stuckrahmen der Ludovico-Bossi-

Werkstatt mehr von der Hand Anton Moraths als eines Augsburger Malers im Umkreis von

Karl Wilhelm Hamilton. Adamek wertet die thematische Ausstattung als eine Art

Anschauungsunterricht aus dem Naturalienkabinett, das zumindest seit 1782 hinter der

Papagei-Supraporte im obersten Stock angesiedelt war. Nach Adamek bieten die

Stucksupraporten auch eine Art Wegweiser für die Funktionen der dahinter liegenden

Zimmer bzw. Bereiche der Klosterverwaltung z.B. Försterei, Gärtnerei, Jagdwesen,

Handwerker, Spielzimmer, Speisezimmer, Schneiderei, Musikzimmer, Hofwäscherei. Nur

im zweiten Obergeschoss im Bereich der Abtswohnung hingen nach 1772 Szenen aus der

Klostergeschichte von Joseph Hermann und noch nicht die jetzige Lauretanische Litanei

seit der Übernahme durch die Jesuiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob die

plastischen Zweierputtengruppen über den Uhrschilden der Nebentreppenhäuser noch auf

Vorläufer wie z.B. die dubiosen Alabasterfiguren Wenzingers zurückgehen, ist unbekannt.

Auch die vorhandenen, noch einer Allegorik des Rokoko verhafteten Figuren Hörrs nach

1768 (um 1773?) sind bislang nicht klar bzw. eindeutig bestimmt: südlich 'Arm und

Reich'?, 'Weckung durch Trompetensignal'?, 'Aufklärung des Mittelalters'? bzw. nördlich

'Astronom mit Himmelsfernrohr', 'Gehilfe mit Folianten', 'Bediensteter lädt zum Eintritt',

'Ermahnung zum Respekt'? liest man bei Adamek. Nach Wörner (1983, S. 200: nur

allgemein allegorische Puttengruppen) sollen damit südlich "Erfordernisse des Abtes"

gemeint sein. Nach dem Eindruck des Rezensenten ist eher ähnlich Adameks Vorschlag

an Tugenden des geistlichen und weltlichen Monarchen zu denken: also Wachsamkeit

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(fortitudo, acetia), Weitsicht (prudentia); Sparsamkeit, Grosszügigkeit (largitas, caritas) und

Gastfreundschaft, Ehrerbietung, Höflichkeit, Leutseligkeit, Menschenfreundlichkeit

(humilitas); aber es fehlen so klassische Eigenschaften wie die 'Iustitia'.

Die Räume im I. Obergeschoss

Weniger Allgemein-Menschliches zeigt das ovale zentrale Deckenbild des ebenfalls

ovalen oder einem Zweispitz ähnlichen ''Speise- und Musiksaals bei Hof" (jetzt

Hauskapelle). In einem Strahlenkranz, von Blumengebinden und einem mehrfachen

Rahmen erscheint das vereinte Kloster- und Abtswappen u.a. von der Fama mit ihrer

Ruhmestrompete inmitten von Himmelswolken. Um das Zentrum schweben Putten mit

dem Fürstenhut, dem Schwert als weltlicher Macht, links mit der Mitra als geistlicher

Macht, andere Putten mit der auch reinigenden Fackel (hier eher der brennenden,

flammenden Liebe, Eifer), dem Füllhorn (Reichtum) und dem Szepter mit dem Auge

Gottes (unter göttlicher Vorsehung). Unten in der Mitte hält ein Putto ein Buch, das von

Josef Adamek als Benediktsregel angesehen und somit benediktinisch gedeutet wird.

Vielleicht ist es auch das Buch der Geschichte als Zeichen des ewigen Ruhmes dieses

Mannes des Geistes, der Wissenschaft einschliesslich des Gebetes. Wörner (1983, S.

200) gibt dem Ganzen wohl den zutreffenden Titel: "Glorreiche Regierungszeit Martin

Gerberts". Zwei kleinere, leider nur bei Schmieder (1929, Abb. 87 u. 88) abgebildete

begleitende Felder zeigen angeblich musizierende Puttengruppen (vgl. Adamek, S. 41).

Nach Meinung des Rezensenten ist mit dem apollinischen Kitharoeden und dem

schreibenden Putto eher die Poesie (bei den Tauben auch Liebeslyrik, bei Trompete und

Kranz eher heldisches Epos) zu vermuten, während gegenüber eindeutig die 'Musik' mit

einem den Takt gebendem Dirigenten (Rhythmus) und einem Flötisten (Melodie)

dargestellt ist. Die Lyra steht wohl für Harmonie (und die Tauben oder Vögel für Gesang?).

Noch mehr die Raumfunktion illustrieren die acht "trophäenartigen Wand-Bouquets"

(Wörner 1983, S. 200) mit den verschiedenen, wieder von Adamek ausführlich

beschriebenen, teilweise historischen Musikinstrumenten und den teilweise auch leiblichen

Genüssen. Dieser Raum ist wohl die erste Arbeit Bossis in Sankt Blasien und schon vor

dem 17.12.1771 datierten Vertrag mit dem Stukkator u.a. für die folgenden, 1772

anzusetzenden Ausstattungen entstanden.

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Der Südwestpavillon: Erd- und I. Obergeschoss

In dem südwestlichen Pavillon sind die Räume noch einigermassen aus der Zeit um 1772

erhalten. Der im Erdgeschoss als eine Art Speiseanrichte (nach Adamek) oder dem P.

Kuchelmeister dienende Raum zeichnet sich durch noch rocailleartiges Rankenwerk und

genreartig kulinarische Trophäen von Küchengeräten und Geflügel aus. Es verwundert,

dass der 'Grüne Salon' mit kaum abbildendem Deckenstuck bis auf die imitativen

Lampreqins gemeinsamer Empfangsraum von Abt und Grosskeller gewesen sein soll.

Nach Grandidier befanden sich hier die Räume des Archivars und von Gästen (vgl.

Schmieder 1929, S. 112). Die Funktion des Grosskellers als Finanz-und Wirtschaftschef

des Klosters ist natürlich sehr bedeutend, aber eigentlich nimmt der Prior nominell den

zweiten Rang in der üblichen Klosterhierarchie ein. Auf alle Fälle ist in der Literatur im

ersten Obergeschoss unter den Gästeappartements (wie Habsburgersaal) im zweiten

Obergeschoss von den Räumen des Grosskellers und nie des Priors die Rede. Der 'Blaue

Salon' (Arbeitszimmer des Grosskellers) ist erstaunlicherweise dekoriert mit dem

habsburgischen Löwen, dem Bindenschild und militärischen Emblemen als Zeichen

staatlicher, eher militärischer Macht (nach Wörner 1983, S. 201). In den Ecken der

Hohlkehle befinden sich zwei Trophäen für die Militärmusik und zwei für die Bewaffnung

mit Schwertern und Spiessen. An den Längsseiten hängen weitere Trophäen wie ein

Brustpanzer mit dem Reichsadler, Erzherzogskrone, Habsburgerwappen, Krummsäbel,

Degen, Pistole samt einem Olivenzweig mit Krone (Sieg, Friedensmacht?) oder zwei

Feldfahnen mit Erzherzogshut und Habsburger Wappen, Pfeil und Bogen, Fackel,

Olivenzweig und Lorbeerkranz (Sieg über die Türken?), dann zwei Feldstandarten mit dem

Erzherzogshut, Habsburger Wappen, dem ursprünglich burgundischen Orden vom

Goldenen Vlies und dem ursprünglichen Habsburg-Wappen mit dem gekrönten Löwen,

dazu noch Sporen: insgesamt also eine Verherrlichung der siegreichen und Frieden

verschaffenden Schutzmacht Habsburg. Der 'Gelbe Salon' diente angeblich als

Schlafzimmer des Grosskellers gefolgt von einem Lesekabinett.

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Das II. Obergeschoss: Gäste- und Kaiserappartement

Im repräsentativeren zweiten Obergeschoss ist das Gäste- oder Kaiserappartement

("Grafen Bau'', "Kaisergemächer") untergebracht. Der Empfangs- oder Habsburgersaal ist

anscheinend noch einmal auf den kaiserlichen Schutzherrn oder Vogt ausgelegt. Der

zentrale Deckenstuck von Bossi zeigt in einem etwas gelängten, noch an ein Opaion

erinnernden Medaillon eine himmlische, figürlich eher schwache Szene, die von Adamek

(S. 53/54) als Symbole von Herrschaft gedeutet werden. Die Mitte über dem im Kreise sich

zu drehenden Betrachter nimmt die von einem Putto getragenen (Erz-) Herzogs- oder

Fürstenkrone ein. Der auf einem Adler reitende Putto mit Adler- (nach Adamek

Doppeladler? also Reichs-) Fahne steht wohl für Kühnheit, Tapferkeit, Wehrhaftigkeit und

Schutz. Der Putto mit dem Füllhorn an Orden- und Ehrenzeichen wohl für Reichtum oder

auch Ehren-Segen und Freigiebigkeit, der mit dem Liktorenbündel für Stärke durch

staatliche Einheit, Ordnung, der mit dem Augenszepter für Vorsehung und Gottes

Gnadentum, der mit der Trompete für Ruhm und Geltung. Der schwarze einköpfige Adler

erinnert eher an die Herzöge von Zähringen, Grafen von Freiburg und des Breisgaus, oder

sollen damit die Stammlande des Erzherzogtums Österreich (= Niederösterreich mit den

zumeist fünf goldenen Adlern) gemeint sein?. Es fehlt eigenartigerweise eigentlich das

Habsburger Wappen (und auch der doppelköpfige Reichsadler). Der Verfasser dieser

Zeilen vermutet in diesem Stuckrelief auch eine allgemeine Allegorie des Klosters und

Breisgaus und Vorderösterreichs. Zwischen den Girlanden hängen trophäenartig oder

ehrenkettenartig acht Wappen zumeist in Kombination mit Waffen (Schwertern u.ä.) also

weltliche Herrschaftsbereiche und Staatsgewalt, die von Adamek (S. 54) als habsburgisch

und wie folgt bestimmt werden: 1. Adler mit gekrönter Schlange (Mailand), 2. Sechs

Kugeln (fälschlich für Venedig, eher Florenz, Medici); 3. drei gestutzte Adler (Lothringen);

4. Adler mit Krone und doppelt geschachtetes Brustband (Krain); 5. gekrönter Löwe mit

Doppelschwanz (Böhmen); 6. Flammen sprühender Panther (Steiermark); 7. gespreizter

Adler (Tirol); 8. diagonale Bänder (Burgund). In der Hohlkehle folgt noch ein Fries mit den

verschiedenen, von Habsburgern getragenen Kronen und erfochtenen Herrschererfolgen.

Die vermissten Kaiserinsignien (davon Krone und Reichsapfel) finden sich in der

Südwestecke. In der Wandzone darunter erscheinen in Stuckmedaillons (Profil-) Bildnisse

der Kloster-Stifter-Förderer wie Anna und gegenüber deren Gemahl Rudolf I von

Habsburg. Die Stuckrahmen darunter nehmen wie in einer Ahnengalerie die Habsburger

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Regenten des 18. Jahrhunderts auf, wie: Leopold I und Eleonore von der Pfalz; Joseph I

und Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg; Karl VI und Elisabeth von Braunschweig;

Maria Theresia (von Jakob Carl Stauder 1746) also vor dem Brand. Originalbilder nach

dem Brand sind Karl VI und Gemahlin, und Franz I. Alles andere sind moderne

Wiederholungen. An der Stirnseite befindet sich noch Leopold II. Als fehlend werden von

Adamek Joseph II wegen dessen Klostergegnerschaft und sein restaurativer Neffe Franz

II, der trotzdem zum Aufheber des Klosters geworden war, bemerkt. Wenn der

Habsburger-Saal 1772/73 so fertig stukkiert war und die Bildnisse eingelassen werden

konnten, wäre es sehr verwunderlich, wenn der damalige Kaiser Joseph II nicht doch

zumindest zeitweise darunter gehangen hätte, zumal die 1777 im Freiburger Münster

stattgefundene Begegnung zwischen Abt Gerbert und Joseph II in dem bekannten

Alabasterrelief (Stift St. Paul) von Joseph Hörr verewigt wurde und nicht einer 'damnatio

memoriae' anheim gefallen ist.

Von den weiteren Gästezimmern haben sich anschliessend das 'Arbeitszimmer' angeblich

mit antiken Philosophen und Gelehrten mit ihren Fachattributen erhalten. Bei der

Nachprüfung befinden sich an den Langseiten zwei Profilmedaillons von antiken Dichtern

(nicht Philosophen) mit ihren Binden (taeniae), die wohl nach den Attributen und

behandelten Themen mit griechisch Hesiod (Erga kai Hemerai) oder Arat (Phainomena)

bzw. römisch mit Vergil (Georgica u.ä.) oder Manilius (Astronomicon) zu identifizieren sind.

Die vier weiblichen Profilköpfe mit den darüber befindlichen Vasen stehen wohl für die

Jahreszeiten (Trauben/Früchte = Herbst; Pelzkappe, Wurzelgemüse = Winter; Ähren,

Blumen = Sommer; nur Blüten = Frühling). Das folgende Schlafzimmer soll nach Adamek

nochmals mit den vier Jahreszeiten aufwarten: Schäferszene (Frühling), Blütengirlande

knüpfend (Sommer), Erntegaben reichend (Herbst), einander zudeckend zum Winterschlaf

(Winter). Aber es wird sinniger und sinnvollerweise eher auf die vier Tageszeiten

angespielt: zwei Putten mit der Decke (Nacht); die beiden Putten mit dem Blumenstrauss

stehen wohl wie bei Philipp Runge für den Morgen; die beiden Putten mit dem gefangenen

Vogel (wohl keine Eule) und der Putto mit der Schafherde müssen sich Mittag und Abend

(wohl letzteres) teilen. Das 'kleine Kabinett' zeigt an der Decke vier Putten auf die

akustischen, optischen und haptischen Künste anspielend: Musik, Malerei, Architektur und

Bildhauerei (mit Bildnis Abt Martin Gerberts). Soll man die fehlende Poesie in dem

Künstlerisch-Schöpferischen durch das Buch hinter der 'Musik' mitvertreten sehen? oder

durch die 'Vortragenden' des wohl als Antichambre oder Schreib- und Lesezimmer

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dienenden, erst nach 1768 so geplanten Raumes?.

Eine Zusammenfassung

Wenn man auf der Grundlage der bisher erfolgten Auslegungsversuche ein Fazit ziehen

will, so wird man wohl sagen können, dass unter Abt Gerbert das quasi

naturwissenschaftlich-klassifikatorische Programm der Supraporten unter Franz II und

Meinrad in den Gängen weitgehend übernommen wurde, und sogar unter Wegfall von

Stauders eingelassenem Deckenbild einer christlichen Historie der profane Aspekt hinzu

gewann. Auch an oder in den Decken dieser repräsentativen Räume weist kaum etwas

auf eine doch auch geistliche Residenz hin. Mit dem Habsburger-Saal und dem darunter

befindlichen Raum dürfte sich am ehesten die spezifische historische Situation zu der

österreichischen Schutzmacht und mit dem Speise- und Musiksaal das Interesse am

Musikalisch-Historischen widerspiegeln. Ansonsten erwartet man vergeblich, dass sich der

Geist und die immer wieder gepriesenen literarisch-intellektuellen Leistungen von Abt

Gerbert und seinem Konvent in den (anscheinend nicht erhaltenen) Programmen und

Konzepten für die Ausstattung dieser Räume irgendwo niedergeschlagen hätten.

Wahrscheinlich wurde die auch inhaltliche Disposition der Abteiräume vor dem Brand bei

der Wiederherstellung weitgehend übernommen. Bei Schmieder (1929, S. 89/90) findet

sich eine Planungsspezifikation der Zimmer (in das "Neue Hofgebäu von 1731: z.B. "ein

Zimmer" - und? - 2 Cammern, 1 Gewölb''?)" für den Grosskeller, sowie Räumlichkeiten für

weitere Funktionsträger wie den P. Registrator, P. Oberrechner, P. Kastner und den

Hofkaplan, ausserdem "6 Zimmer für vorneme gäst, sambt cameren (= Schlafräume) mit

logierung derselben Bedienten, jedoch distinguiert, Holzlegungen (Öfen), s.(it)v(enia) loca

(Toiletten?). 16 andere Gastzimmer, theyls mit alcoven (Schlafnische) sambt Logierung

ihrer Bedienten, Holzulegen, secreta". Über eine motivische und im modernen Sinne

Bialostockis letztlich modal-stimmige Gestaltungsweise ist anscheinend nichts bekannt,

aber sie dürfte nach dem Brand von 1768 bei der Wiederholung beachtet worden sein.

Mag man bei dieser qualitativ sicher nicht exzellenten Raumausstattung hier auch wieder

die rhetorischen Begriffe wie aptum und decorum anführen, so ist doch der eigentlich

Hintergrundgedanke eine kosmisch-harmonische, politisch-rangmässige

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Ordnungsvorstellung.

Die wichtigsten Beteiligten wie Ludovico Bossi (Würzburg, Stuttgart, Freiburg) und Dixnard

(Stuttgart, Hechingen, Freiburg) überkreuzten sich vor allem im Bereich der adelig-

weltlichen Aufträge. An diese passte man sich auch in den Abteiräumen St. Blasiens an.

Während in der Schweiz zu dieser Zeit auch in Bürgerhäusern noch die Rocaille

Verwendung fand, wurde hier in St. Blasien schon etwas klassizistisch moderner darauf

verzichtet. Aber trotzdem kommen in den Ecken und Hohlkehlen (ab)bildhafte, imitative,

illusionistische und szenische Elemente des Rokoko als Ausdruck der hergebrachten

kosmischen Ordnung immer noch zum Einsatz oder Antrag. Die wohl auch ursprüngliche

Farb- und Freskenlosigkeit entsprach dazu noch ganz dem purifizierenden

Zeitgeschmack. Es hat den Anschein, dass Abt Gerbert beim Wiederaufbau bzw.

Erneuerung der Ausstattung der Abteiräume weder inhaltlich-fortschrittlich noch

künstlerisch-qualitativ besondere Ansprüche möglicherweise auch aus Zeitgründen

gestellt hat. Sein noch weiter zu differenzierendes Augenmerk galt vorrangig dem Neubau

der Klosterkirche, der im folgenden einer etwas ausführlichen und manchmal etwas

redundanten kritischen Betrachtung unterzogen werden soll.

Die neue Klosterkirche

Eine kurze Baugeschichte

Der verheerende Brand vom Samstag, den 23. Juli 1768 ausgehend vom Theatersaal

eröffnete dem erst vor vier Jahren zum Abt gewählten Martin Gerbert (1720-1793) die

Möglichkeit (und Notwendigkeit), sich als Bauherr zu erweisen und dem Kloster eine

ansehnlichere, sprich symmetrische Gestalt wie Einsiedeln, Weingarten u.a. zu geben. Die

Gerüchte, dass die Klosterherrschaft wie weiland Kaiser Nero im alten Rom selbst etwas

nachgeholfen hätte, ist wohl üble Nachrede (der 'Salpeterer'?). Die Äusserungen Abt

Gerberts, dass die vermeintlichen Brandhelfer aus der nicht sehr zahlreichen Bevölkerung

der Umgebung St. Blasiens mit dem jetzt zugänglichen Klosterwein mehr ihren 'inneren

Brand' gelöscht hätten, spricht wohl auch noch für das immer noch gespannte Verhältnis

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zu den Zwangsuntertanen (vgl. die Salpetererunruhen von 1745). Dass anfänglich (vgl.

Schmieder 1929, Anhang S. 90) in einer Umfrage erwogen wurde, das Kloster ähnlich wie

St. Georgen ganz neu auf den eigenen, reichsfreien Grund in die Herrschaft Bonndorf zu

verlegen, hängt vielleicht auch damit zusammen. Vielleicht ahnte man aber auch in St.

Blasien die kommende Entwicklung in Österreich unter Joseph II und meinte eine grössere

Unabhängigkeit vom habsburgischen Schutzvogt anstreben zu müssen. Aus den bei

Schmieder 1929 und Franz 1985 angebenen Fakten und Daten lässt sich für die erst

Planungsphase folgendes Szenario interpretieren bzw. interpolieren: die Nachricht von

einem Grossbrand in einer sehr vermögenden Abtei verbreitete sich sicher in Windeseile

oder wie ein Lauffeuer und lockte alle Architekten der näheren und ferneren Umgebung

auf den Plan. Es dürften Kondolenzschreiben der benachbarten Potentaten eingelaufen

sein und Abt Martin II wandte sich an seine Amtsbrüder der bekannten

Benediktinerabteien möglicherweise um Rat oder Empfehlung sicher aber um

Reliquienersatz. Aus der unmittelbaren Nachbarschaft boten sich der in Hüfingen

ansässige fürstenbergische Hofbaumeister Franz Joseph Salzmann und der noch vor

wenigen Jahren mit Nebengebäuden wie dem Torbau bzw. 1757 der Ausbesserung der

Fassade beschäftigte Deutschordensbaumeister Franz Anton Bagnato aus Altshausen an.

Der modernste Bewerber war zweifelsohne der in Stuttgart 1763/64 als Zeichner und

Theaterarchitekt bei Servandoni angestellte Südfranzose Pierre Michel Dixnard, der vom

18.5.1764 bis 29.9.1766 beim Fürsten Joseph Wilhelm von Hohenzollern in Hechingen

angestellt war, dann für den Grafen von Königsegg spätestens ab 30.3.1767 das

Königeggwalder Schloss errichtete und für die mit letzterem verwandte Buchauer

Fürstäbtissin den Stiftsumbau entworfen hatte. Von allen drei (Bauherren und Baudame)

gingen am 27. Oktober 1768 oder im Herbst Empfehlungsschreiben für den umstrittenen,

von den Einheimischen (und nicht nur von den Konkurrenten) angefeindeten Dixnard ein.

Leider findet sich bei Franz 1985 kein Versuch eines Itinerars des Franzosen. Es ist aber

anzunehmen, dass der bis 1769 in Buchau ansässige Baumeister, der z.B. Juli 1767 Abt

Anselm II in Salem aufsuchte, auch bei Abt Gerbert noch im August oder September 1768

in St. Blasien vorstellig wurde zur Sondierung der Örtlichkeiten, der Vorstellungen und zu

ersten Planungen. Zumindest wurden am 1. Oktober 1768 schon allgemeine Verträge mit

dem Hohenzollerisch-Hechingischen 'Rath und Baudirector' Dixnard und mit Salzmann

geschlossen (vgl. Schmieder 1929, Anhang S. 72-74). Die dabei vorgesehene

gegenseitige Kontrolle weist Abt Gerbert als vorsichtigen, eher auf Sparsamkeit und

Dauerhaftigkeit achtenden Bauherrn aus. Einen Ideenwettbewerb oder eine Art

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Ausschreibung veranstaltete er aber aus Zeitgründen nicht. Andererseits vermittelt der

Vertrag nicht den Eindruck, dass es dem Abt darum ging seine eigenen Vorstellungen zu

konkretisieren oder ins Werk zu setzen. Die noch allgemein formulierten Wünsche des

Bauherrn waren: ein"ansehnliche", den eigenen Kräften und Gott "angemessene Kirche

und Tempel"..."gute dauer und hinlängliche Bequemlichkeit ... gar keine besondere Zierde,

oder andere Kostbarkeit...". Konkretes wie z.B. etwas 'Pantheonoides' ist zu diesem

Zeitpunkt nicht zu erfahren.

Auch dem Gutachten des im Priorat Oberried lebenden Sohnes des Rottweiler Malers

Johann Achert, P. Felix (Franz Ignaz) Achert (1713-1798), vom 10.11.1768 ist zu

entnehmen (vgl. Franz 1985, S. 47), dass erste Entwürfe von Dixnard (Franz 1985, Abb.

34/35) vorgelegen haben müssen, aber dass doch noch eine grosse Unsicherheit und

Unentschiedenheit herrschten. Neben der möglichen Position des Hauptaltares vor oder

hinter den Chor - dieser sogar über der Sakristei erhöht - wurde auch auf die Türme und

das Frontispiz als äussere Zierde und die (im Entwurf gar nicht angezeigte)

Deckenmalerei abgehoben. Auf zwei ovale Grundrissvarianten mit Doppelturmfassade

und noch zehn Altären unbekannter Hand (Schmieder 1929, Abb. 57), die mit Wandpfeiler

und Emporen an die Vorarlberger Schule erinnern, wird leider kaum eingegangen.

Am Dienstag, den 13. Dezember 1768, als sich alle Amtsträger St. Blasiens zum 'grossen

Rat' trafen, wurde vom Abt erstaunlicherweise noch zur Disposition gestellt, ob man das

Kloster samt Kirche wie gehabt nach alten Plänen mit örtlichen Bauleuten oder verändert

mit einem Architekten wiederaufbauen sollte, wobei aber schon Pläne bzw. Entwürfe

Dixnards vorlagen. Auch für die zweite Entscheidung, ob man den Zentralbau (?) Dixnards

im 'Escorial-Typus' wie in Weingarten oder Einsiedeln zwischen die Innenhöfe integrieren

oder wie in Ottobeuren, Marchthal vorgestellt oder an der alten Stelle ausserhalb belassen

sollte, wurde vom Abt um ein Votum nachgesucht. Wenn Abt Gerbert eine dezidierte

eigene Vorstellung gehabt hätte, hätte er wohl nicht auf diese Weise eine Entscheidung

treffen lassen (oder war dies seine majeutische Taktik?). Trotz der Kenntnis Gerberts von

römischen Pantheon, der Kirchen von Paris und Wien aus eigener Anschauung ist es nicht

sicher, ob der Zentralkuppel-Gedanke ursprünglich von ihm selbst herrührte, oder ob im

Gespräch auch über Grabesrotunden, Geltungsansprüche u.ä. diese Bauform gemeinsam

entwickelt wurde. Karn 1981, S. 161 sieht Gerbert als Vater des Pantheon-Gedankens,

indem er sich auf das schmeichelhafte Vorwort in Dixnards 'Receuil ...' von 1791 ("en

développant vos idées") stützt, um aber auch zu erwähnen, dass Gerbert das Pantheon in

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seinen Reisebeschreibungen (1767) mit keinem Wort erwähnt. Nicht nur aus

Kostengründen sondern auch aus Befürchtungen der Missgunst der Umwelt bei zu

grosser Pracht war der sicher feinfühlig die Stimmungen wahrnehmende und vorsichtige

Abt eher ein Bremsender, z.B. auch bei der an alte Traditionen anknüpfenden Idee

Dixnards von einer Unterkirche (nicht nur für die "Habsburger Leichen") angeblich wegen

gottesdienstlicher Bedenken. Das erwähnte nur an die bayrischen Klöster und Kirchen

gerichtete Kirchenbau- und Ausstattungsmandat des Münchner Kurfürsten vom 1770 ist

Ausdruck der nicht sehr günstigen Ausgangslage.

Als ein weiteres Zeichen der Unsicherheit, mangelnder Kennerschaft und praktischer

Erfahrung und nicht nur der Vorsicht (und Prestigegewinnung) kommen die verschiedenen

vom Abt angeregten Gutachten, wie z.B. bei dem über J.E. Werdmüller von Ellg aus

Zürich vom 27.2.1770 übermittelten Gutachten eines unbekannten Dritten (David Vogel

nach Hans Jakob Wörner), wo es letztlich um Abweichungen vom Idealvorbild des

römischen Pantheons geht. Abt Gerbert und Dixnard dürften diesen Bau eher in der

Variation des Pantheon gesehen haben schon wegen der stärker kathedralartigen

historisierenden Doppeltürmigkeit der Fassade, auch wenn 'La Rotonda' seit Bernini und

bis ins 19. Jahrhundert zwei kleine Glockentürme besass. P. Paul Kettenacker (Schmieder

1929, S. 38) schreibt in seinem Nekrolog: "Gesta Martini II" nur von einem "templum ... in

forma rotunda ad imitationem Vaticani Romae" (also der Peterskirche in Rom und nicht

unmittelbar des Pantheons). Das weiter Genannte macht deutlich, dass Abt Gerbert neben

der Kirche und dem Kloster eigentlich nur architektonisch anspruchslose Profan- und

Zweckbauten hat errichten lassen. Ein stilistisch speziell gearteter 'Bauwurmb' scheint

nicht in ihm gehaust zu haben. Kettenacker erwähnt auch nicht Gerberts Ideenbeitrag

sondern nur seine Präsenz und seine anspornende Überwachungstätigkeit.

Auf der schon genannten Entscheidungssitzung vom 13.12.1768 waren sicher nicht nur

die bei Franz 1985, S. 59, Abb. 34/35 abgebildeten Bleistiftskizzen und die wegen dem

hohen Tambour nicht so sehr an das Pantheon erinnernde Fassadenansicht mit einem

schon dem 'Ersten Projekt' 1768/69 angehörenden Querschnitt eines hängenden

hölzernen Halbkugelgewölbes (vielleicht sogar ohne Malerei gedacht) innerhalb eines

etwas gesteltzten, nicht ganz halbkugelförmigen Aussengewölbes und ohne innere

Säulenreihe vorgelegen. Die effektvoll und anschaulich getuschten Präsentationsentwürfe

des 'ersten Projekts' zeigen in den Schnitten eine barocke, theatralisch indirekt belichtete

dreischalige Kuppellösung, die zusammen mit den Emporen kaum einen Pantheon-

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Eindruck vermittelt. Auch wenn man sich um 1769 noch nicht ganz über die Fassade, die

Rotunde und das Gewölbe im klaren war, hat man doch schon um das Chorgebet

baldmöglichst wieder in normaler Umgebung abhalten zu können, den früheren Mitteltrakt

etwas verbreiternd gleich nach dem Frost im Frühjahr 1769 mit Sakristei, der dahinter

liegenden Gruft und dem Chor bis zum Anschluss an die Rotunde in Angriff genommen,

was von aussen sehr schlicht, fast 'hirsauisch' wirkt. Der mit der Zweistöckigkeit und der

Kolonnade an die Versailler Hofkapelle und im Vergleich mit dem Zwiefalter Langhaus

stärker an eine 'Bahnhofshalle' erinnernde Chorbereich dürfte Ende 1771 im Rohbau

fertiggestellt gewesen sein, sodass Bossi nach Entwürfen Dixnards seinen weitgehend

ornamentalen Stuck 1772 anbringen konnte. 1774 wird vom fast fertigen Chor

gesprochen, allerdings ohne das von Pigage entworfene Chorgestühl. Von 1770 bis 1772

rang man in St. Blasien v.a. um die Fassade und die Kuppel der Rotunde. Von einer

vorgezogenen Porticus mit Dreiecksgiebel wie im röm. Pantheon, Soufflots Ste.

Geneviève (jetzt Panthéon) in Paris oder der Hedwigskathedrale in Berlin, die dezidiert

nach Friedrich dem Grossen auf das römische Pantheon zurückgeht, gelangte man zu der

vielleicht von Servandonis St. Sulpice in Paris beeinflussten, mit einer Balustrade

versehenen Vorhalle in Flucht der jetzt vorgezogenen Turmstümpfe ("Thürmchen oder

Pavillon" nach Nicolai; "Pylone" nach Wörner). Da Abt Gerbert (?) den gross und quer mit

Dixnard signierten Grundriss im Frühjahr 1772 hat stechen lassen, war dieser die zu

diesem Zeitpunkt gültige Zwischenlösung. Für die immer kritisch und ängstlich beäugte

Kuppelgestaltung, aber auch der Anerkennung wegen fuhr Dixnard 1772/73 nochmals

nach Paris z.B. zu dem Baumeister des Stuttgarter Neuen Schlosses, Philippe de la

Guêpière, mit voller Unterstützung von St. Blasien. Trotzdem müssen bei Abt und Konvent

weiter grosse Unsicherheit wegen der Kuppel bestanden haben, da trotz erreichter

Bauhöhe von 9 m noch der Kurpfälzische Baudirektor Nicolas Pigage in Mannheim gehört

wurde. Er kritisierte (erst Frühjahr 1774?) in einem undatierten Schreiben neben anderem

auch aus statischen Gründen die Planung der Kuppel (zu schwache Fundamente u.a.).

Mittlerweile war Dixnard nach einem nicht abgesprochenen Treffen im Dezember 1773

sogar mit der Kaiserin Maria Theresia in Wien, bei dem er (Selbst-) Werbung für seinen

aufwändig erscheinenden Bau gemacht hatte, bei Abt Gerbert in Ungnade gefallen,

sodass sein 1774 ausgelaufener Vertrag (aber auch der Salzmanns) nicht verlängert

wurde. Ohne richtigen Vertrag, aber mit grosszügigen 'douceurs' wurde Pigage kurzzeitig

der Nachfolger Dixnards. Ihm ist die durch Strebepfeiler und eine Attika veränderte Lösung

samt der einfachen Holzinnenkuppel mit dem flachen Spiegel, die Innendekoration, die

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Zurücksetzung der Altäre zwischen die Säulen an die Aussenwand und weiteres zu

verdanken. Erstaunlicherweise hat Dixnard in seinem schon 1779 gestochen

Architektursammelwerk die Änderungen Pigages eingearbeitet und andererseits von

seiner unausgeführten Idee einer Grabes-Unterkirche oder Krypta nicht abgelassen.

Dixnard und Abt Gerbert und ihre Beziehung

Der seit Ludwig Schmieder (1929) und Erich Franz (1985) weitgehend geklärten äusseren

Baugeschichte der Domes von St. Blasien ist kaum mehr etwas hinzuzufügen. Wenig

Genaues - wie schon gesagt - wissen wir über die Beweggründe der beiden

entscheidenden Akteure, des fürstäbtlichen Bauherrn und seines (ersten) Architekten

Pierre Michel genannt Dixnard. Dieser war gelernter Schreiner bzw. Zimmermann und

schon im Alter von 19 oder 20 Meister in Nîmes. Dixnard kommt also nicht wie viele

deutsche Baumeister vom Maurer- oder Steinmetz-Handwerk her. Seine

Ornamententwürfe, das Additive, das Möbelmässige und Innenarchitektonische belegen

dies zu genüge. Der von Nîmes Gebürtige hatte 1751 in Cadenet bei Avignon die etwas

ältere Therèse Isnard geheiratet, die 1752 einen Jean Pierre Michel zur Welt bringt.

Trotzdem verlässt Pierre Michel Februar 1755 diesen Ort und die Familie, um unter dem

Mädchennamen seiner Frau sich etwas nobilitierend als d'Ixnard (ab etwa 1767) in Paris

und andernwärts bekannt zu machen. 1758 wurde er noch als Sieur Michel de Nismes

vom Architekten Jacques Francois Blondel als Praktiker ohne grosse theoretische

Kenntnisse in der Architektur beurteilt. Nach den Forschungen von Erich Franz scheint er

bis 1763 in Diensten des Hauses Rohan-Montauban gestanden zu haben. Mitte 1763 ist

er - wie schon angedeutet - als Gehilfe des 68jährigen Servandoni bei

Bühnendekorationen zum 36. Geburtstag Herzog Carl Eugens von Württemberg (Februar

1764) wohl für hölzerne und gemalte, mit "goût et une précision" positiv bewertete

Architekturkulissen zuständig. Diese Referenz scheint ausgereicht zu haben, dass der

finanziell sehr klamme Fürst und Militär Joseph Wilhelm Eugen von Hohenzollern-

Hechingen (1717-1798) ihn als Baudirektor und Hofrat von 1764 bis 1766 für die

Neugestaltung des 1812/14 abgebrochenen Stadtschlosses in Hechingen anstellte. Von

da ab bestimmte Dixnard mit seinem neuen französisch-klassizistischen Stil sowohl im

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sakralen Bereich (St. Blasien, Buchau, Konstanz, Salem, indirekt auch Wurzach) wie im

weltlichen Bereich (Königseggwald, Buchau, Meersburg, Ellingen u.a.) Süddeutschland.

Allerdings waren es zumeist Umbauprojekte, Modernisierungen kleineren Ausmasses.

Von dieser Grösse und dieser Art (Zentralbau mit Kuppel) hatte Dixnard in St. Blasien

noch nichts vorzuweisen, sodass der spätere Abt Moritz Ribbele bei seinem Besuch 1770

im (konservativen) Zwiefalten sich die Frage stellen lassen musste, wie "es sein Kirchen

Gebäu einem solchen Baumeister anvertraue(n könne), der noch keine längliche Prob von

sich (ge)geben (habe)" (vgl. Franz 1985, S. 60). Nach Ribbele war Abt Gerbert wohl "in die

höchste Crisis gesetzt" und ging ein Wagnis ein, woraus sich auch seine schon

angesprochene Vorsichtigkeit und Ängstlichkeit teilweise erklären lassen. Aber er schätzte

(1769) an Dixnard dessen "feinen goût", "behand(e; schnelle) und glückliche

Erfindungsgabe und "tractible(n)" oder umgänglichen Charakter. Die Zusammenarbeit und

das Verhältnis müssen so eng, so intensiv geworden sein sein, dass der Abt ihn 1773

allerdings nur einmal gar als Freund angesprochen hat. Dixnard zeigte sich in Paris als

anhänglicher und dankbarer Diener seines Arbeitgebers. Er sparte auch nicht mit einem

weiteren Kompliment, dass Abt Gerbert der einzige deutsche Prälat sei, der einen solchen

gereinigten, verfeinerten, geläuterten ("épuré") Geschmack hätte. Das fast allgemeine Lob

des Kirchenbauprojektes von St. Blasien sollte auf die beiden Protagonisten fast

gleichermassen zurückfallen, da man wohl an einem gemeinsamen Strang zog: "eine 'edle

Einfalt ("noble Simplicité", um den Schlachtruf des ästhetischen Feldzuges der

Winckelmann-Richtung zu gebrauchen) wie die schönsten Werke der Antike" (9.6.1770

Dixnard an Abt Gerbert, den Strassburger Schöpflin zitierend), oder: "ein dem Dienst

Gottes geziemende(r) Tempel (von) simple(r) Bauart erwählt habe, die nur allein in einer

gueten Architektur bestehet ... ohne teure Auszierung" (Abt Gerbert am 20.1.1774). Auch

der Fürst von Hohenzollern-Hechingen spricht für seinen immer noch Hofrat Dixnard von

einem "chef d'oeuvre d'architecture' wegen der Schönheit, der Grosszügigkeit u.a.. Zum

Konflikt zwischen beiden kam es - wie gesagt - bei dem eigenmächtigen, selbstbewussten

Vorpreschen bei der Kaiserin Maria Theresia in Wien, weil Abt Gerbert den Tadel des

Kaiserhauses wegen Kostspieligkeit befürchtete. Ausserdem monierte er Dixnards

'Geschäftigkeit aus Eigennutz'. Es ist auch anzunehmen, dass der Abt die Einschätzung

Dixnards von dem später hinzugezogenen Mannheimer Hofarchitekten Nicolas de Pigage

als "bon Gascon" oder "guten redlichen Gasconer" (16.7.1777), als 'Prahl-Michel' oder

Grossschwätzer etwas geteilt hat. Das Verhältnis der beiden scheint sich soweit wieder

normalisiert zu haben, dass Dixnard sein als 'Receuil d' Architekture' abgebildetes Lebens-

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Werkverzeichnis dem Fürstabt ausdrücklich in aller Bescheidenheit und Anmassung

widmete, aber als (auch wieder etwas gescheiterter) Architekt seiner königlich-

kurfürstlichen Hoheit von Trier in dankbarer Erinnerung an den Erfolg des St. Blasien-

Projektes (Abtei, Kirche und Chor separat). Er sei - so schreibt er im Vorwort - glücklich

gewesen, ein Bauwerk zu errichten unter Entwicklung der Ideen des Auftraggebers, das

den Beifall verdient hat. Weiters spricht er den "gout" (Geschmack, Neigung, Lust)

Gerberts für die Künste allgemein an, was hier noch zu hinterfragen sein wird.

Abt Martin II Gerbert

Der einer besseren Familie mit einer als 'von und zu Hornau' geadelten Seitenlinie

entstammende, in Horb geborene Martin II war sicher ein hochgebildeter Mann, der auch

die 'Schönen Künste' bis in seine Gegenwart einigermassen kannte. Allerdings ist der

Leser der 1767 ins Deutsche übersetzten Beschreibung seiner Reisen in Alemannien,

Welschland und Frankreich dahingehend sehr enttäuscht. Die kurz vor St. Blasien

vollendeten Kirchengebäude z.B. von St. Gallen (S. 75), Ottobeuren (S. 138), Zwiefalten

(S. 197) werden nur mit Stereotypen bedacht. Auch in Rom und Paris hat er nur Augen für

die Büchersäle, irgendwelche Rara oder möglichst alte Inschriften u.ä. Ein wirkliches

Interesse von seiner Seite an Kunst oder Künstler und auch an den dargestellten Inhalten

wird nicht erkenn- oder spürbar, was auch schon Detlef Zinke, in: St. Blasien 1983,II, S.

275, konstatieren musste. Am empfänglichsten ist er für die (geistliche) Literatur und das

nach eigener Aussage "schon mit der Muttermilch" einsogene Musikalische, ja trat er doch

ähnlich wie Abt Nikolaus Betscher von Rot a.d.Rot als Komponist auf vergleichbar mit dem

optisch-theatralisch ausgerichteten Abt Benedikt Mauz von Zwiefalten,

bezeichnenderweise mit einem stilistischen Wechsel vom spätbarock mehr instrumentalen

Stil seiner Jugend zu der durch das Romerlebnis (1759) vereinfachten, mehr vokalen und

homophonen Art Gregorianik seiner Mustermesse zur Einweihung im Jahre 1783.

Eigentlich hätte man bei dem so historisch denkenden Mann wie Gerbert sich für sein

Kirchengebäude auch fast schon so etwas wie eine Art Byzantinismus, Neoromanik

vielleicht auch in der für St. Blasien wichtigen schlichten Hirsauer-Richtung vorstellen

können oder als Oktogon wie im elsässisch-habsburgischen Ottmarsheim, was aber mit

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dem wenn auch schlichten Barock des wiedererrichteten Klostertraktes stilistisch sicher

nicht in Harmonie und in Linie zu bringen gewesen wäre. Ob man aus der vom Sekretär

und späteren Abt Moritz Ribbele gegenüber Nicolai erwähnten Ablehnung von

Porträtsitzungen seitens Gerberts nach 1783 Uneitelkeit, Zeitökonomie, Verdrängung des

Alterns oder einfach nur Desinteresse am Individuell-Physiognomischen und auch am

Optisch-Künstlerischen ableiten kann, muss etwas offen bleiben. Trotzdem Detlef Zinke

1983, II, S.277 nach seinem Eindruck von einem "intensiv(en) ... Auf- und Ausbau der

Stiftsammlungen" spricht und berühmte Namen wie Raffael, Dürer, Holbein, Watteau,

Teniers nennt, übergab Gerbert auf Grund des Urteils "erfahrener Kunstkenner" einige

dieser ihm 'angedrehten' schlechten Kopien dem Feuer. Auch Zinke nimmt an, dass das

Schwergewicht in St. Blasien auf der dem Buch näheren Druckgrafik gelegen hat, wobei

Hirsching 32 000 (weitgehend verschwundene) Blätter und mehr den Sekretär, Archivar

und späteren Abt Ribbele in diesem Zusammenhang nennt als Abt Gerbert. Ribbele

schreibt an Nicolai von einer (eigenen?) kleinen, nach Schulen geordneten Sammlung.

Statt in einer eigenen Galerie scheinen die Gemälde über die Räume verteilt gewesen zu

sein. Hirsching erwähnt nur 36 Nummern aber mit teilweise grossen Namen: Holbein,

Dürer, Grünewald (Nr. 23: Kopie), Rubens (Nr. 6), Elsheimer, Reni, Ostade, Bassano, van

Dyck bis G. B. Tiepolo, also eine Mischung von Altdeutschem, Flämischem und

Italienischem, wovon nur noch sechs in St. Paul i.L. nachweisbar sind. Einiges soll Gerbert

schon vor dem Brand aus Italien mitgebracht haben. Am vielleicht interessantesten ist die

(nicht unbedingt von Gerbert selbst angefangene) "Skizzen-Gallerie" von Spiegler, Troger,

Knoller (ob bei Knoller eher Joseph Mages, vgl. Nr. 23/24, gemeint war?), Wenzinger (S.

245/46), Johann Zick und Caspar Wolf (1772). Nirgendwo ist zu entnehmen, dass Gerbert

wie Blasius III eine grosser "Liebhaber der Gemähl" gewesen sei. Und trotz des Lobes von

Dixnard scheint er kein grosser Kenner gewesen zu sein, auch wenn er den Verlust der

"vornehmsten Gemälde ..., (der) "herrliche(n) Sammlung" von Kupferstichen zum

"anregenden und nützlichen Unterhalt der Gäste" beklagt und das "mehreste außer denen

besten (Gemälden) in der eigen Wohnung" gerettet hat.

Zu der gemässigten, gezügelten Sinnlichkeit Gerberts muss man die theologische Position

und religiöse Haltung des eigentlich auch vom protestantischen Umfeld immer als

aufgeklärt, tolerant, menschenfreundlich angesehenen Abtes und (Ehren-) Mitglied

verschiedener Akademien und Sozietäten etwas selektiv beleuchtet werden. Wenn man

die theologischen Schriften Gerberts Revue passieren lässt, ist sein 1758 erschienenes

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Buch über den rechten Gebrauch der scholastischen Theologie eine Kritik an der damals

an den jesuitischen Universitäten praktizierten aristotelisch-syllogistisch-scholastischen

Methode: statt Wahrheit der göttlichen Offenbarung das Trachten nach dem Ruhm des

dialektisch-rhetorischen Sieges (vgl. Dilger 1983, S. 137). Mit seiner "Theologia cordis"

steht er eher der sensualistisch-empfindsamen, emotionalen rousseauhaften Aufklärung

etwas näher. Der anfänglich und nach aussen progressiv im Sinne eines

Reformkatholizismus auftretende Gerbert hat aber z.B. nie den Reliquienkult oder andere

Positionen der katholischen Kirche (z.B. Ablehnung des Febronianismus) in Frage gestellt.

V. a. nach der Brandkatastrophe ist sein Eifer bei der Beschaffung neuer 'Überbleibsel'

unverkennbar. 1762 veröffentlichte er Schriften wie "Über die Strahlen der Göttlichkeit in

Werken der Natur" oder "Über die Vorsehung und die Gnade" anscheinend gegenüber

einem Pantheismus eines Baruch Spinoza und dem Skeptizismus eines Pierre Bayle

(Deissler 1983, S. 141). Gegen Ende seines Lebens im Jahre der französischen

Revolution und unter dem Eindruck einer wachsenden Kloster- und Religionsfeindlichkeit

verfasste er ein augustinisch anmutendes Werk: "Die kämpfende Kirche, das Königreich

Gottes auf Erden, in ihren Schicksalen vergegenwärtigt" mit apokalyptischen und

chiliastischen Endzeitvorstellungen. Karn erwähnt 1981, S. 165 noch einen anonym 1791

in St. Blasien gedruckten "Nabuchodonosor somnians regna et regnorum minas a

theocratia exorbitantium", der ebenfalls in aufgeklärten Kreisen vorwiegend Kopfschütteln

auslöste. Das 1000jährige christliche Reich seit Karl dem Grossen müsse um 1800 sein

Ende finden, zumindest eine Vorahnung von Napoleon (als Antichrist?) und Tod des

pufendorfischen "Monstrums", des 'Heiligen römischen Reiches' (deutscher Nation).

Ähnliche Ahnungen haben auch die Äbte des Prämonstratenserklosters Weissenau in

ihren Tagebüchern beschlichen. Insgesamt sollte man den gebildeten und als Historiker

und Theologe sicher hoch einzuschätzenden Martin Gerbert als fortschrittlichen Aufklärer

nicht zu hoch in den geistesgeschichtlichen Ruhmeshimmel heben. So schreibt Ulrich L.

Lehner in : 'Enlightened Monks - The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2011, S.

206: "... no traces of any Enlightenment influence can be found in Gerbert's writings.

Rather, his work seem to stem from his monastic fervor, the ideals of the Tridentine

Reform, scripture based theology, and the Maurists, who had discovered Partistic

Theology".

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Weitere Einzelbeobachtungen

Eine grosse Schwierigkeit ergibt sich allerdings für St. Blasien, weil im Vergleich den

anderen hier behandelten Benediktinerabteien der ursprüngliche Bestand d.h. etwa der

Zeit von 1783 bis 1785 und das Aussehen doch noch stärker rekonstruiert ist.

Der Chor

Ähnlich wie in der Malerei (vgl. Franz Matsche) lässt sich auch in der Architektur nach ca.

1770 eine Anlehnung an die 'klassische' hier mehr französische Kunst des 17.

Jahrhunderts feststellen. Der erst 1775 zu Ende gebrachte Marmorsaal des Stuttgarter

Neuen Schlosses zeigt im übrigen (zumindest in der Rekonstruktion) eine mit dem Chor

St. Blasiens verwandte Farbauffassung. Die farbige Alabasterinkrustation - nach den

Verträgen vom 15.3. und 2.4.1773 wohl noch in diesem Jahr von Johann Caspar Gigl

gefertigt - geben wie üblich dem ganzen Chorraum wie auch versteckt beim sogenannten

'Abtschörle' (vgl. Schmieder 1929, S.186: Alabaster, Marmor und Jaspis) eine höhere

Wertigkeit, obwohl der Bereich des von beiden Seiten verwendbaren Hauptaltares als

Zentrum mit dem Allerheiligsten doch mehr zum Choreingang hin liegt. Ob von Dixnard

und Gerbert schon früh ähnlich wie heute der Kontrast zu der nur in verschiedenen

Weisstönen gehaltene Rotunde (vgl. Sander 1781 u. Nicolai 1796) so angedacht war, ist

wohl zu vermuten.

Spätestens Ende 1771 anlässlich des Vertrags mit dem Stukkator Ludovico Bossi für die

Dekoration zumindest über dem Gesims in dem durch Fenster eingeschnittenen und durch

Gurtbögen gegliederten Längstonne müsste eine die Gesamtikonographie des Raumes

betreffende Vorstellung existiert haben, wie der Ende 1771 wohl zu datierende

Dekorationsentwurf Dixnards nahelegt (vgl. Franz 1985, S. 70 Abb. 45/46 einen um 1770

datierten Salzmann-Entwurf noch mit dem Gruftunterbau und dem erhöhten Chor).

Manche dekorative Elemente scheinen weggelassen worden zu sein. Nach Ludwig

Schmieder 1929, S. 181, der sich wieder auf einen Oberamtmann Weiß (Weiß, Bd.IV, S.

73) beruft, befand sich über der Orgel das Zifferblatt einer Uhr, vgl. 1983,I, Kat. 73 (heute:

eine Wiederholung des 'Lammes') gegenüber, über dem Doppelaltar das Trinitätszeichen

mit 'Jehova', dann folgend das 'Lamm Gottes auf dem Buch' und die 'Hl. Geist-Taube'. Die

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anschliessenden sieben schlusssteinartigen Stuckreliefs von ca. 150 cm Durchmesser

haben sich nicht erhalten. Sie sind auf dem Dixnard-Stich vage erkennbar, werden von

Weiß auch versuchsweise beschrieben und als Planeten oder als Allegorie des

Himmelsgewölbes gedeutet. Weniger ungewöhnlich und mehr Sinn würde es machen die

Siebenzahl mit den konventionellen, auf die Mönche darunter herabzukommenden 'Sieben

Gaben des Hl. Geistes' darin zu sehen (wie auch schon von Franz 1985, S. 250, Anm.

336), etwa in der Abfolge der Beschreibungen von Weiß: 1. scientia; 2. intellectus; 3.

consilium; 4. sapientia; 5. fortitudo; 6. pietas; 7 timor Dei. - Auf S. 182 sieht Schmider in

den (nur heute?) vergoldeten Stucktondos die Apostel in Reliefprofilbildnissen. An den

Deckenfeldern des Umgangs waren noch 16 kleine Stucktafeln mit den 'arma Christi' und

anderen Symbolen angebracht. Über den Ausgängen zum Chorumgang standen in

goldenen Lettern noch sinnvoll für das Chorgebet aus Psalm 103, v.33 die vielvertonten

Worte: "cantabo Domino in vita mea" (östlich) und "Psallam Deo meo, quamdiu sum

(westlich). Der eigentliche Mönchschor mit dem letztlich von Pigage 1776 entworfenen,

bewegteren Gestühl hat(te) etwas Kasten-Verlies-Kerkerartiges an sich durch die hohen

Mauern, das schwarze Chorgitter, die Balustrade und die umlaufende, viel lichtere

Empore, die durch glatte Säulen mit freien ionischen Kapitellen rhythmisiert ist, auf denen

wiederum eine markanter mehrfach gestufter Architrav liegt.

Die Orgel

Am südlichen Ende der Empore eingepasst und nicht ganz so eingezwängt und so dunkel

wie heute zwischen Doppelsäulen und einem Architrav mit weit vorkragenden

Gesimsplatten einschliesslich eines dorischen Kymas stand die grosse, aber nach den

Wünschen des Abtes nicht zu registerreiche, ab dem 25.5.1772 geplante und sicher nicht

ganz so dunkel wirkende Silbermann-Orgel. Auf der Planche 11 des ''Receuil' mit dem

grandiosen Schnitt durch die Rotunde und dem Blick auf den Chor erscheint die Orgel wie

von der Seite indirekt beleuchtet. Auch auf dem früheren, aber doch schon der Ausführung

nahekommenden Salzmann-Entwurf von ca. 1770 (vgl. 1983, I, Kat. 73 m. Abb.) steht die

Orgel hell vor dunklem Grund. Ein früherer Dixnard-Entwurf des Prospekts oder 'Buffet'

(nach 12.3.1772) zeigt noch einige ikonographische Elemente, die auf einem Foto der

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nach Karlsruhe verbrachten, angepassten und 1945 verbrannten Blasianer Orgel nicht

mehr zu sehen sind. Das himmlische Puttenquartett (Horn, Posaune, zwei Sänger ? mit

Notenblätter?) und die Profilmedaillons weiblicher Köpfe an einer Palme mit

Doppelschlange (Lebenssymbol?) hängend bzw. von zwei Putten gehalten über den

beiden seitlichen Orgeltürmen sind in der Ausführung in St. Blasien etwas verändert

worden. Die Engelsatlanten oder fast Karyatiden sind zumindest in Karlsruhe eindeutig

männliche Figuren. Die den Musen ähnlichen Seitenfiguren und die Musikinstrumente der

Oberwerke sind verändert nach unten gewandert. Die Festons und Engelsköpfe wurden

durch Lambrequins vor Lorbeerzweigen ersetzt. Im untersten Stockwerk über dem

Spieltisch hingen an Lambrequins noch zwei Reliefprofilbildnisse (weiblich?, kaum

Mönche, Äbte), während auf dem Karlsruher Foto eine vielleicht nicht originale Wand mit

Flechtbändern, dazwischen Lorbeerkränze und darunter Gehänge mit Streichinstrument

(Geige) und Blasinstrument (Horn) zu erkennen ist. Aus dem von Schmieder 1929, S. 191

und Anhang, S. 99 und Könner 1992, S. 336 zitierten Brief von Abt Gerbert an seinen

Amtskollegen von Villingen-St.Georgen und Orgelexperten Cölestin Wahl vom 18.12.1771

geht v.a. hervor, dass zu diesem Zeitpunkt entschieden war, dass "die Orgel den

Hauptprospekt in der Kürchen aus mache(n)" solle, "wie sonsten der Hochaltar", der nun

auf "französische oder welsche arth à la Romaine mitten in den Chor unten aufgerichtet"

werden solle. Gerbert hat sich in Dixnards dekorativ-ikonographischen Entwurf vorerst

wohl mit keinen Vorgaben eingemischt, aber bei der Ausführung (1772 u. v.a. ab

25.8.1775) eine eher barockere Lösung favorisiert. Der noch allerdings mit

Rocailleornamentik (an der Spitze eine Mitra) versehene, von Silbermann wieder

hervorgezogene Entwurf (Könner 1992, S. 331 ff, Kat. 103) wirkt stilistisch überholt. Nach

Dixnards Zeichnung des 'Receuil' (Planche 11) und Schmieder 1929, S. 191 sass auf dem

Mittelturm noch ganz barock David mit der Harfe und standen an den seitlichen Türmen

Puttengruppen mit Palmen im Hintergrund wie auf dem besagten Salzmann-Entwurf. Nach

dem Vertrag vom 4.4.1773 mit Joseph Hörr ist von "Figuren und Kündle" die Rede

(Schmieder 1929, S. 192 u. Anhang S. 86). Die jetzt auf der Balustrade vor der Orgel

angebrachten gefassten hölzernen Zweiergruppen mit passender geschweifter Plinthe

dürften auf den Pedaltürmen der Orgel gestanden haben. Motivisch stellt die eine Gruppe

einen den Bogen Führenden und einen das Cello Haltenden dar: also die

Instrumentalmusik. An der anderen Seite bückt sich ein Putto nach Büchern

(Musikgeschichte, Musikliteratur, Liederbücher?), die ein anderer aus einem an die

Schnecke, den Hals eines Kontrabasses erinnernden Füllhorn (oder einem Schalltrichter)

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quellen lässt: insgesamt wohl eine Allegorie des Kirchengesangs. Der 'David

(Schutzpatron der Meistersinger, vgl. St. Urban und Berg am Laim) mit der Harfe' als eine

Art besänftigender Himmelsmusik, was die 'Königin der Instrumente' (einschliesslich fast

des Vokalen) beinahe leistet, scheint verloren. Die drei in Bauerbach bei Bretten

erhaltenen Putten sind nach dem Dixnard-Stich nicht richtig unterzubringen, nur zwei

halten sich auf dem Oberwerk seitlich des Mittelturms an den Pfeifen. Auf dem erwähnten

Salzmann-Entwurf besitzen die beiden Puttenpaare noch Füllhörner mit Blas- und

Streichinstrumenten ikonographisch als eine eher simplere Lösung. Wieder fragt sich der

kritische Betrachter, ob Abt Martin hier bei den intellektuell am interessantesten, aber

eigentlich noch barock gedachten Allegorien eingegriffen hat. Der Wechsel vom zumeist

bildhaften Hochaltarretabel zum Orgelprospekt stellt eher unbeabsichtigt eine Annäherung

an den Protestantismus mit seinen Altar-Kanzel-Orgel-Kombinationen dar. Die Rotunde

mit Kuppel lässt eher in die Runde und nach oben blicken, sodass nicht gleich eine

Richtung, ein Ziel zum 'Adyton' auszumachen ist. Gerberts Letztentscheidung zum

Verzicht auf einen 'Hoch'-Altar ist schon ein Traditionsbruch. Die Problematik des

'entrückten' Hochaltares in einer Klosterkirche mit Chorschranken, Gitter o.ä. in einer Zeit

des sich eigentlich Zum-Volk-Öffnens einschliesslich zunehmend pfarrkirchlicher Aufgaben

lässt sich an den hier schon erwähnten Beispielen vergleichend ganz gut nachvollziehen.

Das Chorgestühl

Ein weiteres nicht mehr 'original' erhaltenes, weniger von der Rotunde einsichtiges und

auffallendes Ausstattungselement ist das Chorgestühl. Nach Ludwig Schmieder (1929,S.

188ff) hatte ein Freiburger Bildhauer (Christian Wenzinger?) vor dem 12.2.1776 dafür

Zeichnungen geliefert, die Nicolas de Pigage als fehlerhaft einstufte. Zur selben Zeit liess

dieser schon durch die Gebrüder Pozzi in Mannheim ein Gips-Wachsmodell anfertigen,

das er Pfingsten 1776 in St. Blasien vorstellte. Im Frühjahr 1777 liefen dort einige

Angebote zur Ausführung ein, darunter das des Mannheimer Hofbildhauers Link, der im

Mai 1777 einen Kostenvoranschlag für einen Einzelstuhl einreichte, wobei er "nach der

Natur gearbeitete Traberie" oben und Girlanden, Karniesfries, Laubwerk an den übrigen

Stuhlelementen vorrechnete. Wie die Stühle aussahen vermittelt eine kommentierte, 1810

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datierte Zeichnung des später in St. Blasien tätigen Baumeisters F. Paul Fritschi (bei

Schmieder: Abb. 99). Man erkennt darauf als oberen Abschluss diese naturalistischen

auffälligen Tuchgehänge. Die Rückwand der hinteren höheren Sitzreihe wird von

hochovalen, Spiegel- oder Bild-ähnlichen ("Cul de Lampe" aus einem weiteren Angebot

des Bildhauers Mercie), gerahmten Elementen in Kopfhöhe gebildet. Die vorderen, etwas

niederen Rückenteile haben einen geraden, etwas verkröpften Fries. Die Docken oder

Wangen sind volutenartig geschwungen. Die Vorderwand ist mit rosettenbesetzten

Rechteckfeldern und einem Ornamentfries versehen. Aus einem vor 1874 entstandenen

und bei Schmieder (Abb. 107) wiedergegebenen Foto lässt sich dazu folgender Eindruck

gewinnen: das Eichen-Gestühl scheint zumindest im 19. Jahrhundert dunkel gebeizt,

lasiert oder gestrichen gewesen zu sein. Auch der an der Südwand befindliche

Abtsdreisitz ist zu erkennen mit seiner ebenfalls geschnitzten dunklen

Baldachinbekrönung, an der, wenn in dem Hauptaltarantependium nichts eingesetzt war,

das einzige bildliche, erzählerische Moment, das 'Opfer Isaaks' angebracht war. Dieses

aus dem alten Münster stammende Relief hatte Dixnard noch als Antependium für den

Hauptaltar vorgesehen. Man muss sich hier das auch in der Konzeption zeitgleiche

Wiblinger-Gestühl vergegenwärtigen. Wenn das Gestühl so dunkel gehalten war, ergab

sich farblich fast ein Gesamteindruck wie um 1700, wenn nicht die der Grundfarbentrias

folgende farbige Alabasterinkrustation vorhanden (gewesen) wäre. Die "Schwarzen"

(Benediktinermönche) sind in ihrem Gestühl und in dem dunklen Raum sicher kaum

aufgefallen. Wahrscheinlich hätte Dixnard eine weniger harmonische, aber gewichtigere,

antikisierende Note dem Gestühl vermittelt, ähnlich dem Salzmann-Entwurf vom 14.2.1772

(Franz 1985, S. 76, Abb. 52) oder schon in der Entwurfsphase von 1768/69 (vgl. Franz

1985, S. 53, Abb. 27) mit dem Winterchor-Vorhaben. Die Ausführung des von Pigage im

leichteren und zierlicheren Geschmack entworfenen Gestühls zog sich bis über 1781 hin,

da das Chorgebet in der hölzernen Notkirche ungestört vom Baulärm abgehalten werden

konnte. Welche stilistische Position Abt Gerbert selbst bezogen hat, wird leider wieder

durch den Übergang von Dixnard zu Pigage nicht deutlich. Aus den Angaben bei

Schmieder lässt sich herauslesen, dass bis auf den Altar und die Inkrustation

einschliesslich des von Pigage heftig als zu breit kritisierten Abschlussbandes der Chor

weitgehend von dem Mannheimer Hofarchitekten bestimmt wurde, da in seinem Auftrag

die Gebrüder Pozzi Gips- und Wachsmodelle nicht nur für das Gestühl sondern die

Chortüren, die Chornischen mit den nicht mehr vorhandenen Baldachinen und die

Falsistorien an der Verengung zur Rotunde, die darunter befindlichen Monumente für die

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Haupt- und Hausheiligen Blasius und Abt Berengar, sowie für die Zierrath des

"Chorgeräms" (Chorgitter) wie gesagt anfertigten, die Pigage am 29.5.1776 nach St.

Blasien brachte. Während bei Dixnard diese Monumente noch mit vollplastischen Figuren

der beiden Heiligen angedacht waren, sah Sander 1781 (vgl. Schmieder 1929, S. 180) an

besagter Stelle nur zwei Urnenvasen (vielleicht mit Inschriften oder Inschriftenplatten) vor.

Schon vor 1870 waren diese Monumente entfernt, da die Reliquien schon kurz nach der

Aufhebung nach Österreich verbracht wurden.

Das Chorgitter

Ausführlich behandelt Schmieder (1929, S. 192/96) das Chorgitter, dessen Mittelstück in

der Rotunde zum Haupteingang quasi jetzt vis-à-vis der ursprünglichen Aufstellung

erhalten geblieben ist. Es ist erstaunlich, dass auch nach den Eingriffen des sonst eher

"leicht und zierlich" orientierten Pigage doch noch so ein klassizistisch strenges Tor, das

sich in eine kunstgeschichtliche Portalreihe würdig einreihen liesse, herausgekommen ist.

Schmieders Text (S. 192-195) zu diesem Innenausstattungsgegenstand lässt sich

vielleicht so zusammenfassen: Nach einer Zeichnung Dixnards (Abb. 103) wurde mit dem

von Bonndorf stämmigen in Karlsruhe ansässigen Hofschlosser Carl Hugenest am 4.1.

1772 eine Vertrag mit einer Gesamtsumme von 4500 fl. abgeschlossen, wobei als

Kostenvergleich das obengenannte Zwiefalter Gitter (12 000 fl.) herangezogen wurde. Das

Gitter sollte ca. 12,5 m breit und 5 m hoch - an dem Bogen über dem Altar auf 7,6 m

Scheitelhöhe ansteigend - sein. Der Zugang wurde über zwei seitliche Doppeltüren

ermöglicht. Das in der Mitte des Doppelaltares angebrachte Eisengitter hätte somit den

Chorbogen wiederaufgenommen und einen freien Blick auf eine Altarhälfte gelassen bzw.

geradezu bewirkt. Es sollte allerdings schwarz angestrichen werden. Nur eine weitere

Türe in der davor befindlichen Kommunionbank sollte versilbert werden. Ausserdem waren

in dem Akkord mit Hugenest noch zwei Doppeltüren zu den Chorumgängen

eingeschlossen. Der Dixnard-Entwurf sah vier Pfeiler mit einem kräftigen, mehrteiligen,

kymaartigen Friesabschluss vor. An den senkrecht, teilweise mäandrierenden

Türfüllungen waren vier Medaillons mit Köpfen (aber nicht im Profil) geplant. Die beiden

anbetenden Engel und der mit einer einem kaum funktionalen Weihrauchgefäss ähnlichen,

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von Strahlen umgebenen Pyxis (nach Schmieder: ewiges Licht, nach Karn: die Hostie,

eine Art olfaktorisches Ostensorium?, was von der Adoration eher Sinn macht) kann man

sich in Gegensatz zu den Vasen kaum nur als getriebenes Messingblech vorstellen. Das

Antependium des einfachen Blockaltares auf drei Stufen ist reich verziert u.a. mit der

schon erwähnten Darstellung des 'Opfers Isaak'. Man wollte also ursprünglich das um

1700 angeschaffte Antependium des Hochaltares im alten Münster wiederverwenden (vgl.

1983, I, Kat. 75 u. 165). Vielleicht erklärt sich die seitenverkehrte Wiedergabe des Reliefs

mit einer möglichen grafischen Umsetzung. Auf der Mensa quasi als Predella liegt eine

vielleicht als Tabernakel zu öffnende (vollplastische?) Weltkugel, auf der ein schlankes

Kreuz mit dem daran gehefteten Weltenerlöser von zwei Engel gehalten angebracht ist.

Unter Pigage nach dem neuen Akkord vom 8. Juli 1775 sollte das Gitter nicht wie jetzt am

Ende der Nischen sondern sogar unter den Chorbogen, wo zumindest vor 1874 eine

Kommunionbankschranke sich befand, versetzt werden. War die Kommunionbank nun

dahinter etwa auf Höhe der Nischenmonumente? oder vorgezogen in Unterbrechung des

Rotundenumgang?. Ausgeführt wurde das Gitter hauptsächlich von Pfingsten 1777 bis

März 1779. Einen Monat wurde es noch in Karlsruhe in der Werkstatt als Sensation

ausgestellt, bevor es Mai 1779 in St. Blasien provisorisch und endgültig an Jacobi (25.7.)

1781 aufgestellt wurde. Wenn man die nach 1806, als man den Mönchschor durch eine

Wand abtrennte, entfernten und zwischen die Säulen der Rotunde zu den Ausgängen hin

gesetzten Teile des Gitters (vgl. Schmieder: Abb. 108) wieder unter den Chorbogen

plaziert, entsteht bei der relativ geringen Breite der Mittelflügel auch bei völliger Öffnung

nur ein enger Blick zum Altar und in geschlossenem Zustand ein Ab- und

Eingeschlossensein (Klausur). Optisch-ikonographisch wurde aus dem Dixnard-Bogen ein

'Hl- Geist'-Medaillon umgeben von einer Girlande auf einem Tuch. Die Engel wurden

durch Vasen ersetzt, die vier Porträt-Tondos (Evangelisten, Kirchenväter?) wurden auf

zwei reduziert: nämlich 'Petrus und Paulus' (auf beiden Seiten?). Die jetzt verlorenen

Seitenstücke waren anscheinend weitgehend schmucklos. Abbé Grandidier von

Strassburg stellte (auf den Seitenteilen) zwei Aufschriften fest: "gustate et videte, quoniam

suavis est Dominus, (Psalm 33v8)" und "adorate Dominum in aula ejus (Psalm 28v22)",

was auf Kommunion und Andacht abzielen soll. Nach dem Änderungsvorschlag von

Pigage vom 20.3.1779 sollten nur die beiden Medaillons "Petri et Pauli", der "Hl. Geist mit

Strahlen" und die genannten Inschriften, die vielleicht auf dem horizontalen Abschluss der

Seitenteile angebracht waren, vergoldet werden. Sehr aufschlussreich ist in diesem

Zusammenhang, dass Pigage statt der vom Abt gewünschten einfachen, billigen,

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schwarzen Ölfarbe ein viel weniger kontrastreiches, metallisches, dem Zeitgeschmack

auch näheres Bleigrau dringend empfiehlt. Die "2 große Medaillon" für 225.- fl. des

weitgehend unbekannten Strassburger Ziseleurs und Bildhauers Els kann man mit den

beiden Messing getriebenen Hauptaposteln Petrus und Paulus irgendwie doch noch

verbinden kann, auch wenn man sie anfänglich nicht mehr benötigte. Dixrand soll mit der

Frau von Els eine Affaire gehabt haben. Der Karlsruher Hofbildhauer Christoph Melling

musste anscheinend die "Models" zu diesen (zu kleinen) Medaillons für 15 fl. neu machen.

Ausserdem fertigte Els 8 Evangelistenköpfe (entsprechend der Vorder- und Rückseite des

Dixnard-Entwurfes?). Hugenest spricht nur von vier Evangelistenköpfen durch Melling für

14 fl. (also nur einseitig?). Die Hartholz-Modelle Mellings von "4 Evangelisten Köpfe um 14

fl. nach dem Entwurf Dixnards (jetzt im Profil?) werden mit den Messing getriebenen

Köpfen eines zweiflügeligen Kommunionbank-Tür verbunden, die nach Waldshut gelangt

sind und nach beiden Seiten die vier Grade des priesterlichen Standes: Diakon, Priester,

Bischof, Papst darstellen sollen. Für eine Kommunionschranke wahrlich ein

ungewöhnliches Thema. Schmieder meint dabei auch eine andere Hand (als Melling)

erkennen zu können.

Der Hauptaltar

Vor dem Verlassen des Chorraums muss noch der wohl um 1874 vorhandene Hauptaltar

erwähnt werden. Der einfache Block auf dem Dixnard-Entwurf ist nach Abb. 107 und 109

einer Sarkophag-Tumba-Form gewichen, die nach Grandidier (Brinkmann 1972: S. 304)

von Johann Caspar Gigl (+ 5.9.1783 in St. Blasien) von Landsberg mit schwarzem,

dunklem Alabaster ummantelt wurde wahrscheinlich schon vor der ersten Weihe und

Messe am 11. November 1781. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch einen zweiten Akkord

hauptsächlich wegen der beiden Kanzelaltäre und der restlichen sechs Nebenaltäre in der

Rotunde, die bis September 1783 fertigzustellen waren, wobei aber die letzteren erst

1784/85 nach Gigls Tod zu Ende gebracht und 1785 geweiht wurden. Ob der Entwurf für

diesen Altar auch schon von Wenzinger stammt, ist ungewiss. Ludwig Schmieder (S. 189)

liest aus einem am 12.2.1776 von Pigage verfassten Brief, dass ein Bildhauer in Freyburg

fehlerhafte Zeichnungen für das Chorgestühl gemacht habe. Vielleicht könnte es sich

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dabei aber auch um Joseph Hörr handeln, der bei Joseph Christian in Zwiefalten am

dortigen Chorgestühl mitgeholfen hatte und dem - wie bekannt - schon 1773 die

Verzierungen an der Orgel (nach eigenem Entwurf?) verakkordiert wurden. Ein gewisser

Kontakt zu dem im nahen Freiburg residierenden Wenzinger dürfte seit 1740 von beiden

Seiten weitergepflegt worden sein, der nach dem Ausscheiden von Dixnard und Salzmann

sicher aufgefrischt wurde. Aus den Abbildungen 107 u. 109 bei Schmieder geht noch

hervor, dass, nachdem man den Dixnard-Entwurf verworfen hatte, ein quasi

architektonisches sternbekröntes Tabernakel mit einer Wiederaufnahme der Kuppel auf

die Mensa gesetzt hatte neben den noch von Dixnard entworfenen sechs Kerzenständer.

Es sind noch zwei Gipsmedaillons (Maria und Johannes?) erkennbar, die an Bossi's

Medaillons an den Wänden der Chorgalerie erinnern. Zwischen den Leuchtern sind auch

noch vier auf der Seite zur Rotunde bemalte, am Rahmen reliefierte Metallscheiben

(Blasius, Vincentius, Benedikt und Scholastika) zu sehen (vgl. 1983, I, S. 207-09: 1720 als

"serta vulgo Kräntz" bezeichnet). Erst nachdem die Rotunde und auch der Chorbogen im

Jahre 1780 ausstuckiert waren, setzte man das seit 1779 provisorisch aufgemachte

Chorgitter zurück unter den Chorbogen ohne auch den Hauptaltar in seiner Position zu

verändern. Mit den 1781 aufgestellt Chorstühlen und dem "schöne(n) Chorboden" war der

Chorraum bis zum besagten Weihetermin fertig (alles nach Brommer 1984, 26. Auflage, S.

6).

Die Rotunde

Nach der Festlegung auf 20 Säulen (statt 16 und zeitweise sogar auch angedachter

Pfeiler) und der weitgehenden Aufgabe der Nischen zugunsten eines klaren Umgang in

den Jahren zischen 1768 und 1772 konnte 1772 mit dem Graben des Fundamentes (nach

Sander: Felsgrund; dazu auch Nicolai: XII, S. 54) sollen - wie schon gesagt - 1773 die

Aussenmauern der Rotunde und die Säulenbasen erst (oder schon) 9 m - also etwas

weniger als ein Drittel der Gesimshöhe von 36 m - über den Boden gekommen sein.

Hermann Brommer (1984, S. 6) nimmt an, dass Dixnard Dezember 1773 nach Wien

gereist sei, um Meinungsverschiedenheiten mit Fürstabt Gerbert (durch ein höheres

Urteil?) zu überwinden. Sein vor 1779 sich nirgendwo andeutender Idealentwurf mit einer

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Unter-Grabes-Kirche dürfte dabei nicht (mehr oder noch nicht?) zur Debatte gestanden

haben. Es wäre in diesem Stadium sowieso kaum mehr zu verwirklichen gewesen. Aus

dem Schreiben Salzmanns vom 8.3.1773 (Schmieder 1929, Anhang S. 51) hat man den

Eindruck, dass die obengenannten Änderungen (z.B. Umgang) z.T. auf den Hüfinger oder

Fürstenbergischen Baudirektor zurückgehen könnten. Aus dem bei Schmieder (1929,

Anhang S. 52-60) wiedergegebenen Briefwechsel lässt sich herauslesen, dass Mitte 1773

Meinungsverschiedenheiten bzw. Zweifel bei Abt und Konvent aufgekommen sind und

über den Basler Stecher Christian von Mechel der Mannheimer Baudirektor Pigage

eingeschaltet wurde, der am 11.9.1773 dem Abt mitteilte, dass Dixnard bei ihm gewesen

sei, und dass er seine mitgebrachten Pläne korrigiert habe. Aber er sei doch der Meinung,

dass der Prälat Dixnard etwas freier weitermachen lassen sollte. Auf dem nächsten

undatierten, aber wohl etwas früheren Brief liest Pigage nur an Hand des gestochenen

Grundrisses 1000 (!) grössere Fehler in der Verteilung und im Architektonischen heraus.

Es verwundert doch, dass er die katholische Liturgie überhaupt nicht berücksichtigt findet.

Abt Gerbert, der grosse Liturgiehistoriker hatte anscheinend bis zu Fertigstellung im

Prinzip nichts gegen Dixnards Vorschläge. Die "composition", die nicht in unfähige Hände

gelangen solle, sei momentan ein gallisch-römisches Flitterwerk, Mischmasch oder

Machwerk ("colifichet"). Der Architekt Dixnard meine, dass er mit seiner Rotunde und einer

Kolonnade nach dem Grundriss der Berliner Hedwigskirche und nach Stichen von

Neufforge einen grossen Plan oder (Ent-)Wurf getätigt hätte. Es sei kein Unterschied

zwischen einer Kirche eines Konventes und einer Pfarrei gemacht worden. Es gäbe fünf

oder sechs verschiedene Typen katholischer Kirchen. Er kritisiert die Position des schlecht

einsehbaren Hauptaltares im Chor und der sechs zu eng gestellten Nebenaltäre zwischen

den Säulen. Ausserdem bemängelt er Bautechnisches wie die teilweise unzureichende

Mauerstärke. Auf alle Fälle war Pigage nach dem Bruch und der Entlassung von Dixnard

(und auch von Salzmann!) der erste Ansprechpartner für den Bau. Er scheint aber erst

1775 zum ersten Male in St. Blasien vor Ort aufgetaucht zu sein. In der Zwischenzeit

dürfte man etwas verlangsamt bis zu Säulenendhöhe von 36 m weitergebaut zu haben. In

dem schon erwähnten Brief Pigages vom 12.2.1776 geht es aber vornehmlich um die

Innengestaltung des Chores, nur am Schluss äussert er sich so, dass eher Dixnard wieder

zu Gnaden kommen und weitermachen solle. Also erst danach scheint Pigage ohne

regulären Akkord seine Korrekturen an der Rotunde und an der Kuppel geliefert zu haben.

Erst in dem vom 12.6.1777 datierten Brief Pigages an Abt Gerbert bietet er selbstbewusst

seine Tätigkeit (eindeutig für die Rotunde) an, unter der Bedingung, dass seine

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vorgelegten Entwürfe genauso umgesetzt würden und auch nicht mehr gegen seinen

Willen geändert werden könnten. In dem letzten leider beschnittenen Brief vom 16.9.1777

berichtet er, dass er bei seinem Aufenthalt in St. Blasien wie ein Galeerensklave Pläne

gezeichnet hätte für das Innere der Rotunde, die Bibliothek, das Portal, die Korrektur der

Türme und das Gitter. Der Zimmermann Müller und der Palier Weber könnten nach seinen

Plänen die Kuppel errichten. Ausserdem wird das Verhältnis zu Dixnard angesprochen;

auch dass, obwohl Abt Gerbert die Porticus seinen Nachfolgern hätte überlassen wollen,

doch wieder die Pläne Dixnards angenommen worden seien. Es zeigt sich das

grundsätzliche Problem, dass Pigage, der gerne selbst auch ein solch grosses und

bedeutendes Bauwerk hätte entwerfen wollen, erkannte, dass St. Blasien immer mit dem

Namen Dixnards mehr verbunden sein würde. Auch die Beziehung zwischen Pigage und

Abt Gerbert war nicht unproblematisch.

1777 konnte schon der einheimische Zimmermeister Joseph Müller die hölzerne

Kuppelkonstruktion mit einer Trage-Innenkuppel aufschlagen. 1778 folgte die

Kupferbedachung. Im selben Jahr stellte man auch weitgehend den Vorbau (Schlussstein

und Säulen) fertig. 1779 begann Gigl die Stukkaturen der Rotunde (Gesimse, Kapitelle)

und fast gleichzeitig Wenzinger oder besser Simon Göser die Aufteilung der inneren

Kuppel mit dem flachen Scheitelplafond. Im Jahr darauf 1780 folgte die illusionistische

Bemalung der Rippen und Kassettenfelder nach Entwurf von Pigage als Stucco finto von

Simon Göser. Ausserdem wurden die Rotundenstukkaturen von Gigl beendet. Wer die

mehr freiplastischen Elemente wie die Engelsgruppen über den Chorseiteneingängen

lieferte, ist etwas unklar: Joseph Hörr? nach Entwurf Wenzingers?. Das im Briefwechsel

zwischen Friedrich Nicolai und Moritz Ribbele angesprochene Nischenwandbild über dem

Chorbogen von Christian Wenzinger entstand vor dem 25. Juli 1781. Da Anfang

September 1781 das grosse Gerüst abgebrochen werden konnte, war zumindest der

obere Teil der Rotunde bis dahin vollendet. Die beiden symmetrischen Kanzelaltäre am

Choreingang (Marien- und Blasiusaltar) waren wenigstens weitgehend fertig und konnten

ebenfalls Anfang November 1781 geweiht werden. Die Hostien wurden jedenfalls aus der

hölzernen Notkirche in den Tabernakel des Marienaltares (und nicht des Hauptaltares?)

verbracht.

Weitere Beobachtungen und mögliche Be-Deutungen: der Pantheon-Gedanke

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Nach diesem etwas ausführlicheren zeitlichen und personellen Überblick soll der Blick

zusätzlich stärker auf Bedeutungen und Absichten von Form und Dargestelltem geworfen

werden. Eine Kuppelarchitektur spricht für Kosten, Aufwand, Würde, Macht (auch des

Bauherrn), ein In-Sich-Ruhen, Ordnung, eine Art Himmel und manch anderes mehr. Aus

den erhaltenen Vorentwürfen (Schmieder 1929, Abb. 57) lässt sich wohl heraussehen und

-lesen, dass anfänglich eher ein ovaler oder etwas länglich halbkreisförmiger

geschlossener Zentralbau mit zwei Türmen wegen der Einbindung in den Klostertrakt, mit

einem schmalen Umgang und einem schon damals in den Chor versetzten doppelseitigen

Hauptaltar zur Debatte stand. Ein imposantes Entrée hätte dieser Bau kaum gehabt. Der

vollends abgerissene basilikale, barockisierte romanische Vorgängerbau hatte eine

Doppelturmfassade, ein schmales Mittelschiff und über der Vierung eine kleinere Kuppel.

Es ist - wie gesagt - fraglich, ob Abt Gerbert von vornherein an S. Maria della Rotonda in

Rom, an das Pantheon, gedacht hat. Etwas auch von der Lage vergleichbar erscheint die

kurz zuvor (1745-1752) ebenfalls nach einem Brand wieder aufgebaute Kirche in Ettal, die

auf einen gotischen Zwölfeckbau in Anlehnung an die Grabeskirche Christi zurückgeht. Mit

etwas Phantasie lässt sich der Dom in St. Blasien mit seinen Rotunden- und

Chorumgängen noch als dreischiffige Basilika mit geschrumpftem Langhaus und

Doppelturmfassade quasi traditionell interpretieren. Doch schon vor der Ausführung

wurden die Pläne Dixnards als Variation des Pantheons verstanden. Pigage erwähnt als

Vorbild die auf den römischen Bau explizit zurückgehende, erst 1773 mit Spenden

vollendete, mit 38 m Durchmesser etwas grössere Hedwigskirche in Berlin, die turmlos

und mit glatter, sichtbarer Wand an das Pantheon schon rein äusserlich erinnert, und

wofür St. Blasien vielleicht auch finanziell beigesteuert hatte. Von seinen Reisen in Italien,

Frankreich, Österreich kannte Abt Gerbert sicher das Pantheon, den Petersdom, den

Invalidendom, die Karlskirche in Wien aus eigener Anschauung, die Aachener

Pfalzkapelle, die Kirche in Ottmarsheim sicher aus seinen historischen Forschungen; aber

nirgendwo äussert er sich ausführlich zur Architektur, um eindeutig sagen zu können, dass

von ihm die Pantheon-Idee stammt oder stammen müsse. Brommer 1984, S. 16 versucht

die Wahl des Pantheon-Vorbildes auch ikonographisch zu begründen, da das Pantheon

seit 609 wie St. Blasien seit dem 11. Jahrhundert Maria und allen Märtyrern geweiht wäre

und eine Koppelung mit dem Gedanken des Herrschermausoleums bestünde. Wie man

dort 28 Wagenladungen Märtyrergebeine angekarrt habe, so in St.Blasien die 'Habsburger

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Leichen'. Gerbert kannte wahrscheinlich auch die vorchristliche Historie des Pantheons

anfänglich als Verherrlichung des Julier-Geschlechtes, später als geweihter Ort an alle

Götter (man vergleiche die vielleicht ironische Bemerkung zu dem 'ignoto deo' Spieglers in

der Abtei), was ihn aber sicher nicht zur Übernahme inspirierte. Eine Verbindungslinie von

den sieben den Planeten mit gleicher Zahl gewidmeten Nischen des römischen Vorbildes

zu den sieben 'Gaben des Hl. Geistes' im Chor von St. Blasien wird er wohl selbst kaum

gezogen haben. Auf die Hl.Geist-Thematik wie im Chor (vgl. Ottobeuren) stösst man des

öfteren auch in Bibliotheken. Das Pantheon war besonders für diese Zeit einfach d a s

Muster eines überkuppelten Zentralbaus, an dem man nicht daran vorbeikommen konnte.

Vielleicht aus Selbstverständlichkeit lassen Dixnard und Abt Gerbert nie das Wort 'La

Rotonda' oder Pantheon aus ihrer Feder fliessen. Das schon erwähnte, auf 27.2.1770

datierte Antwortschreiben des Schweizer Baumeisters J. G. Werdmüller spricht

ausdrücklich davon, dass die ihm überschickten Pläne nach der sogenannten La Rotonda

in Rom gemacht seien. Der nicht genannte Freund und grössere Kenner (D. Vogel) macht

sich in dem Begleitschreiben an die Kritik: Die Nachahmung der Santa Maria Rotonda

mache (schon mal) dem Geschmack des Fürstabtes alle Ehre. Das Pantheon zeichne sich

nach Einfalt und Grösse (?) im Plan und Anordnung, Erhabenheit und Einfachheit in der

Verzierung, in der Richtigkeit der Verhältnisse, in der Majestät des Lichts, in der Grösse

(Monumentalität) als Ursache des Erstaunens und der Ehrfurcht aus. Der Entwurf für St.

Blasien sei also zu klein, hätte nur 18 Säulen gegenüber 28 Säulen und Pfeiler der

'Rotonda'. Es gäbe eine Unterbrechung durch den Choreingang. Die Sockel und die Form

der Kapellen entsprächen nicht der Generalform (des Kreises). Ein Umgang fände sich in

der Antike nur beim Bacchustempel. Die Säulen würden durch die dahinterliegenden

Gesimse der Emporen zerteilt. Die Proportionierung, die Form der Kapellen, die

Vergoldung (keine schöne Zierde), das zerdrückte Gewölbe werden weiter kritisiert.

Ausserdem seien die Gemälde in der zweiten Kuppelschale zu weit in der Höhe entfernt.

Am besten wäre natürliches Licht durch Einbau einer Laterne. Die Vorhalle wäre zu wenig

tief und hätte nur vier zu dünne Säulen überdies jetzt dorisches Art. Im Chor fielen die

flache Rückwand, die Position des Hauptaltares statt am Chorbeginn gegenüber dem

Haupteingang negativ auf. Abt Gerbert scheint also, obwohl er die 'Rotunda' aus eigener

Anschauung kannte, zu diesem Zeitpunkt eine Auseinandersetzung und einen eigentlich

nicht ganz angemessenen Vergleich angestrebt zu haben. Einige der Kritikpunkte sind in

der weiteren Planung aber dann doch berücksichtigt worden.

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Abt Gerbert und Dixnard scheinen somit (bewusst oder nicht) etwas dem

Winckelmannschen Motto der Unnachahmlichkeit durch Nachahmung der Alten und ihrer

klassischen Architektur gefolgt zu sein. Übrigens sieht man auf keinem Porträt den Abt mit

Plänen wie sehr oft die bisherigen Bau-Herren oder -Damen des Barock. Wenn Gerbert

solch einen Wert auf einen Vergleich mit dem Pantheon gelegt hat neben der Frage der

Dauerhaftigkeit, auf die zumeist gar nicht eingegangen wurde, dann zeigt sich hier doch

ein gewisser Anspruch und seine eigene stilistische Unsicherheit und geringe

bautechnische Erfahrung, auch seine Angst, von dem "Schmink" der Architekten

geblendet zu werden. Mit dem von Nicolai überlieferten, ihm gegenüber 1781 geäusserten

Spruch Abt Gerberts. dass "in einem Gotteshaus ... nichts sein solle (müsse, dürfe), was

zerstreue, was die Andacht störe", ist dessen zentraler Gedanke geäussert. Auch

bezüglich der (sakralen) Musik legte der Fürstabt Wert auf Einfachheit, Meidung von

(Tanz-) Rhythmen, dass das Gotteshaus nicht einem Ballsaal und der Gottesdienst nicht

einem Theaterstück gleiche (Gerbert Korr II, 110), wobei er vielleicht an Zwiefalten

gedacht haben mag.

Erneute Annäherungen: aussen

Wir nähern uns jetzt noch einmal dem fertigen Bau von 1783/85 und dem Zustand von

2012 zuerst von aussen. Der Vorplatz ist annähernd heute so, wie ihn der Grundriss der

Gesamtanlage von Dixnard und Salzmann am 20. 10.1772 schon vorgesehen hat,

allerdings ohne die den frontalen Blick etwas verstellende Blasius-Brunnenanlage. Da die

Eingangs- und Schauseite ungefähr nach Norden zeigt, ist sie zumeist verschattet und

eher ungünstig im Gegenlicht. Der gelbliche, grau gewordene Sandstein im

Sichtmauerwerk sauber gefügt und in gerader Front, die wenigen Stufen und die geringe

Raumtiefe hinter den wuchtigen, dorisch-toskanischen Säulen haben nicht Einladendes,

Freundliches, ja auch nichts Religiöses an sich. Man könnte sich so die Fassade eines

öffentlichen, staatlichen Gebäudes vorstellen. Nur die beiden niedrigen Turmstümpfe mit

ihren nicht ganz sichtbaren, sternbekrönten bzw. mit den von Nicolai empfohlenen IHS

und MARIA-Schriftzeichen (Brommer: Sonnensterne) versehenen Halbkugel-Kuppeln

erinnern an die kirchlichen Zweiturmfassaden oder noch entfernter an die zwei

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Bronzegebilde Boaz und Jachin vor dem Tempel Jerusalems, den man sich historisch-

archäologisch nicht korrekt sehr oft als überkuppelten Zentralbau vorstellt. Von einem

anfänglichen Dreiecksgiebel à la Pantheon oder Berliner Hedwigskirche ist man - vielleicht

um die dahinter sich aufbauende Kuppel nicht zu beeinträchtigen - abgekommen und hat

eine bis zum Brand von 1874 bestehende, die Türme verbindende und den

Säulenrhythmus aufnehmende Balustrade geschaffen mit einem kleinen halbkreisförmigen

Frontispiz, worin ein Zifferblatt einer Uhr eingepasst war. Auf den Zwischenpodesten

standen zwei Figuren vielleicht die Kirchenpatrone Vincentius und Blasius als Bischof. An

der Spitze der dahinter sich auftuenden grossen Kuppel befindet sich ein Kissen ähnlicher

Knopf auf dem wiederum eine vergoldete Kugel mit dem Kreuzzeichen angebracht ist, die

nicht nur mit der 'salvatio (sive regimen) mundi' sondern auch überinterpretierend mit dem

Reichsapfel in Verbindung gebracht wird (Brommer 1984, S. 19: "christliches Kaisertum",

"Beziehung zum Kaiserhaus"). In der ersten Projektphase Dixnards bildete ein grösseres

Kreuz die Spitze, und die Kuppel war quasi die etwas herausragende Weltkugel. Über

dem relativ schmalen Portal mit einer eichernen Holztüre - in der Mitte der Flügel

reliefgeschnitzte Profilmedaillons von Maria und Johannes (?, nach Adamaek 2003, S. 19:

Josef; aus Mittel- und Quersteg lässt sich fast ein Kreuz ablesen) befindet sich in gewisser

Verwandtschaft zum Mittelstück des Chorgitters und - wahrscheinlich ebenfalls von Pigage

angegeben - ein von einem Lorbeergehänge und zwei Palmzweigen umgebenes, etwas

andersfarbiges Steinmedaillon mit Christus als Erlöser der Welt, das nach dem sehr

ähnlichen angeblich von Wenzinger in St. Gallen entworfenen, von Joseph Hörr

skulpiertem Vorbild ebenfalls diesem zugewiesen wird. In dem umgebenden Rahmen ist

der Psalm 117 (Psalm 118, 22 und Lukas 20,17) : HIC FACTUS EST IN CAPUT ANGULI.

(Dieser ist zum Schlussstein geworden). Dieser Schlussstein über dem Türsturz soll am 5.

August 1778 gesetzt worden sein, wobei in einem Glas Reliquien, ein Geldstück, ein

Verzeichnis aller Beamter und der drei Baumeister beigegeben wurden (vgl. Schmieder

1929, Anhang S. 100). An den Schmalseiten der wirklich kurzen Vorhalle befinden sich in

einiger Höhe Rahmen zum Einlassen von nicht ausgeführten (?) Gedenkplatten (Bauher,

Künstler, Bau- Klostergeschichte?).

Das Innere: die Kuppel und die Kuppelmalereien

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Der Innenraum der Rotunde vermittelt im ersten Moment keine semantischen

Assoziationen ausser des Antikisierenden, Feierlichen, Lichten u.ä.. Unantikisch sind

allerdings die Emporen und die bis in den Lichtgaden der Kuppelbasis reichenden

Halbkreis-Bogenformen. Der heutige Eindruck täuscht etwas, da über dem kräftigen

profilierten Architravgesims die Rippen und Kassetten in Illusionsmalerei und nicht wie

jetzt plastisch stukkiert gestaltet waren ähnlich wie in Neresheim, also schon etwas in

einer anderen 'Sphäre' oder in einem wirklich anderen 'Realitätsgrad' angesiedelt. Ohne

Innenkuppel wäre ein Turmeindruck entstanden und man hätte zu dem dann möglichen

Lichttambour zur Beleuchtung der dunklen Kuppelschale noch eine Laterne aufsetzen

müssen. Mit der 'Generalform' des Kreises (Kugel) und entsprechend niederer

Innenkuppel war kein faktischer Oculus oder ein Opaion mitt Laternenaufsatz möglich,

sodass in der Tradition seit der Renaissance auf dem flachen, abgeflachten

Deckenspiegel ein Fresko mit 'Himmelblick' 'sitzen' musste. Der abgeflachte Bereich dürfte

mit der konventionellen überleitenden Balustrade (und vielleicht noch ein Teil des

Sprengrings), auf alle Fälle mit den Figuren begonnen haben. Nach Brommer 1983, S.

221 lieferte Wenzinger am 7.6.1779 die Skizze für 60 fl.- in St. Blasien ab. Für die zu

beachtlichen 6000 fl.- verakkordierte Ausmalung Göser machte anschliessend die

Vorbereitungen wie Grundierung, Gitteraufteilung u.ä.. Am 1.9.1779 beginnt Wenzinger

aber noch nicht mit den Figuren, da am 8.4.1780 Simon Göser immer noch die

Kirchenkuppel grundiert. Erst am 1.6.1780 fängt Wenzinger mit seiner Figurenmalerei an.

Am 7.9.1780 war er anscheinend damit ganz fertig. Die Gehilfen malten an der

Architekturmalerei weiter. Vom 23.5. bis 28.6. bzw. 6.8.1781 wude auch das Gemälde am

Chorbogen fertiggestellt. Simon Göser endete erst am 2.9.1781 mit der "Stokadormalerei".

Die unregelmässigen Podeste zwischen der Balustrade bildeten nicht immer die

Fortsetzung der gemalten Gewölberippen. Das glücklicherweise noch vorhandene Foto

vor dem Brand von 1874 hat anscheinend nur Ingeborg Krummer-Schroth genauer

angeschaut. Während alle bisher in der Darstellung der Himmelsszene eine "Glorie oder

Himmelfahrt des Benedikt oder des Blasius" zu erkennen glaubten, schrieb sie 1987

(Johann Christian Wentzinger - Bildhauer, Maler, Architekt, Freiburg 1987). S. 292:

"Trinität mit Lokalheiligen" [vgl. Brinkmann 1972, S. 304: Grandidier: Les toussaints peints

de fresque au dôme ... est l'ourvrage du sieur Wenzinger de Fribourg en Brisgau] und

weiter "in der hellen Mitte [wahrscheinlich geometrisch und konstruktiver Mittelpunkt] Hl.

Geist, Gott Vater [mit gnädig gesenktem Szepter] und links Christus, neben ihm ein Engel

mit einem grossen Kreuz, rechts unten Maria [in fürbittendem Adorantengestus ähnlich

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einer Marienaufnahme, also keine Marienkrönung] und links kniend Johannes d. Täufer

[kein Benediktiner], im unteren Kreis sieht man weitere Heilige. An der Brüstung über dem

Chorbogen weist ein junger Benediktiner, der neben zwei Engeln herabschaut, die

Gläubigen auf den Himmel hinauf, neben ihm sitzen zwei Bischöfe im Ornat, beim Linken

zeigt ein Engel zwei Kerzen, die Attribute des Blasius (LCI V, 416-19), beim rechten ist

kein Attribut erkennbar, vielleicht ist es Nikolaus, vielleicht ist es auch der hl. Vincentius

von Chieti, denn die 1036 geweihte Kirche hatte zu Patronen Maria, Blasius und

Vincentius (Kat. St. Bl. II, 1983, S. 47). Es folgt eine auffällige Benediktiner-Nonne. Auf der

linken Seite zwischen dem Kreuzengel und Johannes sitzen Petrus mit dem Schlüssel und

Paulus, dessen Schwert ein Putto trägt". Etwas unerwartet ist der doch etwas

herausgehobene 'Johannes d. Täufer' mit seinem Kreuzstab (als Vorläufer Christi), obwohl

ihm im alten Münster ein Altar gewidmet war. Das Apostelpaar Petrus und Paulus mit

Schlüssel und Schwert stehen für die Kirchenmitgründer. Auch Petrus war von alters eine

Altar geweiht. Der Patron Blasius als Bischof und Nothelfer ist erwartbar, aber auffällig

schräg plaziert. Nikolaus war der erste Patron der Cella an der Alb (1784, XXVII). Die

Benediktinernonne und Heilige ohne Attribut (oder ist die Geisttaube auch ihr

zuzuordnen?) als Scholastika anzusehen, macht in St. Blasien trotz seiner

Benediktinerzugehörigkeit gewisse Probleme. Es war ihr soweit bekannt kein Altar

geweiht. Auffällig und auch künstlerisch-ästhetisch gesehen interessant zur

Unterbrechung der starren Balustrade sind die Wenzinger-Draperien am Bildrand. Die eine

hinter der Heiligen scheint ganz hell (weiss, rein?) zu sein, bei der folgenden sieht es so

aus, als ob der nach links weisende Engel in dem Tuch etwas birgt. Auf der

Hauptansichtsseite über dem Choreingang bemühen sich zwei Engel um ein Tuch,

während ein Engel wieder nach links auf Petrus und Paulus oder doch eher auf das von

Engeln gehaltene Kreuz deutet. Ein einfacher Benediktinermönch hinter der Brüstung

weist nach oben zu Maria und zur Dreifaltigkeit. Er dürfte die Schlüsselfigur sein. Sein

jugendlicher, rhetorisch-weisender Typus erinnert nicht an Benedikt. Etwas früher hätte

man ihm unter Umständen noch die Züge des Abtes gegeben (Martin II als 'Fintanus

redivivus'). Könnte es der irische heilige Fintanus vom Kloster Rheinau gewesen sein, der

die 855 in das schweizerische Kloster gestiftete Blasius-Reliquie wundersam auf einem

zum Brett gewordenen Tuch oder Kleidungsstück in die Cella an der Alb brachte, worauf

Abt Gerbert selbst an verschiedener Stelle hinweist?. Für die farblich eher zurückhaltende

(vgl. St. Gallen oder Freiburg, Wenzingerhaus) Deckenmalerei (wahrscheinlich ölhaltige

Sekkomalerei) hat sich kein Konzept erhalten. Es ist kaum vorstellbar, dass sich der Abt

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(oder seine Mitarbeiter wie Moritz Ribbele) nichts (besonderes) bei diesem Gemälde

dachten. In der ersten Planungsphase Dixnards scheint eine Trinitätsdarstellung bzw.

(wohl alternativ) und eine 'Maria Regina Sanctorum' beabsichtigt gewesen zu sein. Bei

dem Salzmann-Entwurf von 1770 ist ein Gott Pantokrator primitiv eingezeichnet, in einem

anderen eine Trinitätsdarstellung. In Dixnards Entwurf von 1772 (Franz 1985, Nr. 44) ist

der Himmel ganz aufgeräumt. Im Zentrum schwebte vielleicht nur noch die Geisttaube.

Der Salzmann-Plan von 1772 (Franz 1985, Abb. 52) besass kein zentrales Deckenbild in

der aufgesetzten kleinen Kuppel. Man hat eigentlich nicht den Eindruck, dass ausser einer

allgemeinen Trinitäts-, Kreuz - oder Geisttauben-Darstellung schon konkrete Vorstellungen

über Bildinhalte im Raume, in der Intention Gerberts (vor)geschwebt haben. Auch wenn

das Thema nicht ganz geklärt ist, ist durch den angenommenen Lokalbezug auch

geschichtlicher Art und durch die Verweisgestik und durch die erschwerte Entschlüsselung

und vielleicht Spitzfindigkeit dem Gemälde abgesehen vom Formalen und Figürlichen ein

ganz barocker, konservativer Zug zu eigen. Oder überliess Gerbert die Konzeption gar

dem mittelmässig begabten Wenzinger, der über eine gewisse 'welsche' Plastizität

verfügte, aber ansonsten langweilig, ausdrucksarm, kaum besser als in St. Gallen jetzt

unter Mithilfe des Freiburger Mitbürgers Simon Göser malte?. Wer hier etwas

Hochgeistiges, auf Andacht Konzentriertes, Einfaches, Stilles, Grosses, Erhabenes

erwartet hatte, ist natürlich enttäuscht. Abt Gerbert hatte auch in diesem Negativ-Beispiel

die letztliche Verantwortung. Der nicht figurative Stucco finto scheint hingegen

handwerklich technisch ganz passabel gemacht gewesen zu sein.

Das Gemälde über dem Chorbogen

1781 fand man die wegen des Chordaches unterbrochene Fensterreihe des Kuppelrandes

zu sehr als Unterbrechung, Loch, sodass man wie Moritz Ribbele ausführlich Friedrich

Nicolai auseinandersetzt aus primär ästhetischen Gründen die Lücke noch mit einem

Gemälde füllte. Ob ein gemaltes (sicher etwas dunkleres) Fenster oder ein Stuckrelief

nicht doch besser, befriedigender gewesen wäre, sei dahingestellt. Zumindest optisch

durch die untersichtige Raumflucht und das Thema des Benediktstodes leitet etwas

gezwungen das von Simon Göser wieder vorrangig gemalte Wandbild (nach Ribbele

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"leichtes Gemälde") zum Chor und zur Gruft hin. Thematisch kann man zwischen dem

Deckenbild und diesem Wandbild keine Bezüge herstellten, da kaum anzunehmen ist,

dass der tote Benedikt verjüngt an der Balustrade zum Himmel wieder auftaucht.

Die beiden Supraporten, die Kanzel- und Seitenaltäre

Weitere barocke, '(ab-) bildhafte' Elemente sind ganz spärlich über den Eingängen zu dem

Chorumgang (wie vergleichsweise in St. Gallen durch Wenzinger) durch zwei stukkierte

Supraporten: Engelsköpfe in Wolken und mit den Attributen des Blasius wie Kreuz, zwei

Kerzen und ein Buch auf der linken Seite zu finden; auf der anderen Seite: ein Kreuz, eine

Kerze, eine Mitra, ein Doppelschlangenstab und ein Buch darauf zwei erkennbare Steine

(?) (ebenfalls für Blasius, oder Nikolaus oder Pirmin?). Beide sollen von Joseph Hörr (nur)

ausgeführt sein. Wenn dieser die Orgelzier ohne Vorlage selber konzipiert hat, kann man

hier auch eine weitgehend eigenständige Arbeit sehen. Wenzinger wird in dieser

Spätphase immer nur als Maler genannt.

Es bleiben noch die schon genannten, zwischen die Doppelsäulen des Choreingangs

gestellten symmetrisierenden, etwas exotisch wirkenden Kanzel-Altargebilde (nach

Entwurf von Pigage?) und die jeweils drei Stuckmarmoraltäre an den südlichen

Rotundenaussenwänden. Bis September war man sich in St. Blasien über den richtigen

Aufstellungsort und die richtige funktionale Konstruktion (zumindest der Kanzelelemente)

nicht ganz im Klaren (vgl. Pfeilschifter 1935, S. 15-20). Hinter der Mensa bauten sich bis

1874 retabelartig Nischen seitlich mit Pyramiden für eine stehende Madonnenfigur und für

den knienden Märtyrer Blasius auf. Auf darüber befindlichen, breiteren Kanzel-Korpora

scheint auf der einen Seite ein vergoldetes figürliches Relief und auf der anderen Seite nur

ein Ornamentrelief angebracht gewesen zu sein. Die Schalldeckel seitlich mit Draperien

erinnern an den Knopf der grossen Rotundenkuppel, sind aber zweistöckig und Basis für

weisse Stuck?-Puttengruppen: rechts bei Blasius Gesetzestafeln (AT) und Bischofsstab?;

links ein Kreuz (NT) und ?. Die beiden Gebilde scheinen in ziemlich dunklem Stuckmarmor

oder Alabaster (?) von Johann Casar Gigl ausgeführt worden zu sein. Die Schalldeckel

erinnern an den Taufsteindeckel des Freiburger Münsters, sodass auch hier der

Freiburger 'Multikünstler' als Entwerfer zu vermuten ist. Bis 1929 scheint wenigstens

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rechts noch eine schlichtere Kanzel angebracht gewesen zu sein. Die Kanzel-Altar-

Konstruktionen passten für das Empfinden des heutigen Betrachters nur bedingt und

dienten eher nicht dem strengen Eindruck.

Auch die heute wieder rekonstruierten Seitenaltäre in den weniger sichtbaren

Zwischenräumen an der Aussenwand waren keine wirkliche Steigerung, Komplettierung

des Raumeindrucks. Sie sollen wieder von Wenzinger entworfen und von Gigl und seiner

Werkstatt bis 1784/85 ausgeführt worden sein farblich in Anlehnung an die

Chorinkrustation. Hinter der Tumba (mit den Reliquien) befindet sich ein seitlich nach

vorne geknicktes Retabelgebilde mit den Namen der Altarpatrone als Predella oder auch

als Mittelteil interpretierbar. Als Altarbild oder eher Auszug erscheint im ovalen Rahmen

ein Halbfigurenstück des entsprechenden Heiligen. Auffällig sind auch die wie Füsse von

Reliquiaren erscheinenden Voluten. Von den sechs Gemälden haben sich in ergänztem

Zustand nur zwei erhalten, die als Hl. Bischof Nikolaus (mit Stab ohne Kugeln) und

Sebastian oder Märtyrer mit Palme gedeutet werden. Die auf Holz gemalten Gemälde sind

in Camaieu-Technik ausgeführt: Gräulich-Bräunlich-Bläulich. Die anderen, modern

rekonstruierten Bilder lehnen sich an verschiedene barocke Vorbilder an. Stilistisch wäre

es besser gewesen, wie auch als Zeitmode (z.B. Caspar Sambach in Wien, oder Martin

Dreyer für Kloster Wiblingen) legitimiert, in reiner Grisaillemalerei Plastiken bzw. Reliefs

zu imitieren. Es ist bedauerlich für die stilistische Einheit in der Rotunde von St. Blasien,

dass nicht Dixnard oder Pigage die Entwürfe für die Altäre lieferte (vgl. Planche 11, die

Kanzel-Altäre oder Franz 1985, Nr. 169 das Chorgstühl für Hechingen). Die Reihenfolge

der Altäre ist bei Grandidier (Brinkmann 1972, S. 305) wie folgt angegeben: auf der

Evangelienseite (links) 1. Marienaltar, 2. Engelaltar und Apostel der Germanen, 3. Hl.

Märtyrer und Beichtiger und Bekenner (Lucius Victor, Stephanus), 4. Hl. Mönche und

Gerechte; auf der Epistelseite (rechts): 1. Blasiusaltar, 2. Apostel und Evangelisten, 3. Hl.

Bischöfe und Kirchenlehrer, 4. Heilige Jungfrauen und Frauen. Ganz verwunderlich ist,

vom denkmalpflegerischen sicher positiv zu bewerten ist, dass die farbigen (? oder nur

farblosen?) Glasfenster der soeben aufgelösten Kartause von Freiburg in die Fenster

hinter den Altären eingebaut wurden. Ja dass sie sogar durch neue, stilistisch angepasste

Glasmalereien ergänzt wurden. Auch damit trügt etwas unser heutiger puristischer

Eindruck.

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Einige Schlussfolgerungen: einst und jetzt

Nach diesem langen Vorlauf sei ein Résume mit mehr Fragen als Antworten gewagt

beginnend mit dem Urteil der Zeitgenossen. In Jens-Uwe Brinkmanns Kölner Dissertation

"Südwestdeutsche Kirchenbauten der Zopfzeit - Zur Begriffsgeschichte des 'Zopfes' und

zur Stilgeschichte des späten 18. Jahrhunderts", 1972, finden sich in dem nützlichen IV.

Kapitel: Anhang S. 289-306 wesentliche Äusserungen zu St. Blasien von 1774 bis 1786

zusammengestellt, die ein Sehen und Erkennen mit eigenen und fremden Augen und

Worten erleichtern. Der Strassburger Bibliothekar Professor Koch, der 1774 eine

"Abhandlung über die Abtei St. Blasien im Schwarzwald" aufgesetzt hat, muss im selben

Jahr in St. Blasien gewesen sein, wo er den ca. 1773 farbig fertiggestellten, aber sonst

leeren Chor besichtigen konnte, sodass ihm die Verkleidung und besonders die Herkunft

des Marmors erwähnenswert schienen. Die seit Sommer 1773 mit 9 m Höhe auch

abschätzbare Rotunde und noch mehr durch die ihm gezeigten Pläne und Äusserungen

von Kloster- und Architektenseite schätzte Koch nach Muster der Rotonda zu Rom ein, die

Ehre und Andenken an den Bauherrn auch in der Zukunft bringen werde. Über die starke

Anlehnung an die Versailler Hofkapelle schreibt der im schon länger französisch

dominierten Strassburg Ansässige aber nicht. Die Marmorverkleidung erregte sowohl bei

Heinrich Sander (Reisebeschreibung von St. Blasien 1781, gedruckt 1783: S. 403 bis 406

als auch bei Friedrich Nicolais Reisebeschreibung ebenfalls aus dem Jahre 1781 (gedr.

1796, S. 89-107) oder Philipp André Grandidiers Reisebericht aus dem Jahre 1784 (gedr.

Colmar 1897, S. 153-164) und zuletzt in Georg Wilhelm Zapfs Reisebericht von 1781

(gedr. 1786, S. 61) vielleicht nicht ganz unabhängig voneinander Aufsehen und

Erwähnung. Der schon genannte, 1784 gedruckte Festbericht von der Kirchweihe ist leider

wie so oft wenig ergiebig, da die Prediger sich vornehmlich in jüdisch-christlichen

Allgemeinplätzen wie der Kirchenbau als neuer Tempel Jerusalems und die Kirche als

'Braut Christi' u.ä. ergehen. Nur auf S. 20/21 werden "der feinste Marmor, ... die größten

Künstler Deutschlands und Frankreichs" und der Einfluss der Tempel "Roms, Wien und

Versaillens" angesprochen, wobei "die Majestät des Alterthums mit der anmuth des itzigen

Jahrhunderts gepaart (sei)". Auf S. 59 heisst es, dass die neue Kirche St. Blasiens als ein

"Marmortempel, an dem der schöpferische Geist eines Dixnard (und nicht Abt Gerberts!),

die Kunst und Anmuth eines Silbermann, der belebende Pinsel eines Wenzingers, die

Meisterhand und Geschicklichkeit vieler Künstler sich verewiget, ... den Namen Martins II

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der späten Nachwelt verkünden (werde)" oder auf S. 190: dass er "Zierde des

Schwarzwaldes, und der Ruhm unseres deutschen Vaterlandes werden solle".

Die ersten Stimmen erfolgten schon nach den Plänen von Dixnard (weniger von

Salzmann). Entwürfe von wichtigen Bauten zirkulierten schon früh in den interessierten

Kreisen v.a. des Adels. Der Strassburger Professor Schöpflin, der bei einem Besuch

Dixnards die Güte hatte die ("unsere"= gemeinsamen) Pläne zu sehen, fand von

Winckelmann angehaucht an oder in ihnen eine 'edle Einfalt' ("noble Simplicité") wie in

den schönen Werken der Antike, wie der Architekt Dixnard stolz am 9.6.1770 nach St.

Blasien berichtet. Joseph Wilhelm Fürst von Hohenzollern-Hechingen legte sich

bekanntlich am 20.5.1774 nochmals für seinen Rat Dixnard ins Zeug wobei er über Winter

1773/74 die Pläne Kennern zeigte und man sich einig war, es mit einem "chef d'oeuvre d'

architecture" zu tun zu haben, sowohl von der Schönheit ("beauté") wie von der

Grossrtigkeit ("grandeur"). Über den hohen Anspruch und die grosse Bedeutung des

Vorhabens und des fertigen Baus gibt es bis heute keine gegenteilige Meinung. Gerbert

umriss am 20.1.1774 seine Absichten so, dass er einen dem "Dunst" (Aura, Nähe?, Wolke

wie bei Salomon?) Gottes geziemenden Tempel ... in einer gueten" (dauerhaft und

anspruchsvollen) Architektur, bei der die "gewohnliche Auszierung" (aufwendige

Stuckierung) unterbleiben möge". P. Fintan Linder hatte schon zu Beginn am 13.12.1768

auch noch nach heutigem Geschmack angemahnt und nach P. Moritz Ribbele wollte man

eine prächtige Kirche (vgl. Franz 1985, S. 248, Anm. 240). Die schon angeführte Kritik der

professionellen Architekten wie des schweizerischen Anonymus (David Vogel) ist etwas zu

weitgehend, da keine Kopie beabsichtigt war, und – wie gesagt - P. Paul Kettenacker 1793

in den 'Gesta Martini II' (Schmieder 1929, S. 38) von einem: "templum satis amplum et

augustum in forma rotunda ad imitationem Vaticani Romae..." schreiben sollte. Auch aus

Pigage's unausgeführtem 1000-Mängel-Katlog dürften gewisse statische und formale

Details v.a. bei der Kuppel von grösserer Substanz gewesen sein. Pigages Zweifel an der

Funktionsfähigkit und dem passenden Bautyp dürften gegenüber dem wohlüberlegten

Liturgiekenner Gerbert nicht so sehr angebracht gewesen sein. Vom Gelände, den

Klostertrakten und bestmöglicher Integration her war nur ein zentralisierter Bau möglich.

Überdies erreichte man eine Annäherung an den protestantischen Kirchenbau (z.B.

Dresden, Frauenkirche), an antike Tempel und Grabmonumente u.ä.. Dazu kommt die

schon geäusserte Auffassung von St. Blasien als einem gerichteten Zentralbau und einer

verkappten, reduzierten Basilika oder Kathedrale. Gewisse Probleme bereiteten die

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Plazierung von Hauptaltar und Kanzel(n). Auch hier entschied man sich für eine Zwiefalten

bis Wiblingen vergleichbare Lösung unter Wegfall des Hochaltares: der Kreuzaltar wurde

der Hauptaltar, die Kanzeln befinden sich am Ende des Laienraumes. Die von Ribbele aus

akustischen wie ästhetischen Gründen rein theoretisch erwogene Position der Kanzeln in

die Raummitte oder im Rotundenzentrum hätte wie ein Verkehrspolizistenpodest auf einer

Sternkreuzung gewirkt, aber der Prediger wäre als Hirte inmitten seiner Schafe gewesen.

Zusätzlich hatte er noch den Segen von oben aus dem virtuellen Opaion bekommen.

Selbst die entrückte Silbermann-Orgel wurde noch als akustisch ausreichend empfunden

sicher ganz im Sinne des auf Mässigung bedachten Abt Gerbert: "Der Tempel Gottes

(sollte ja nicht) zu einer Schaubühne (Opernbühne wie in Zwiefalten) oder gar Tanzplatz

(ge)macht werden" (Gerbert, Korr. II, 110). Der abgeschlossene Chorbereich markiert von

der Konvention her eher eine Klosterkirche. Hier zeigen sich Wiblingen und Neresheim viel

'aufgeschlossener', moderner, aufgeklärter der Volksbeteiligung und Volksbekehrung

gegenüber viel offener.

Doch zurück zu den zeitgenössischen Äusserungen: im Jahre 1781 der provisorischen

Weihe kamen Heinrich Sander und Friedrich Nicolai beide jeweils nur für einen Tag nach

St. Blasien. Bei Sanders Besuch um Michaelis (29. September) war das Gerüst also bis

auf zwei Etagen abgebaut. Sander sieht die Kirche als nach dem Muster von Santa Maria

Rotunda in Rom und hält die viel stärker danach abhängige Hedwigskathedrale in Berlin

im direkten Vergleich für sehr viel schwächer. Mit dem fast ausschliesslichen Weiss (noch

ohne Kanzel-Altäre, da er sie nicht erwähnt) sieht Sander den reinsten, simpelsten

Geschmack, Majestät und Würde fast ideal in dieser Kirche verwirklicht. Er würde in ihr

sogar eine Rede halten, sodass dieser Raum auch Profan-Solemnes für ihn ausstrahlt. Als

einer der ganz wenigen geht er auch inhaltlich auf die beiden Gemälde Wenzingers ein,

wobei er in der Kuppel eine 'Glorie' und lauter Heilige, die Benedikt besonders verehrte,

sieht. Der als einfacher jüngerer Benediktiner an der Brüstung wäre demnach Benedikt

selbst. Ob der P. Oberrechner oder sogar der Abt, der Sander nachmittags führte, dies

ihm so gesagt haben? Unter manchen (neuen) Schönheiten, die ihm der Abt zeigte, ist

eine Versteinerung eines Ammoniten, die der Abt als Schönheit der Natur am

Choreingang an der Wand oder auf einer Stufe hatte anbringen lassen. Vor dem "Thore"

(Choreingang) fiel ihm das erzene, "majestätische" Gitterwerk ein, das unglaublich viele

(?) Verzierungen gehabt habe und ganz schwarz sogar ohne Vergoldungen gelassen

worden wäre, ähnlich wie der Hauptaltar auf einer (Märtyrer-) Tumba. Auch beim Chor fällt

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ihm der von Pigage kritisierte "Kranz" oder das Gesims aus Marmor auf, der ihn aber an

Holz erinnere. Das Chorgestühl war noch nicht aufgebaut und befand sich in der

Bildhauer- bzw. Schreiner-Werkstatt. Den Ton der Silbermann-Orgel hielt er für kostbar

und herzeinnehmend (was auch der Empfindsamkeit dieser Zeit wohl etwas geschuldet

gewesen sein dürfte). Ausser der Fundamentierung auf den blossen Felsen fiel Sander

noch der bedeutsame Wechsel der Säulenordnungen auf. Weitere Überlegungen machte

sich Sander aber nicht.

Viel bedeutsamer und auch etwas tiefer gehend ist das Urteil des Berliner aufgeklärten

Verlegers und Literaten Friedrich Nicolai (1733-1811), der sich am 25. Juli 1781 in St.

Blasien aufhielt. Der Besuch hatte auf ihn einen bleibenden Eindruck gemacht und sicher

nach Tagebuchnotizen zu längeren Passagen inspiriert. In dem schon 1784 erschienenen

III. Band seiner Reisebeschreibungen erwähnt er auf S. 43 schon einmal kurz das "bei

weitem vollkommenste modern geistliche Gebäude von Deutschland, das ich wenigstens

gesehen habe". Den eigentlichen Beitrag zu St. Blasien lieferte er aber erst 1796 im XII.

Band von S. 52-167, also nach dem Tode Abt Gerberts aus einer längeren Rückschau.

Nicolai wurde an diesem Juli-Tag gleich nach seiner Ankunft am frühen Morgen dem Abt

als Herausgeber der "Allgemeinen Deutschen Bibliothek" vorgestellt, freundlich

empfangen und vom Abt selbst in der Kirche herumgeführt, deren Rotunde noch mit

Gerüsten ziemlich ausgefüllt war. Man besichtigte die Kuppelkonstruktion, hörte die Orgel

während eines Gottesdienstes, aber unterhielt sich als Gelehrte mehr über andere Dinge

wie die antike Musik und die literarische Metrik als über die Kirche und ihre Botschaft. In

St. Blasien machte Nicolai noch die Bekanntschaft des damaligen Archivars Moritz

Ribbele, des Oberrechners und quasi Bauleiters, des Mathematikers P. Paul Kettenacker,

mit denen er zusammen auch wohl an der äbtlichen Mittagstafel speiste. Alle haben auf

Nicolai einen positiven und gelehrten Eindruck gemacht. Besonders wirkte auf sein Gemüt

der Abt Martin II Gerbert selber, den er jovial, bescheiden, schlicht u.a. empfand. Nur

einmal meinte er bei seiner kritischen physiognomischen Beobachtung "unvermutet in

seinem Auge der trübe, schwimmende Blick ascetischer klösterlicher Abtötung" (vielleicht

eine kurze Müdigkeitsphase des doch schon 61jährigen Abtes) bei ihm erkennen zu

können. So sehr Nicolai vom Abt als aufgeklärtem, menschenfreundlichen Manne

schwärmte, so übersah er 1796 doch nicht, dass Gerbert an den katholischen Dogmen

unverbrüchlich festhielt, und die "apokalyptischen Deutungen und harten Aeußerungen

wider die Protestanten" in seiner Schrift der "Ecclesia militans" (S.84) von sich gab. Am

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Nachmittag besichtigte er noch einmal die Kirche und die Klostergebäude (v.a. Archiv und

Bibliothek). Bei der Lektüre der durch einige Exkurse etwas weitschweifigen Analyse

Nicolais im Nachhinein fällt das primär ästhetische Interesse und seine emotionalen

Folgerungen auf. Die (christlichen) Inhalte, Bedeutungen sind sekundär. Nicolai ist ganz

von der Winckelmannschen 'Einfalt und stillen Grösse' und von dem "Erhabenen" eines

Pseudo-Longinus und Edmund Burke als eine Art Weiterentwicklung des rhetorischen

'stilus nobilis' oder 'modus sublimis' aber auch von 'Magnifizienz' u.ä. beeinflusst. Wie

Schmieder, Wörner und die moderne Kunstgeschichte stellt Nicolai (wertende) Vergleiche

mit anderen berühmten Bauten (Peterskirche, Rom, St. Paul's Cathedral, London, Sainte

Geneviève in Paris u.a.) an. Besonders am Aussenbau, der Fassade fühlte sich das Auge

Nicolais oft beleidigt, das die "Vollkommenheit so nahe ... und durch bloße Sorglosigkeit

der Baumeister" nicht die Ideal-Architektur erreicht worden sei. V. a. auf S. 96 stellt er

sieben Kritikpunkte an der Porticus fest (die 3/4 Säulen, zu kleine Nebentürme, Eingänge

schräg, Uhr des Frontispiz, Verzierungen, Kuppel erscheint breiter als Kolonnade ...). Die

"Thürmchen oder Pavillons" seien ihm zu nieder (S. 99), die Sterne IHS und MARIA auf

den "platten Halbkuppeln seien nicht einer schönen Architektur gemäß". Er denkt an eine

tiefere Vorhalle mit Freitreppe und Dreiecksgiebel ähnlich von Ste. Geneviève. Das ganze

Gebäude drücke für ihn eine "gleichsam sprechende Festigkeit" aus. Die Porticusanlage

findet er "Zusammengestoppelt", während Erich Franz (1985, S. 87) darin gerade

Dixnards Umgang mit harten Kontrasten eher positiv und als dessen Eigenart sieht.

Während das "Ganze, wegen seiner Grösse und einzelnen Schönheiten [Aussen] einen

großen Eindruck mach(e) ... (erwecke) "ein viel höheres und reineres Gefühl das

Innere"..."Reine ungestörte Empfindung des Erhabenen erfülle das Gemüth ... reine

Architektur ohne Verkröpfung, ohne Schnirkel, ohne alle Vergoldung und anderen

überhauften oder komplicierte Zierrathen ... (sonstiger) katholischer Kirchen". "Die Wände

(seien) bloß weiß angestrichen. Ein wohlgeformtes eisernes Gitter unterscheid(e) die

Kirche vom Chore". Dann folgen die angeblichen zentralen Worte Abt Gerberts (s. o. u. S.

105) und das grosse Lob: "Die Kirche zu St. Blasien ist inwendig gewiß bey weitem die

schönste in Deutschland, und vielleicht keiner neuern katholischen Kirche nachzusetzen"

(mit Ausnahme vielleicht von Ste. Genevieve). In der Anmerkung (S. 107 zitiert Nicolai aus

seiner Korrenspondenz mit dem Archivar Ribbele, der ihm erklärt hatte, dass das Gemälde

"Tod des Hl. Benedikt" über dem Chorbogen nicht aus religiösen, dogmatischen Gründen

sondern aus rein formalen Gründen dahingekommen sei, um dem Auge einen Übergang

zum Chor zu verschaffen". Der Ansicht Nicolais, dass also doch ein Stuckrelief besser

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gepasst hätte, ist zuzustimmen. Aus der zeitlichen und räumlichen und persönlichen

Entfernung Nicolais von Süddeutschland sind seine Angaben zu Wenzinger als Maler

nach Amigoni (wohl Benedikt Gambs) und Schöpfer verschiedener Statuen der

abgebrannten Kirche (statt Kloster?) und zu Hör (der Vorname Remigius), der die besten

Bildhauerarbeiten der Kirche gemacht habe, etwas unzuverlässig. Dann vergleicht er das

von ihm mehr nach der Zeichnung noch geahnte und erinnerte Innere mit der

Hedwigskirche in Berlin, der Frauenkirche in Dresden, der Nikolaikirche in Leipzig mit der

Hofkapelle in Ludwigslust wieder mit fast moderner Methode und im heutigen Sinne. Statt

auf theologische und mögliche tiefere Absichten Gerberts einzugehen, lässt sich Nicolai

über die Kuppelkonstruktion, den Brandschutz u.a. ganz prosaisch, nüchtern, technisch

naturwissenschaftlich aus. Nur eine (nicht erhaltene?) Uhr in dem Meditationsraum mit

einem Sensenmann lässt Nicolai wieder über Sinn von Meditation und wie Lessing über

die Darstellung des Todes aus. Den Abschluss von Nicolais Betrachtungen bilden Archiv,

Bibliothek, Münzsammlung, Mineralienkabinett, Buchdruckerei und Gemäldesammlung um

die Reinlichkeit, Ordnung, aber doch Rückständigkeit des Klosters (hier nicht als

Ausnahme) herauszustellen. Aus Nicolais sonst gegen die Hierarchie des Katholizismus

und die die Aufklärung nur vorspiegelnden Ex-Jesuiten und überhaupt gegen die nicht

ganz in einer auch von Lessing gesuchten idealen Gemeinschaftlichkeit lebenden Orden

gerichteten Texten lässt sich nur das menschliche, aber doch gut katholische Wesen des

Abtes und das fast auch für einen Protestanten gültige Ideal einer Klosterkirche seiner Zeit

als Abkehr von Barock und Rokoko herauslesen. Auf Details wie das von ihm anscheinend

gar nicht beachtete Deckengemälde, die Andacht, o.a. geht der eher deistisch zu

verortende Berliner Buchhändler leider (auch aus Selbstverständlichkeit?) nicht ein.

Nochmals auffällig ist immerhin sein stark kunstästhetischer Zugang wahrscheinlich auch

im sinnlich-sittlichen Sinne als Abkehr vom barocken 'theatrum sacrum'. Über den in St.

Blasien immer noch herrschenden, etwas purifizierten Reliquienkult schreibt Nicolai

(Pfeilschifter 1935, S. 88): "Die Reliquien und deren Verehrung sind den Protestanten

besonders anstößig und gewiß auch allen vernünftigen Katholiken. Der Eigennutz der

Pfaffen hat eine Menge von elenden Knochen, Haaren und anderen unnützen Zeuge

einen hohen Wert beigeleget ... Die Reliquien werden von bigotten Tröpfen häufig verehrt

und geküsset (Nicolai V, 44) ebenso unsinnig wie die Reliquien sind die sogenannten

Gnadenbilder" (Nicolai V, 46f), von denen er sagt, dass wenigstens in St. Blasien ... zur

Ehre ... kein wundertätiges Bild " vorhanden sei. (Nicolai XII, S. 112).

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Der wohl einem Schweizer-Geschlecht entstammende Franz Joseph Sulzer gibt in seinem

1782 in Siebenbürgen erschienenem Buch "Altes und neues oder dessen litterarische

Reise durch Siebenburgen ... Schwaben ..." zu erkennen, dass er den Vorgängerbau in St.

Blasien als alt und schlecht in Erinerung hat und nur vom Hörensagen ein Neubau "nach

Art der Maria rotunda in Rom, oder vielleicht der Borromäus-Kirche in Wien

hervorgestiegen" (sei), (der) in Deutschland (seines)gleichen nicht haben soll(e)". Weiter

erwähnt er nur die Silbermann-Orgel "viel größer als die Orgel in St. Märgen", ebenfalls

von dessen Hand (Brinkmann 1972, S. 301/302).

Einen viel ausführlicheren Reisebericht schrieb der Strassburger Abbé Philippe André

Grandidier über seinen "Voyage dans le duché de Baden et la Suisse" im Jahre 1784, der

allerdings erst nach 1787 verfasst und 1897 gedruckt und veröffentlicht wurde. Darin meint

er, dass die Kuppel dem Invalidendom, der Chor der Hofkapelle in Versailles und das

Portal der 'Rotonde de Rome' ähnele. Die Orgel sei ein Hauptwerk des verstorbenen

Silbermann (S. 153). Er nennt den entwerfenden Architekten Dixnard, die Ausstattung mit

einheimischem Marmor im Chor und an den Altären von Gigel, das 'distinguierte' Gitter

vom Karlsruher Hugenest, den 'Tod des Benedikt' von Wenzinger, die Kupferdeckung, die

Kuppelkonstruktion vom Klosterzimmermann und Architekten Joseph Müller, die

Blitzableiter, die Glocken von Gemminger (Benjamin Grüninger), die Glasfenster von

Michael Pflüger. Das nach 10jähriger Bauzeit errichtete Gebäude vereine "noble

simplicité" mit "solidité", Kunst und gutem Geschmack. Am 11. November 1781 sei der

erste Gottesdienst, am 31. November 1783 die Weihe durch den Fürstbischof von

Konstanz verbunden mit achttägigen Festlichkeiten erfolgt. Interessanter sind Grandidiers

Detailinformationen z.B. zum "beau" Chorgitter auf dem (oben auf den Seitenteilen?) die

schon erwähnten Zitate aus den Psalmen ("Gustate et videte, quoniam suvis est

Dominus") und auf der Rückseite (im Chorbereich "Adorate Dominum in aula sancta ejus")

angebracht waren. Auf dem Hauptaltar befände sich ein Kreuz (im oder über dem

Tabernakel?) und sechs vergoldete Bronzekerzenständer. Über den Chorstühlen stand in

Goldbuchstaben auf der einen Seite: "Psallam Deo meo quamdiu sum" und auf der

anderen: "Cantabo Domino in vita mea". Hinter der Orgel befinde sich der (beheizbare)

Winterchor mit einem Marienaltar. In der Kuppel sei "Allerheiligen", über dem Gitter der

"Tod des Hl. Benedikt" von Wenzinger gemalt. Über sechs der acht Seitenaltäre seien

Glasmalereien aus der Freiburger Kartause und einige Neuschöpfungen der Gebrüder

Pflüger eingebaut worden. Die Reihenfolge und Patrozinien der Seitenaltäre wurde schon

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oben aufgeführt. Nochmals wiederholt Grandidier, dass sich die Vorhalle derjenigen der

Rotonde in Rom ähnlich zeige. Der von Brinkmann 1972, S. 302 bis 305 wiedergegebenen

Auszüge schliessen mit dem Hinweis auf das runde (ovale) Salvator-Relief mit den schon

erwähnten Psalmworten.

Weniger ergiebig ist die Beschreibung der Reise des Augsburgers Kanzlisten und

Historikers Georg Wilhem Zapf von 1786, die dieser 1781 unternommen hatte. Er erwähnt

den "würdige(n) Fürst-abt und seine "Einsicht, Kenntnis, Geschmack und

Unternehmungsgeist". Der Bau würde "unseren Zeiten Ehre machen". Spätere

Jahrhunderte würden es noch anstaunen und den Fürsten dafür segnen. Die Kirche sei

nach dem Muster der Rotonda in Rom aufgeführt. Das "Merkwürdig(e)" des einheimischen

Alabasters taucht auch hier wieder auf.

Die Wertschätzung - wenigstens unter Kennern - zeigt das Eintreten des badischen

Architekten Friedrich Weinbrenner für den Erhalt der 'nutzlosen' Kirche nach der Auflösung

der Abtei und die Wiedererrichtung der Kuppel 1874-1911/13 nach dem verheerenden

Brand von 1874, woran auch noch Ludwig Schmieder grossen Anteil hatte, der in der

Folge die 1929 die besagte, bis heute grundlegende Monographie verfasste. In den 70er

Jahren geriet St. Blasien - wie eingangs berichtet - in Jens Uwe Brinkmanns

"Südwestdeutsche Kirchenbauten der Zopfzeit", Köln 1972 begriff- und stilgeschichtlich

oder über die Dixnard-Monographie von Erich Franz (Diss. 1975) gedruckt 1985 und durch

Hans Jakob Wörners Überblick und Herausarbeitung von "Wesen und Entwicklung der

Architektur des Frühklassizismus in Süddeutschland" 1979 (v.a. S. 79-109) wieder

verstärkt ins Visier. So sehr letzterer eine fast unendlich Fülle von formalen-

stilgeschichtlichen Vorbildern für St. Blasien ausbreitet, so wenig werden aber die

Einflussnahme Gerberts und seine möglichen Beweggründe (vgl. S. 94) wirklich greifbar.

Die Ablehnung der Unterkirche sei nicht aus Sparsamkeitsgründen erfolgt, sondern weil

der Abt letztlich kein "Monstermausoleum" oder eine Geschichtskirche wollte (vgl. S. 87).

Da die obere Gruft für die 'Habsburger Leichen' dann nur so klein ausgeführt wurde, stellt

sich die Frage, warum Abt Gerbert eigentlich nicht auch an eine Grablege seiner

Konventualen gedacht hat. Immerhin befasste man sich in Zwiefalten und Wiblingen mit

diesem Problem.

Tiefer in das Verständnis von St. Blasien führt der schon immer wieder genannte kurze

Aufsatz des Kunsthistorikers und Denkmalpflegers Georg Peter Karn, der im 2. Band des

Ausstellungskataloges "Barock in Baden-Württemberg", Bruchsal 1981 auf S. 157 bis 166

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erschienen ist, aber leider nicht nochmals im Rahmen der Tausendjahrfeier 1983 und in

möglicherweise erweiterter Form. Karn und der Beitrag von P. Stephan Kessler SJ "Ein

Pantheon auf dem Schwarzwald" im Kirchenführer "Dom St. Blasien im Südschwarzwald",

Lindenberg i. A., 2. Auflage 2012 (Claus-Peter Hilger+) stehen im Hintergrund dieser

Zusammenfassung von der Gesamt-Be-Deutung des Monuments St. Blasien.

Der existentielle Druck auf die Orden, der sich seit der Reformation bis zur Aufklärung und

um 1768 aufgebaut hatte, war doch sehr enorm. Ohne den Brand hätte St. Blasien sicher

keinen Kirchenneubau begonnen. Zur Rechtfertigung dienten die Gruftpläne (''Österreich

zum Freund") und wie in Wiblingen während der Hungerjahre 1770/71 das auch von

Nicolai erwähnte, Lohn und Brot beschaffende Investititonsprogramm. Aber auch

aufwendige Begräbnisstätten passten nicht mehr in die Welt z.B. des später den

wiederverwendbaren Volkssarg propagierenden Joseph II. Das Verhalten des Abtes

Martin II Gerbert erscheint zumindest heute etwas ambivalent. Auf der einen Seite

sparsam und ängstlich bedacht, keinen Neid zu erregen, auf der anderen Seite wollte er

(und sein Konvent) sicher auch etwas Besonderes, das vor den tonangebenden

französischen und den einheimischen Fachleuten und Kennern Bestand haben sollte. Die

Gesamtkosten hielt er geheim, die der teuren Silbermann-Orgel sogar vor seinem eigenen

Konvent. Mit Dixnard, Pigage, Hugenest und auch vielleicht Johann Caspar Gigl zog er

zumindest regionale Spitzenkräfte heran. Warum er für die doch nicht ganz

unübersehbaren Deckengemälde, Altarbilder (und die Altäre) nicht einen besseren Maler

und Entwerfer als Christian Wenzinger engagierte, gibt zu Vermutungen Anlass. Der

schon genannte Preis für die Kuppelmalerei mit 6000 fl.- (einschliesslich des Wandbildes

über dem Chorbogen?) ist nicht gerade gering. Und wenn P. Paul Kettenacker 1793

schreibt, dass Wenzinger besser in St. Blasien als in St. Gallen gemalt habe, dürften

eigentlich auch schon früher gewisse qualitative Bedenken ihm gegenüber laut geworden

sein. Aber wahrscheinlich dürfte der langjährige, vielleicht persönliche Kontakt des Abtes

zu dem vielleicht überzeugend auftretenden, doch schon fast 70jährigen Wenzinger den

Ausschlag für den in der Nähe wohnenden Freiburger zusammen mit seinem Mitarbeiter

(und Ausführenden) Simon Göser gegeben haben, der in St. Peter schon 1772 bewiesen

hatte, dass er v.a. die Architekturmalerei ganz gut beherrschte. Dazu drängt sich der

schon oben angedeutete Eindruck auf, dass Abt Gerbert auch eine asketische, unsinnliche

Komponente hatte, die sich selbst in der Musik äusserte und in den bildenden Künsten

eher zu einer gewissen Nachrangigkeit führte.

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Eine andere Zwiespältigkeit Gerberts zeigt sich im Geistig-Geistlichen: hier der Mann des

Fortschritts mit Kämpfer gegen den Aberglauben (z.B. bei Verbot des Wetterläutens 1786,

nachdem man sogar auf Bäumen Blitzableiter angebracht hatte), dort das immer noch

grosse, nicht nur historische-antiquarische Interesse an Reliquien, das nach Stephan

Kessler (2012, S. 33) auf der "christlichen Grundüberzeugung" der Einheit

von Leib und Seele ... nach dem Tode" und auf einer Verbindung, einer Brücke zwischen

Himmel und Erde "durch die Überreste der Heiligen" beruhe. Vielleicht hätte man sich im

feuergefährdeten St. Blasien eher an den Heiligen Florian halten sollen. Georg Peter Karn

sieht Gerbert auch nicht auf einer Stufe oder in deiner Reihe mit dem um einiges jüngeren

ehemaligen Neresheimer Konventualen, Stuttgarter Hofprediger und später aus dem

Orden ausgetretenen Benedikt Maria Werkmeister (1745-1823), der den Gottesdienst auf

Deutsch, als Ermunterung zur Tugend und die katholischen Riten und Zeremonien als

"Zerstreuungs- und Belustigungsmittel" ansah.

"Die auf Förderung der inneren Religiosität als natürliche Tugend durch die äussere, auf

Verbesserung und Läuterung des menschlichen Lebens im Diesseits gerichtete

Gestaltung des Gottesdienstes und die Zurückdrängung des Wunderglaubens spiegeln

sich in Gestaltung und Ausstattung des Kirchenbaus wieder. Der Effekt des emotionalen

Überwältigtseins, die Versinnlichung der Glaubensgeheimnisse im Sinne eines 'Theatrum

sacrum' im Barock, weicht dem Anspruch der Rückführung des Menschen zu sich selbst,

zu seiner natürlichen Religiosität. Die exzentrische Wirkung wird mit der konzentrischen

Andacht vertauscht". Ausserdem würden Liturgie und Kirchenbau eine Annäherung an

den Protestantismus zeigen: so lauten die zentralen, etwas geistesgeschichtlichen und

allgemein gehaltenen Thesen Karns gemäss dem Motto Abt Gerberts der Konzentration

zur Andacht. Im weiteren versucht Karn das Gesagte am Gebäude und seiner Ausstattung

zu beweisen. Die von Pigage als zu nah beieinander stehenden und sich vielleicht

störenden Seitenaltäre wurden schon oben angesprochen. Karn betont nochmals die

schlichte (sparsame) Ausführung, den Verzicht auf Theatereffekte einschliesslich von

Ädikula-Architekturen und Vielfigurigkeit. Die von Karn geäusserte Änderung der

Heiligenverehrung (z.B. verstärkte Fürbitterrolle) bei diesen eher an Grabdenkmäler

erinnernden Altäre ist eigentlich kaum zu bemerken. In Wiblingen ist eine Andacht und die

Zwiesprache mit den 'menschlichen' Heiligen(figuren) leichter nachvollziehbar. In St.

Blasien wirkt es historisch distanziert auch mit der heute (veränderten?) Altargrabinschrift.

Karn weist auf die klassenartige Einteilung der Heiligen in St. Blasien hin, wie sie

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Grandidier in seinen Aufzeichnungen mitteilte, und wie sie z.B. im Programm für das

Zwiefalter Vierungsbild niedergelegt ist. Also ist dies nicht so sehr als aufklärerisches

Moment zu sehen. Beim verworfenen Dixnard-Entwurf für Gitter und Hauptaltar

interpretiert Karn die Engel mit dem Schwenkbehältnis als Hostiengefäss, das seinen

Ursprung im Mittelalter und in Frankreich gehabt habe. Die Nicht-Verwendung oder

-Ausführung deutet eher auf einen eigenen, auch praktisch nicht einfach umzusetzenden

Gedanken Dixnards hin. Man kann auch nicht feststellen oder sagen, dass Abt Gerbert

historische, liturgische Formen in seiner Kirche rekonstruieren wollte. Im folgenden

versucht Karn kunsthistorische und ästhetische Leitbegriffe der Zeit von 1755 bis ca. 1800

wie 'Einfalt, Simplizität, Stille Grösse (Winckelmann), Schöne und Erhabene' (Burke) auf

St. Blasien und seinen Bauherrn anzulegen. Es ist wohl davon auszugehen, dass Abt

Gerbert diese geläufigen Schlagworte kannte, aber diese bei ihm nicht schon am Anfang

gestanden haben. Selbst die Eingebung des Pantheons ist nach kritischer Lektüre der

bislang bekannten Quellen nicht so klar. Interessanter als die bekannte Kritik David Vogels

und die Einschätzung Nicolais ist Karns Hinweis auf Palladio und dessen gedankliche

Verbindung von Rundbau, auch Kolonnadenfolgen mit der Rundgestalt der Welt, der

Unendlichkeit, Ewigkeit, aber auch Orientierungslosigkeit. Aber auch hier wissen wir nicht,

ob in diesem runden Gotteshaus Abt. Martin II solche Stimmungen, Gefühle erzeugt sehen

wollte. Die Einfachheit oder Simplizität erklärt sich auch durch die z.B. 1770 in Bayern

verordnete Sparsamkeit, den Geschmackswandel, den Überdruss an der Rocaille u.a.,

aber auch aus einem Wunsche nach Monumentalität, Grösse und Ruhe (Andacht). Der

letzte grössere Abschnitt des Karn-Aufsatzes ist der Einschätzung St. Blasien auf seine

Fortschrittlichkeit hin gewidmet. Der Autor meint, dass v.a. die von Nicolai gerügten

Deckenbilder dem "naiv-emotionalen" Barock verhaftet seien, und dass der Abt sich

dessen voll bewusst gewesen sei, und Karn fragt sich zu Recht, was ihn dazu bewogen

haben könnte, diese (vielleicht etwas zerstreuenden?) Gemälde malen zu lassen. Die

Antwort aus einer teilweise falschen Prämisse, die Karn zu geben versucht, lautet:

(konservativer) Tribut an die benediktinische Tradition - eine zu einfache Erklärung.

Ausser dem Tod des Benedikt' gibt es keinen Hinweis auf den Ordensgründer, kein Altar

ist ihm geweiht, keine Inschrift aus seinen Regeln, o.a ist zu entdecken... .

St Blasien abschliessend bleiben immer noch mehr Fragen als Antworten: Waren die

Decken-Wand-Bilder nur (dekoratives) Füllsel?, wohl nicht?. Warum hat Abt Gerbert nicht

statt dem aber sicher nicht syllogistisch konstruierten Kuppelbild ein rhetorisch völlig

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unverklausuliertes, vielleicht perspektivisches Kreuz in den aufgeräumten Himmel hat

malen lassen?. Wenn der Benediktiner an der Brüstung Fintan darstellt, wäre noch einmal

so etwas wie die Gründungsgeschichte St. Blasiens und ein 'Verweis auf sich selbst' und

auch ein Verweis des Betrachters, Gläubigen nach oben angedeutet. Einen Verweis auf

seine eigene Person hat Abt Martin II nicht gewünscht. Das Gebäude und zeitweise auch

das wohl von L. Bossi stammende Stuckreliefprofilbildnis sprachen und sprechen für ihn

(auch so). Es erstaunt, dass in dem Gebäude eines historisch denkenden Auftraggebers

kaum Historizismen zu finden sind. Das Volksnahe, Erzieherische (vgl Wiblingen und

Neresheim), auch das Empfindsame fehlt weitgehend in der Rotunde. Das visuell-

künstlerische Interesse des vielbeschäftigten Historikers, Theologen und Herrschers sollte

nicht zu hoch angesetzt werden. Neben seiner Aufgeklärtheit ist sein Festhalten z.B. am

Reliquienkult zu sehen. Aus dem hier Vorgebrachten dürfte es sich gezeigt haben, dass

nach dem Ausscheiden der regulären Architekten v.a. Dixnard und Pigage der moderne, ja

für den Sakralbau fast revolutionäre französisch-klassizistische Einfluss spürbar nachlässt

und sich - vielleicht mit Wenzinger zu verbinden - eine eher nachbarock zu nennende

Auffassung verstärkt, die auch von dem zunehmend älteren und weniger wagemutigen Abt

zumindest mitgetragen wurde. Bei der Ausstattung sowieso eher verständlich hat sich das

Farbige, Ab-Bildhafte, Erzählerische und sogar etwas das 'Rhetorische', wenn man

darunter das Pathetische, Gestische und Gedanklich-Spitzfindige versteht, wieder oder

noch einmal etwas eingeschlichen. Wenn man das 'Rhetorische' wie gegenwärtig sehr

weit fasst, findet es sich bei jeder Architektur von Gewicht, die etwas 'aussagt' und

(be-)'wirkt' wie hier z.B. Kühle, Strenge, Weite, Verlorenheit, u.ä.. Auch aus dem hier

dargestellten Entwicklungsprozess verbietet es sich fast von einem 'Gesamtkunstwerk' zu

sprechen. Eine auch von Bauherr, Architekt(en) und Betrachter weitgehend geübte

ästhetische Betrachtungsweise suggeriert mehr die Idee einer absoluten, fast schon

säkularisierten profanisierten oder paganisierten Architektur (gegenüber der

Vorangegangenen Höfisch-Theatralischen), die kaum eine Symbolik v.a. der

Rotunde(nkuppel) wie Kosmos, All, Himmel ... sondern eher nur Helle, Licht, Strahlung,

Ordnung, Schmuck, Erhaben(heit) ... mehr aufkommen lässt. Selbst eine abbildende,

mimetische Funktion oder Komponente wie das historisierende Pantheon-Zitat (das

'Pantheonoide') wird nicht so richtig offensichtlich. Andererseits wollte Abt Gerbert

(individuelle?) "Andacht", Konzentration, Meditation oder 'Kontemplation' u.ä. neben und in

dem "Dunst"-Kreis Gottes ins architektonische Visier genommen sehen. Der heutige

Betrachter der Rotunde in St. Blasien mag sich ohne das Deckengemälde an Kants

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rosetten-kassettierten 'Himmel über sich' oder Schleiermachers "Sinn und Geschmack fürs

Unendliche" erinnert fühlen.

Sankt Blasien im Lichte von Seldmayrs Ansichten

Wie eingangs erwähnt, hat sich die Münchner Schule um Hans Sedlmayr leider nicht

explizit über St. Blasien und auch kaum über den Klassizismus ausgelassen, sodass hier

nur notwendigerweise mehr zwischen den Zeilen und in Ergänzung einige Aufsätze

Sedlmayrs zu lesen sind. Diese sind in "Epochen und Werke", Band III, Mittenwald 1982

nachträglich versammelt und bezeugen das grosse stilphysiognomische Sensorium

Sedlmayrs für Barock, Rokoko und Klassizismus. Seine anregenden Ein- und Ansichten

sind dicht und überlegt zu Wort gebracht leider aber auch immer wieder mit ideologischem

Ballast. Bei allen drei zuerst als Vortrag konzipierten Aufsätzen (1. "Zur Charakteristik des

Rokoko", 1960, gedr. 1962, 1982, S. 180-189; 2. "Bustelli und das Rokoko", 1963, gedr.

1963, 1982, S. 189-199; 3. "Mozarts Zeit und die Metamorphose der Künste", 1977, gedr.

1977, 1982, S. 200-212) beruft sich Seldmayr nach 1945 auf den Jesuiten (und

logischerweise Nicht- Nazifreund) Erich Przywara (1889-1972) und dessen zumindest im

18. Jahrhundert selbst so nicht angewandte Unterscheidung der Schönheitsbegriffe

'pulchrum' als 'schön, herrlich ...' bzw. 'bellum' als 'hüsch ...' und ihre Zuordnung zum

Barock mitzudenkend im Sinne von 'echt' bzw. Rokoko als 'oberflächlich'. Vielleicht darf

man hier 'etymologisch' anmerken, dass das lateinische 'bellum' auch noch 'gut' von den

inneren Werten her bedeuten kann und über 'benelom' von 'bonum' oder duonum'

herkommt, während 'pulchrum' nach Julius Pokorny, Indogermanisches etymologisches

Wörterbuch, Zürich 1959, S. 821 über 'polchrom' bzw. 'perkrom' = 'bunt, fleckig' (vgl. auch

unser Wort Farbe) zurückgeht und nicht etwa auf 'polire' = 'glätten oder reinigen'. Das

griechische 'kal(l)ón'. das ursprünglich 'schön (gewachsen), gesund' bedeutet, solle mehr

für das Geistig-schöne, die ideale Gestalt und die "reine Form an sich" stehen und es wird

daher von Przywara und Seldmayr mit dem Klassizismus verbunden, obwohl es auch im

Griechischen ganz prosaisch für das 'Brauchbare' stehen kann. Aber selbst Sedlmayr

muss dann doch erkennen, dass diese Klassifizierungen nach diesen

Schönheitskategorien zu allgemein, "typologisch" ausfallen. Die von ihm angestrebte

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historische Bestimmung (S. 183) möchte er angesichts der 'Phänomene' erreichen, wozu

besonders die "kritischen Formen" wie die 'Rocaille' gehören. Auf die schon erwähnte "tief

dringende" Dissertation seines Schülers Hermann Bauer bauend sieht Sedlmayr den

Übergangscharakter der Rocaille vom Ornament zum Naturgebilde, von der Ornament-

zur Bild-Dimension, von der Ornament- zur Bild-Logik, bei den offenen Dimensionen wie

z.B. der im plastisch-malerisch-bildhaften Bereich auftretenden 'Mikromegalie'. All dies ist

in St. Blasien kaum mehr ein Thema. Allerdings haben die Rosetten der Kuppel ob gemalt

oder geformt noch abbildenden Charakter. Die teilweise vom Holzbau abgeleitete antike

Architekturornamentik wird in St. Blasien zum zitathaften Abbild des antiken Tempels.

"Neue(s) Licht" in den nicht unproblematischen Begriff des deutschen (bayrischen)

'Sonderrokoko' hätte der andere namhafte Sedlmayr-Schüler Bernhard Rupprecht

gebracht, wobei hier nicht die 'Rocaille' die 'kritische Form' (ihr "Wesen ... das des

Übergangs schlechthin") sei, sondern die Spannung von Kirchen- (oder zumeist bildhaft

gesehenem, erlebtem Realraum) und dem etwas unabhängigen, exzentrischen

Illusionsraum des Freskos. Andererseits stelle inhaltlich das Fresko altbekannt 'Jerusalem,

Gottesstadt, Himmel u.ä.' dar: eine Kirchen zu bauen bedeute soviel als einen neuen

Himmel erschaffen. Warum dann im Rokoko zuvor die formale Spannung und nicht weiter

die pozzeske Einheit des Barock angestrebt wird, bleibt eigentlich unerklärlich, fast

widersinnig. Auf St. Blasien angewandt haben wir eine "synzentrische", eher barocke, mit

der Brüstung bis in die Frühzeit der europäischen Deckenmalerei (z.B. Mantegna)

zurückgehende Lösung vor uns. Darstellungsmässig ist ein Himmel(sausblick) weniger

Jerusalem oder die Gottesstadt in der Rotunde angedacht, vielleicht mit einem

'historisierenden Selbst-Verweis'. Hans Sedlmayr bringt auch noch den 'Meta-Stil' seines

Schülers Hermann Bauer ins Spiel, den er als " jene eigentümliche und unendlich

erfolgreiche Entwirklichung der künstlerischen Realitäten" umschreibt. Das Rokoko (oder

der Geist Hermann Bauers?) mache gewissermassen artifiziell und gedanklich bei allem

einen distanzierenden, projektiven 'Shift' zum 'Bild(haften)' hin. Wir nähern uns doch sehr

der Ideenwelt und einer Art platonischer Kunst und Kunstwissenschaft. Haben wir also

angeblich im Sinne von Goethe (ohne genaue Quellenangabe) in St. Blasien (nur) das

oder ein 'Bild von Architektur', das auch zur Auflösung des 'Gesamtkunstwerkes' betrage,

vor uns?. "Der europäische Klassizismus seit der Jahrhundertmitte ... (erscheine) nur bei

einer rein formalen Betrachtung als ein Bruch mit dem Rokoko" behauptet Sedlmayr, da

mit diesem 'Meta-Stil' die Ideenkunst des Klassizismus im Rokoko sich schon vorbereite

oder vorbereitet habe. Am konkreten Beispiel in St. Blasien kann dies so nicht

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nachvollzogen werden. Die Abkehr, der Bruch mit dem Rokoko ist nicht nur formal,

sondern auch gedanklich mit dem Rückgriff auf französische Klassik, Renaissance und

Antike, wenn auch in der plastischen und malerischen Ausstattung nicht konsequent

sondern eher zurückfallend, unterlaufend vollzogen. Am Schluss dieses Aufsatzes kommt

bei Sedlmayr wieder das angeblich zeitfreie, überzeitliche, vollendete, das "poetische"

Moment zum Tragen, das sich in der künstlerischen Qualität (z.B. Watteau) äussere - oder

besser - zeige.

Fast nahtlos schliesst sich der zweite Aufsatz Sedlmayrs "Bustelli und das Rokoko" an, in

dem das "Vollendete ... eine ganz mitverwandte Welt" (Novalis) ausspräche und "über

seine Art hinaus" (Goethe) gehe. Interessanter als dieses einen weiten und reinen

Kosmos beinhaltende ansprochene 'grosse Kunstwerk' sind Sedlmayrs folgende

Überlegungen zu 'Licht', wo er dem Rokoko ein "verklärtes (= nicht direktes, nicht hartes,

gebrochenes?), aber durchaus irdisches, sublim-sinnliches Licht" unterstellt. Auf St.

Blasien bezogen haben wir von der Rotunde aus gesehen ein helles, eher indirektes, aber

kaum spirituelles Licht vor oder über uns. Das 'Weiss' des Rokoko sei ein "sozusagen

materialisiertes, zur Farbe geronnenes Licht" anders als das "farblos(e) des folgenden

Klassizismus". Auch wenn der Verfasser dieser Zeilen hofft eine "verfeinerte Sinnlichkeit"

für "Nuancen" - vielleicht nicht ganz das synästhetische "Sehen von Vierteltönen und

Schwebungen" - zu besitzen, hat er doch Schwierigkeiten Sedlmayr hier zu folgen.

Einfacher ist es bei "Spiegel und Lüster" und "Glanz" eine Vorliebe des Rokoko

festzustellen, die natürlich in St. Blasien vielleicht bis auf den Marmor des Chores und den

(jetzt?) etwas glatteren Säulen der Rotunde und den wenigen Vergoldungen des

Altarbereiches ganz wegfällt oder weggefallen ist. Das "Absehen von Dunkel und

Schwere" (auch des Dämonischen, Negativen) trifft weitgehend auch auf St. Blasien

(noch) zu. Das "Spiel"(erische) ist in St. Blasien auf die Putten Hörrs über den Eingängen

zum Chorumgang beschränkt. Auch die folgenden Begriffe "Changieren, Übergang,

Verwandlung" sind weitgehend in St. Blasien vermieden, abgesehen vielleicht vom

Gesims zur (ursprünglich gemalten) Kassettenkuppel und von dort zum flachen Spiegel

des Himmel-Opaions. "Allusion(en)" hält sich sehr in Grenzen (z.B. wieder Hörrs Putten).

Es fehlt in St. Blasien natürlich das idyllische, bukolische, exotische oder galant-höfische

Element. Auch eine Vermengung und Umwertung der stilistischen und motivischen Modi

ist in St. Blasien vermieden. Etwas unklar bleibt die "Heteromorphie" (= die

Andersartigkeit, Mehr-Vielgestaltigkeit, Widersprüchlichkeit?) des Rokoko, wobei er bei

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Gestalten wie Ignaz Günther, F. A. Maulbertsch, F. A. Bustelli noch "Elemente eines

letzten Spätbarock" glaubt erkennen zu müssen. Die 'Hetermorphie' St. Blasiens ist

vielschichtig, auch qualitätsbedingt, postbarock und dem Gesamteindruck eher abträglich.

St. Blasien am nächsten kommt Sedlmayr mit seinem späten Aufsatz: "Mozarts Zeit und

die Metamorphose der Künste". Er sieht in dem Klassizismus des 18. Jahrhunderts den

"ersten internationalen Stil". Man kann sich nun fragen, ob St. Blasien als (provinzieller?)

Ableger der französischen Kunst (Soufflot u.a.) so zu sehen ist, ähnlich der

Schlossarchitektur seit 1750 im Herzogtum Württemberg. Für Deutschland sieht Seldmayr

im Klassizismus "die Altersphase des Barock mit allen Zügen des Alterns, Erstarrung,

Erkalten, Nachlassen der Kraft". Alterung und Nachlassen der Kraft trifft so für St. Blasien

sicher nicht zu. Es ist eher ein wichtiger, herber Neuanfang mit weiter zurückreichender

Rückbesinnung. Sedlmayr hält die eher nach 1775 einsetzende 'Revolutionsarchitektur' für

eine bürgerliche Variante. Ob in St. Blasien etwas Römisch-Republikanisches mitgedacht

war, ist doch sehr zweifelhaft. Inwieweit eine "hellenisierte Kunst-Religion'', eine

"Humanität ohne Transzendenz", das (auch von England herkommende) Pantheistische

oder Deistische die Rotunde in St. Blasien erfüllen mag, so lag ähnliches aber kaum in der

Absicht von Abt und Konvent. Sedlmayr spricht noch von Geometrismus (vgl. Nicolais

'Perpendikularität'), Monotonie und Megalomanie als Kennzeichen des Klassizismus, was

in gewisser Weise wieder für St. Blasien zutrifft. Wenn Sedlmayr schreibt, dass die Kirche

kein "Sacrum Theatrum", sondern ein "Bethaus" und keine hohe, sondern funktionale

Kunst unter dem Josephinismus zu sein habe, dürfte für St. Blasien nach eigener Aussage

ein zusätzlicher Anspruch auf Würde und Ästhetik doch noch bestimmend gewesen sein.

Andere aufgezählte Anliegen des Klassizismus wie Einfachheit, Tempelhaftigkeit, die

schon zuvor genannte Licht-Glanz-Farblosigkeit finden sich auch in unserem bisherigen

St. Blasien-Text wieder. Interessant ist, dass Sedlmayr Stille, Kühle, Härte mit der

"latenten Todesnähe des Klassizismus" verbindet, was bei der Nebenabsicht von St.

Blasien als Herrscher- und Märtyrer-Mausoleum vielleicht nicht ganz abwegig ist. Die

additiv-kontrastive Auffassung Dixnards lässt sich vielleicht mit dem von Sedlmayr ohne

Quellenangabe angeführten "Staccato-Prinzip" etwas verbinden. Sedlmayr betont weiter

die Schwerpunktverlagerung im Zeitalter des Klassizismus auf das Literarische. Dass für

St. Blasien z.B. eine spezielle (christliche) Literatur bestimmend gewesen sei, kann nicht

nachvollzogen werden. Noch schwieriger oder unmöglich ist es, St. Blasien, das für eine

kurze Zeit Pilgerstätte für Architekturwallfahrer geworden war, mit Sturm und Drang,

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Aufklärung, ja selbst mit Kategorien wie Gefühl und Verstand in eine direkte Verbindung

zu bringen.

Ein kurzer vorläufiger Rück- und Ausblick

In der Rückschau lässt sich sagen, dass alle behandelten Benediktinerklöster jeweils

individuelle Ausprägungen v.a. des Reliquienkultes (und teilweise der Wallfahrtstätigkeit)

zeigen. Am weitesten entwickelt im Sinne eines Reformkatholizismus des 18.

Jahrhunderts stellt sich Neresheim dar, das in der Ausstattung bis in die Zeit der grossen

Umwälzungen und nahe an das Ende der alten Ordnungen wie dem Hl. Römischen Reich

heranreicht. Die süddeutsche Klosterbaukunst v.a. nach 1750 markiert eine letzte Blüte,

die die Romantiker um 1800 und noch später z.B. die Beuroner-Schule eine mehr oder

weniger erfolglos wieder zum Leben erwecken suchten.

Schluss

Auch wenn die neuartigen Perspektiven, Thesen, Kriterien, Kategorien oder Methoden

eines Hermann Bauer (Wunder vs. Akt, Verweis v.a. selbstreferenziell, äthrale vs.

historische Perspektive, Bildhaftigkeit, Realitätsgrade, u.ä. mit dem hohen

wissenschaftlichen Anspruch des 'Meta'), eines Markus Hundemer (rhetorische

Kunstheorie und sinnliche Erkenntnis), eines Nicolaj van der Meulen (ganzheitlicher,

rezeptionsästhetischer Ansatz in liturgiehistorischer Verbindung), eines Frank Büttner (die

Beziehung von Rhetorik und Illusion-ismus) und einiger anderer hier kritisch gesehen

wurden und sich an diesen Beispielen bewähren mussten, so waren sie doch anregend,

nützlich, ja notwendig zu diesem Versuch einer Bestimmung der eigenen Position.

Im Sinne auch wohl von Frank Büttner geht es dem Verfasser darum die damaligen

Konzeptions-Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu bestimmen, die

wahrscheinliche ursprüngliche(n) Bedeutung(en) eines Werkes zu rekonstruieren, wieder

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zu gewinnen oder zumindest sich ihr (ihnen) weitgehend anzunähern. Von einem "offenen

Kunstwerk' ist intentional im Barock/Rokoko zuerst einmal nicht auszugehen, wenn man

die allgemeine, künstlerisch-sensualistische, appellative Komponente seit Abbé DuBos

einmal ausklammert. Etwas System bildend lassen sich diese Bedingungen vielleicht so

wie nachstehend sehr schematisch anschaulich verdeutlichen. Hier rückt vor allem der

kirchliche Auftraggeber (als mandator, 'conceptor') dieser Zeit in eine wichtige, ja

entscheidende Rolle, sodass man neben rezeptionsästhetisch und produktionsästhetisch

von konzeptions- oder mandatsästhetisch sprechen könnte, was sich in grösserem

Massstab auch an der Einteilung nach Herrscherfiguren z.B. in der französischen Kunst

des 18. Jahrhunderts zeigt.

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AuftraggeberKonzeptorMandator

(Rezipient)

BetrachterRezipient

(Kunstwissenschaftler,Decodierer)

KünstlerProduzentCodierer

(Konzeptor)

Inhalt Form

Alterung Veränderung

(Kunst-)Werk

Objekt(Medium)

Re

zep

tion

s ge

schich

te

Ko

nze

pt (P

rog

ram

m, G

ed

an

ke)

Betra

chte

r

Rezip

ient

Vergangenheit

Gegenwart

Zeit (Ort-Raum)

BarockRokoko

ZeitgenossenGesellschaftKultur

mit subjektivem Filter(Mentalität, u.ä.)

Kunst des Barock und Rokoko: Bezüge in Vergangenheit und Gegenwart

(Code)

Zukunft

Sinnlich-ansprechendes, informatives Potential

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Um das Fühlen, Wollen, Denken, die 'Sinn'-Möglichkeiten in einem Werk (auch schon in

seinem Konzept) einer Epoche festzustellen, wird es nicht d i e Methode geben, wie

Markus Hundemer vielleicht mit seiner wohl historisch gerechtfertigten 'syllogistischen

Bilderkenntnis' hofft(e) gewonnen zu haben. Der Auftraggeber fasste (oft selbst, aber sehr

fraglich syllogistisch) den Entschluss ('conclusio') zu einem Thema, äusserte seine

speziellen Wünsche und gab entsprechende Informationen. Der Auftragnehmer oder

Künstler versuchte inhaltlich-assoziativ-argumentativ (aber sicher nicht syllogistisch) und

formal-ansprechend, seinem Repertoire gemäss alles zur Anschauung zu bringen. Es wird

also schlicht mehr auf ein Erfassen aller erreichbaren archivalischen Hinweise, ein Sich-

Vor-Augen-Halten der ökonomisch-praktisch-handwerklichen Abläufe, ein Einsehen in die

Handschrift der Künstler und Handwerker, ein Erarbeiten von Kenntnissen neben der

Ikonographie/Ikonologie, der historisch-politischen, religiösen und soziokulturellen

Verhältnisse vor allem lokaler Art einschliesslich der Mentaltität der entscheidenden

Akteure hinauslaufen, um zu einigermassen plausiblen Einschätzungen, Deutungen und

Erkenntnissen zu kommen. Vor einer zumeist philosophierenden Modernität,

Aktualisierung, Enthistorisierung ist eher abzuraten. Ausserdem ist ein malerisch-

plastisch-architektonisches Gebilde nicht einfach eine Gestalt gewordene, stumme

Jubelpredigt oder Theologie, Rhetorik oder Philosophie. Ein solches hat auch schon vor

der Zeit einer Bekenntniskunst seinen persönlichen, individuellen Charakter. Es sorgt - der

Musik ähnlich - zuerst für eine sinnlich-emotionale Grundstimmung und soll auch unter

Umständen das Übersinnliche, aber auch das Künstliche (Künstlerische) sichtbar, erlebbar

machen. Selbst bei Maler-Philosophen wie Nicolas Poussin oder Anton Raphael Mengs

dürfte das Eidetische noch als primär anzusehen sein.

Gegenüber Bauers pauschalen Kategorien hat es sich gezeigt, dass jedes Projekt eine

von Ort, Zeit und Personen abhängige, spezielle Lösung darstellt, was beim

kunstwissenschaftlichen Herangehen schon eingeplant werden sollte. Zur Erfassung der

Komplexität ist eine grösstmögliche Offenheit und eine fast interdisziplinäre Vielseitigkeit

angesagt. In der Anschauung sind es oft die unscheinbaren Details, die aber nur mit

Vorsicht zur 'kritischen Form oder Inhalt' werden können. Somit ist auch eine gewisse

Nähe zum (Kunst-) Werk ausschlaggebend. Jede wissenschaftlich notwendige

Abstraktion, Theorie-Systembildung wie das obige Schema entfernt uns leider auch wieder

vom individuellen Objekt. Einen 'richtigen' Abstand, ein dynamisches, optimierendes

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Verhältnis von Nähe und Distanz zu gewinnen und einzuhalten gehört vielleicht auch zur

'Kunst der Interpretation'. Die als psychologisierend-physiognomische Synthese von Stil (-

Geschichte) und Geist(es-Geschichte) gedachte Strukturanalyse von Hans Sedlmayer u.a.

wie auch noch von Hermann Bauer vermittelt die trügerische Hoffnung die 'Mitte', den

Bauplan, die Formel, ja die Wahrheit und das Wesen eines Kunstwerkes (wieder- oder

sogar erst) gefunden zu haben. Wenn man etwas genauer hinschaut, bleibt sie sehr oft

blosses ideologisches Konstrukt und so wird im klassischen konkreten Fall bei Sedlmayr

Vermeers offene, vieldeutige 'Schilderconst' zur 'letzten Offenbarung' einer ''reinen

Innerlichkeit'' auch mit der Übertragung der problematischen Luca-Giordano-Äusserung

'Theologie der Malerei' zu 'Las Meninas' von Velázquez. Eine solide, unterbauliche 'erste

Kunstgeschichte' ist eine verlässlichere Basis für vermeintliche Strukturen oder

kategorisierte Anschaulichkeiten, die prosaisch oft mehr einer technischen Entwicklung

oder künstlerischen Traditionen entwachsen sind, als dass sie gleich Ausdruck

irgendwelcher (projektiver) Welt-Anschauungen sind. Statt z.B. eines schematischen

Auslegungversuches in der Art Sedlmayrs (vgl. Lida von Mengden: ''Vermeers De

Schilderconst in den Interpretationen von Kurt Badt und Hans Sedlmayr – Probleme der

Interpretation'', Diss. München, Frankfurt 1984) nach dem kirchenväterlich vierfachen,

hierarchischen Schrift-Sinn (1. somatisch-wörtlich; 2. allegorisch-zeitgebunden; 3.

tropologisch-individuell-seelisch-moralisch; 4. anagogisch-spirituell-zeitfern), was so

Hermann Bauer allerdings nicht macht, reicht es vielleicht schon das vielschichtige Kunst-

Werk-Ensemble v.a. des 18. Jahrhunderts auf seine sinnlich-geistig-sittliche Wirkungen

bzw. die Eindrücke im Betrachter nach klassisch-poetisch-rhetorischen und damals

gängigen Begriffen wie delectare (optisch, haptisch, zumindest virtuell akustisch,

osphrantisch; auch das Künstlerisch-Ästhetisch-Intellektuell-Geschmackliche), docere,

prodesse, movere u.ä. zeitlich, räumlich, individuell und soziokulturell genetisch-funktional

abzufragen.

Mit wundersamen 'positiven' Ergebnissen und Neuigkeiten war bei der vorrangigen

kritischen Bestandsaufnahme nicht zu rechnen. Vielleicht ist das Feichtmayr-Christian-

Problem durch (noch nachzureichende) Bildvergleiche etwas besser nachvollziehbar

gelöst, allerdings durch die Annahme einer Aufteilung und Kooperation an den

Vierungsaltären von Ottobeuren in gewisser Analogie zu den Vettern Zeiller auch wieder

etwas 'verkomplifiziert'. Vor allem bei den Datierungen von Gossenzugen wurde versucht

eine neue Feinjustierung zu erreichen. Die schon 1992 unternommene Spätdatierung des

zweiten Abschnittes des Innenausbaus von Zwiefalten hat die Konsequenz, dass v.a. die

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Altäre und die plastische Ausstattung nach Ottobeuren anzusetzen und somit anders

einzuschätzen sind. Damit wird deutlich, dass in Zwiefalten weit mehr Kontinuität angesagt

war. Für Zwiefalten werden die Marienwallfahrtsvorstellungen Bauers und einiger anderer

relativiert und der marianische Schutz und die (bruderschaftliche und individuelle?)

Frömmigkeit stärker betont. Neben einem Neufund eines Gemäldes von Spiegler wird

vielleicht auch dessen Langhausdeckenbild als einem göttlichen 'Bollwerk' und einer

Treppe des Glaubens vor dem lutherischen Umfeld und der wachsenden Freigeisterei

verständlicher. Bei Ottobeuren deutet sich eine eher konventionelle und repräsentative

Grundhaltung an. Für Neresheim wurde versucht das einfache, durchdachte

christologische Programm, eine Art Glaubensbekenntnis, und das Problem der Darstellung

Gottes und besonders in der Trinität vor dem (jüdisch-islamischen) Bilderverbot und der

Aufklärung zu sehen. In Wiblingen wird noch stärker der Widerspruch zwischen

traditionellem Glaube, Reliquienkult und historischer Wirklichkeit, Vernunft, Modernität

trotz und wegen einer modernen künstlerischen Folie unübersehbar. Das einsam

gelegene St. Blasien erstellte eine allseits gelobte modern-klassizistische, von aussen

nicht sehr einladende, monumental-pantheonoide Kirchenarchitektur mit einen mehr

sittlichen als sinnlichen, stark ästhetisierten „Dunst“-Innenraum (eines recht weit entfernten

Gottes) zur (privaten) Andacht. Besonders die teilweise fehlinterpretierte, stilistisch wie

thematisch rückwärts gewandte, sparsame Innenausstattung dürfte kompromisshafte,

konservative, vielleicht reaktionäre Einstellungen und das abnehmende künstlerische

Interesse des alternden Abtes Martin II Gebert (und seines Konventes) widerspiegeln und

unser heutiges Urteil der Fortschrittlichkeit St. Balsiens insgesamt hier etwas gemässigt

haben.

Bei diesen historisch-genetischen, philo-theo-psycho-logisierenden 'Enthüllungs-Ver-

Such-en von Sinn-en' kam das vor-wortlich Sinn-liche, das Emotionale, Ästhetische,

Technisch-Handwerkliche, Künstlich-Kunstvolle, Qualitativ-Wertende und nicht erst seit

Dubos für das 18. Jahrhundert Wichtige leider viel zu kurz. Eine leider von der Dateigrösse

unhandliche Fassung (in Vorbereitung eine Aufteilung in Kapiteln) mit demonstrativen

Abbildungen soll dem etwas abhelfen. Der Sinn von Kunst-Werken liegt auch im geistigen-

sinnlichen-bewegenden-erhebenden Genuss. Übrigens dürfte von daher die 'Er-Findung'

der Kunst (ob von Können oder fälschlich Künden) vor dem Zeitalter ihrer Nomenklation in

unserem Kosmos sicher etwas früher als nach Hans Belting zu suchen sein.

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