21
Leseprobe Luhmann, Niklas Kontingenz und Recht Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes F. K. Schmidt © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58602-0 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag - bilder.buecher.de

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Leseprobe

Luhmann, Niklas

Kontingenz und Recht

Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes F. K. Schmidt

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-58602-0

Suhrkamp Verlag

SV

Niklas LuhmannKontingenz und Recht

Rechtstheorie im

interdisziplinären Zusammenhang

Herausgegeben von

Johannes F. K. Schmidt

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2013© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das derÜbersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-518-58602-0

Inhalt

1. Teil: Kontingenz und Recht

I. Interdisziplinäre Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . 9II. Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26III. Systemstrukturen als Bedingungen vonKontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47IV. Handlung und Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . 61V. Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71VI. Die Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . 86VII. Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104VIII. Positivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126IX. Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140X. Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

2. Teil: Kontingenz und Komplexität

XI. Vorbemerkungen zum Verhältnis vonKontingenz und Komplexität . . . . . . . . . . . . . . 175XII. Das Rechtssystem und die Rechtssicherheit . . . 180XIII. Der Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201XIV. Technisierung und Schematisierung . . . . . . . 215XV. Dogmatisierung und Systematisierung . . . . . . 237XVI. Prinzipien, Regeln und Ausnahmen . . . . . . . 267XVII. Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283XVIII. Knappheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300XIX. Wertbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

1. Teil

Kontingenz und Recht

I. Interdisziplinäre Kontakte

Seit dem Zusammenbruch des Naturrechts lebt die Rechts-wissenschaft als Fach für sich in interdisziplinärer Isolie-rung, vor allem in deutlichem Abstand zu den empirischenSozialwissenschaften und zu den wirtschaftswissenschaft-lichen Verfahren der Rationalisierung. Eine Vielzahl vonKontakten läßt sich zwar feststellen1 – so die Tendenzenzur Soziologisierung und Behaviorisierung der Jurispru-denz in den Vereinigten Staaten, die Direktanleihen Du-guits bei Durkheim, die Beziehungen zwischen dem Misch-fach »Staatslehre« und der juristischen Verfassungsinterpre-tation in Deutschland. Kontakte und Hoffnungen dieser Arthatten aber einen bestimmten, zeitgebundenen Stil. Sie wa-ren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sinnvoll.Damals waren die Sozialwissenschaften theoretisch und in-stitutionell unterentwickelt und verließen sich auf die Plau-sibilität kurzschlüssiger Argumentationsketten. Ihre litera-rische Produktion war ohne weiteres »lesbar«; sie war nachVolumen und Inhalt auch für Juristen zugänglich.2 So konntedie Vorstellung aufkommen, daß trotz grundbegrifflicherTrennung und Verselbständigung der einzelnen Disziplinendie Rechtswissenschaft von den Sozialwissenschaften im Be-darfsfalle Entscheidungshilfen erhalten könne, und dies auf

1 Eine Bibliographie zu diesem Problem findet sich in Harry W. Jones(Hrsg.), Law and the Social Role of Science, New York 1966, S. 147-201. Vgl. auch Ralph S. Brown, Legal Research: The Ressource Baseand Traditions Approaches, American Behavioral Scientist 7 (1963),S. 3-7.

2 Ein gutes Beispiel ist die Beziehung Roscoe Pounds zu den Soziologenseiner Zeit. Vgl. Gilbert Geis, Sociology and Sociological Jurispru-dence, Kentucky Law Review 52 (1964), S. 267-293.

9

einer relativ konkreten, mehr oder weniger improvisiertenEbene des Gedankenaustausches.

Inzwischen mehren sich Anzeichen dafür, daß die Si-tuation sich geändert hat. Die Sozialwissenschaften habensich zu einer weder von außen noch von innen überblickba-ren Komplexität entwickelt. Sie beginnen, aus sich selbstheraus lernfähiger und damit dynamisch zu werden. Dar-aus erwachsen Interessen an laufender Verfeinerung des me-thodischen Instrumentariums und an theoretischer Konso-lidierung, die in zunehmendem Maße bestimmen, welcheForschungsthemen aufgegriffen und wie Begriffe und Hy-pothesen gefaßt werden. Das kann zu zunehmender wech-selseitiger Verständnislosigkeit führen, könnte aber auchAnlaß geben, die Frage der interdisziplinären Kontaktfähig-keit der Rechtswissenschaft bewußter und prinzipieller zustellen.

Allein schon die Größe und die Komplexität des konkre-ten Gegenstandsfeldes Recht drängen die Vermutung auf,daß es nicht ohne Kenntnis der für andere Wissenschaftensich ergebenden Perspektiven vollständig erfaßt und begrif-fen werden kann. Damit sollen die Möglichkeiten einerRechtswissenschaft, ihre Eigenständigkeit und Primärzu-ständigkeit nicht bestritten werden; wohl aber muß ver-langt werden, daß ihr Begriffsapparat den Zugang zu unddie Kontrolle über sinnvolle Beiträge anderer Disziplinen er-möglicht.3 Interdisziplinäre Kontakte können nicht länger

3 Dies Argument hat, wie leicht zu sehen, sehr weittragende Bedeutungauch für andere Disziplinen. Es verlangt im Grunde schlechthin, dieAbstraktionsrichtung der das Fach integrierenden Theorie im Hin-blick auf interdisziplinäre Kontaktfähigkeit zu wählen. Hiermit hängtzusammen, daß derzeit gar nicht abzusehen ist, ob und inwieweitwissenschaftliche Disziplinen in der Form des klassischen Fächerka-nons sinnvolle Einheiten des Wissenschaftssystems bleiben werdenoder ob sie nicht durch andere, elastischere und dynamischere Formder Teilsystembildung – etwa durch Forschungsprozeß-Systeme in

10

nur durch Einzelbegriffe, etwa Funktionen, Institutionen,Interesse, vermittelt werden, da die Enge solcher Begriffewechselseitige Mißverständnisse geradezu erzwingt. Viel-mehr sollte die Rechtswissenschaft sich fragen, ob sie fürsich selbst ein überdogmatisches Steuerungssystem entwik-keln und auf dieser Ebene jene Begriffsentscheidungen tref-fen kann, die ihre interdisziplinäre Kontaktfähigkeit sicher-stellen. Diese Kontaktfähigkeit ist nicht nur eine Frage derAufgeschlossenheit für fremdes Gedankengut; sie muß in ei-genen Abstraktionsleistungen der Rechtswissenschaft begrün-det werden.

Es liegt nahe, die anlaufenden Bemühungen um eine all-gemeine Rechtstheorie in diese Richtung zu lenken. Das hie-ße, diese Bemühungen funktional zu orientieren und nichtvon einem Begriff der Rechtstheorie auszugehen, der inhalt-lich schon festlegt, was sie zu sein hat. Vorgegeben ist zu-nächst nur der Leerplatz, das Desiderat einer universellenrechtswissenschaftlichen Theorie, die den allgemeinen Krite-rien der Wissenschaftlichkeit zu genügen hat. Wissenschafts-theoretisch gesehen, handelt es sich um eine Struktur einesSystems der Erlebnisverarbeitung, die dessen funktionaleSpezialisierung in Richtung auf Wissenschaft ermöglichtund dabei angebbaren Beschränkungen ihrer Möglichkei-ten unterliegt. Eine solche Positionsbeschreibung ermög-licht keine eindeutigen Schlüsse auf Inhalte, also auch kei-ne deduktive Begründung einer bestimmten Rechtstheorie,

dem von Gerard Radnitzky, Der Praxisbezug der Forschung: Vorstu-dien zur theoretischen Grundlegung der Wissenschaftspolitik, Stu-dium Generale 23 (1970), S. 817-855, skizzierten Sinne – wenn nicht ab-gelöst so doch ausgehöhlt werden. Jedenfalls ist die Rechtstheorie nichtallein deshalb schon, weil sie als Forschungsunternehmen der Rechts-wissenschaft zugerechnet wird, darauf angewiesen, ihren grundbegriff-lichen Bezugsrahmen und ihr Problemverständnis lediglich aus derRechtswissenschaft zu beziehen.

11

wohl aber eine Angabe spezifischer Probleme und Problem-lösungsbeschränkungen, die mit dieser Position einer uni-versellen rechtswissenschaftlichen Theorie verbunden sind.Und von diesen Problemen her lassen sich die angebotenenRechtstheorien kritisch beurteilen.

Gewichtige Probleme einer Rechtstheorie, die mit Sicher-heit zu erwarten sind, beziehen sich auf die Komplexität desdurch sie strukturierten Wissenschaftsbereichs.4 Bemühun-gen um interdisziplinäre Forschung machen deutlich, daßdie bisherigen Fachspezialisierungen ein Ausweichen vondem Problem der Komplexität waren, ein Ausweichen in ana-lytische Schemata von bewußt begrenzter Relevanz. Das istangesichts des Problems der Komplexität ein berechtigtesund erfolgreiches Verfahren. Nicht zufällig war es geradedie Transzendentalphilosophie, die das Verhältnis von Man-nigfaltigkeit und Begriff herausgearbeitet hat. Andererseitssteht damit die interdisziplinäre Kooperation vor der Schwie-rigkeit, heterogene analytische Perspektiven koordinierenzu müssen. Sie wird deshalb genötigt sein, das Problemder Komplexität bewußter und artikulierter als bisher zuthematisieren. Die Komplexität jeder Disziplin ist gleich-sam abgeleitete, begrifflich rekonstruierte Komplexität undhat insofern den Bezug auf ein gemeinsames Grundpro-blem.

Wenn man die Rechtstheorie als Disziplin für sich sieht,kann man Probleme der inneren und äußeren Komplexitätunterscheiden. Für die innere Komplexität ist vor allem aus-schlaggebend, daß eine universelle rechtswissenschaftliche

4 Zu den Schwierigkeiten einer ausreichenden Klärung des Begriffs derKomplexität siehe Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oderSozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann,in: Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaftoder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt1971, S. 142-290 (153 ff.); ferner unten S. 56 f.

12

Theorie angestrebt wird, die mit jedem möglichen Recht kom-patibel sein muß. Die Rechtstheorie kann daher nicht iden-tisch sein mit der exegetischen Behandlung geltender Rechts-normen in der Jurisprudenz.5 Die Sätze, die die Rechtstheorieals wissenschaftliche Sätze formuliert, sind mit anderen Wor-ten keine Rechtssätze, sondern beziehen sich nur auf sie. DieRechtstheorie ist daher auch keine »Rechtsquelle« (wie es ge-legentlich für die Rechtswissenschaft behauptet worden ist).Daraus folgt zum Beispiel, daß die Begriffe der Rechtstheoriereduktive Vereinfachungen leisten, also einen sehr hohen Ab-straktionsgrad erhalten müssen; ferner daß die Rechtstheorie,da es eine Mehrheit von Rechtsordnungen mit widerspruchs-vollen Rechtssätzen und unterschiedlichen dogmatischen Pro-blemlösungen geben kann, eine wissenschaftliche Theoriesein muß, die Widersprüche in ihrem Objektbereich vertra-gen bzw. konstruieren kann. Ob diese innere Problematikauf die übliche Weise durch Unterscheidung verschiedenerSprachebenen gelöst werden kann, lassen wir hier dahinge-stellt und wenden uns statt dessen dem »Außenaspekt« derRechtstheorie zu, das heißt der Frage, ob sie zu anderen Dis-

5 Konsens hierüber scheint sich in der neueren rechtstheoretischen Li-teratur anzubahnen. Vgl. z. B. Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaftund Jurisprudenz, Basel 1970; Norbert Hoerster, Zur logischen Mög-lichkeit des Rechtspositivismus, Archiv für Rechts- und Sozialphi-losophie 56 (1970), S. 43-59 (55); Jens-Michael Priester, Rechtstheo-rie als analytische Wissenschaftstheorie, in: Günther Jahr / WernerMaihofer (Hrsg.), Rechtstheorie: Vierzehn Beiträge zur Grundsatz-diskussion, Frankfurt 1971, S. 13-61 (46-56); Werner Krawietz, Juri-stische Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen, in:Hans Albert / Niklas Luhmann / Werner Maihofer / Ota Weinberger(Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissen-schaft (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2), Düssel-dorf 1972, S. 12-42; Hans Albert, Erkenntnis und Recht: Die Jurispru-denz im Lichte des Kritizismus, in: Hans Albert / Niklas Luhmann /Werner Maihofer / Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grund-lagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, a. a. O., S. 80-96.

13

ziplinen trotz hoher Komplexität der beiderseitigen Objekt-bereiche sinnvolle Beziehungen herstellen kann, die »An-schlüsse« und Transfer von Problembewußtsein, Konzeptenund Erkenntnisleistungen ermöglichen.6

Außerhalb der Rechtswissenschaft gibt es heute bei allerZersplitterung sozialwissenschaftlicher Forschung in Ein-zeldisziplinen deutlich erkennbare interdisziplinäre Trends:Sie verbinden sich, aufs gröbste abstrahiert, mit dem Sy-stemkonzept oder mit dem Entscheidungskonzept. In bei-den Richtungen ist zunächst eine auffällige Verschiedenar-tigkeit der Begriffsverwendung zu verzeichnen. Es ist kaummöglich, ein Minimum an Bedeutungsgehalt auszumachen,der sich mit den Begriffen »System« oder »Entscheidung«durchgehend verbindet. Aber es gibt einige recht erfolgrei-che Interpretationsversuche von multidisziplinärer Bedeu-tung, die teils in der Form von Modellen, teils in der Formvon Hypothesen, teils als Problemformeln vorliegen. In je-dem Falle verbindet sich mit den Begriffen System und Ent-scheidung jeweils ein transdisziplinärer Anspruch. Wer von»juristischer Entscheidung« spricht, muß sich auf die Frage

6 Für eine soziologische Interpretation dieses wissenschaftstheoretischenKonzepts wäre anzufügen, daß das strukturierte System der Erlebnis-verarbeitung zugleich ein soziales Interaktionssystem von Forschernist, das Mängel seiner formalen Struktur, nämlich seiner Theorie in ge-wissem Umfange kompensieren kann. In diesem System treten dannZeitschriften, Tagungen, Reputationen als vorläufiger Ersatz an dieStelle der noch fehlenden Theorie, nämlich als funktional äquivalenteLösung des Problems, Aufmerksamkeitsverteilungen und Kommuni-kationsprozesse zu steuern. Vgl. Niklas Luhmann, Selbststeuerungder Wissenschaft, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 19 (1968), S. 147-170, neu gedruckt in: ders., Soziologische Aufklärung 1: Aufsätze zurTheorie sozialer Systeme, Köln, Opladen 1970, S. 232-252 und, mehrauf Dysfunktionen des Fehlens von anerkannter Theorie abstellend,Rolf Klima, Einige Widersprüche im Rollen-Set des Soziologen, in:Bernhard Schäfers (Hrsg.), Thesen zur Kritik der Soziologie, Frankfurt1969, S. 80-95.

14

gefaßt machen, wodurch diese Entscheidung sich von wirt-schaftlichen Entscheidungen oder von politischen Entschei-dungen oder von der Wahl eines Partners für Intimbezie-hungen unterscheidet.

Systemtheorien kann man bei einem ersten groben Über-blick danach unterscheiden, ob mit »System« eine Ordnungdes Objektbereichs selbst (also eine Ordnung der Wirklich-keit, des faktischen Handelns, der Lebenswelt) gemeint ist,oder eine Ordnung von Sätzen über die Wirklichkeit (alsoeine Ordnung, die ihren Systemcharakter nur der Distanz-nahme durch Sprache verdankt). Im ersteren Falle könnteman, mit Parsons, von konkreten, im zweiten Falle von ana-lytischen Systemen sprechen.7 Für eine eindeutige Begriffs-bildung ist es unerläßlich, die jeweils gemeinte Ebene anzu-geben. Gleichwohl kann man Wert und Ertrag der Unter-scheidung bezweifeln,8 da sich weder analytische Systeme

7 Vgl. z. B. The Structure of Social Action, New York 1937, S. 35, 731 f.und mit betontem Bekenntnis zu einem rein analytischen (»mytholo-gisierten«) Systembegriff Charles Ackerman / Talcott Parsons, TheConcept of »Social System« as a Theoretical Device, in: Gordon J. Di-Renzo (Hrsg.), Concepts, Theory and Explanation in the BehavioralSciences, New York 1966, S. 19-40. Für eine ausführliche Erörterungin der politischen Wissenschaft vgl. David Easton, A Frameworkfor Political Analysis, Englewood Cliffs N. J. 1965, insb. S. 37 ff.; fürdie Wirtschaftswissenschaften Gerhard Kade, Die Systemidee inden Wirtschaftswissenschaften, in: Alwin Diemer (Hrsg.), Systemund Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Meisen-heim am Glan 1968, S. 105-119 (106). Die gleiche Unterscheidung fin-det man außerhalb der Systemtheorie als Unterscheidung von Typen-bildungen. Vgl. z. B. Alfred Schutz, Common sense and the ScientificInterpretation of Human Action, Philosophy and PhenomenologicalResearch 14 (1953), S. 1-38, oder John C. McKinney, Typification, Ty-pologies, and Sociological Theory, Social Forces 48 (1969), S. 1-12.

8 Siehe die Unsicherheit der Beurteilung bei Peter Nettl, The Conceptof System in Political Science, Political Studies 14 (1966), S. 305-338(324 f., 329 f.). Als einen ausgefeilten Vermittlungsvorschlag siehe Ste-fan Jensen, Bildungsplanung als Systemtheorie: Beiträge zum Pro-

15

ohne Entsprechung in der Realität bilden lassen, noch realeSysteme sich denken lassen, über die man nicht geordnetsprechen kann. Der Systembegriff scheint gerade die Ver-bindbarkeit beider Ebenen, nämlich die Abstrahierbarkeitder Realität auszudrücken – eine Funktion, die nicht nurin der Wissenschaft und nicht nur im Sprechen über dieRealität, sondern auch schon in der täglichen Orientierungin Anspruch genommen werden muß.9 Der Grund für dieseNotwendigkeit des Abstrahierens ist, daß man sich ohne»Absehen von …« in einer übermäßig komplexen Weltnicht zurechtfinden kann. Und demgegenüber bleibt dieFrage sekundär, in welcher Richtung, unter welchen Ge-sichtspunkten und im Sinne welcher Interessen Systemezur Erfassung und Reduktion von Komplexität gebildet wer-den. Die Gegenüberstellung von konkreten und analyti-schen Systemen gibt nur den Unterschied einer primär le-bensweltlichen oder primär wissenschaftlichen Erfüllungdieser Funktion wieder.

Im Bereich der Entscheidungstheorie stoßen wir auf einähnliches Problem. Man setzt üblicherweise deskriptive(bzw. faktisches Entscheiden erklärende) und normative(bzw. auf Rationalisierung abzielende) Entscheidungstheo-rien einander entgegen. Auch dies ist jedoch, wie im Falleder Systemtheorie, eine überzogene Abstraktion. Die ge-geneinandergesetzten Positionen lassen sich in analytischer

blem gesellschaftlicher Planung im Rahmen der Theorie sozialer Sy-steme, Bielefeld 1970, S. 11 ff.

9 Damit unterscheiden sich moderne sozialwissenschaftliche Bemü-hungen wesentlich von der neukantianischen Verwendung der Sy-stemidee, die im System nur das Prinzip der Einheit von Erkenntnis-sen zu erblicken vermochte. Siehe statt anderer Arthur Liebert, DasProblem der Geltung, 2. Aufl., Leipzig 1920. Und nicht zufällig hat ge-rade die Entwicklung der Sozialwissenschaften dazu gezwungen, indifferenzierten Abstraktionsebenen zu denken, nämlich systembil-dende Leistungen des sozialen Lebens zu berücksichtigen.

16

Reinheit nicht durchhalten; jede setzt die andere als Teilihrer selbst voraus und muß daher Opposition mit Inkonse-quenz bezahlen. Daß normative Theorien nicht ohne Rück-sicht auf faktische Durchführbarkeit entworfen werdenkönnen, ist kaum zu bestreiten; aber auch deskriptive odererklärende Theorien setzen eine Übernahme von Werten,Zwecken oder Normen des Handelns als Prämissen in dieTheorie voraus, weil sonst das Feld der Möglichkeiten desHandelns gänzlich offen und unbestimmbar bliebe.10 Esist, mit anderen Worten, die Eigenart von Entscheidungssi-tuationen, offen, übermäßig komplex und immer weiterproblematisierbar zu sein, die Wertungen und Normierun-gen in der einen oder anderen Form erzwingt. Und das be-deutet, daß hier ebenso wie im Falle der Systemtheoriendas der Praxis wie der Theorie vorausgelagerte Problemder Komplexität jene oppositionellen Dichotomien in Fragestellt.11

Diese Schwierigkeiten mit dichotomisch gebauten Alter-nativen für den Ansatz von Systemtheorien und Entschei-dungstheorien findet man verstärkt wieder, wenn man nachEntsprechungen in der Rechtswissenschaft fragt. Den Be-griff des Systems verwenden die Juristen durchweg nochheute so, wie er am Anfang des 17. Jahrhunderts als eineArt Modeterminologie aus der Astronomie und der Musikin den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen wordenwar – nämlich als Behauptung einer an einem Prinzip orien-

10 Überzeugend dazu Stefan Nowak, The Cultural Norms as Elementsof Prognostic and Explanatory Models in Sociological Theory, ThePolish Sociological Bulletin 14, 2 (1966), S. 40-57. Vgl. auch ArthurL. Kalleberg, Concept Formation in Normative and Empirical Stud-ies: Toward Reconciliation in Political Theory, The American Polit-ical Science Review 63 (1969), S. 26-39.

11 Vgl. zu einigen Konsequenzen für das Verhältnis von Theorie undPraxis auch Niklas Luhmann, Praxis der Theorie, in: ders., Soziolo-gische Aufklärung 1, a. a. O., S. 253-267.

17

tierten, geordneten Gedankenführung.12 Dieser Herkunftverdankt der Systembegriff seine Rolle als Perfektionsbegriffder juristischen Dogmatik. Er tritt damit – einer allgemei-nen Tendenz jener Zeit zum Umdenken von Zweck auf Be-stand, von guter (tugendhafter) Lebensführung auf Lebenschlechthin folgend – neben oder an die Stelle des ethischenPerfektionsbegriffs der Gerechtigkeit. Im Rahmen einerexegetisch vorgehenden Rechtsdogmatik bezeichnet der Sy-stembegriff den Zusammenhang von Rechtserkenntnissen,die zugleich als Rechtssätze gelten. Die Ebene der geltendenNormen und der theoretischen Sätze wird nicht unterschie-den, so daß das System sogar als Rechtsquelle gelten oderjedenfalls als Ausdruck der Einheit und Kohärenz desRechts selbst in Anspruch genommen werden kann.13 Das

12 Zur Vorgeschichte und zu den damit abgedeckten Konstruktionsbe-dürfnissen siehe Hans Erich Troje,Wissenschaftlichkeit und Systemin der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jürgen Blühdorn / Joa-chim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: Zum Pro-blem ihrer Beziehungen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1969, S. 63-97.Zur allgemeinen Begriffsgeschichte von »System«, die im wesent-lichen noch zu erarbeiten wäre, vgl. Otto Ritsch, System und syste-matische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprach-gebrauchs und der philosophischen Methodologie, Bonn 1906;Alois von der Stein, Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Ent-wicklung, in: Alwin Diemer (Hrsg.), System und Klassifikation inWissenschaft und Dokumentation, Meisenheim / Glan 1968, S. 1-18; Friedrich Kambartel, »System« und »Begründung« als wissen-schaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant,in: Jürgen Blühdorn / Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechts-wissenschaft, a.a.O., S. 99-113.

13 Als neuere Belege siehe etwa Helmut Coing, Geschichte und Bedeu-tung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, Frankfurt1956; Karl Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Stu-dium Generale 10 (1957), S. 173-190; Roland Dubischar, Grundbe-griffe des Rechts: Eine Einführung in die Rechtstheorie, Stuttgart1968, S. 67 ff.; Theodor Viehweg, Systemprobleme in Rechtsdogma-tik und Rechtsforschung, in: Alwin Diemer (Hrsg.), System undKlassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Meisenheim /

18

Erkenntnissystem verschmilzt mit seinem Gegenstand, dieUnterscheidung analytischer und konkret empirischer Sy-steme kann überhaupt nicht getroffen werden.

Der in dieser Tradition gebildete Systembegriff genügtweder in logischer noch in sozialwissenschaftlicher Hin-sicht heutigen Anforderungen.14 Er wird auch von innenaufgesprengt, sobald die Rechtswissenschaft lernt, zwischenRechtstheorie und jurisprudentiellem Normwissen zu un-terscheiden. Er kann dann allenfalls mit der Frage nachder Funktion und der Systematisierungsleistung von Dog-matiken15 als rechtstheoretisch abgeleiteter Begriff neu ein-geführt werden.

Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Entschei-dungstheorie ist ähnlich problematisch, aber noch schwie-riger zu durchschauen, da eine entsprechende Begriffstra-dition und eine explizite Behandlung fast völlig fehlen.Die in Betracht kommende Gedankenentwicklung läuft un-

Glan 1968, S. 96-104; Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken undSystembegriff in der Jurisprudenz, Berlin 1969; Josef Esser, Vorver-ständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitäts-garantien der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt 1970,S. 94 ff.; Hermann Eichler, Gesetz und System, Berlin 1970. Ausder angelsächsischen Literatur etwa Alan D. Cullison, Logical Analy-sis of Legal Doctrine: The Normative Structure of Positive Law, IowaLaw Review 53 (1968), S. 1209-1268 (1212 ff.); Joseph Raz, The Con-cept of a Legal System: An Introduction to the Theory of Legal Sys-tem, Oxford 1970.

14 Andererseits haben auch die Entwicklung der Logik und der empi-rischen Sozialwissenschaften bisher für die Rechtstheorie kaumbrauchbare Ergebnisse gebracht. Daß dies wiederum mit dem Pro-blem der Komplexität zusammenhängt, die im Falle des Rechtssy-stems so hoch ist, daß sowohl Logik als auch Soziologie überfordertwerden, habe ich zu zeigen versucht in: Systemtheoretische Beiträgezur Rechtstheorie, in: Hans Albert / Niklas Luhmann / Werner Mai-hofer / Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwis-senschaft der Rechtswissenschaft, a. a. O., S. 255-276.

15 Siehe unten Kapitel XV. Dogmatisierung und Systematisierung.

19

ter den Stichworten Logik, Methodologie, Rechtsauslegungoder richterliche Rechtsfindung. Ihr Kernproblem ist dasder »Rechtsanwendung« durch wertende Ausfüllung unbe-stimmter Normen. Entscheidungstheorien deskriptiv-erklä-render wie auch rationalisierender Intention sind dagegenvorwiegend im Bereichwirtschaftlichen Zweck / Mittel-Den-kens entstanden und haben nicht die wertende Ausfüllungunzureichend bestimmter Entscheidungsbedingungen, son-dern die Optimierung von Zweck / Mittel-Relationen zumZiel.16 Der Unterschied ist deshalb so bedeutsam, weil Ent-scheidungstheorien auf Vorstrukturierung des Entscheidungs-spielraums angewiesen sind und deshalb von der Form derEntscheidungsprogramme abhängen. Sie suchen im Rah-men von abstrakt festgelegten Richtigkeitsbedingungen miteiner Mehrheit offener Problemlösungsmöglichkeiten mög-lichst gute Entscheidungen, und diese Aufgabe hat eineandere Form, wenn es gilt, Mittelwahlen im Hinblick aufZwecke zu treffen, das heißt Wertrelationen zwischen Hand-lungsfolgen zu optimieren, als wenn es gilt, Tatsachen in Be-ziehung auf Normen festzustellen und Normen in Bezie-hung auf Tatsachen oder in Beziehung auf andere Normenzu interpretieren.

Damit steht die rechtswissenschaftliche Entscheidungs-theorie vor der Frage, woraufhin sie denn Entscheidungenzu optimieren sucht, wenn nicht letztlich ebenfalls im Blick

16 Die Übertragbarkeit dieser Ansätze auf das Rechtsdenken wird gele-gentlich überschätzt – so bei Louis H. Mayo / Ernest M. Jones, Legal-Policy Decision Process: Alternativ Thinking and the PredictionFunction, The George Washington Law Review 33 (1964), S. 318-456. Mit Recht skeptischer Bernhard Schlink, Inwieweit sind juristi-sche Entscheidungen mit entscheidungstheoretischen Modellen theo-retisch zu erfassen und praktisch zu bewältigen?, in: Hans Albert /Niklas Luhmann / Werner Maihofer / Ota Weinberger (Hrsg.), Rechts-theorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, a.a.O.,S. 322-346.

20